MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten. 1893
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[223][A 231]Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten

  1. Th[eodor] Freiherr v. d. Goltz, Professor in Jena. Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat. Jena, G. Fischer. 1893 – 300 S. 8°.
  2. Max Sering, Professor in Berlin. Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland. Leipzig, Duncker & Humblot, 1893 – 330 S. 8°.

Die beiden Schriften, auf deren hohe Bedeutung an dieser Stelle nur mit einigen Worten hingewiesen werden kann, gehören aus dem gleichen Grunde zusammen, aus welchem der „Verein für Sozialpolitik“ die beiden von ihnen behandelten Themata einer gemeinschaftlichen Besprechung unterzog,1[223]Der Verein für Socialpolitik hatte am 20. und 21. März 1893 eine Generalversammlung über die ländliche Arbeiterfrage, die Bodenbesitzverteilung und den Kleingrundbesitz veranstaltet. Vgl. dazu: Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes (Schriften des Vereins für Socialpolitik 58). – Leipzig: Duncker & Humblot 1893. Auch Weber nahm an dieser Generalversammlung teil. Seine Beiträge sind abgedruckt oben, S. 165–207. weil sich nämlich Arbeiterfrage und Kolonisation auf dem Lande im Osten zu einander verhalten wie Problem und Lösung. – Beide befassen sich wesentlich mit den Verhältnissen des ostelbischen Deutschlands, und das ist nicht zufällig. Eine „ländliche Arbeiterfrage“ vom Standpunkt der Unternehmer sowohl als der Arbeiter aus besteht freilich keineswegs nur in den östlichen preußischen Provinzen. Es wäre ein schwerer Irrtum zu glauben, daß die Landarbeiter der Kleinbauern des Südwestens materiell besser gestellt seiena[223]A: seinen als diejenigen etwa der großen mecklenburgischen und pommerschen Rittergüter – das gerade Umgekehrte ist der Fall. Es wäre ebenso verkehrt zu glauben, daß nur die großen Güter des Ostens an einem Mangel landwirtschaftlicher Arbeitskräfte zu leiden hätten, – aus den stark parzellierten Distrikten im Westen und Süden sind bei der Erhebung des Vereins für Sozialpolitik die gleichen leidenschaftlichen Klagen darüber laut geworden. [224]Ebensowenig beschränken sich die Schäden der jetzigen Grundbesitzverteilung auf den Osten. Die heillose Zersplitterung in großen Gegenden am Rhein und im Süden ist in ihrer Art ebenso kulturfeindlich und ungesund wie die Zusammenballung großer „Latifundien“ in Schlesien. In beiden Fällen ist die Arbeiterfrage mit der Art der Bodenverteilung untrennbar verknüpft, nur in entgegengesetztem Sinn, wie ich das früher in dieser Zeitschrift auszuführen gesucht habe.2[224]Gemeint ist Webers Artikelreihe „Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter“, abgedruckt oben, S. 123–153.

Aber dennoch sind vom Standpunkte des Staates aus die Verhältnisse des Ostens zur Zeit diejenigen, in welche ein alsbaldiger Eingriff als unumgänglichst erscheinen muß. – Einmal weil die Gefahren für das staatliche und nationale Interesse dort die unmittelbarsten sind. Die ungeheure Entvölkerung des platten Landes im Osten – selbst bei Einrechnung der Städte wandern Jahr aus, Jahr ein ¾ des Überschusses der Geburten über die Todesfälle aus den östlich von Berlin gelegenen Bezirken fort3Zwischen 1885 und 1890 betrug in den östlichen Gebieten die Abwanderung im Durchschnitt jährlich 75,04% des Geburtenüberschusses. Vgl. Sering, Kolonisation, S. 6. – und der Nachschub der Polen über die russische Grenze bedrohen die Nationalität; die Unmöglichkeit geordneter Feldbestellung ist dem Großbetriebe am gefährlichsten und verwandelt bevölkerte Distrikte in extensiv bewirtschaftete Weidereviere; – beides sind Kulturverluste definitiver Art, welche, wenn einmal eingetreten, überhaupt auch im Verlauf von Menschenaltern nicht wieder ganz rückgängig zu machen sind. – Dann aber auch deshalb, weil nur für den Osten schon jetzt angegeben werden kann, in welcher Weise der Staat helfend einzugreifen vermag.

Beide Schriften – Sering ausdrücklich, v. d. Goltz dem Ergebnis nach – sehen in dieser Beziehung, neben anderm, was für jetzt unerörtert bleiben mag, die wesentliche Abhilfe in einer umfassenden kolonisatorischen Thätigkeit des Staates, behufs Umgestaltung der Grundbesitzverteilung, – nicht im Sinn einer Annäherung an den parzellierten Süden und Westen, aber an die Verhältnisse in denjenigen mittel- und nordwestdeutschen Bezirken, in welchen sowohl die Grundbesitzverteilung die günstigste Mischung großer, mittlerer und kleiner Betriebe darstellt, als die Arbeiterverhältnisse im allgemeinen die relativ gesundesten sind. Beide gelangen zu diesem Er[225]gebnis aus dem gleichen Motiv: der Fehler der sozialen Gliederung liegt nach beiden in dem durch die geschichtliche Entwickelung dieses Jahrhunderts geschaffenen schroffen Gegensatz zwischen Bodenbesitz und Landproletariat, in der dadurch herbeigeführten sozialen „Isolierung“ der Landarbeiterschaft des Ostens, in dem Mangel einer sozialen Stufenleiter, welche das Aufsteigen von unten nach oben in der Heimat ermöglicht, und in der Unmöglichkeit, unter den jetzigen Verhältnissen die landwirtschaftliche Produktion überwiegend in den Händen von großen, auf den sich bisher zunehmend verschlechternden Markt verwiesenen Betrieben zu belassen, mit einer proletarischen und flukturierenden Arbeiterbevölkerung, welche das eigene Interesse an dem Gedeihen des Betriebes zunehmend verliert. Naturgemäß erörtert v. d. Goltz mehr die Frage, wie die heutige Arbeitsverfassung entstanden ist, welche Fehler ihr anhaften und welcher Reformen sie bedarf; Sering mehr die Frage, wie es mit der Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Betriebsgrößen bestellt ist und welche Forderungen sich daraus für die künftige Gliederung der Betriebe ergeben, welcher Art Wirtschaften also im Osten die Zukunft gehört. Aber die Grundauffassung ist dennoch die gleiche, und es ist im Zusammenhalt mit dem Ergebnis der Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik das erfreuliche Resultat zu konstatieren, daß sich in einer Frage von grundlegender sozialpolitischer Bedeutung eine seltene Übereinstimmung der Ansichten auf Seiten der kompetentesten Beurteiler herausgebildet hat.

Damit ist das Vorhandensein von Meinungsverschiedenheiten, teils über die einzuschlagenden Wege, teils über das mögliche Ergebnis der Umgestaltung überhaupt, nicht ausgeschlossen. Die beiden Schriftsteller, von welchen hier die Rede ist, sind Optimisten und sehen die Zukunft vielleicht in zu günstiger Beleuchtung: v. d. Goltz glaubt an den Erfolg einer materiellen Besserung der Arbeiter aus eigener Initiative der Grundbesitzer in größerem Maße, als wohl allgemein zugestanden wird, und Sering verspricht sich von dem Entstehen bäuerlicher Wirtschaften im Osten einen Aufschwung der Technik des Betriebes, der gleichfalls nicht von allen Befürwortern der Kolonisation in dieser Weise für möglich gehalten werden wird. Allein[,] wenn wir auch in unseren Erwartungen vielleicht, namentlich soweit die nähere Zukunft in Frage kommt, skeptischer sein müssen, so trägt das für die Frage, was geschehen soll und nicht nur soll, sondern muß, wenn der Bestand der deutschen Kultur im Osten [226]gesichert werden soll, nichts aus; die zu lösende Aufgabe und die Mittel zu ihrer Lösung sind in den Hauptpunkten der beiden Schriften so formuliert, daß sie allseitige Zustimmung verdienen.

Auf die Übereinstimmung einer Autorität auf dem Gebiete der Landarbeiterverhältnisse wie es v. d. Goltz ist, mit dem, was ich aus der Erhebung des V[ereins] f[ür] S[ozial-]P[olitik] schließen zu müssen glaube, konnte ich schon in der Generalversammlung des Vereins hinweisen.4[226]Vgl. oben, S. 182. Auch v. d. Goltz hält den Ausschluß der ausländischen Wanderarbeiter im Osten für unumgänglich,5Goltz, Arbeiterklasse, S. 283. er ist ebenso der Ansicht, daß das Instverhältnis in seiner jetzigen Gestalt nicht haltbar ist, wenn er sich auch zurückhaltender ausdrückt: jedenfalls hält er die Scharwerkerhaltung für nicht dauernd durchführbar,6Ebd., S. 198. und damit ist meines Erachtens der Übergang zu einem Arbeiter-Pachtverhältnis irgend welcher Art unumgänglich, wenn man die eigne Wirtschaft der Leute nicht beseitigen will. Er fordert ebenso ein Vorgehen der Domänenverwaltung im Sinne der mustergiltigen Umgestaltung der Arbeiterverhältnisse auf den Staatsdomänen.7Ebd., S. 287–297. Von der Goltz fordert von dem Staat als dem größten Grundbesitzer eine vorbildliche Gestaltung der ländlichen Arbeiterverhältnisse. Er wie Sering sind der Ansicht, daß die Begründung von Häuslereien zur Seßhaftmachung der Arbeiter nur im Anschluß an kräftige Bauerngemeinden zulässig ist.8Ebd., S. 212, und Sering, Kolonisation, S. 138. Allerdings – und hier würden meines Erachtens eventuell gewisse Bedenken, aber wesentlich quantitativer Art, zu erheben sein, – erachtet er das Häuslerverhältnis und die Gründung von Arbeiter-Rentengütern in [A 232]weiterem Maß für wünschenswert, als mir dies nach den bisherigen Erfahrungen ratsam erscheinen will. Aber die Wichtigkeit der Schaffung von Almenden für die etwa anzusetzenden Kleinbesitzer hebt er sehr energisch hervor.9Goltz, Arbeiterklasse, S. 259–273. Der Wert seines wie des Sering’schen Werkes liegt nicht zuletzt in dem genauen Eingehen auf die ganz konkreten wirtschaftlichen Bedingungen der gesunden Existenz von Arbeiter- bezw. Kleinbauernwirtschaften, – Erörterungen dieser Art sind überhaupt von wissenschaftlicher Seite in der Litteratur, welche sich in meist ganz allgemein-philanthropischer Weise mit dem Gedanken der „Seßhaftma[227]chung“ befaßt, nicht geboten worden. Das von Sering in eingehenden örtlichen Recherchen über die wirtschaftlichen Ergebnisse der Kolonisation und Güterparzellierungen in Mecklenburg, dem Kreis Kolberg-Körlin, Westpreußen, auf den Gütern der Ansiedelungs-Kommission und der polnischen Rettungsbank10[227]Der Erlaß des Ansiedlungsgesetzes vom 26. April 1886 für die Provinzen Westpreußen und Posen führte auf polnischer Seite als Gegenreaktion zur Gründung von Landerwerbsgenossenschaften für polnische Ansiedler. Im Jahre 1888 wurde als Kreditvermittlungsinstitut für diese Genossenschaften in Posen die Bank Ziemski – auch „Rettungsbank“ genannt – ins Leben gerufen. Ihre Hauptaufgabe war die Vermittlung und finanztechnische Abwicklung von Parzellierungen von Gütern polnischer Adliger für polnische Ansiedler. Die polnischen Adligen sollten so vom Verkauf ihrer Güter an die deutsche Ansiedlungskommission abgehalten werden. Vgl. Sering, Kolonisation, S. 243 und 254f. und das Ergehen der Kolonisten gesammelte Material bietet zum erstenmal die Unterlage für eine Kritik der Parzellierungspraxis. Die positiven Forderungen Sering’s sind weittragend und doch nicht phantastisch. Er berechnet,11Siehe für das folgende ebd., S. 33. daß zur Überführung des Ostens in die Grundbesitzverteilung des mittleren und nordwestlichen Deutschlands die Begründung von etwa 160 000 Bauernstellen auf einem dem Großbesitz abzunehmenden Gesamtareal von etwas über zwei Millionen Hektar erforderlich wäre. Der Großbesitz behielte dort alsdann noch immer über vier Millionen Hektar oder ein Drittel der Fläche in Händen. Im ersten Jahre sind bekanntlich etwa 150 000 Hektar zur Parzellierung angeboten worden.12Ebd., S. 93.

Die Größe der zu begründenden Bauernstellen will auch Sering in Übereinstimmung mit dem, was über die Existenzfähigkeit gerade der kleineren, ohne erheblichen Bedarf an fremden Arbeitern bewirtschafteten Stellen, welche nicht für den großen Markt produzieren, bekannt geworden ist, auf etwa 7½-15 Hektar (30–60 Morgen) mittleren Bodens bemessen sehen,13Sering, ebd., S. 272, schreibt, daß die zu schaffenden Bauern- und Büdnerstellen den gegebenen Bodenverhältnissen so anzupassen seien, daß sie entweder „eine volle und wirtschaftliche Ausnutzung der vorhandenen Spannkraft gestatten oder aber mit dem Spaten bearbeitet werden können“, im zweiten Fall dem Büdner also noch genug Zeit für Lohnarbeit geben. Genaue Zahlenangaben über die Größe der zu begründenden Bauernstellen macht Sering nicht. die Durchführung der Kolonisation in Verbindung mit der Gewährung der Baugelder-Vorschüsse der Generalkommission belassen unter teilweiser Umgestaltung der geltenden Bestimmungen. Die Anlage soll nach ihm regelmäßig [228]nicht dorfweise, sondern nach dem Hofsystem erfolgen.14[228]„Gerade diejenige Ansiedlungsform hat sich am besten bewährt, welche innerhalb des Gemeindeverbandes dem Einzelwirt den freiesten Spielraum giebt: das Hofsystem“. Ebd., S. 271. Hofsystem bedeutet im Gegensatz zum Dorfsystem die Ansiedlung der Bevölkerung auf weiter auseinanderliegenden Einzelhöfen. Das ist wirtschaftlich an sich gewiß vorzuziehen, hat aber Bedenken im Hinblick auf das wünschenswerte kommunale Leben und namentlich die Bevölkerungsvermehrung – der Nachwuchs ist nach bekannten Erfahrungen auf dem Lande leichter unterzubringen, anzusiedeln oder sonst zu verwerten, wenn er von Dorfgemeinschaften aufgenommen wird.

Allein ich enthalte mich aller Kritik im einzelnen und überhaupt jedes Eingehens auf die Einzelheiten der beiden Schriften, welche freilich das für den Landwirt erst eigentlich Interessante in ihnen darstellen,15Die Zeitschrift „Das Land“ wurde von dem Heimatforscher und Dichter Heinrich Sohnrey herausgegeben; sie wandte sich an ein breiteres, an den agrarischen Verhältnissen praktisch interessiertes Publikum, einschließlich der Landwirte selbst. weil zu hoffen und zu erwarten ist, daß jeder, der sich ein Urteil über diese Dinge zutraut oder bilden will, aus der Quelle selbst schöpfen wird.