[722]Die nationalen Grundlagen der Volkswirtschaft
[A(1) 2][Bericht der Frankfurter Zeitung]
Im Evangelisch-sozialen Vortragsverein sprach gestern Abend vor zahlreicher Zuhörerschaft der Nationalökonom Prof. Dr. Max Weber-Freiburg.
Den Bestrebungen der internationalen Sozialdemokratie, der in der Leugnung nationaler Schranken für das Wirthschaftsleben die Freihandelsschule vorausgegangen sei, hielt er die durch Jahrtausende herausgebildeten Rasseneigenschaften und Kulturstufengrade entgegen, vermöge deren sowohl eine niedere Rasse durch den Zusammenstoß mit höheren Kulturvölkern, als auch ein höheres Kulturvolk durch die Berührung mit einem Volke niederer Kultur gefährdet und vernichtet werden könne. In der Provinz Westpreußen z. B. verdrängt der an eine niedere Lebenshaltung gewöhnte polnische Arbeiter die deutsche, höhere Anforderungen stellende Bevölkerung. Natürlich müsse doch zuletzt auch die Arbeiterschaft höherer Kulturvölker durch den Zuzug von Arbeitern niederer Lebenshaltung geschädigt werden. Dies lehre doch, welche Bedeutung der Nation für die Arbeiter zukomme. Ohne die englische Weltmachtstellung und industrielle Überlegenheit wäre die englische Arbeiterschaft nicht zu ihren Erfolgen gelangt. Daß die Grundlagen der Volkswirthschaft nationale seien, gehe aus der Thatsache hervor, daß ohne Industriezölle gegen die fortgeschritteneren Staaten keine Industrieentfaltung
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in weniger vorgeschrittenen möglich sei. Wenn ein so fruchtbares Land wie Argentinien durch sein enorm billigeres Getreide den deutschen Landwirth schädige, so führe ein Überhören der Klagen der Landwirthe zur Abhängigkeit vom Auslande. Da aber Machtfragen zwischen Sein und Nichtsein der Nationen entscheiden, so sei das Verbrüderungsideal der internationalen Sozialdemokratie eben ein Traum, der die Rassen- und Kulturverschiedenheiten gänzlich vergessen habe. Der Referent ist allerdings dafür, daß auch die Arbeiter aus ihrer politischen Ohnmacht durch Gewäh[723]rung der Koalitionsfreiheit herauskämen.[722]A (1): Industrieenthaltung
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Die Umsturzvorlage sei ein trauriges Symptom dafür, daß man sich von diesem Wege entfernt habe.[723] Nach der Reichsgewerbeordnung gab es für landwirtschaftliche Arbeiter keine und für gewerbliche Arbeiter in verschiedener Hinsicht nur eingeschränkte Koalitionsfreiheit. Auch waren die Gewerkschaften nicht befugt, Dachverbände zu bilden. Vgl. Trautmann, Günter, Gewerkschaften ohne Streikrecht, in: U. Engelhardt u. a. (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. – Stuttgart: Klett 1976, S. 472–537.
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Die Umstürzler wären zuletzt nicht die Sozialdemokraten, sondern gewisse Nationalliberale gewesen, deren Vaterschaft an der Umsturzvorlage ein Verbleiben in der nationalliberalen Partei schwierig mache.Die sogenannte Umsturzvorlage wurde im Dezember 1894 im Reichstag eingebracht. Sie sah bei zahlreichen Tatbeständen eine Verschärfung geltender Strafrechtsbestimmungen sowie eine Einschränkung der Pressefreiheit vor. Ziel war es, den Einfluß der Sozialdemokratie zurückzudrängen. Zu Max Webers Haltung zur Umsturzvorlage siehe die von ihm unterzeichnete „Erklärung gegen die Umsturzvorlage“ sowie den dazugehörigen Editorischen Bericht, unten, S. 872–884.
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Sympathisch steht der Referent den evangelisch-sozialen Vereinen gegenüber, weil da die Arbeiter mehr Freiheit hätten als in dem sozialdemokratischen Verband, der das religiöse Verhalten seiner Mitglieder z. B. in Berlin so scharf kontrollire, daß Missionäre bei Nacht und Nebel in die Familien kommen müßten, wenn ein Sozialdemokrat noch religiöse Bedürfnisse habe. – Webers Bemerkung über die „Vaterschaft“ der Nationalliberalen an der Umsturzvorlage bezieht sich darauf, daß nach der Welle anarchistischen Terrors von 1894 Teile der nationalliberalen Presse sowie der nationalliberale Delegiertentag vom 30. September 1894 in Frankfurt am Main ein schärferes staatliches Vorgehen gegen die Sozialdemokratie gefordert hatten. Vgl. Köhne, Renate, Nationalliberale und Koalitionsrecht. – Frankfurt am Main: Peter Lang 1977, S. 238–242.
[724][A(2) 2][Bericht des Frankfurter Journals]
Der seit kurzem in die Öffentlichkeit getretene evangelisch-soziale Vortragsverein gedenkt ein reges Leben zu entfalten. Gestern sprach im ziemlich gefüllten Concordiasaal über obiges Thema der Professor der Nationalökonomie Dr. Max Weber.
Die Nationen sind durch in Jahrtausenden
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angezüchtete Eigenschaften und durch Verschiedenheiten der Kulturniveaus darauf angewiesen, wirtschaftliche Einheiten zu bilden und unter Umständen sich durch Industrie- oder Landwirtschaftszölle gegen das Ausland abzuschließen. Die Freihandelsschule und die Sozialdemokratie leugneten zu Unrecht das Bestehen nationaler Schranken. Aber ohne Industriezölle gegen England wäre in Deutschland keine so mächtige Industrie erblüht, und ohne Schutz gegen Überschwemmung mit ausländischem Getreide, welches aus fabelhaft fruchtbaren Ländern käme, würde die deutsche Landwirtschaft zu Grunde gehen und unser Vaterland vom Ausland abhängig werden. Nicht nur brächten höhere Kulturvölker niederen Rassen durch wirtschaftliche Überlegenheit Verderben, sondern auch das Umgekehrte sei der Fall. Arbeiter fremder Nationalität mit niederer Lebenshaltung können den Arbeitern höherstehender Kulturen verderblich werden. Und da vergesse der Traum der internationalen Sozialdemokratie die Rassen- und Kulturunterschiede zu eigenem Schaden. In Westpreußen verdrängt das sich stark vermehrende polnische Proletariat, welches viel geringere Ansprüche an das Leben stelle als die deutsche Bevölkerung, die deutschen Arbeiter. Ob sich denn die internationale Sozialdemokratie mit Negern und Chinesen konsequenterweise ebenfalls verbrüdern würde? Die englischen Arbeiter verdankten ihre politischen Erfolge der Machtstellung Englands. So lange die Macht zwischen Nationen entscheidet, beruht auch die Volkswirtschaft auf nationaler Grundlage. Freilich müßten die Arbeiter Teil an der politischen Macht haben und durch Ausstattung mit der Koalitionsfreiheit in die Lage gesetzt werden, ihre Angelegenheiten selber zu ordnen.[724]A (2): Jahrtausende
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Man zeige mit der, leider nationalliberalerseits erzeugten Umsturzvorlage,[724] Siehe S. 723, Anm. 1.
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daß man in sozial-reformeri[725]schem Rückschritt begriffen sei. – Referent spricht deshalb gerne zu evangelisch-sozialen Arbeitern, weil sie nicht unter sozialdemokratischer Parteiknechtschaft ständen. Wolle ein Sozialdemokrat in Berlin religiösen Sinn in seiner Familie pflegen, so müßten die Stadtmissionare bei Nacht und Nebel zu ihm kommen, so scharf sei die Kontrolle, trotz des Satzes, daß Religion Privatsache sei.Siehe S. 723, Anm. 2 und 3.
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[725] Sowohl 1875 als auch 1891 hatte die Sozialdemokratie in ihren Programmen die „Religion zur Privatsache“ erklärt. Siehe oben, S. 619, Anm. 1.
[726][A(3) 2][Bericht des Frankfurter Volksboten]
Der, Dienstag, den 12. März in der Konkordia unter Vorsitz des Herrn Werkführers Bärrn, stattgefundene Vortrag des Herrn Professors Max Weber über „Die nationalen Grundlagen der Volkswirtschaft“ war leider nicht so besucht, wie Thema und Ruf des Vortragenden erwarten ließen. Desto aufmerksamer folgten die Anwesenden den fesselnden und klaren Ausführungen des Redners, der zunächst die Ursachen der Verwischung der Nationalitäten berührte.
Der Freihandel und die internationale Arbeiterbewegung, die aber beide sich nirgends völlig verwirklicht haben.
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Die ersten Schranken wurden von der Industrie verlangt, als Schutzzoll gegenüber industriell entwickelteren Ländern, z. B. gegen England. Eine weitere Schranke, der landwirtschaftliche Schutzzoll, wurde gegen die durch die verbesserten überseeischen Verkehrsmittel begünstigte Getreidekonkurrenz des Auslandes errichtet, hier gegenüber dem geringeren Kulturgrad eines Landes; beispielsweise gegen Argentinien, das durch guten Boden und billigere Arbeitskräfte (Indianer), wie der Vorsitzende in einem drastischen Beispiel nachwies, erstaunlich billig produzieren kann. Eine dritte, natürliche Schranke ergibt sich betreffs der Rassenunterschiede. Einerseits gehen Indianer und Neger gegenüber den höher kultivirten Weißen zurück; andererseits, beispielsweise im Osten Deutschlands, ist das Umgekehrte der Fall, die niedere Kultur verdrängt die höhere. In Westpreußen halten die an höhere Lebenshaltung gewöhnten deutschen Tagelöhner auf den großen Gütern die Konkurrenz der einwandernden Polen nicht aus und wandern nach dem Westen; die Polen selbst vermehren sich außerdem sehr stark. Nur die deutschen Bauern nehmen in einigen Gegenden dort ebenfalls zu. Dieser Prozeß bedeutet für die Provinz einen starken kulturellen Rückgang und zeigt, wie die geringere Lebenshaltung ebenfalls ein Vorteil sein kann. Dieser Kampf der Nationalitäten im Frieden kann durch keine internationalen Schiedsgerichte entschieden werden; auch in wirtschaftlicher Beziehung siegt zuletzt die Macht. Die dabei am meisten interessierten deutschen Arbeiter sind sich dieser Gefahr noch nicht bewußt. In Australien wird von den in einigen Staaten zur Herrschaft gelangten Arbeitern [727]die Einwanderung der Chinesen verboten,[726] Satz defekt in A(3).
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die Polen sind aber durch die Möglichkeit der Vermischung und Herunterdrückung der deutschen Kultur noch gefährlicher. Diese Verkennung der nationalen Bedeutung, der Macht des eignen Staates von Seiten der deutschen Arbeiter ist noch gefährlicher als ihre sozialen Theorien. Der Grund zu dieser Zerklüftung innerhalb unseres Volkes liegt in der ökonomischen und politischen Ohnmacht der heimischen Arbeiterschaft, der zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten die Verbandsfreiheit fehlt,[727] In Victoria und Neusüdwales wurde die Einwanderung chinesischer Arbeiter 1855 und 1861 erstmalig gesetzlich beschränkt. 1888 folgten in beiden Staaten schärfere Bestimmungen, die den chinesischen Einwanderungsstrom nahezu zum Versiegen brachten. Weitere „Chinese Immigration Acts“ waren zuvor in Neuseeland (1881 und 1888), Queensland (1877, 1878, 1884), Südaustralien (1881), Tasmania (1887) und Westaustralien (1886) erlassen worden. Bauer, Stephan, Arbeiterfrage und Lohnpolitik in Australasien, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 2, 1891, S. 650f.
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die beispielsweise in England schon längst besteht. Ob es in absehbarer Zeit anders wird, ist gegenwärtig kaum zu hoffen, wo die Umsturzvorlage eingebracht ist,Den Gewerkschaften fehlte das Recht, sich zu übergeordneten Verbänden zusammenzuschließen, da ein entsprechendes Vereinsgesetz noch ausstand. Vgl. auch S. 723, Anm. 1.
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die nicht durch einzelne Strafbestimmungen, sondern als Mißtrauensvotum gegen die Nation, gegen das Volk als eine Gesellschaft von Verschwörern bedenklich ist. Die wahren Verschwörer gegen die Nation tagten in Frankfurt a.M. vor Jahresfrist, als sie das Kukuksei dieser Vorlage ausbrüteten.Siehe S. 723, Anm. 2.
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Die nationalliberale Partei hat ihre großen Verdienste, aber es ist weit gekommen, wenn Stöcker ihr gegenüber die Freiheit der Wissenschaft verteidigen muß.Gemeint ist der nationalliberale Delegiertentag in Frankfurt am Main vom 30. September 1894. Vgl. S. 723, Anm. 3.
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Die Nationalliberalen fürchten sich einerseits vor dem Volk, andrerseits vor der Sozialpolitik von oben, daher ist ein großer Teil ihrer jüngeren Elemente, darunter auch Redner, zum Abfall bereit, sobald eine gesunde, nationale Parteibildung im Werden ist. In den evangelischen Arbeitervereinen sieht Redner einen Teil der Bewegung in der deutschen [728]Arbeiterschaft, die für die Bedeutung der Machtfragen in der Welt, für die eigene Nation Verständnis hat. Darin liegt eine ihrer Aufgaben. Gerade indem sie jede kirchliche Richtung zulassen und keine Kontrole über Kirchenbesuch üben, wie die sozialdemokratischen Fachvereine in Berlin, so daß die Genossen bei Gefahr ihrer Existenz nächtlicher Weile den Stadtmissionar einlassen, sind sie ein Hort der Freiheit im eignen Gewissen und im Vaterlande. Ihre Mission ist erfüllt, sobald in breiten Volkskreisen diese Überzeugung sich Bahn gebrochen hat. – Gemeint ist die Rede Adolf Stoeckers im preußischen Abgeordnetenhaus am 2. März 1895. Stoecker verteidigte hier die Berliner Nationalökonomen Gustav Schmoller und Adolph Wagner gegen die Angriffe des nationalliberalen Abgeordneten Ernst von Eynern. Von Eynern hatte anläßlich der Einrichtung eines Lehrstuhls für Nationalökonomie an der Technischen Hochschule in Charlottenburg gefordert, dieser dürfe keinesfalls mit einem Vertreter der „Kathedersozialisten“ besetzt werden. Sten. Ber. pr. AH., 18. Leg. Per., II. Sess. 1895, Band 2, S. 1068–1072.
Im Bericht des Frankfurter Volksboten heißt es weiter: „Anhaltender, lebhafter Beifall dankte dem Redner.“ An der sich anschließenden Debatte beteiligte sich auch Martin Rade. Kritik an Webers Vortrag wurde von sozialdemokratischer Seite geübt. Daraufhin ergriff Max Weber nochmals das Wort:
Herr Professor Weber selbst widerlegte mit überlegenem Humor die Angriffe des sozialdemokratischen Redners auf die Universitätslehren sowie verschiedenen falschen Behauptungen, u. a. die, daß England nur durch Freihandel groß geworden, mit dem Hinweis auf die frühere gewaltthätige englische Handelspolitik, die erst, als sie keine Konkurrenz mehr zu fürchten hatte, zum Freihandel überging. Die deutsche Industrie, auch die deutsche Arbeiterschaft[,] wäre ohne Schranken gegen England gar nichts
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geworden. Die Solidarität der Arbeiter zeigte sich drastisch beim internationalen Bergarbeitertag in Berlin, wo die deutschen sozialdemokratischen Theorien von den praktischeren Engländern verlacht wurden.[728]A(3): nicht
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Für die Militärvorlage stimmte der Referent aus Gründen einer vernünftigen, nationalen Politik, für die jetzt beliebte Deckung der Kosten aber nicht.[728] Der fünfte internationale Bergarbeiterkongreß fand vom 14. bis 17. Mai 1894 in Berlin statt. Hier kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den deutschen, französischen und belgischen Abgeordneten einerseits und den englischen andererseits. Schulthess 1894, S. 120.
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Anfang März 1895 wurde der Marineetat für das Jahr 1895/96 im Reichstag angenommen. Auch die im neuen Etat vorgesehenen Mehrausgaben wurden, wenn auch in geringerem Maße als in den vorangehenden Jahren, mit Hilfe von Anleihen finanziert. Hallmann, Hans, Der Weg zum deutschen Schlachtflottenbau. – Stuttgart: W. Kohlhammer 1933, S. 142–147.
Es folgte noch eine kurze, abschließende Diskussion.