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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[123][A 8]Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter

I.

Wenn heutzutage in der Presse oder sonst die „Arbeiterfrage“ erörtert wird, so versteht es sich – und das ist eine eigentümliche Erscheinung – regelmäßig von selbst, daß dabei an die Arbeiterscharen der Großstädte und Industriecentren gedacht wird. Rauchende Schornsteine, gewaltige Treibriemen und das Keuchen der Dampfmaschinen, Keller- und Dachwohnungen in den Hinterhäusern der Großstädte und die Schnapsschänken an ihren Straßenecken bilden den Hintergrund; im Vordergrunde stehen lärmende Volksversammlungen, Massenstreiks, Resolutionen und Zeitungsartikel gegen die „Brotverteuerung“ und die „Champagner trinkenden Landwirte“. Das ist die Lebensluft, in welcher unwillkürlich in der Phantasie der Redenden, Schreibenden und Lesenden die „Arbeiterfrage“ haust, die Lebensluft des „Arbeiters“ überhaupt. Man sollte meinen, die Existenz eines „Arbeiterstandes“ sei eine Eigentümlichkeit des städtischen und gewerblichen Lebens, jedenfalls sei die Zahl der Lohnarbeiter in den Städten und in der Industrie eine ohne Vergleich größere als auf dem platten Lande, und auch eine „Arbeiterfrage“, ein soziales Problem, welches der Lösung bedürfte, bestehe nur dort. Daß das letztere unrichtig ist, werden die späteren Darlegungen zu zeigen haben, – wie es mit dem ersteren steht, ergibt die Statistik. Sie weist für das Deutsche Reich im Jahre 1882 an landwirtschaftlichen Tagelöhnern und ihren nicht selbständig erwerbenden Angehörigen über sechs Millionen Köpfe, mithin rund der damaligen Volkszahl der Nation auf.
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Die Zahl der landwirtschaftlichen Tagelöhner mit und ohne Eigen- und Pachtland, der in der Wirtschaft des Haushaltungsvorstands tätigen Familienangehörigen und der Knechte und Mägde betrug 1882 5,7 Millionen. Statistik NF 2, S. 69*. Nach der Berufszählung vom 5. Juni 1882 betrug die Volkszah! des Deutschen Reiches 45 Millionen (ebd., S. 9*).
Es gibt keine Gruppe von Arbeitern irgend einer Berufsart, welche an diese Zahl auch nur von ferne heranreichte. Dazu tritt noch das ländliche Gesinde.
[124]Die Landarbeiterschaft ist aber nicht nur ihrer Zahl wegen von hervorragender Bedeutung, sondern noch mehr deshalb, weil sie neben dem Bauernstande gewissermaßen den breiten Unterbau des Staates und der Nation auf dem Lande bildet. Aus beiden ergänzt sich die Bevölkerung der Städte durch fortwährenden Zuzug von Arbeitskräften, sie liefern dem Heer die kräftigsten Rekruten. – Während wir nun über die Lage der verschiedenen Berufsgruppen der industriellen Arbeiter im Laufe der Zeit immer vollständiger unterrichtet worden sind, bilden die Verhältnisse der Landarbeiter teils eine ungelöste Frage, teils den Gegenstand eines heftigen Meinungsstreites. Von der einen Seite – den Großgrundbesitzern – wurde häufig behauptet, daß die Lage der ländlichen Arbeiter überhaupt nichts zu wünschen übrig lasse, und ihre Existenz in ländlicher Beschaulichkeit und Zufriedenheit verlaufe, von der andern, daß sie ein „modernes Leibeigenschaftsverhältnis“
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[124]Als Zitat nicht nachgewiesen. Vgl. jedoch sinngemäß Schippel, Max, Die Rechtlosigkeit der landwirthschaftlichen Arbeiter in Preußen. II, in: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. 10. Jg., Band 1, 1891/92, Nr. 9, S. 266: „Sie [die rechtliche Lage] läßt die Landarbeiter als Heloten erscheinen gegenüber dem viel freieren gewerblichen Proletariat.“
schlimmster Art darstelle. Es war an sich schon wahrscheinlich, daß beide Behauptungen, gleich unbewiesen wie sie waren, auch in gleicher Weise einseitig sein würden. Immerhin aber befanden wir uns darüber im dunkeln.
Im Jahre 1848 hatte man zuerst Erhebungen über die Arbeiterverhältnisse auf dem Lande in Preußen angestellt,
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Gemeint ist die von dem preußischen Landesökonomiekollegium 1848/49 ins Werk gesetzte Umfrage über Arbeitsmöglichkeiten und Auskommen der verschiedenen Gruppen der Landarbeiter. Der Generalsekretär des Kollegiums, Alexander von Lengerke, veröffentlichte die Ergebnisse 1849 unter dem Titel „Die ländliche Arbeiterfrage“.
im Jahre 1873 wurde dies unter Leitung des Professors von der Goltz für das Reich wiederholt.
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Diese Erhebung, die auf eine Initiative des Kongresses deutscher Landwirte zurückging, zielte vor allem auf eine Klärung der Ursachen des Landarbeitermangels. Theodor Freiherr von der Goltz veröffentlichte die Ergebnisse 1875 unter dem Titel „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich“.
Beidemal verfuhr man so, daß an eine größere Zahl von Grundbesitzern Fragebogen zur schriftlichen Beantwortung verschickt und die Resultate zusammengestellt wurden.
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Die Fragebögen wurden an die landwirtschaftlichen Vereine in Preußen bzw. im Deutschen Reich verschickt. Vgl. Lengerke, Arbeiterfrage, S. 2, und Goltz, Lage, S. XI.
Ähnlich ist auch verfahren worden bei der Erhebung, welche in diesem Jahre der Verein für Sozialpolitik unter Leitung des Geh[eimen] Ober-[125]Regierungsrats Dr. Thiel im Preuß[ischen] Landwirtschaftlichen Ministerium über die Lage der Landarbeiter im ganzen Reich ins Werk gesetzt hat. Es sind an etwa 3000 Gutsbesitzer Fragebogen versandt worden und über 2000 Antworten eingegangen,
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[125]Insgesamt wurden 3742 Fragebögen abgesendet, von denen 2568 beantwortet wurden. Vgl. Thiel, Einleitung, S. X.
deren Ergebnis soeben in drei starken Bänden im Druck erscheint.
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Die Bände erschienen in der Schriftenreihe des Vereins für Socialpolitik: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 53 bis 55. Band 53 erschien am 2. November 1892, die Bände 54 und 55 folgten am 17. Dezember 1892 (jeweils laut Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige).
Über die wesentlichen Resultate soll in einer Reihe von Artikeln in dieser Zeitschrift berichtet werden. Vorerst ist nur einiges über die Art und Weise der Erhebung voranzuschicken.
Man hat es befremdlich gefunden, daß bei einer Erhebung über die Lage der Landarbeiter nicht diese selbst, sondern nur ihre Arbeitgeber gefragt worden sind, und die sozialistische Presse hat geglaubt, daraus auf den Mangel der ehrlichen Absicht schließen zu dürfen, die wirklichen Mißstände auf dem Lande kennen zu lernen.
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Vgl. den Editorischen Bericht, S. 120.
Nun ist der einseitige Ursprung der Berichte ganz unzweifelhaft und wie sich die Veranstalter der Enquête von Anfang an bewußt waren, eine höchst bedauerliche Lücke. Es hätte den Wert der Ergebnisse unbedingt ganz bedeutend erhöht, wenn mari beide Teile hätte hören können. Eine andere Frage freilich ist es, wie dies zu veranstalten gewesen wäre. Die Erfahrungen mit der Enquête haben wiederholt gezeigt, wie verhältnismäßig selten selbst von Gutsbesitzern, die im Osten z. B. doch durch ihre Stellung als Gutsvorsteher Veranlassung haben, sich mit der „Schreiberei“ vertraut zu machen, eine wirklich völlig brauchbare Beantwortung eines Fragebogens erfolgt: ein bedeutender Teil der Antworten wimmelt von Mißverständnissen und Irrtümern.
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Webers Urteil ist nicht überprüfbar, denn der Verbleib der Antworten ist nicht bekannt. Siehe Riesebrodt, S. 31.
Wie würde sich das bei einer schriftlichen Befragung der Landarbeiter gestaltet haben? Überdies würde es keinen Sinn gehabt haben, wenn man etwa zur Kontrolle der Angaben des Gutsherrn einen seiner Arbeiter gefragt hätte. Denn deren Verhältnisse sind unter einander wieder außerordentlich verschieden und das einzelne Gut hält 3, 4, 5 gänzlich verschieden gestellte, ganz verschieden wohnende und essende Arten von Arbeitern; man hätte, wenn man [126]diesen Zweck erreichen wollte, etwa die zehnfache Zahl von Arbeitern fragen müssen, wie von Arbeitgebern. Aber – und das ist die Hauptsache – man hätte auch einen vollständig anderen Fragebogen für ihre Befragung aufstellen müssen, denn etwa 910 von den Fragen, welche an die Arbeitgeber gerichtet waren, konnten nur sie und kein Arbeiter beantworten.
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[126]Es kamen zwei Fragebögen zur Versendung. Ein spezieller, dessen Schwerpunkt auf den Arbeits- und Einkommensverhältnissen der einzelnen Gruppen der Landarbeiter lag, und ein allgemeiner, der stärker auf die Einschätzung der Gesamtlage der Arbeiter (Sittlichkeit, Überanstrengung, patriarchalische Beziehungen) abzielte. Die beiden Fragebögen sind abgedruckt in Thiel, Einleitung, S. XIV–XXIV, sowie als Anhang zum Editorischen Bericht bei Riesebrodt, S. 37–47.
– Stellt man sich schließlich vor, was das Ergebnis des Ganzen gewesen wäre, so läßt sich mit Wahrscheinlichkeit sagen: eine große Konfusion in den Köpfen der Leute, welche es schwerlich verstanden haben würden, zu welchem Zweck man von ihnen Dinge wissen wolle, von denen sie annehmen, daß sie nur sie selbst etwas angehen. Zu solchen Experimenten fehlte dem Verein für Sozialpolitik nicht nur Zeit und Neigung, sondern auch das Geld. Will man wirklich nach der alten Regel verfahren, daß man „auch den andern Teil hören“ soll, so muß man dann, wie dies anderwärts bei großen staatlichen Enquêten geschehen ist,
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Anspielung auf die englischen Enquetekommissionen, die entweder von einem der beiden Häuser des Parlaments oder von der Regierung eingesetzt werden konnten und das Recht hatten, Bürger, seien es Beamte oder Privatpersonen, als Zeugen für bestimmte Mißstände im öffentlichen Leben zu einer öffentlichen „Vernehmung“ zu laden.
beide Teile zu einer mündlichen, womöglich einer öffentlichen Verhandlung vorladen und dann vernehmen. So lange man dies nicht kann, ist es besser, ein Material zu gewinnen, welches die Auffassung eines Teiles über die Lage der Verhältnisse enthält, als durch ergebnislose Experimente die Sache, die man vertritt, zu kompromittieren. – Einen Versuch, auf einem Umwege auch an die Arbeiter heranzukommen und ihre Ansicht zu hören, oder doch jedenfalls noch Material aus einer anderen Quelle als aus den Berichten der Arbeitgeber zu gewinnen, beabsichtigt der „Evangelisch-soziale Kongreß“ in Berlin zu unternehmen, dessen Ausschuß beschlossen hat, unter den Landgeistlichen eine Erhebung über die Lage der Landarbeiter zu veranstalten.
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Dieser Beschluß war auf Anregung Paul Göhres und Max Webers vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses am 22. Juni 1892 gefaßt worden. Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 6.
– Wir kommen darauf noch zurück.
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Bezug nicht eindeutig.
[127]Ein empfindlicherer Mangel des Materials, als der eben erörterte, beruht darauf, daß wir durch die Erhebung über die Verhältnisse der Arbeiter der Bauern nur sehr lückenhaftes Material, namentlich für den Osten, erhalten. Die landwirtschaftlichen Vereine hatten diejenigen Personen angegeben, welche zur Beantwortung von Fragen geeignet und geneigt sein würden, und im Osten überwiegt in diesen [A 9]Vereinen der Großgrundbesitz noch mehr als anderwärts. Es ist auch aus diesem Grunde im höchsten Grade erwünscht, wenn in dieser Zeitschrift künftig im Anschluß an die nachfolgenden Erörterungen aus dem Kreise der Leser heraus das Wort ergriffen wird, um die Angaben, welche ich auf Grund des Materials zu machen imstande bin, richtig zu stellen oder zu ergänzen. |

[A 24]II.

Um das Wesen der ländlichen „Arbeitsverfassung“, d. h. der Grundsätze, nach denen der Landwirt seine Arbeitskräfte verwendet, und die großen Verschiedenheiten unter den einzelnen vorkommenden Arten von Arbeitern zu verstehen, bedarf es einiger allgemeiner Vorbemerkungen. Jeder Landwirt weiß, daß er zu den verschiedenen Jahreszeiten sehr verschieden viele Arbeitskräfte gebraucht. Im Winter könnte er, zumal wenn er heutzutage mit Maschinen drischt, oder wenn er viel Zuckerrüben baut, mehrere Monate lang fast aller Arbeitskräfte bis auf das notwendigste Personal zur Wartung des Viehes, entbehren, in der Erntezeit kann er stets, und besonders wenn das Wetter sich etwas unsicher anläßt, zu viel Arbeitskräfte überhaupt kaum und genug meist nur sehr schwer bekommen. – Es gibt zwar eine große Anzahl von Industrien, welche gleichfalls nur „Saison-Gewerbe“ sind und deshalb gleichfalls während der einzelnen Jahreszeiten einen ungemein verschieden starken Bedarf an Arbeitskräften haben, aber in keinem Gewerbe handelt es sich um so gewaltige Zahlen, wie in der Landwirtschaft. Diese besondere Lage, in der sich der Landwirt jedes Jahr von neuem befindet, ist, und zwar namentlich für die größeren Güter, das schwierigste Problem der ländlichen Arbeitsverfassung. Man hat auf sehr verschiedene Art versucht es zu lösen, und es verlohnt sich, darauf einen Blick zu werfen.
Wo die eigentliche Sklaverei bestand – wir haben sie in Deutsch[128]land schon seit 1000 Jahren nicht gekannt – war man meist genötigt, die sämtlichen oder doch fast sämtliche Arbeitskräfte, welche man zur Zeit der Ernte brauchte, [A 25]das ganze Jahr über zu halten, denn es hat sich überall gezeigt, daß es nicht anging, in der Erntezeit gemiethete freie Leute neben den Sklaven zu beschäftigen, teils weil es gefährlich war, teils weil sich auf die Dauer niemand fand, denn im Sklavenstaate hat die Arbeit von jeher als schändend gegolten. Die Folge war, daß man eine große Anzahl Leute, für welche man außerhalb der Ernte keine Arbeit hatte, das ganze Jahr über durchfüttern mußte, und daran sind früher oder später alle Sklavenwirtschaften zu Grunde gegangen oder haben doch keine wirtschaftlichen und technischen Fortschritte zeitigen können, – so z. B. diejenigen des alten römischen Reiches. Dort hielt man die Sklaven in Kasernen mit gemeinschaftlichen Speisesälen, ähnlich unsern Sachsengängerhäusern, nur daß sie zeitlebens so zu existieren hatten; sie wurden unter Aufsicht gemeinsam gespeist, zum dauernden Bedarf hatten sie nichts als einige Garnituren Kleidung, die ihnen geliefert und von ihnen „auf Kammer“ abgegeben wurden, und kannten etwas wie „Ehe“ regelmäßig nicht, die Kinder der Sklavinnen wurden, wenn entwöhnt, gemeinschaftlich erzogen. Als nun aber nach der Schlacht im Teutoburger Walde
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[128]In der genannten Schlacht vernichtete der Cheruskerfürst Arminius mit Verbündeten im Jahre 9 n. Chr. ein römisches Heer unter Publius Quinctilius Varus.
die Eroberungen ein Ende nahmen und infolge dessen keine oder wenig Sklaven auf den Markt kamen, ging es mit dieser Art der Wirtschaft allmählich aber sicher zu Ende, weil das Halten so zahlreicher Sklaven zu kostspielig und irrationell wurde. –
Die grade entgegengesetzte Gestalt nimmt die Arbeitsverfassung in manchen Kolonialländern an, wo die Sklaverei nicht besteht, so, um ein Beispiel herauszugreifen, im Innern Argentiniens.
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Das Beispiel Argentinien behandelte Weber ausführlich 1894 in seiner zweiteiligen Artikelserie „Argentinische Kolonistenwirthschaften“, unten, S. 286–303.
Die dortigen Kolonisten, welche durchweg Weizen zum Export bauen, halten, auch wenn ihr Besitz viele Hundert Hektar groß und ihr Viehstand ein erheblicher ist, – das Vieh ist freilich halbwild, die Kühe milchen nur, wenn sie gekalbt haben – selten mehr als einen ständigen Arbeiter, der eine Art Inspektorstellung einnimmt. Im [129]übrigen hält man eigene Arbeiter oder Gesinde garnicht, sondern zur Zeit der Feldbestellung und der Ernte kommen halbnomadenhafte Arbeiterscharen aus den weiter nach Innen gelegenen Distrikten, sie werden ohne Kontrakt, gegen Kost und (meist) Akkordlohn beschäftigt, als Unterkunft erhalten sie günstigstenfalls einen Schuppen, meist nur ein Regendach gestellt, die Weiber und Kinder (von förmlicher Ehe ist keine Rede, es besteht etwa die Bebel’sche Ehe auf Probe und gegenseitiges Gefallen)
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[129]Anspielung auf August Bebels Schrift „Die Frau und der Sozialismus“. Im Kapitel „Die Frau in der Zukunft“ entwickelte Bebel das Modell der Ehe als eines jederzeit im beiderseitigen Einvernehmen wieder auflösbaren Privatvertrags. Das Buch hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Webers Artikel siebzehn Auflagen erreicht.
kampieren im Felde in Zelten oder treiben sich umher. Das Korn wird auf dem Felde durch umherziehende Unternehmer mit Maschinen ausgedroschen, in Säcke gefüllt und verkauft, und alsdann zieht der ganze Schwarm wieder ab, und der Kolonist sitzt allein in seinem öden Hause. Das ist natürlich nur möglich, weil z. B. Düngung ein unbekannter Begriff ist; trägt das Land nicht mehr, so geht man mit dem Tiefpflug einige Zoll tiefer und so weiter, nach einem Menschenalter wird der Boden tot und ausgelaugt sein. Jene wandernden Arbeiterscharen aber sind ein halbwildes, verwegenes Gesindel, vor dem man seines Lebens nicht sicher ist: ihr dauernder Besitz besteht aus einem Pferde und einem gewaltigen Manteltuch mit einem Loch für den Kopf, alles andere wird nach Gelegenheit gekauft und gestohlen, der Lohnverdienst zu einem winzigen Bruchteil der jeweiligen „Frau“ überliefert, der Rest schleunigst verjubelt und alsdann ein jammervolles Leben geführt. Der ganze Zustand führt zu schauderhaften Verhältnissen, der Landbau ist ein gewagtes Spekulationsgeschäft und wird, sobald die Besiedlung eine dichtere und durch die Konkurrenz um die Arbeitskräfte eine größere wird, noch mehr aber, wenn der Boden erschöpft und die Notwendigkeit, rationell zu wirtschaften, entstehen wird, in dieser Weise absolut nicht weiter geführt werden können. – Diese beiden Extreme der Arbeitsverfassungen sind, das leuchtet ein, Symptome einer ungefähr gleich großen sozialen Barbarei, und es kann sich nur fragen, ob der höhere Grad von Verwahrlosung nicht auf Seiten der absoluten Ungebundenheit der zuletzt besprochenen Arbeiter zu finden ist; denn an der Existenz des Sklaven und daran, daß seine Ernährung ausreichte, um die Arbeitskraft wieder zu ergänzen, hatte auch der Herr ein dringendes Interesse.
[130]Alle gesunden und normalen ländlichen Arbeitsverfassungen seßhafter und civilisierter Völker bewegen sich demgegenüber auf einem zwischen diesen Extremen liegenden Gebiet: man hält einen festen Stamm von dauernd das ganze Jahr über beschäftigten und kontraktlich gebundenen Arbeitskräften und daneben Arbeiter, welche nur im Sommer und in der Ernte verwendet werden. Ehe, zu Anfang dieses Jahrhunderts, die überlieferte Verfassung des platten Landes bei uns gesprengt wurde, waren die Verhältnisse im wesentlichen folgendermaßen gestaltet: An ständigen Arbeitskräften hielten sowohl der Bauer als die großen Güter zunächst lediges Gesinde für die Viehwartung. Die Feldbestellung besorgte der Bauer mit seinen Knechten meist ohne fremde Hilfe. Die großen Güter verwendeten für die Feldbestellung die Frondienste der unterthänigen spannfähigen Bauern. Sie mußten die Gutsäcker, die vielfach im Gemenge mit der Feldflur des Dorfes lagen, mitbestellen. Für die Erntearbeit wurden neben den Knechten die nicht spannfähigen Einsassen der Dörfer, Büdner, Häusler, Gärtner (Dreschgärtner), Instleute herangezogen. Denselben wurde dafür die Bestellung ihres Feldes von dem Gutsherrn resp. dessen unterthänigen Bauern und in den nicht unterthänigen Dörfern durch die Bauern mit ihren Gespannen geleistet. Sie hatten in den nicht unterthänigen Dörfern das Recht, auf der Gemeindeweide und in den Gütern auf der Gutsweide einige Stücke Vieh gegen geringes Entgelt zu halten, sonst aber keinen Anteil an der Allmende. Durch die Viehweide und dadurch, daß sie auch außerhalb der Erntezeit gegen Tagelohn arbeiteten, hatten sie ihr Auskommen. Auf den Gütern besorgten sie das Dreschen gegen Anteil, auch bei den größeren Bauern waren sie daran beteiligt. So beruhte die damalige Arbeitsverfassung auf gegenseitiger Aushilfe der Insassen der Dörfer und Güter, eine besitzlose freie Arbeiterschaft gab es nur in geringem Maße.
Nun kam die Agrargesetzgebung dieses Jahrhunderts: Aufhebung der Erbunterthänigkeit, Regulierungen der gutsherrlichen Bauern, Ablösung der Dienste, Separationen und Verkoppelungen, Aufteilung der Allmenden.
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[130]Weber bezieht sich auf die Kernstücke der preußischen Agrargesetzgebung: das Edikt über die Bauernbefreiung vom 9. Oktober 1807, das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 und seine Deklaration vom 29. Mai 1816 mit der Begrenzung auf spannfähige Bauern, die Ablösungsordnung für die Dienste und sonstigen Leistungen von spannfähi[131]gen Bauern mit „besseren Besitzrechten“ und die Gemeinheitsteilungsordnung, jeweils vom 7. Juni 1821. Vgl. ausführlicher oben, S. 95, Anm. 10 und 11.
Sie hatte folgende Wirkungen:
[131]Die Dienste der gutsherrlichen Bauern fielen fort, die spannfähigen erhielten gegen Abtretung eines Teils ihres Landes an den Gutsherrn Eigentum an dem Rest, die nicht spannfähigen zog der Gutsherr zum Teil ein. Er hatte also jetzt ein weit größeres Feld in eigener Bewirtschaftung, dagegen nicht mehr die alten Arbeitskräfte[,] und mußte für Heranziehung neuer und zwar in größerer Anzahl sorgen. Das that er, indem er einmal mehr Gesinde hielt, dann, indem er an Stelle der früheren nicht spannfähigen Bauern Instleute und Deputanten in größerer Zahl mit einigen Morgen Land auf Kontrakt ansetzte. Daneben bedurfte er in der Ernte auswärtiger Arbeiter zur Aushilfe. In den nicht unterthänigen Dörfern wurde durch die Aufteilung der Allmenden den angesessenen Arbeitern, Häuslern und Gärtnern die billige Viehweide genommen: „Die Bauern sind zu Edelleuten geworden und wir zu Bettlern“,
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Als Zitat nicht nachgewiesen.
klagten sie damals nicht ganz mit Unrecht, denn die 2–3 Kühe und Schweine hatten für sie einen gewaltigen Wert gehabt. Die Bauern hatten mehr Land erhalten, die Fronden der Gärtner und Häusler aber fielen weg, und sie bedurften gleichfalls, zumal in der Ernte, mehr Arbeitskräfte. Sie mieteten solche gegen Geldlohn, teils die angesessenen kleinen Leute, teils auswärtige besitzlose freie Leute, die in der Ernte herangezogen wurden, teils nahmen sie Mietsleute in Kontrakt für die Ernte, denen sie Wohnung, etwas Weide, Futter und etwas Land gaben. Durch die ganze Umwandlung [A 26]war also 1) ein größerer freier, nicht kontraktlich gebundener und besitzloser Arbeiterstand entstanden, 2) die Scheidung zwischen Besitz und Nichtbesitz eine sehr viel schärfere geworden und 3) das Geldlohnsystem in die ländliche Arbeitsverfassung eingeführt, wenngleich in sehr verschiedenem Grade. So entstand der Zustand, welchen wir heute in Deutschland finden, und dessen bunte Mannigfaltigkeit in den folgenden Artikeln geschildert werden soll. |

[132][A 43]III.

Unleugbar liegt zur Zeit der Schwerpunkt der „ländlichen Arbeiterfrage“ in den weiten ebenen Gebieten des deutschen Ostens, auf den Kolonialgebieten östlich der Elbe. Nicht als ob die Zustände anderwärts befriedigende wären, aber in ihrer ganzen verhängnisvollen Schwere äußerte sich die Folge der großen Wandlung in unseren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen gerade in jenen von der Natur wenig begünstigten Ostmarken des Reichs. Das hat in der Hauptsache seinen Grund in der Art der Verteilung des Grundes und Bodens. Der landwirtschaftliche Großbetrieb, welcher ausschließlich oder fast ausschließlich mit fremden Arbeitskräften wirtschaftet, empfindet jede Verschiebung in den Bedingungen des Arbeitsmarktes ungleich schwerer als bäuerliche Wirtschaften, bei welchen die eigene Arbeitskraft des Besitzers und seiner Familie einen wesentlichen Bruchteil der erforderlichen Kräfte darstellt; je kleiner die Bauernwirtschaft, desto günstiger ist in dieser Beziehung ihre Lage. Und ebenso steht es mit den Wirkungen ungünstiger Getreidepreise. Die großen Wirtschaften, welche fast ihr gesamtes Produkt an den Markt bringen, werden durch wenige Mark Preisunterschied in ihrer Existenz bedroht, während bäuerliche Besitzer, die einen beträchtlichen Bruchteil ihrer Erzeugnisse zum eigenen Konsum verwenden, dagegen unempfindlicher sind, und wiederum um so unempfindlicher, je geringer der zum Verkauf bestimmte Bruchteil, je kleiner also die Wirtschaft ist. Nun ist aber das ostelbische Deutschland das Land des Großgrundbesitzes. Auch wo er nicht der Fläche nach überwiegt, bildet er den sozial wichtigsten Faktor des Lebens auf dem Lande. Der Großgrundbesitzer beherrscht die kommunalen Verbände, sein Hof bildet den Mittelpunkt des geselligen Lebens, ihm gliedern sich die Offizierkorps in den kleinen Garnisonen, die Beamten auf dem Lande und in den kleinen Städten in gesellschaftlicher Beziehung an, die Frage des [A 44]Wahlausfalls ist regelmäßig lediglich identisch mit der, wie weit der Großgrundbesitzer die Wähler an der Hand hat oder nicht, und bewegt sich deshalb in den stärksten Extremen von rechts nach links, von seiner Kaufkraft und Kauflust hängt der Absatz gewerblicher Produkte bei weitem in erster Linie ab, sein Schuldenstand ist maßgebend für den Zinsfuß der Hypotheken, er ist Träger des technischen Fortschritts, eine Änderung in der Wirtschaftsweise der großen Güter führt zu gewaltigen Schwankun[133]gen in der Zahl der Arbeitskräfte, welche das Land versorgt und benötigt, – kurz Tausende von Existenzen hängen allenthalben in ihrem gesamten Schicksal von der Lage ab, in welcher sich die großen Güter jeweilig befinden. Das ist im Westen und Süden wesentlich anders. Auch wo die großen Güter in erheblicher Zahl vorkommen, ist ihr Einfluß in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung ein ungleich geringerer. Für den Arbeitsmarkt und die Löhne ist auch auf dem Lande nicht der Bedarf der Landwirtschaft, sondern derjenige der Industrie in erster Linie maßgebend, die Übermacht des Geldkapitals befindet sich in den Händen des Gewerbes. Die Zahl der alten Familien ist eine geringere, der Besitz des Bodens wechselt stärker, wird in höherem Maße als ein reines Erwerbsgeschäft behandelt und büßt damit an Bedeutung für die soziale Stellung des Besitzers ein, dem ländlichen Wirtschaftsleben prägt das Bauerndorf seinen Charakter auf, der genossenschaftliche Zusammenhalt ist immerhin ein kräftigeres Moment als zwischen den durch jahrhundertelange Unfreiheit zu gegenseitigem Mißtrauen erzogenen Bauern des Ostens, und doch wird der geschäftliche Sinn in dem lebhafteren Dorfleben besser geschult als in dem oft trüben und öden Dasein des östlichen Bauern. Wo, wie am Rheine und vielfach im Süden, die Schollen von Hand zu Hand gehen, durch Parzellierung, Zusammenschlagung und allerlei Pachtverhältnisse Wirtschaften fortgesetzt neu entstehen und vergehen, da bildet der Bodenbesitz in den Augen der Menschen in weit geringerem Grade eine Schranke zwischen den Ständen. Der Besitzlose kann morgen Besitzer und der heutige Besitzer besitzlos sein, leichteren Mutes verlassen die Erben den Hof des Vaters, und wer Schiffbruch leidet, fällt nicht tief. Heitere Lebensfreude bildet dort den Grundzug des Temperaments des Landvolkes, lebhaften Geistes geht es politisch-freiheitlichen Ideen nach, und der Gedankenkreis ist im Dorfe nicht ein so durchaus verschiedener von demjenigen in der Stadt, während in dem festgegliederten, gleich einem unabwendbaren Lebensschicksal von den Vätern überkommenen Besitzverhältnisse des Ostens der Mann seiner ewig gleichförmigen „verdammten Pflicht und Schuldigkeit“ mit demselben resignierten Gleichmut nachzugehen gewohnt ist, ob ihn nun das Geschick in einen Bauernhof oder in eine Arbeiterstelle hineingeboren werden ließ. Wenn aber freilich in diesen Köpfen der Gedanke einmal auftaucht, daß der Mensch es versuchen könne, außerhalb der heimatlichen Kreise auf der bewegten Flut des Lebens [134]sein Glück zu finden, dann tritt er in der Form der Epidemie auf. Ganze Dörfer entleeren sich im Umsehen in wenigen Monaten von ihrem Nachwuchs, massenhaft strömt, wer irgend Kräfte in sich fühlt, hinaus in die Ferne weit weit weg – als wollten sie dem Gedanken an die Heimat entfliehen – über das große Wasser oder hinein in die dunklen Schächte der westfälischen Bergwerke, in die Arbeitsräume der Fabriken oder auf den großen Menschenmarkt in Berlin, und alle diese Arbeitskräfte sind dem Lande und oft dem Vaterlande für alle Zeiten verloren, denn es besteht keine Verwandtschaft und keine Möglichkeit des Verständnisses zwischen dem, was das ungebundene Leben draußen und in der Stadt bietet und bedeutet, und den patriarchalischen Verhältnissen daheim. Das Heer
a
[134]A: Der Herr Vgl. unten, S. 137, Webers Anm. 1.
ist im Osten die einzige von den Massen auf dem Lande wirklich voll verstandene politische Institution; und wenn schwerer Druck fremder Herrschaft den Zusammenhang zwischen den Geschicken des Vaterlandes unddenen
b
A: den
des Einzelnen unmittelbar fühlbar macht, oder der König ruft, dann erhebt sich dies stille genügsame Volk einmütig, ohne Geräusch und Worte, aber mit wunderbarer Gewalt und schlägt die Schlachten des Vaterlandes in Ost und West. Das ist die Kraft und Schwäche der so entgegengesetzten sozialen Organisationen des Ostens gegen den Westen und Süden des Reiches, und dieser Gegensatz prägt sich auch in der verschiedenen Arbeitsverfassung des platten Landes aus.
Gehen wir von dem früher besprochenen Unterschied der ständigen, gegenüber den nur zeitweilig beschäftigten Arbeitern aus, so findet sich die erstere Kategorie sowohl bei den Gütern als in den Bauernwirtschaften im ganzen Reich zunächst in Gestalt des häuslichen Gesindes vertreten. Große rein bäuerliche Gebiete im Westen und Süden kennen überhaupt nur diese Form des Arbeitsverhältnisses, und auch im Osten kommt dies, wennschon vereinzelter, vor. Besondere Eigentümlichkeiten bietet es gegenüber der Lage des städtischen Hausgesindes nicht. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß Knecht und Magd dies regelmäßig nicht zeitlebens bleiben wollen und können, und es fragt sich, in welcher Weise ein Familienhaushalt des ländlichen Arbeiters, der ihn von der Beköstigung und Beaufsichtigung im Hause des Dienstherrn befreit, begründet wer[135]den kann und thatsächlich begründet wird, in welcher Art also Arbeiterfamilien existieren und wie ihr Dienstverhältnis geregelt zu sein pflegt. Das ist in verschiedener Art möglich. Im Vordergrund des Interesses steht zuerst die Frage, wie das Verhältnis des Arbeiters zum Grund und Boden rechtlich gestaltet ist.
Der Arbeiter kann einerseits selbst Kleingrundbesitzer, also freier Eigentümer sein. Seine Familie und er selbst in freien Stunden bestellen das Land, er selbst geht regelmäßig oder zeitweise gegen Lohn auf Arbeit. Er hat sein eigenes Heim, in dem er frei schaltet, aber er ist allerdings an dieses Heim auch gebunden und regelmäßig nicht in der Lage, günstigen Lohnkonjunkturen nach auswärts nachzugehen. Oder aber umgekehrt: der Arbeiter ist besitzlos, er hat nur bewegliche Habe, seine Wohnung mietet er sich im Dorfe oder auf dem Gute und wechselt sie, wenn es ihm behagt, er ist beweglich und ungebunden, aber er ist ein Heimatloser, dem der Wirt kündigt, sobald Gefahr ist, daß er am Ort das Armenrecht – den „Unterstützungswohnsitz“ – ersitze.
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[135]Der Anspruch auf soziale Unterstützung von einer Gemeinde war an einen festen Wohnsitz, den Unterstützungswohnsitz, gebunden. Nach dem vollendeten 24. Lebensjahr begründete ein zweijähriger Aufenthalt an einem bestimmten Ort die Zugehörigkeit zu dem entsprechenden Ortsarmenverband.
Dazwischen liegen zahlreiche andere Möglichkeiten. Der Arbeiter kann Kleinpächter sein, beim Arbeitgeber oder einem andern, er kann vom Arbeitgeber rein bittweise und für die Dauer seiner Arbeit ein Stück Land angewiesen erhalten oder auch an Flur und Almend
c
[135]A: Alment
-Nutzungen beteiligt sein, endlich laut Kontrakt Anrecht auf Wohnung, Weide und eine bestimmte Ackernahrung auf dem Gut oder im Dorf haben.
Damit zusammen hängt der zweite, gleich wichtige Punkt: Die Frage nach der rechtlichen Gestaltung seines Arbeitsverhältnisses. Der Arbeiter kann kontraktlich zur dauernden Arbeit bei einem Arbeitgeber verbunden sein, oder – der direkte Gegensatz – er kann ohne jede kontraktliche Vereinbarung wie thatsächlich, als sog. freier Arbeiter, regelmäßig und dauernd oder kürzere Zeit bei ihm in Arbeit stehen, oder es können Zwischenstufen vorliegen: Der Arbeiter soll für Gewährung der Wohnung oder des Landes zeitweise unentgeltlich oder gegen vereinbarte Vergütung zur Arbeit gehalten sein oder als Pächter neben dem Pachtzins eine bestimmte Zahl von [136]Arbeitstagen übernehmen, und alles dies entweder nur für seine Person oder auch für sonstige Familienglieder.
Es liegt in der Natur der ländlichen Verhältnisse, daß die kontraktliche Gebundenheit sich regelmäßig an die Gewährung von Land durch den Arbeitgeber anschließe. Die Beleihung mit Land ist auch geschichtlich die Grundlage der persönlichen Abhängigkeit und der Herrschaftsverhältnisse in [A 45]alter Form; ein persönliches Herrschaftsverhältnis begründet auch der feste Arbeitskontrakt, und in umgewandelter Form gilt der alte Grundsatz noch heute.
Aus den Verhältnissen der Bodenverteilung und der Beweglichkeit des Bodens folgt demgemäß auch heute der wichtigste Unterschied der ländlichen Arbeitsverfassung im Osten gegen den Westen und Süden. Im Westen und Süden ist der Boden stark parzelliert und regelmäßig Gegenstand von Kauf und Pacht. Die Arbeiter sind deshalb dort zu einem sehr großen Teil Grundbesitzer, es mangeln dort regelmäßig feste
d
[136]A: fest
kontraktliche Dienstverhältnisse, und Güter wie Bauern halten neben dem Gesinde wesentlich nur freie, gegen Tagelohn arbeitende Leute im Dienst. Der grundbesitzende Tagelöhner ist, da jederzeit Gelegenheit ist, sein Anwesen zu verkaufen oder zu verpachten, durch seinen Besitz regelmäßig wenig gebunden. Anders im Osten und Norden. Dort ist der Boden wenig beweglich, selbständiger Kleinwirt zu werden dem Arbeiter sehr erschwert, meist unmöglich. Hier finden sich infolge dessen Pacht- und Leih-Verhältnisse der allerverschiedensten Art, verbunden mit der Auferlegung der Verpflichtung zu dauernder oder zeitweiliger Arbeit beim Verpächter oder Leihherrn. Neben dem Gesinde halten die Gutsherren als Stamm die ständige Arbeiterschaft, Familien, welche kontraktlich gegen Landverleihung regelmäßig auf Arbeit kommen müssen, die Bauern Leute, welche in der Ernte für die Wohnung und für Pachtland zu Arbeitsdiensten verpflichtet sind. Wie im Westen und Süden die tagelöhnernden
e
A: tagelöhnenden
Kleinwirte, so sind hier die auf dem Grund und Boden der Arbeitgeber wohnenden, mit Land und Wohnung beliehenen abhängigen Leute der feste Stamm von einheimischen Arbeitskräften. In unendlichen Variationen geht der eine Zustand in den andern über.
Daneben finden sich dann noch die besitzlosen Mieter und endlich eine gewaltige Zahl wandernder, unsteter Arbeiter, welche zu dem [137]Ort, in welchem sie ihr Brot verdienen, in gar keine dauernde Beziehung treten, sondern wie die Zugvögel kommen und gehen.
In welcher Weise die einzelnen Kategorien von Arbeitern miteinander kombiniert sind, das bildet die charakteristische Eigentümlichkeit der ländlichen Arbeitsverfassung der einzelnen Gegenden und hat uns von jetzt an zu beschäftigen. |

[A 58]IV.
1)
[137]Der Verlust der Korrekturen hat in dem letzten Artikel (III) dazu geführt, daß eine Reihe unliebsamer Druckfehler stehen blieb. Nur den auffälligsten möchte ich berichtigen: auf der zweiten Seite, erste Spalte, Zeile 4 von unten muß es heißen: „Das Heer“, nicht: „Der Herr“.
20
[137]Oben, S. 134.
f
[137]Der Index für die Anm. 1) folgt in A nach der hier weggelassenen Überschrift.

Beginnen wir bei Betrachtung der Landarbeiterverhältnisse mit dem östlich der Elbe liegenden Teil des Reiches, so finden wir hier, wo der Großgrundbesitz fast überall einen erheblichen, teilweise – im Gebiet der mecklenburgischen Ritterschaft und in den angrenzenden früher schwedischen Teilen Pommerns – den weitaus größten Teil des Areals in der Hand hält, die charakteristische Gestaltung des kontraktlichen Arbeitsverhältnisses auf den großen Gütern voll entwickelt. Den Stamm der Arbeiterschaft bilden Familien, die auf den Gütern in Wohnungen, welche der Gutsherr stellt, ansässig sind, Ackerland und Viehweide zugewiesen erhalten und gegen einen, hinter dem sonst ortsüblichen Tagelohn zurückbleibenden Barlohnsatz das ganze Jahr über zur Arbeit verpflichtet sind. Aber innerhalb dieses Gebietes findet sich eine charakteristische Verschiedenheit der Gestaltung: wenn man von der Ostseeküste aus nach Süden zu, nach Posen und Schlesien und der südlichen Mark, fortschreitet, so findet man in zunehmendem Maße, daß die im Norden noch durchaus vorherrschende Naturalien-Löhnung durch den Geldlohn verdrängt wird. Es liegt das teils an der größeren Kapitalkraft der schlesischen Besitzer, an dem stärkeren Eindringen der Industrie durch die Nähe der schlesischen Kohlendistrikte und der Großstädte, teils an der Art der Lösung, welche die alten Agrarverhältnisse [138]speziell in Schlesien um die Mitte dieses Jahrhunderts erfahren haben.
21
[138]Mit der Ablösung der noch bestehenden bäuerlichen Dienstverpflichtungen in Schlesien (Gesetz vom 31. Oktober 1845, GS 1845, S. 682–684) wurde die ländliche Arbeitsverfassung schlagartig zuungunsten der bisher für Schlesien typischen Dreschgärtner geändert: In Mittelschlesien wurde der Dreschgärtner zum freien, grundbesitzenden Arbeiter, in Oberschlesien zum landlosen Tagelöhner, da hier Gutsherren „die Nichtregulierbarkeit der Dreschgärtnerstellen durchgesetzt hatten“. Vgl. Weber, Landarbeiter, S. 496 (MWG I/3, S. 596).
Im Norden, Ostholstein, Mecklenburg, Pommern, zumal Hinterpommern, den preußischen und märkischen Höhendistrikten, besteht noch das alte patriarchalische Arbeitsverhältnis. Die regelmäßigen und ständigen Arbeitskräfte stellen dem Gut die Instleute, auch Dienstleute, Gutstagelöhner, Hoftagelöhner genannt. Der Mann hat sich selbst und außerdem mindestens eine, teilweise zwei weitere Personen, die sogenannten Scharwerker oder Hofgänger, zur Arbeit während des ganzen Jahres zu stellen. Hat er keine arbeitsfähigen Kinder, so mietet er einen Dienstboten, den er beköstigt und dem er einen Jahreslohnsatz zahlt. Der Entgelt für dessen Arbeit, ebenso wie für seine eigne fließt dem Tagelöhner zu. Dieser Entgelt nun besteht, bei aller Verschiedenheit im einzelnen, im wesentlichen gleichartig in folgenden Emolumenten: Der Instmann erhält eine Wohnung angewiesen. Teilweise zahlt er noch einen bis zu etwa 40 Mark pro Jahr ansteigenden Entgelt dafür oder hat eine Anzahl – bis zu 50 – sogenannte Hoftage unentgeltlich zu leisten, meist ist dies bei dem herrschenden Arbeitermangel weggefallen. Die Wohnung wird meist in kleinen Kathen, zu zwei, teilweise vier, selten für eine Familie, gewährt. Sie ist in der Qualität ganz ungemein verschieden, von gänzlich menschenunwürdigen Löchern in alten Lehmhütten an bis zu recht wohnlichen massiven Häuschen, wie sie namentlich in Teilen von Pommern und Mecklenburg vorkommen, herauf. Die Kapitalarmut der Mehrzahl der Besitzer, welche die Aufbauung neuer Wohnungen hindert, ist einer der schwersten Schäden im Osten. Zur Wohnung gehört in den besseren Gegenden ein Garten von verschiedener Größe, bis zu 1 Morgen (25 a) hinauf, stellenweise mit Obst und Gemüse, meist mit Kartoffeln und etwas Gemüse oder Futterrüben, auch Lein, zu bestellen und selbst zu düngen. Neben dem Garten erhält die Familie Ackerland, im Unterschied von ersterem regelmäßig nicht fest begrenzt, sondern [139]mit den Schlägen der Gutswirtschaft wechselnd, von sehr verschiedener Größe bis zu ¾ ha und mehr herauf; das Land wird vom Gut aus beackert und vom Arbeiter mit Kartoffeln, wo aber die alten Verhältnisse noch bestehen, namentlich mit Getreide bestellt, und oft von der Gutsherrschaft, an welche die Familie dann ihren Dung abzuliefern hat, gedüngt. Dazu tritt Weidenutzung für 1, selten noch für 2 Kühe, Geflügel, teilweise noch Schafe, regelmäßig Schweine. Brennwerk wird meist unentgeltlich geliefert und Fuhren nach Bedarf geleistet. Endlich wird Lohn gezahlt. Er besteht entweder in einem festen Jahreslohn oder in Tagelohn für Mann und Hofgänger, welcher, wo die obigen Gewährungen noch voll gegeben werden, 30–40 Pf. pro Tag beträgt. Dieser Barlohn aber bezieht sich nur auf die Sommermonate und wird nur außerhalb der Zeit des Dreschens gegeben. Für das Dreschen wird dagegen, wo die moderne Verwandlung noch nicht die alten Bräuche beseitigt hat, in einer sehr originellen Weise, nämlich durch Naturalanteil, gelohnt. Die Arbeiterfamilien des Gutes haben das ausschließliche Recht, das Getreide des Gutes auszudreschen und verteilen unter sich den – je nach der Gegend – elften bis achtzehnten Teil des (Flegel-)Erdrusches. Früher geschah auch das Mähen in gleicher Weise im Anteil, das ist jetzt meist durch Geldlohn ersetzt.
Eine so gestellte „Drescher“-Familie stellt aus dem selbstgewonnenen Flachs den überwiegenden Teil ihrer Kleidungsbedürfnisse her, das Fleisch liefern (gepökelt
g
[139]A: (gepöckelt
) ein bis zwei geschlachtete, selbst gefütterte Schweine und Hammel, Milch und Butter die Kuh, den gesamten Bedarf an Korn und Mehl der Dreschanteil und das eigne Land, ebenso den Bedarf an Kartoffeln, einschließlich des Viehfutters, bare Ausgabe deckt der Verkauf von Schweinen und Getreide, welcher in guten Erntejahren erhebliche Überschüsse darüber hinaus gibt. Der Arbeiter ist hier am Ausfall der Ernte und an den Preisen der Schweine und des Getreides in gleichem Sinne interessiert wie der Gutsherr, er ist überhaupt wie eine Art Teilhaber am Gut gestellt. –
Diese Organisation der Arbeitsverfassung ist nun aber nur noch in einem Teil der oben erwähnten, nördlichen Bezirke des Ostens erhalten. Je mehr man von den Höhen herab in die fruchtbaren und [140]intensiv bewirtschafteten Flußthäler steigt und ebenso je weiter man sich nach Süden, nach Posen und Schlesien hinein begibt, desto mehr ist sie durch eine andre, welche man im Gegensatz zu diesem patriarchalischen System wohl eine „kapitalistische“ nennen darf, ersetzt. Die Instleute Schlesiens, sog. „Lohngärtner“ und „Deputanten“, erhalten wie die nördlichen Instleute zunächst Wohnung. Aber dieselbe wird meist in größeren sog. „Familienhäusern“ gewährt und ist in ihrer Qualität weit häufiger unter dem zulässigen hygienischen und sozialen Niveau. Man sollte es nicht glauben, daß[,] wie die Erhebung ergeben hat, z. B. in einem Fall in Schlesien in einer Stube 9 (neun!) Familien hausen, welche daneben nur noch einen finsteren Alkoven zum Schlafen inne haben. Hier harren geradezu skandalöse Mißstände des polizeilichen Eingriffs. – Acker und Garten werden in Oberschlesien vielfach gar nicht, sonst in geringerem Umfang als im Norden gegeben und nur mit Kartoffeln und etwas Kraut bestellt. Kuhweide ist eine seltene Ausnahme, die Arbeiter halten keine Kühe, sondern nur Schweine und allenfalls Ziegen, sie erhalten teilweise (oft recht kümmerliche) Milchdeputate. Selbst gesponnen [A 59]wird nur stellenweise. Naturalanteile sind die seltene Ausnahme; regelmäßig erhält der Deputant, der nichts ist als ein verheirateter Knecht, ein festes, ungefähr den Bedarf deckendes Korn- und Kartoffeldeputat neben festem Jahreslohn, der Lohngärtner nur Tagelohn und feste Accordsätze neben etwas „Erntegetreide“. Während die Frau des nördlichen Dreschers nur in der Ernte und zeitweise im Sommer mit auf Arbeit geht, arbeitet die schlesische Arbeiterfrau tagaus tagein, zuweilen mit Ausnahme eines freien Wochentages, mit; – Scharwerker werden hier nicht gehalten, das ganze Verhältnis ist nicht darauf eingerichtet. –
Der Grund dieser Verschiedenheit liegt darin, daß der intensiver bewirtschaftete Boden für die Herrschaft von höherem Wert, die Gewährung von Land und namentlich von Viehweide an die Arbeiter deshalb zu kostspielig ist und deshalb durch die Geldlohnung verdrängt wird. Die gleiche Entwickelung macht sich nun aber auch im Norden allenthalben bemerkbar. Die Gewährung hoher Ernteanteile ist der Herrschaft, das Schwanken des Ertrages den Arbeitern lästig; man ersetzt den Dreschanteil durch feste Deputate, die eben den Bedarf decken; wo der Anteil bleibt, wird er durch die Dreschmaschinen stark, bis auf 33, herabgedrückt; die Kuh wird in den herrschaftlichen Stall gestellt, der Wartung der Arbeiterfrau also [141]entzogen, schließlich abgeschafft, das Land bis auf den Kartoffelgarten eingezogen, das eigene Spinnen kommt ab; statt alles dessen tritt Erhöhung des Geldlohnes ein. Die Arbeiter haben unter diesen Umständen kein Interesse mehr an dem alten abhängigen Verhältnis, sie streben darnach, „freie“, d. h. nicht durch Kontrakt gefesselte Leute zu werden.
Diese „freien“ Arbeiter nun, deren Zahl seit 60 Jahren in starker Zunahme begriffen ist, werden – neben geringen Naturalien, selten Wohnungsgewähr – in Geld gelohnt, sie kaufen ihre Bedürfnisse ein, haben also an den Preisen das umgekehrte Interesse wie der Gutsherr, und nähren sich überwiegend von Kartoffeln, dem Einzigen, was sie selbst allenfalls bauen, – ein bedenklicher Rückgang der Volksernährung. Sind sie selbst Grundeigentümer, so sind sie an die Scholle gebunden und müssen jeden Lohn nehmen, der ihnen in der nächsten Nähe geboten wird, und wenn die Stelle so klein ist, daß die Angehörigen sie allein bewirtschaften können, so „sachsengängern“ sie nach dem Westen.
Dazu kommt aber vor allem eins: wo Rüben gebaut werden, also in den fruchtbarsten Gegenden, ist der Bedarf an Arbeitern im Sommer ein ganz gewaltig viel stärkerer als im Winter, sie müssen von auswärts bezogen werden. Früher nahm man meist die aus dem übervölkerten Oderbruch abwandernden Leute, neuerdings in gewaltig zunehmendem Maße Polen aus Rußland und Galizien. Sie sind genügsam, werden, in einer zum Teil schauderhaften Art, hordenweise in Ställen oder kasernenartigen Gebäuden untergebracht, beköstigt, in Geld ziemlich niedrig gelohnt und im Herbst wieder „abgeschoben“. Man hat keine Armenlasten an ihnen, sie müssen sich als Ausländer gefallen lassen, was sich der deutsche Arbeiter nicht bieten läßt und sind deshalb sowohl bequemer als billiger als die Einheimischen. Überall werden durch sie die deutschen Instleute und die deutschen Arbeiter überhaupt verdrängt; wo sie bleiben, sachsengängern sie, – und es beginnt so die ländliche Arbeiterbevölkerung sich wie eine gewaltige Flutwelle im Frühjahr von Ost nach West zu bewegen, um im Herbst wieder zurückzuströmen; im ganzen aber vollzieht sich eine Verschiebung der Nationalitäten und eine Zurückdrängung der deutschen Kultur nach dem Westen zu.
Es ist nun eines der wichtigsten Ergebnisse der Erhebung, daß auch die Höhe der Löhne für die regelmäßig beschäftigten Arbeiter von der geschilderten Veränderung abhängig ist. Man sollte meinen, [142]sie müsse sich, wo die Verhältnisse sonst gleich liegen, nach der Bodengüte richten und mit dieser steigen. Das ist unter unmittelbar benachbarten Gebieten allerdings in einem gewissen Grade der Fall, nicht aber, sobald man größere Bezirke ins Auge faßt. Die Löhne sind z. B. in der Oderebene höher als im schlesischen Gebirge. Aber wenn man den ganzen Osten zusammenfaßt, so sind sie am höchsten in denjenigen Gegenden des Nordens, wo der alte, gut genährte seßhafte Arbeiterstand der „Drescher“ noch in alter Weise besteht, in dem vielgeschmähten Mecklenburg und Teilen von Pommern und Holstein. Hier bewegt sich der Durchschnittssatz, für das ganze Jahr berechnet, um 1,77 Mk. für den Mann, 1,10 Mk. für die Frau pro Tag, nach Osten zu sinkt die Höhe bis auf ca. 1,30 bezw. 0,90 Mk. in Ostpreußen, weit rapider aber nach Süden zu, zumal wo man in die fruchtbarsten polnischen Distrikte Posens kommt, und steht in Schlesien, und hier wieder in Oberschlesien, am tiefsten; an letzterer Stelle bewegt sich der Jahres-Durchschnittssatz um 0,87 Mk. für den Mann, 0,55 Mk. für die Frau (alles, wenn nur Geld gegeben wird). Ebenso sinkt der Satz überall da, wo die polnischen Wanderarbeiter in großer Zahl hinkommen, in auffallendem Maße. (Die Saisonlöhne an nur gelegentlich beschäftigte Leute, zumal in der Ernte, sind dagegen meist da am höchsten, wo die Kultur intensiv ist.) – In Mecklenburg verdient hiernach der Mann allein mehr, als in Schlesien Mann und Frau zusammen, obwohl die Preise die gleichen sind, – und damit stimmt, daß die Frau in Schlesien fast stets, in Mecklenburg fast nie regelmäßig mitarbeitet. – In Schlesien ist die Accordlöhnung in weitgehendstem Maße durchgeführt, im Norden fehlt sie vielfach fast ganz; – der schlecht genährte Schlesier hat nur bei dem Zwange des Accordsystems Arbeitslust und Arbeitskraft, der gut genährte Mecklenburger und Pommer läßt sich diesen Zwang nicht gefallen, leistet aber dennoch das Doppelte. Ein norddeutscher
h
[142]A: nordischer
Mäher mäht bis über 4, ein schlesischer meist wenig über 2 Morgen pro Tag. An einer Stelle in Posen
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[142]Gemeint ist der Kreis Znin in Posen. Vgl. Weber, Landarbeiter, S. 487 (MWG I/3, S. 585).
wurden deutsche, einheimische halbpolnische und russisch-polnische Arbeiter beim Mähen zu denselben Sätzen beschäftigt: Die Deutschen verdienten dabei 6–8, die [143]einheimischen Halbpolen 3–3,50, die Russen 1,50–2 Mk. Die Deutschen konsumieren Brot, Fleisch und Milch, die Polen Kartoffeln und Schnaps. Im Norden steigt die Zahl der Fleisch-Mahlzeiten des Gesindes bis über 12 (zwei mal täglich) in der Woche, in Schlesien sinkt sie bis auf 2. – Diese Beispiele mögen genügen.
Es zeigt sich, daß die Leistungsfähigkeit der Arbeiter mit ihrer Nationalität und ihren Nahrungs-Gewohnheiten im Verhältnis steht und beide die Höhe der Löhne bedingen, und daß das Vordringen des Polentums und der Wanderarbeiter mit einem gewaltigen Verlust der Nation an Arbeitsleistung und Volkskraft, vor allem auch an militärischer Tüchtigkeit der Bevölkerung verknüpft ist, daß aber all’ dies durch die Umgestaltung der Arbeitsverfassung und des Lohnsystems wesentlich mit herbeigeführt ist.
Wir haben uns nunmehr zunächst dem übrigen Deutschland zuzuwenden. |

[A 129]V.

Verlassen wir die östlich der Elbe gelegenen preußischen Provinzen, um uns den Arbeiterverhältnissen in den übrigen Teilen des Reichs zuzuwenden. So verlohnt es noch, einen Augenblick in den Großherzogtümern Mecklenburg Halt zu machen. Hier ist die östliche Arbeitsverfassung am charakteristischsten ausgeprägt. Das platte Land zerfällt politisch in das großherzogliche Dominium, in welchem rechtsgrundsätzlich der Landesherr, und in das ritterschaftliche Gebiet, in welchem die einzelnen Rittergutsbesitzer Gutsherren und damit Ortsobrigkeit sind. Auf dem ritterschaftlichen Gebiet sind die alten Bauernstellen im Wege des „Abmeierns“ und „Legens“ fast völlig verschwunden und zu Instleuten, „Gutstagelöhnern“, ohne Eigentum am Boden gemacht worden. Daher deren große Zahl: – ein Drittel aller Hausstände in Mecklenburg sind solche von selbst wirtschaftenden Tagelöhnern. Auf dem Dominium ist durch eine ausgezeichnete Kolonisation ein Stand von Erbpacht- (in Strelitz Zeitpacht-)Bauern und daneben von grundbesitzenden Büdnern und Häuslern neben den Domänenpachthöfen geschaffen worden. Rittergüter und Domänenpächter arbeiten mit Gutstagelöhnern, im Sommer und zur Ernte werden die Insassen der Dörfer, zumal die Häusler, herangezogen. Es zeigt sich nun ein doppeltes: einmal, daß [144]Arbeitermangel in erheblichem Umfang weit öfter bei der Ritterschaft als auf den Domänen, und regelmäßig fast nur auf den Rittergütern sich findet, die nicht in der Nähe von Bauerndörfern gelegen sind. Ferner aber: die in Mecklenburg sehr starke Auswanderung findet gleichfalls in weit erheblicherem Maße als vom Dominium von der Ritterschaft aus statt, und zwar sind es auch hier nicht die am schlechtesten, sondern die am besten gestellten Arbeiterfamilien, und unter diesen gerade die tüchtigsten, welche fortwandern. Was folgt daraus? Es sind die Sünden der Väter, welche sich an den heutigen Großgrundbesitzern rächen. Im Widerspruch mit dem Geist der alten Agrarverfassung, teilweise im Widerspruch mit dem Recht, haben sie die alten Bauern ihres Bodens entsetzt. Der Arbeiter auf den Rittergütern kann nicht hoffen, auf der heimatlichen Scholle selbständig zu werden, er zieht fort, und die Folge ist der Arbeitermangel und infolge dessen die Gefahr, daß den Gutsbesitzern nicht nur das einst von den Bauern genommene, sondern das ganze Areal aus der Hand gleitet. Es zeigt sich aber zugleich, in welcher ungefähren Richtung das einzig denkbare Heilmittel liegt. Die verschwundenen Bauerndörfer müssen im Wege der Kolonisation wieder geschaffen werden, dann wird der Großbesitz von Areal entlastet, welches er mit den heutigen Arbeitskräften nicht mehr bewirtschaften kann, und in dem Nachwuchs der Bauern erwachsen Arbeitskräfte, welche als Sommer-Arbeitskräfte auf den Gütern zu verwenden sind. – Es zeigt sich auch noch ein ferneres: Man hat lange geglaubt, dem Arbeitermangel im Osten dadurch abhelfen zu können, daß man den Arbeitern Gelegenheit böte, ein beliebiges kleines Stück Land zu Eigentum zu
i
[144]A: zum
erwerben, sie „seßhaft“ machte. Die Mecklenburgischen Verhältnisse sind belehrend für die Frage, unter welchen Umständen eine solche Maßregel Erfolg versprechen würde, denn die dortige Kolonisation kann, wenigstens was die Ansetzung von Häuslern – Büdner mit 1–6 Morgen Land – anlangt, als gelungen angesehen werden. Zunächst ist Voraussetzung, daß der Grundbesitz des Arbeiters einem Dorfverbande angehört. Nur wo ein nachbarliches Verhältnis zu den Mitgliedern einer Bauerngemeinde besteht, kann sich der ansässige Arbeiter heimisch fühlen. Der Bauer achtet ihn um seines Landbesitzes willen höher als die [145]besitzlosen „Einlieger“, von denen er oft sehr hohe Mieten nimmt, dem Großgrundbesitzer gegenüber ist der Abstand bei beiden gleich groß, und der kleine Stellenbesitzer an die Scholle gefesselt und benachteiligt gegen den frei beweglichen besitzlosen Arbeiter. Ferner beruht die günstige Lage der mecklenburgischen Häusler auf ihrer starken Viehhaltung, die ihnen billig durch die Reservate an Gemeinde-Weideland ermöglicht wird. Die Kuh- und Schweinehaltung ist der wichtigste Mittelpunkt aller Landarbeiter-Wirtschaften, und nur wo Allmenden reserviert werden können, gedeiht der Häusler. Ein schließlicher Vorzug der mecklenburgischen Kolonisation ist das Institut der „Häuslerei-Reservate“, – d. h. es wurden Landflächen in den Dörfern einbehalten behufs vorzugsweiser Verpachtung an die kleinen Besitzer. Der mecklenburgische Häusler hat also da, wo alle diese Institute zusammentreffen, die Möglichkeit, nach Belieben seinen eigenen Betrieb durch Zupachten auszudehnen und nur zeitweise oder aber dauernd auf Arbeit zu gehen, und zwar, da sein Besitz so klein ist, daß die Familie ihn allein bestellt, sowohl bei den benachbarten Bauern und Großgrundbesitzern als eventuell nach auswärts als Sachsengänger. Deshalb, weil er unabhängig und trotz seines Landbesitzes nicht schollenfest ist, befindet sich der mecklenburgische Häusler als solcher wohl, und wenn ein soeben mir zukommender Brief eines ostpreußischen bäuerlichen Besitzers
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[145]Dieser Brief war nicht mehr auffindbar.
mir entgegenhält: der Versuch der Ansässigmachung von Arbeitern würde mißlingen, denn sie wollten kein Land, so habe ich zu erwidern: ganz gewiß wollen die Arbeiter nicht einen beliebigen, irgendwo, womöglich zwischen Rittergütern oder in Gutsbezirken gelegenen
j
[145]A: belegenen
Fetzen Land, nur deshalb weil es Land ist, ohne Sicherheit stets Arbeit zu finden und zu guten [A 130]Löhnen, und ohne die Möglichkeit billig Vieh zu halten und ohne Anschluß an eine Bauerngemeinde. Das können sie garnicht wollen, sondern sie können sich auf eine Ansässigmachung auf kleinen Stellen, die ihren Nahrungsbedarf nicht ganz decken und sie nötigen, Arbeit zu suchen, nur da einlassen, wo dies alles zusammentrifft. Dörfer, die nur aus kleinen Käthnern bestehen, sind Räubernester schlimmster Sorte und eine Plage für die Umgegend. – Selbstverständlich ist, daß die so aus den [146]Häuslern und den sonstigen Dorfinsassen entnommenen Arbeitskräfte nicht geeignet sind, den Bedarf an dauernden Gutsarbeitern zu decken, und es fragt sich, welches rechtliche Verhältnis hierfür als geeignet zu betrachten ist, nachdem, wie sich auch in Mecklenburg zeigt, das bisherige Instverhältnis der Auflösung entgegengeht. Darüber können wir einige Andeutungen den Zuständen des nordwestlichen und nördlichen Tieflandes westlich der Elbe entnehmen, welchen wir uns jetzt zuwenden. –
Wir finden zunächst in der Provinz Sachsen und dem östlichen Hannover neben der festgefugten, aber äußerst verwickelten Besitzschichtung in den Dörfern, wo eine sehr große Zahl mit besonderen Namen bezeichneter Kategorien von Kleinstellenbesitzern neben den Bauern sitzen, auf den Gütern Modifikationen und Abarten des ostelbischen Gutstagelöhner-Verhältnisses in mannigfachster Art, wobei
k
[146]A: woher
die Arbeiter teils auf dem Gut, teils auf eigenem Besitze wohnen und teils auf Dresch-Tantieme neben Tagelohn, teils auf Deputat und Jahreslohn, teils auf bloßen Tagelohn neben Landanweisung gestellt sind. Uns interessieren wesentlich zwei Typen des Kontraktarbeiter-Verhältnisses: das der westfälischen „Heuerlinge“ und die eigentümliche Gestaltung, welche das Instverhältnis in Teilen Ostholsteins auf den großen Gütern angenommen hat. Die Heuerlinge sind eine Kombination von Kleinpächtern und Arbeitern, welche sich speziell auf den großen, geschlossen vererbten bäuerlichen Einzelhöfen des Nordwestens findet. Der Heuerling pachtet vom Bauern Land und Kothe gegen geringere Pacht und leistet dagegen Arbeit in einer bestimmten Anzahl von Tagen gegen geringen oder keinen Lohn. Der Gedanke ist: der Bauer hilft dem Heuerling mit dem Gespann bei der Feldbestellung, dieser dem Bauern mit der Sense in der Ernte und mit dem Flegel im Winter. Die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden da, wo dies Verhältnis besteht, als ausnehmend günstig geschildert. Der Heuerling fühlt sich nicht an die Scholle gefesselt und doch verbindet ihn ein festes Band der Arbeits- und Interessengemeinschaft mit seinem Arbeitgeber, von welchem ihn keine erhebliche soziale Kluft trennt. Dies letztere sehr wesentliche Moment verhindert, daß man dies Verhältnis ohne weiters auf die großen Güter des Ostens übertragen [147]könnte. Allein sehr wohl könnte in Frage kommen, ob nicht der Grundgedanke verwertbar wäre. Dieser Grundgedanke nämlich findet sich in modifizierter Art auch in dem Land- und Feldinstenverhältnis
l
[147]A: Feldinsterverhältnis
, wie es im östlichen Holstein auf den großen Gütern zu finden ist. Dort haben sich die früher unterthänigen Bauern in Zeitpächter des Grundherrn verwandelt, und neben ihnen finden sich die alten Instleute, ebenfalls in Zeitpächter verwandelt. Die Bauern sind, wenn Gutsherren, verpflichtet[,] ihnen ihr Land zu bestellen, sie – die Insten – ihrerseits sind zur Arbeit auf dem Gut gegen Tagelohn und Dreschanteil gehalten, die Frau hat eventuell in der Ernte mitzuhelfen; die Pacht wird auf den
m
A: dem
Lohn angerechnet. Die Naturalien an Land und Weide, welche gegen die Pacht gewährt werden, sind erhebliche, aber nicht größer, als daß im allgemeinen die Familie die Arbeiten außer der dem Bauern obliegenden Feldbestellung besorgen kann, wenn der Mann Sonntags im Sommer hilft. Man sieht: das wesentliche ist der Ersatz der Scharwerkergestellung, welche im ganzen Osten mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird, durch Zahlung einer Pacht, und die Verpachtung fest abgegrenzten Bodens statt des mit der Schlageinteilung des Gutes wechselnden Deputatlandes der östlichen Insten, wo der Gutsherr vom Dung der Instleute die zweite Frucht nimmt. Diese Umgestaltung ist durchaus rationell. Fällt die Scharwerkerhaltung weg, so kann der Gutsherr unmöglich die vollen Emolumente im bisherigen Umfang ohne Entschädigung weiter gewähren, andrerseits gefährdet eine Einschränkung den Haushalt der Familien schwer; das alte Instverhältnis war deshalb rationell, weil mehrere Arbeitskräfte aus einer Familienwirtschaft heraus gestellt wurden, das Moment des Familienhaushaltes und der dadurch ermöglichten billigen Ernährung ausgenützt wurde. Fällt das hinweg, so ist auch das Verhältnis selbst nicht in der bisherigen Art zu halten. Die ostholsteinische Gestaltung zeigt, wie ein Ersatz geschaffen werden kann: durch sachgemäße Entwicklung eines Arbeiter-Pachtverhältnisses. –
Jene bäuerliche Kolonisation einerseits, Verwandlung der Instleute in Kleinpächter andrerseits scheint also die Möglichkeit einer Weiterentwicklung im Osten darzustellen, welche dem bestehenbleibenden Großgrundbesitz Erlangung der unentbehrlichen Arbeits[148]kräfte ermöglichen würde. – Ist es aber nicht vielleicht rationeller, noch radikaler vorzugehen und geradezu die Ausrottung des Großbesitzes und seinen Ersatz durch eine Verteilung des Bodens, wie wir sie im Süden und Westen finden, als Ziel in Aussicht zu nehmen? Wird damit nicht auch die ländliche Arbeiterfrage einfach und radikal gelöst? Um dies zu beantworten, werden wir die süd- und westdeutschen Verhältnisse einschließlich Thüringens und Hessens betrachten müssen.
Vorher aber ist noch ein Blick auf zwei Gebiete zu werfen, welche den Einfluß besonders einschneidender wirtschaftlicher Veränderungen auf die ländliche Arbeiterverfassung erkennen lassen: Das westfälisch-rheinische Kohlen- und Industriebecken einerseits, der sächsische Städtedistrikt
n
[148]A: Städtedistrickt
andrerseits. Auf diese beiden charakteristischen Gebiete kommen wir im nächsten Artikel, welcher den Schluß dieser Serie bildet, zunächst zu sprechen. |

[A 147]VI. (Schluß.)

Als diejenigen Umstände, welche die ländliche Arbeitsverfassung am gründlichsten zersetzen, wurden einerseits die Nähe der Industrie, andrerseits die intensive Rübenwirtschaft schon erwähnt. Beide thun dies in verschiedener Art. Die Industrie, die bei großem und schnellerem Umsatz ihres Kapitals Geldlöhne mit Leichtigkeit zahlen kann, welche aufzubringen der Landwirtschaft unmöglich sein würde, entfremdet die einheimische Arbeiterschaft, welche eben den Geldlohn, der ihr die große Unabhängigkeit und Beweglichkeit gibt, naturgemäß selbst den günstigsten Natural-Lohnbedingungen vorzieht, dauernd der ländlichen Arbeit. Die Rübenkultur dagegen – und jede ähnliche ihr gleichartige Betriebsart – steigert nur die Differenz des Bedarfs an Arbeitern im Sommer und im Winter, und führt dazu, daß die ständig das ganze Jahr über beschäftigten Arbeiter einen immer kleineren Bruchteil der Arbeitskräfte überhaupt ausmachen. Diese beiden Erscheinungen können wir im rheinisch-westfälischen Kohlenrevier einerseits und in den westlichen Teilen der Provinz Sachsen andrerseits beobachten.
[149]In den Berg- und Industriebezirken Westfalens ist vielfach der einheimische ländliche Arbeiterstand so gut wie verschwunden. Die Bauern behelfen sich mit Gesinde und Wanderarbeitern, ständig werden jugendliche Personen aus den östlichen Provinzen herangezogen, nach kurzer Durchgangszeit gehen sie zum Bergbau mit seiner kurzen Arbeitszeit und hohen Löhnen über. Nur die unbrauchbarsten Arbeitskräfte bleiben auf dem Lande. Von einer eigentlichen „Arbeitsverfassung“ des Landes kann kaum gesprochen werden, die gänzlich besitzlosen, kontraktlich nicht gebundenen Lohnarbeiter bilden weitaus die Mehrzahl der Arbeiterschaft.
In den intensiv bewirtschafteten Gebieten der Provinz Sachsen, Braunschweigs und Südhannovers ist die alte einheimische Arbeitsverfassung, die im wesentlichen der des Ostens gleichartig war, gleichfalls im Zerfall begriffen. An Stelle der Einzelkathen der alten Drescherfamilien oder doch daneben treten die großen Kasernements der Wanderarbeiter, welche für den Sommer zur Rüben- und jetzt auch schon zur Getreide-Arbeit in Trupps durch Agenten angeworben werden. Mit dem Beginn des Frühjahrs sieht man diese Völkerwanderung, aus den vier östlichen Grenzprovinzen allein etwa 120 000 Menschen, sich in den wohlbekannten Sachsengänger-Zügen durch Berlin ergießen,
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[149]Karl Kaerger schätzte 1893 die Zahl der Wanderarbeiter östlich der Oder auf weit über 100 000. Kaerger, Karl, Sachsengängerei, in: HdStW 51, 1893, S. 474.
im Spätherbst kommen sie truppweise wieder zurück. Zahlreiche Millionen Mark an ersparten Löhnen werden durch die Post den Sommer über in die Heimat befördert und nicht unbeträchtlich sind auch die Summen, die sie – wenigstens die leidlich Tüchtigen unter ihnen – im Herbst mit nach Hause bringen, um nun einige Monate „Ferien“ zu machen. Die unerfreuliche Seite der Erscheinung und ihre sittlichen Bedenken brauchen hier nicht besonders hervorgehoben zu werden, ihnen steht gegenüber, daß die Abwanderung zum sehr großen Teil aus Gebieten erfolgt, welche die einheimischen Arbeitskräfte nicht beschäftigen und ernähren können, und daß immerhin auch manche Gewohnheiten der in der Kultur höher stehenden westelbischen Gegenden nach dem Osten mitgenommen werden mögen. –
Werfen wir schließlich noch einen kurzen Blick auf die Verhältnisse des Südens und Westens, so sind diese außerordentlich mannigfal[150]tig in der Einzelgestaltung, derart, daß ihre Darstellung hier nicht unternommen werden kann. Einige wesentliche Züge gehen immerhin durch. Zunächst der regelmäßige Mangel großer Güter; es sind stets nur wenige Procent der Bodenfläche in ihrer Hand, so daß ihre Arbeitsverfassung keine Rolle spielt. Die demnach weitaus vorherrschenden Bauerngüter und die Bodenbesitzverteilung überhaupt haben zweierlei Charakter. Entweder – so z. B. in Teilen von Lothringen, Bayern, auf den schwäbischen und badischen Höhen, wo eine Parzellenwirtschaft nicht existenzfähig wäre – liegen größere geschlossene Bauernhöfe bei einander, welche Getreidebau und Viehzucht kombiniert betreiben und neben Gesinde auch eine Anzahl verheirateter Knechte halten, nur bei Gutsschlächtereien parzelliert werden und die Besitzer nicht allzuhäufig wechseln. Oder – so in großen Teilen der Rheinebene, den Weingegenden und überhaupt weiten Gegenden des Südens – der Boden ist parzelliert, wird weiter parzelliert, geht von Hand zu Hand, die Wirtschaften werden, dem französischen Recht gemäß, im Erbgang geteilt,
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[150]In Frankreich war seit der Französischen Revolution die Realteilung, „partage forcé“, vorgeschrieben. Diese Regelung wurde in den Code Civil Napoleons übernommen und galt in Deutschland nach 1815 in den linksrheinischen Gebieten sowie dem ehemaligen Großherzogtum Berg und dem Großherzogtum Baden. Vgl. Miaskowski, August von, Das Erbrecht und die Grundeigenthumsverteilung im Deutschen Reich (Schriften des Vereins für Socialpolitik 20). – Leipzig: Duncker & Humblot 1882, S. 225–227.
zahlreiche winzige Parzellenbesitzungen liegen zwischen mittleren und kleineren Bauern, entstehen neu und verschwinden wieder, Wein-, Tabak- und Handelsgewächsbau wird neben Körner- und Hackfruchtbau betrieben. Hier findet eine scharfe Scheidung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf dem Lande nur teilweise statt. Die kleinen Besitzer, welche ihre Nahrung nicht voll finden, gehen einige Wochen oder Monate auf Lohnarbeit, die größeren bedürfen nur zeitweise der Aushilfe. Kontrakte gibt es, außer mit dem Gesinde, welches teilweise nur noch auf Wochenlohn dient, nicht, beide Teile fühlen sich als gleichberechtigt, während im Norden die Frage des „Duzens“ oder „Siezens“ allmählich dahin gelöst wird, daß nicht nur der Arbeiter den Arbeitgeber, sondern auch umgekehrt dieser jenen mit „Sie“ anredet, löst sie sich hier dahin, daß nicht nur der Arbeiter vom Arbeitgeber, sondern auch jener von diesem geduzt wird. Die Mehrzahl der Arbeiter ist angesessen und kauft, wenn die Verhältnisse günstig sind, Fetzen um Fetzen Land, oft unter hoher Verschuldung, [151]an. Sie verlangen, daß die Arbeitsleistung möglichst als nachbarliche Gefälligkeit angesehen werde. Die Not der verschuldeten kleinen Besitzer ist oft sehr hart, die Arbeiternot der größeren nicht minder, aber eine „ländliche Arbeiterfrage“ in dem Sinn wie im Osten existiert trotzdem hier nicht, weil ein starkes rein ländliches besitzloses Proletariat und ein starker, sich aus sich heraus ergänzender Tagelöhnerstand nicht besteht. Der Procentsatz der Tagelöhner-Haushaltungen unter der Gesamtheit aller Haushalte steigt im Osten bis auf über 30 pCt. (Mecklenburg) und sinkt im Süden bis auf 3½ pCt. (Schwaben), also den zehnten Teil.
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[151]Vgl. Grohmann, Statistik, S. 445 und 446. Im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben waren 3,24 Prozent der Haushaltungen Tagelöhnerhaushaltungen. Ebd., S. 446.
Einer radikalen Betrachtungsweise könnte es deshalb scheinen, als ob diese Art der Grundbesitz-Verteilung, speziell [A 148]die durchgängige Beteiligung der Arbeiter am Bodenbesitz[,] das einfachste und geeignetste Heilmittel der sozialen Schwierigkeiten auf dem Lande auch im Osten sein würde, und als ob also die innere Kolonisation, – deren Besprechung wir im übrigen einer selbständigen Erörterung vorbehalten
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Weber bezieht sich auf seine Rezension „Zwei neue Schriften zur Landfrage im Osten“, unten, S. 223–228.
– sich, um eine Lösung auch der Landarbeiterfrage, wie sie es will, anzubahnen, ein derartiges Ziel in letzter Linie zu stecken habe. Angenommen selbst, es sei eine solche Zertrümmerung alles in größeren Komplexen bewirtschafteten Areals in einer irgend absehbaren Zeit und unter Zuhilfenahme entsprechend gewaltsamer Mittel durchführbar, so wäre sie doch keine Lösung, welche speziell, – worauf es uns hier ankommt, – vom Arbeiterstandpunkte aus zu wünschen wäre. Der geschilderte Zustand wäre auch im Süden für die kleinen Besitzer und für die grundbesitzenden Arbeiter ein schlechthin unerträglicher, wenn eben nicht die Beweglichkeit des Bodens damit verbunden wäre, welche im allgemeinen den Arbeitern die Möglichkeit bietet, jederzeit durch Verkauf oder Verpachtung sich ihres Besitzes zu entledigen oder umgekehrt zukaufend oder zupachtend in den Bauernstand aufzusteigen. Ohne diesen Grundstücksverkehr hätten wir in diesen Kleinbesitzern ein an die Scholle gefesseltes grundbesitzendes Proletariat schlimmster Art, an dessen Entstehung die Zustände schon jetzt gelegentlich heranstreifen. Eine solche Beweglichkeit des Bodens aber läßt sich [152]im Osten, so lange dort nicht eine intensive gewerbliche Entwicklung entsteht und einen starken Zufluß von Geldmitteln mit sich bringt, nicht künstlich herbeiführen. – Frage man, welche Verteilung des Grundbesitzes dem Interesse der Landarbeiter unter den jetzt obwaltenden Umständen dabei am günstigsten ist, so kann nur die glückliche Mischung größerer, mittlerer und kleinerer Besitzungen, welche das nördliche Westfalen, Hannover, Schleswig-Holstein und Sachsen, als Einheit betrachtet, darstellen, als erstrebenswert angesehen werden, unter der einen Voraussetzung, daß durch einen energischen Fortgang der inneren Kolonisation und Schaffung geeigneter kleinbäuerlicher Stellen, den höchststehenden Elementen der Arbeiterschaft ein Aufsteigen in den Bauernstand ermöglicht wird. Der einzige Vorzug, den der Süden und Westen vom Standpunkt der Arbeiter aus haben, ist diese Möglichkeit, welche in gleicher Art im Osten bisher nicht vorhanden ist. Mag der Procentsatz derjenigen Arbeiter, welche thatsächlich dazu gelangen, ein bäuerliches Rentengut zu übernehmen, ein noch so geringer sein, es genügt, daß die Schranke nach oben, die jetzt besteht, beseitigt und die Vorstellung der Möglichkeit, in der Heimat selbständig zu werden, erweckt ist. Auch die Zahl derer, die im Auslande und in der Industrie thatsächlich die erträumte Unabhängigkeit finden, ist eine relativ geringfügige, nur die Vorstellung davon ist das, was heute die Auswanderung und den Abzug vom Lande bewirkt. Illusionen gehören zum täglichen Brot der Menschen, und hier handelt es sich nicht um die Erweckung einer unerfüllbaren Hoffnung, um eine bewußte Täuschung des gewaltigen Sehnens der Landarbeiter nach Freiheit und eigenem Brot, sondern darum, daß dadurch, daß ein wenn auch nicht großer Teil thatsächlich zu dieser Selbständigkeit gelangt, der gesamte Stand in seinen eigenen Augen und auch gegenüber den besitzenden Klassen auf dem Lande gehoben und mit dem Boden der Heimat verknüpft wird.
Ich habe schon hervorgehoben, daß der Plan, den „Landhunger“ der Arbeiter durch Ansiedlung auf Arbeiterstellen zu befördern, eine Erfüllung des Strebens der Arbeiter nicht enthält und nur die Ausnahme bei besonders günstigen Verhältnissen bilden darf. Ebenso habe ich schon angedeutet, daß die Ansetzung der Arbeiter als Pächter auf fest abgegrenztem Lande mit starker Weidenutzung oder Gewährung von Viehfutter als Ersatz für das Instverhältnis (Pachtzahlung statt Gestellung des Scharwerkers) und auch als Form der [153]„Seßhaftmachung“ der Gutsarbeiter mir
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[153]A: nie
die größte Zukunft zu haben scheint. Die Domänen können mit Versuchen darin vorangehen, und dem Vernehmen nach liegt dies auch in der Absicht der Domänenverwaltungen.
Da ich im übrigen hier nur über die Ergebnisse der Enquete kurz referieren, nicht aber praktische Vorschläge machen sollte und wollte, beschränke ich mich schließlich auf die Wiederholung meiner in der Versammlung des Vereins für Sozialpolitik ausgesprochenen Überzeugung,
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[153]Gemeint ist Webers Referat über „Die ländliche Arbeitsverfassung“ auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. März 1893, unten, S. 165–198.
daß ohne Ausschluß der ausländischen russisch-polnischen Arbeiter eine Hebung unserer Kultur im Osten auf dem Lande und ein wirksamer Schutz des Deutschtums ebensowenig möglich sein werden wie eine gesunde Lösung der ländlichen Arbeiterfrage.