[313]Die deutschen Landarbeiter
[A 61][Korreferat]
Meine Damen und Herren! Mein Freund Göhre hat meine Verdienste um die Enquête in einer Weise hervorgehoben, gegen die ich mich verwahren muß. Die Art, wie die Enquête veranstaltet wurde, und daß sie überhaupt zustande kam, ist ausschließlich sein Verdienst. Ich habe ihm in technischen Fragen zur Seite stehen können, mehr nicht. – Ich habe sodann auch meinerseits mit dem Ausdruck des Bedauerns zu beginnen, daß wir Ihnen heute von den Ergebnissen der Erhebung nicht mehr verarbeitetes Zahlenmaterial vorlegen können, namentlich daß wir noch nicht mit dem Druck des Materials haben beginnen können. Ich denke, daß das in einigen Monaten geschehen sein wird.
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Auf den Versuch, Ihnen hier mündlich Einzelheiten und ziffermäßige Zusammenstellungen vorzuführen, muß ich selbstverständlich verzichten – ich wüßte in der That nicht, wie das geschehen sollte. Ich könnte Ihnen allenfalls einen recht beträchtlichen Stoß Tabellen und Zusammenstellungen aus den bereits verarbeiteten Berichten hier auf diesen Tisch legen, über dessen Umfang Sie vielleicht erstaunen würden, aber damit wäre für unsere heutige Auseinandersetzung nichts gewonnen. [313]Siehe den Editorischen Bericht, oben, S. 309, Anm. 8.
[A 62]Es sind, wie Göhre vorhin gesagt hat, zwingende äußere Gründe und persönliche Verhältnisse gewesen, die uns gehindert haben, weiter zu kommen. Ich würde mich überdies sogar mit fremden Federn schmücken, wenn ich nicht hervorhöbe, daß auch derjenige Teil der Arbeit, welcher bereits erledigt ist, nicht zustande gekommen wäre ohne die energische Mithülfe eines Mitgliedes unserer neuen Frauengruppe, nämlich meiner Frau.
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[313]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)
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– Was ich heute hier [314]unternehmen kann, ist in Ergänzung von Göhres Darstellung der allgemeinen Lebensbedingungen der Landarbeiterschaft, die ich in allen Hauptpunkten für richtig anerkenne, die Bedeutung der Fragen, über welche wir aus dem Material unserer Erhebungen Belehrung schöpfen wollen, zu charakterisieren und uns in allgemeinen Zügen wenigstens Rechenschaft zu geben, wie sie sich zu dem, was wir bisher auf diesem Gebiete gewußt haben, verhält. – In der Ausschußsitzung der Frankfurter Tagung wurde die Zulassung von Frauen zur Mitarbeit beschlossen. Marianne Weber gehörte der sich erst im Herbst 1894 offiziell konstituierenden evangelisch-sozialen Frauengruppe unter der Leitung von Elisabeth Gnauck-Kühne an. Eger, Hans, Der Evangelisch-Soziale Kongreß. – Leipzig: Μ. Heinsius 1931, S. 52f.
Wenn ich da nun zunächst auch meinerseits einige Bemerkungen in Ergänzung dessen, was Göhre über die allgemeine Bedeutung der Enquête sagte, machen darf, so möchte ich noch mehr, als er es gethan, hervorheben, daß ich das Zustandekommen der Erhebung als eine Errungenschaft begrüße, ganz unabhängig von der Frage, was an neuem, thatsächlichem Material dabei herauskommt, schon wegen des eigenartigen Charakters der Vertrauensmänner, deren Mitarbeit wir dabei in Anspruch genommen haben. Mitgearbeitet hat eine Personenklasse, die in unserm Staate bisher überhaupt noch nie zu Worte gekommen ist, und welche deshalb die Gesetzgebung bisher konsequent ignoriert hat: die deutschen Landarbeiter. Wir haben von den Berichterstattern verlangt, daß sie grundsätzlich nur persönlich ihnen gemachte Angaben der Arbeiter uns übermitteln sollten, und wir sehen aus den Berichten, daß das in umfassendem Maße geschehen ist. Die Landgeistlichen haben uns zum erheblichen Teil gewissenhaft darüber informiert, in welcher Art sie die Berichte aufgenommen haben. Teils haben sie die Arbeiter ihres Dorfes zusammengenommen und mit ihnen kollegialisch verhandelt, teils haben sie den Weg der ambulanten Einzelausfrage gewählt. Jedenfalls haben wir eine Fülle von Angaben aus Arbeitermund vor uns.
Ich habe aber ferner noch einer ganz persönlichen Genugthuung Ausdruck zu geben über das Ergebnis der Arbeiten der Herren Landgeistlichen selbst. Als wir seinerzeit vor dem Projekt standen, ist uns von guten Freunden und solchen, die es zu sein vorgaben, erklärt worden, wir würden eine erbärmliche Blamage erleben bei dem Appell an die Landgeistlichen; die Enquête würde ein dilettantisches und unsachliches Material bieten; denn der Landgeistliche sei ja ein unpraktischer Mann und kenne die Dinge dieser Welt nicht. Es ist mir eine persönliche Freude, daß die entgegengesetzte Auffassung, die wir gehabt haben, sich be[A 63]stätigt hat. Auch ein andres trat uns entgegen – dies besonders von liberaler Seite: der wohlbekannte Unkenruf, daß durch ein solches Unternehmen und den Hinweis auf [315]diese Fragen bei den Geistlichen ein sozialpolitischer Dilettantismus gezeitigt werde. Das ist im Munde gerade derer, die ihn hauptsächlich erhoben, ein Vorwurf seltsamer Art, in einer Zeit, wo über die tiefgreifendsten sozialpolitischen Fragen von einer Versammlung entschieden wird, die zu ⅔ aus Dilettanten auf diesem Gebiete besteht: dem deutschen Reichstag.
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[315]Weber bezieht sich hier am Beispiel des deutschen Reichstags und der Sozialgesetzgebung auf die Tatsache, daß in den modernen Parlamenten nicht Fachleute, sondern Politiker, die in rein fachlicher Beziehung als Dilettanten zu gelten haben, über alle wesentlichen Fragen entscheiden.
Der Erfolg der Erhebung ist schon quantitativ kein geringer. Wir können rechnen, daß 10–15% sämtlicher existierender evangelischer Landgeistlichen sich geäußert haben.
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Aber nicht der Umfang der Beantwortung des Fragebogens kommt allein in Frage. Wenn ihn die 3–4fach größere Zahl mit Sorgfalt gelesen hat und sich die gestellten Fragen durch den Kopf gehen ließ, dann ist ein in unsren Augen wesentlich wichtigerer Zweck der Enquête erfüllt. Wir haben den Fragebogen vor allem andern auch unter dem Gesichtspunkt ausgearbeitet, das sozialpolitische Denken der Berichterstatter zu schulen, ihnen dazu behülflich zu sein, daß sie sich gewöhnen, in der Fülle der Erscheinungen, die ihnen das Leben täglich zeigt, das für die soziale Entwicklung dauernd Wichtige von dem Vorübergehenden, Unwichtigen unterscheiden zu können. Denn das ist ja doch diejenige spezifische Leistung, die uns Stubengelehrten, die wir die Dinge aus der Vogelperspektive sehen, im Wege der Arbeitsteilung zufällt. Es wird uns so oft auch in den Berichten entgegengehalten, daß die Herren, die inmitten des praktischen Lebens stehen, die Gutsbesitzer in ihrer Wirtschaft, die Geistlichen in ihrer Landgemeinde, den Erscheinungen näher stehen, als wir „am grünen Tisch“. Das ist ganz richtig, und in dieser unmittelbaren Beschauung des Konkreten können wir nicht mit ihnen konkurrieren. Aber etwas geht ihnen ab, was der Büchergelehrte, in dessen Hand die Berichte aus dem ganzen Reich zusammenlaufen, leisten kann: das ist der [316]Überblick über die relative Bedeutung der konkreten Erscheinungen für die Gesamtentwicklung. Dazu stehen sie eben den Dingen zu nahe – Vorgänge erscheinen ihnen riesengroß und von überragender Bedeutung, die in lokalen Verhältnissen ihren Grund haben und im großen Zusammenhang verschwinden. – Es ist dem Fragebogen besonders oft in den Berichten auch der Vorwurf gemacht worden: „diese oder jene Frage paßt nicht für unsre Verhältnisse, die kennt ihr Theoretiker nicht“. Das kommt vor allem daher, daß wir einen einheitlichen Fragebogen für das ganze Reich haben ausarbeiten müssen. Das war im Gegensatz zu meinem Antrag aus dem – wie ich zugeben muß – entscheidenden GrundeMax Weber veranschlagte die Zahl der evangelischen Landgeistlichen im Deutschen Reich auf 9000. Weber, Max, Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands, oben, S. 217. Aus organisatorischen Gründen waren aber Fragebögen an sämtliche, nicht nur an ländliche Pfarrer im Deutschen Reich verschickt worden. Von diesen 15 000 versandten Fragebögen wurden rund 1000 beantwortet. Wie oben, S. 309, Anm. 5.
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beschlossen worden, weil die Veranstaltung örtlich beschränkter Erhebungen dem [A 64]Charakter des Kongresses widerspräche und Mißstimmung hervorrufen würde.[316]A: Grunde,
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[316]Weber bezieht sich hier offensichtlich auf die Besprechungen des Fragebogens im Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses im Herbst 1892. In mehreren Sitzungen wurde hier der ursprüngliche Entwurf Webers und Göhres einer Kritik vor allem durch Moritz August Nobbe und Adolph Wagner unterzogen. Weber, Max, Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands, oben, S. 210f.
Wenn ich nun versuche, die Ergebnisse dieser Enquête, soweit ich das Material bisher genauer durchgearbeitet habe – das heißt für den größten Teil Ostdeutschlands – in einigen allgemeinen Zügen mit dem in Verbindung zu setzen, was wir bisher über die dortigen Landarbeiterverhältnisse wußten, so kommt in erster Linie in Frage: wie stellt sich die Angabe der Berichterstatter zu den Ergebnissen der gleich umfassenden Enquête des Vereins für Sozialpolitik? Da ist denn – soviel ich bisher sehe – zu sagen: Grundsätzliche, große Abweichungen von den Kenntnissen, die wir bereits aus dieser Enquête geschöpft hatten, hat sie nicht gebracht. Abweichungen sind vorhanden z. B. teilweise – aber auch nur teilweise – in den Lohnsätzen, und das habe ich nicht anders erwartet. Denn es betrifft Fälle, wo ich bei Bearbeitung der Berichte der vorigen Enquête schon die Angaben als nicht ganz zuverlässig behandelt habe. Wenn man im Lauf der Zeit rund 1000 Berichte über denselben Gegenstand durcharbeitet, bekommt man doch einen einigermaßen sicheren Blick dafür, ob ein Bericht glaubhaft und wahrscheinlich ist oder nicht.
[317]Nicht also einen Gegensatz gegen die Resultate der früheren Erhebung, sondern eine Ergänzung, aber teilweise eine Ergänzung in recht wichtigen Punkten, finden wir in unserm Material. Um Ihnen nun heute doch ein Bild zu geben, in welcher Richtung sich die im Werke befindliche Verarbeitung unseres Materials zur Zeit bewegt, so will ich folgendes hervorheben: die Enquête des Evangelisch-sozialen Kongresses hat uns, was die Enquête des Vereins für Sozialpolitik unterlassen hat, Zahlen geboten, die sich auf die soziale Schichtung der ländlichen Arbeiterschaft beziehen, indem sie ziffernmäßig das relative Vorkommen der Arbeiter der einzelnen Kategorien auf den einzelnen Gütern und in den einzelnen Gemeinden erkennen lassen. Wir haben ferner Ziffern erhalten, welche die Lebensmittelpreise im Detailverkehr des platten Landes, und solche, welche die Bodenpacht angeben. Wir haben nun in den Gemeindelexika
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und den sonstigen amtlichen Materialien in Preußen Zahlen, welche uns gleichfalls die einzelnen Gemeinden vorführen nach der Zahl ihrer Haushalte und nach der Qualität ihrer Äcker, und es ist nun die, wie Sie[317]Gemeint ist das 1887/88 in 13 Bänden erschienene „Gemeindelexikon für das Königreich Preußen“. Es wurde hauptsächlich auf der Grundlage der Materialien der Volkszählung von 1885 erstellt. Es ist nach Städten, Landgemeinden und Gutsbezirken geordnet und enthält Angaben zum Flächeninhalt, zum Grundsteuerreinertrag, zur Bodenart, zur Bevölkerungsdichte und zur Konfession.
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mir ohne weiteres zugeben werden, recht zeitraubende Arbeit zu machen, die Ziffern, welche unsre Enquête ergeben hat, mit diesem Material zusammenzuarbeiten, daraus für die sämtlichen in Frage kommenden Gemeinden und Gutsbezirke das soziale und wirtschaftliche Ensemble, innerhalb dessen sich die Arbeiterschaft befindet, von der die Berichte sprechen, zu ermitteln, und alsdann nach den Zusammenhängen zu forschen, in welchem die Lohnsätze und die Gesamtlage [A 65]der Arbeiter, wie sie uns die Berichte darstellen, mit jenen Grundlagen etwa stehen könnten. [317]A: sie
Nun, meine Herren, wenn ich mich auch darüber aussprechen soll, was für Ergebnisse bei diesen Untersuchungen ungefähr herauskommen werden, so kann ich das hier nur in wenigen Umrissen versuchen. Mit einer allgemeinen Eigentümlichkeit agrarischer Erhebungen haben wir zu rechnen: gerade die wichtigsten Ergebnisse werden einen rein negativen Charakter haben; wir werden in besonders [318]vielen Fällen, wo wir einen bestimmten Zusammenhang theoretisch erwarten zu müssen glaubten, entdecken, daß dieser Zusammenhang nicht besteht. Das ist gerade das Charakteristikum von Erhebungen auf dem platten Lande, daß sie durch solche negative Resultate, die uns zunächst enttäuschen könnten, bestimmte nationalökonomische Vorurteile widerlegen. Das Land, die Erhebungen über die Verhältnisse der ländlichen Arbeiter sind es gewesen, die das berüchtigte „eherne Lohngesetz“
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als praktisch nicht geltend exakt nachgewiesen haben – ein Verdienst des Herrn Freiherrn von der Goltz mit seiner Enquête aus dem Anfang der 70er Jahre.[318]Ferdinand Lassalle prägte in Anknüpfung an die Lohntheorien David Ricardos und Karl Marx’ den Begriff des „ehernen Lohngesetzes“. Lassalle ging dabei davon aus, daß sich der Arbeitslohn jeweils auf den Satz einpendeln würde, der nötig sei, um den Arbeiter auf dem unentbehrlichen Subsistenzniveau zu halten, das zu seiner Reproduktion erforderlich sei; demgemäß seien alle Versuche, die soziale Lage der Arbeiterschaft mit sozialpolitischen Maßnahmen zu verbessern, auf die Dauer erfolglos. Lassalle, Ferdinand, Offnes Antwortschreiben an das Central-Comité zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeitercongresses zu Leipzig. – Zürich: Meyer & Zeller 1863, S. 15f.
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Auch unsere Enquête wird – soviel kann ich schon jetzt sagen – in ähnlicher Art, wie diejenige des Vereins für Sozialpolitik, ergeben, daß eine große Anzahl von Momenten, welche man als maßgebend für die Höhe der Löhne der Landarbeiter und ihre materielle Lage überhaupt voraussetzen würde, nur in beschränktem Maße und in zweiter Linie, nicht fundamental, in Betracht kommen. Dahin gehören z. B. die Lebensmittelpreise. Keine Spur von Parallelismus der Lebensmittelpreise und der Lohnhöhe, auch nicht in großen Bezirken. Hohe Lebensmittelpreise in Schlesien, niedrige in Ostpreußen und Pommern und gerade umgekehrt das Verhältnis der Löhne. Bei der Bodengüte zeigt sich dasselbe Verhältnis. Ausgezeichnete Bodenqualität in Nieder- und Mittelschlesien, aber miserable Löhne; erbärmlicher Boden in Pommern und dabei relativ hohe Löhne. Daß ferner das Maß der Intensität der landwirtschaftlichen Kultur des Bodens keineswegs identisch sei mit der Höhe der Lebenshaltung der Arbeiter, das habe ich schon auf Grund der früheren Erhebun[319]gen behaupten zu sollen geglaubt1873 wurde auf Anregung des Kongresses deutscher Landwirte unter der Leitung von Theodor Freiherr von der Goltz eine Erhebung über die ländlichen Arbeiterverhältnisse durchgeführt. Die Ergebnisse wurden 1875 von von der Goltz in seinem Werk „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich“ veröffentlicht.
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und mir dadurch den Vorwurf, in wirtschaftlichen Dingen „reaktionär“ zu sein, von guten Freunden zugezogen.[319]Weber, Landarbeiter, S. 779 (MWG I/3, S. 900), und Webers Diskussionsbeitrag auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik am 20. März 1893, oben, S. 203.
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Diese Behauptung – wenigstens, so viel ich bisher sehe – wird durch unsere Enquête bestätigt. Diese negativen Resultate, die also darauf hinweisen, daß diejenigen Momente, die ich soeben hier in Betracht zog, nicht in erster Linie die Lage der Landarbeiter bestimmen, ergeben im Zusammenhalt mit anderen Umständen und mit positiven Ergebnissen der Enquête einen ziemlich sicheren Schluß darauf, welches Moment dann das entscheidende ist für das Schicksal und die Gesamtlage der Arbeiter. Es ist das die historisch erwachsene soziale Schichtung der Bevölkerung [A 66]auf dem Lande. Das Kausalverhältnis kehrt sich hier einmal wenigstens teilweise um. Wir sind durch unsere moderne wissenschaftliche Methode gewöhnt worden, technisch-ökonomische Bedingungen und Interessen grundsätzlich als das Prius anzusehen und daraus die soziale Schichtung und die politische Gestaltung eines Volkes abzuleiten. Diese Methode behält selbstverständlich auch für das Land ihr gutes Recht, allein wir sehen hier einmal besonders deutlich, daß es sich um Wechselwirkungen handelt, bei denen den rein ökonomischen Momenten keineswegs die führende Rolle zukommt. Die Art der Bevölkerungsgruppierung, die Betriebs- und Bodenverteilung, die Rechtsformen der Arbeitsverfassung innerhalb der einzelnen Bezirke sind von unendlich viel entscheidenderer Bedeutung für die materielle und sozialethische Lage, die gesamte Lebenshaltung der Landarbeiter, als etwaige Unterschiede in der Gunst oder Ungunst der ökonomischen Bedingungen, unter denen die Landwirtschaft in den einzelnen Gegenden arbeitet, oder als das Verhältnis der Erträge bestimmter Betriebsformen zu einander. Jene sozialen Schichtungsverhältnisse sind es, welche die Lebenshaltung der Arbeiter und als Folge dieser Lebenshaltung – nicht umgekehrt – ihren Lohn, ihre gesamte wirtschaftliche Lage fast ausschließlich bestimmen. Gemeint ist Webers Kritiker Karl Kaerger, der in seiner Schrift „Die Arbeiterpacht“ (S. 33) behauptete, Webers Feststellung hätte „leicht reaktionäre Strömungen veranlassen können“, wäre sie unwidersprochen geblieben.
Nun, meine Herren, welches sind denn ganz allgemein gesprochen diejenigen sozialen Momente, welche vom Standpunkt der Arbeiter [320]aus günstig, und welche ungünstig wirken? Da finden wir auf dem platten Lande einen merkwürdigen Gegensatz gegen die Verhältnisse der Industrie. In der Industrie kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die wirtschaftlich höchststehende Schicht von denjenigen Industriearbeitern gebildet wird, welche am vollständigsten als reine Lohnarbeiter proletarisiert und am meisten als gesonderte Klasse abgeschieden und damit zum Klassenbewußtsein gelangt sind. Alle Mischformen sind hier anachronistische Reste aus der Vergangenheit und dem chronischen Siechtum verfallen: so, ganz überwiegend wenigstens, die Hausindustrie und große Teile des Handwerks. Das Umgekehrte sehen wir auf dem platten Lande. Hier zeigt sich, soweit wir urteilen können, auf Grund des Materials, daß die soziale Isolierung in Verbindung mit der Proletarisierung der Landarbeiterschaft unter den gegenwärtigen Verhältnissen dasjenige Moment ist, welches die schwersten wirtschaftlichen Nachteile für die Arbeiter mit sich bringt, sie am tiefsten relativ und absolut herunterdrückt. Wo noch gemeinwirtschaftliche Reste vorhanden sind, wo der Anschluß nach oben am wenigsten verloren gegangen ist, wo eine proletarisch abgeschlossene Klasse von reinen Lohnarbeitern, die in ihrer Gesamtphysiognomie den Charakter der Industriearbeiterschaft an sich trägt, in der kleinsten Relativzahl vorhanden ist: da sind die Verhältnisse für die Arbeiter am günstigsten, am ungünstigsten aber da, wo die Masse der Arbeiter, [A 67]zu reinen Lohnarbeitern proletarisiert und womöglich durch einen Fetzen Bodeneigentum an die Scholle gekettet, der wirtschaftlichen Übermacht gewaltiger Grundherren schutzlos preisgegeben sind.
Wenn wir uns nach dem Süden und Westen Deutschlands wenden, so finden wir, daß die günstigsten Verhältnisse für die Arbeiter diejenigen in den Allmendgemeinden sind, da, wo die Aufteilung des Gemeindelandes zu Privateigentum am wenigsten fortgeschritten ist, wo die tagelöhnernden Kleinbesitzer an der gemeinschaftlichen Benutzung des Gemeindelandes einen Rückhalt haben, einen unverbringlichen Anteil am Boden der Heimat, der sie in den Kreis der Gemeindegenossen stellt.
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Dort finden wir auch das stärkste Heimatsgefühl der Arbeiterschaft, eine Anhänglichkeit an den Boden [321]des väterlichen Dorfes, so stark, daß der ausgezeichnete Leiter der badischen Domänenverwaltung glaubt, von „Schollenkleberei“ sprechen zu müssen.[320]Im Gegensatz zu Preußen blieben in Teilen Süd- und Südwestdeutschlands die Allmenden mit ihrem gemeinwirtschaftlichen Charakter weitgehend erhalten und wurden nicht aufgeteilt.
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Könnten wir doch etwas von dieser „Schollenkleberei“ in die Arbeiterschaft des Ostens hineintragen! In Preußen ist diesem Zustande der Allmendwirtschaft, der Beteiligung der Tagelöhner als Genossen an der Benutzung des Gemeindelandes seinerzeit ein gewaltsames Ende bereitet worden. Die Hemmung der rein technischen Produktionsinteressen, welche diese gemeinwirtschaftliche Gebundenheit mit sich brachte, fiel dem wirtschaftlich-liberalen preußischen Gesetzgeber aus dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts in die Augen, und mit geradezu fanatischem Zorn hat er im Wege der Gemeinheitsteilung, der Verkoppelung und Separation die Allmenden gesprengt, das Land verteilt und damit die Arbeiter aus der Teilnahme an dem gemeinschaftlichen Besitz herausgesetzt.[321]Es handelt sich um den Direktor der badischen Domänenverwaltung Ferdinand Lewald. Vgl. Hof- und Staats-Handbuch des Großherzogthums Baden. 1892. – Karlsruhe: G. Braun o. J., S. 433; dass. 1893, S. 154, und 1896, S. 548. Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden.
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Es ging das bekannte Wort unter den Arbeitern in den 40er Jahren, daß durch die Separationen die Bauern zu Edelleuten und die Landarbeiter zu Bettlern und Knechten geworden seien,Gemeint ist die preußische Agrarpolitik im Zusammenhang mit der Gemeinheitsteilungsordnung vom 7. Juni 1821. Vgl. oben, S. 95, Anm. 11.
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und dieses Wort hat seine tiefe Berechtigung. Nun, meine Damen und Herren, in wirtschaftlicher Beziehung verwandt waren, vom Standpunkt der Arbeiter aus, mit jenen Allmenddörfern die östlichen, patriarchalischen Gutswirtschaften, wie sie Ihnen Göhre geschildert hat.Als Zitat nicht nachgewiesen.
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Wirtschaftlich, auf ihre materielle Lage wirkte diese gemeinwirtschaftliche Arbeitsverfassung ähnlich und wirkt noch jetzt so, wo sie besteht. Die günstigsten Verhältnisse herrschen auf dem Lande in Mecklenburg und der sogenannten Holsteinschen Grafenecke,Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 52–54.
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wo die alte patriarchalisch-gemeinwirtschaftliche Arbeitsverfassung noch am vollständigsten erhalten ist, teilweise erhalten ist durch staatlichen Zwang, wie in Mecklenburg, wo die Tagelöhner 1848 den [322]Gutsherren die Erhaltung ihrer alten Gerechtsame abtrotzten:Gemeint ist die Ostküste Schleswig-Holsteins, an der im Gegensatz zu den übrigen Regionen Schleswig-Holsteins der Großgrundbesitz dominierte.
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Anteil am gutsherrlichen Acker, Anteil am Ertrage seiner Ernte, Anteil namentlich an dem Weideland des Gutes schlingen hier ein festes Band wirtschaftlicher Interessengemeinschaft um Herrn und Arbeiter. Auch hier ist der Arbeiter Flurgenosse. Der Unterschied gegen den Süden ist, daß er diese Gerechtsame im Gutsland, nicht im Gemeindeland [A 68]hat, aber im übrigen ist ein solcher Gutstagelöhner – rein wirtschaftlich betrachtet – praktisch in der Art seines Einkommens nicht viel anders und im ganzen eher noch günstiger, jedenfalls bezüglich der Höhe der Einkünfte sichrer, gestellt, als ein Mann, der im Süden in einer Gemeinde mit großer Allmende sitzt. [322]Anspielung auf die in der Revolution durchgesetzte Verordnung vom 15. Mai 1848 „wegen Einsetzung von Schieds-Commissionen zur Feststellung streitiger Verhältnisse der Hoftagelöhner“ (Mecklenburgische Gesetzsammlung, 2. Folge, Band 5, (wie oben, S. 185, Anm. 40), S. 380–382). Diese Kommissionen erließen Regulative, durch die die gegenseitigen Rechte und Pflichten auf den einzelnen ritterschaftlichen Gütern festgelegt wurden.
Aber da begegnen wir alsbald einer eigenartigen Erscheinung: während wir im Süden die Schollenkleberei haben, ist in Mecklenburg, wo die Löhne so hoch sind, wie nirgends sonst im Osten, die Ab- und Auswanderung in ganz erschreckend hohem Maße vorhanden. Und weiter: Ganz allgemein begegnen wir im Osten der scheinbar seltsamen Erscheinung: gerade die Landarbeiter, denen es materiell am besten geht, ziehen in die Stadt und in die Fremde aus den Gegenden, wo der Großgrundbesitz stark vorherrscht. Warum? Es müssen wohl ideelle Momente von übermäßiger Gewalt mitsprechen: es ist die Unmöglichkeit, jemals sich selbst und seine Kinder, wie es im Süden möglich ist, zur Selbständigkeit in der Heimat aufsteigen zu sehen, für alle Zeit im Herrendienst stehen zu müssen, welche diese Leute in die Fremde treibt. Ein uralter Satz, so alt, daß er trivial geworden ist. Aber deshalb ist er dennoch wahr geblieben. Zum ersten Male begegnen wir hier einer eigenartigen psychologischen Konsequenz, welche die Art der Grundbesitzverteilung mit sich bringt. Gewiß, wir haben es
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hier, – ich habe das meinerseits stets anerkannt – mit Illusionen zu thun. Denn welches Schicksal erwartet den Mann in der Stadt oder über See? Aber es sind Illusionen, die nicht ignoriert werden dürfen. Sie tragen einen typisch [323]modernen Zug und sind Beispiele dafür, daß es auch im wirtschaftlichen Leben Ideale giebt, deren Macht gewaltiger ist, als die der materiellen Interessen. Fehlt in A; es sinngemäß ergänzt.
Aber weiter! Der Fortschritt der landwirtschaftlichen Betriebsweise führt auch innerhalb der Großbetriebe des Ostens zur Beseitigung der alten, gemeinwirtschaftlichen Elemente in der Arbeitsverfassung. Wie in den separierten Dörfern dem kleinen Besitzer, so wird hier dem Instmann die Viehweide entzogen; mit zwingender Gewalt dringt der Geldlohn in die Arbeitsverfassung ein und sprengt die alte Interessengemeinschaft. Der moderne Betrieb fordert dazu heraus, die Gutswirtschaft zum Saisongewerbe umzugestalten, Arbeiter heranzuziehen, wenn Bedarf, und sie wieder abzustoßen, wenn die Erntezeit vorüber ist; so entsteht das Wanderarbeitertum: an die Stelle der deutschen Instleute des Ostens tritt das Heer der polnischen Nomaden. Dulden wir das nicht, dann müssen die Großbetriebe aus Arbeitermangel zu Grunde gehen, und die Frage ist nur, wie lange sich dieser chronische Fäulnisprozeß fortsetzt. Besser vielleicht, wenn ihm ein Ende mit Schrecken gesetzt würde. Was ist der Grund dieser Erscheinung? Woher kommt es, daß auf dem platten Lande der technische Fortschritt – denn ein wirtschaftlich-technischer Fortschritt ist ja die Aufteilung der Allmende, [A 69]die Einziehung der Viehweiden, weil sie eine viel intensivere Ausnutzung der Bodenkräfte zuläßt – woher kommt es, daß dieser technische Fortschritt zur Verschärfung der sozialen Gegensätze führt? Eine gänzlich eigenartige Erscheinung ist das ja nicht; es ist eine Erscheinung, die sich wiederholt, und die man sogar als Axiom dahin formulieren kann, daß der technische Fortschritt in seinen ersten Stadien stets zu Gunsten Weniger auf Kosten der Vielen erfolgt. Der Satz gilt auch für andere, speziell agrarische Verhältnisse. So ist es – das Beispiel liegt ja unserm verehrten Herrn Ehrenpräsidenten besonders nahe
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– auf dem Gebiete der Versicherung: die alten bäuerlichen Brandkassen kontribuirten mit ihrer technisch primitiven Beitragsverteilung die Reichen zugunsten der Armen – die moderne Technik mit [324]ihrer Gefahrenklassifikation erzieht denjenigen zum Aufbau massiver Häuser mit geringerer Brandgefahr, der das Vermögen dazu hat, und entzieht demjenigen, der es nicht hat, die Möglichkeit der Versicherung überhaupt. So ist es mit der Hypothekenentschuldung. Unsre technisch vorzügliche, namentlich Frankreich gegenüber vorzügliche Hypothekengesetzgebung kommt dem wirtschaftlich Starken zugute; den Schwachen, die große Masse der Grundbesitzer, macht sie bei uns in einem Maße dauernd tributpflichtig, wie es ohne diese Gesetzgebung schon rein technisch unmöglich wäre.[323]Adolph Wagner, der Ehrenpräsident des Evangelisch-sozialen Kongresses, hatte sich besonders mit dem Versicherungswesen, und zwar mit der Frage nach der Einführung staatlicher Versicherungen und des Versicherungszwangs auseinandergesetzt. Siehe insbesondere seinen Artikel „Versicherungswesen“ in: Handbuch der Politischen Ökonomie, hg. von Gustav Schönberg, Band 2. – Tübingen: H. Laupp 18913, S. 939–1026.
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Reaktionär wäre es, deshalb den technischen Fortschritt zu bekämpfen, kurzsichtig aber, seine Konsequenzen zu übersehen. – Jeder erkennt diese Konsequenzen heute in der Entwicklung, welche die Arbeitsverfassung des Gewerbes nimmt, weil es sich hier um örtlich zusammengedrängte Massenerscheinungen handelt. Aber die Sache liegt in der Landwirtschaft nicht anders. Auch hier erweitert der technische Fortschritt mit seinen Folgen den Abstand zwischen Besitz und Nichtbesitz; teils materiell, teils – und das ist das wichtigste – psychologisch. Er führt mit Notwendigkeit zum Geldlohn, mindestens zur Entziehung oder Beschränkung der eigenen Wirtschaft. Was aber hat ein in Geld gelohnter Landarbeiter, der den größeren Teil seines Brotes kaufen muß, für Interessen gemein mit seinem Herrn, der teuere Kornpreise braucht? Noch mehr aber: welches sympathische Band verbindet ihn so mit seinem Herrn, wie den Instmann, der selbst in sich, in seiner Wirtschaft im kleinen erprobte, wie dem Landwirt unter den Nöten, welche die Ungunst des Wetters und des Weltmarktes bringen, zu Mut ist? Im Gegensatz zu der Enquête des Vereins für Sozialpolitik behaupten unsere Berichte, daß Beschränkung des Naturallohnes meist gegen den Willen der Arbeiter, einseitig von der Herrschaft, erfolge, die Arbeiter den Naturallohn vorzögen. Ich muß die allgemeine Richtigkeit dieser Beobachtung bezweifeln. Aber wie dem sei: eins jedenfalls, was mit der Art der Gestal[325]tung des alten Naturallohnes bei uns untrennbar verknüpft war, wollen sie nicht mehr: das persönliche Herrschaftsverhältnis. Dem ent[A 70]weichen gerade die Tüchtigsten. Die Geistlichen haben eben nicht die Fortgezogenen, sondern die Dagebliebenen gefragt. [324]Umfang der Einschreibungen und Einschreibungszwang in das Hypotheken- oder Grundbuch waren im deutschen Bereich weitaus größer als in Frankreich und den deutschen Gebieten französischen Rechts. Dadurch wurde den, zumeist bürgerlichen, Gläubigern große rechtliche Sicherheit geboten, die die Hypothek zu einer dauerhaften und attraktiven Kapitalanlage machte. Siehe zu den Konsequenzen für den östlichen Grundbesitz auch die Ausführungen Webers in dem Artikel: „,Römisches‘ und ,deutsches Recht‘“, unten, S. 528–531.
Meine Herren, mein Freund Göhre hat die Umwandlung, welche infolge dieser technischen Entwicklung im Osten sich vollzieht, Ihnen bereits geschildert; ich habe dem nur noch einige Bemerkungen hinzuzufügen. Wir haben im Osten eine neue eigenartige Klassenbildung vor uns, eine langsame, aber geradezu grundstürzende Umgestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Physiognomie zweier großer Klassen, deren Eigenart den Charakter des Ostens bestimmt: der Großgrundbesitzer einerseits und der Landarbeiter andrerseits. Der alte Grundadel des Ostens – nun, dessen Bedeutung für den Osten hat ja auch Göhre anerkannt – wie mir aber schien, doch etwas widerwillig. Er ist eben nicht drei Monate Landwirt, sondern drei Monate Industriearbeiter gewesen.
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[325]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)
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Ich meinerseits erkenne diese Bedeutung für die Vergangenheit voll und rückhaltslos an; ich habe das an andrer Stelle oft genug gesagt und brauche es, glaube ich, hier nicht zu wiederholen. Aber ich bestreite, daß diesem Grundadel für die Zukunft eine ähnliche Rolle beschieden sein wird, ja, daß er überhaupt in seinem alten Charakter noch besteht oder erhalten werden kann. Diesem Grundadel eigen war das naive Bewußtsein, die Vorsehung habe es so eingerichtet, daß er zum Herrscher und die Anderen auf dem Lande zum Gehorsam berufen seien. Warum? Darüber machte er sich keine Gedanken. Die Abwesenheit der Reflexion war ja eine seiner wesentlichen Herrschertugenden.[325]Paul Göhre hatte 1891 drei Monate als Fabrikarbeiter und Handwerksgeselle in Chemnitz verbracht, um die soziale Lage der Arbeiterschaft aus nächster Nähe kennenzulernen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er 1891 in seiner aufsehenerregenden Schrift „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“.
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Das ist mein vollständiger Ernst. Die Abwesenheit rein geschäftlicher Gesichtspunkte, die Unentwickeltheit des kaufmännischen Erwerbsinteresses in seinem Betriebe war für ihn charakteristisch und vom Standpunkt des Staates aus wertvoll. Es war kein Unternehmerstand, sondern ein Stand von Grundherren, die über Land und Leute [326]schalteten, wie eine Schar kleiner politischer Herrscher. Diese Klasse unseres Grundadels, der Grundbesitzer überhaupt, die eben wegen dieses Mangels eigentlich geschäftlicher Intelligenz als politisch herrschende Klasse brauchbar war, fällt jetzt fort, es entsteht statt dessen eine Klasse ländlicher Unternehmer. Wenn Sie sich die – nicht von mir, sondern von ihren landwirtschaftlichen Berufsgenossen – sogenannten „Rüben“-Barone betrachten, so sind das – nicht schlechtere Menschen, als die alten ländlichen Patriarchen im Osten – aber eine Klasse mit einer anderen sozialen und wirtschaftlichen Physiognomie. Es sind ländliche Gewerbetreibende, die in erster Linie ihren geschäftlichen Interessen nachgehen und, wollen sie bestehen, nachgehen müssen, und der Staat hat kein größeres politisches Interesse an ihnen, als an den industriellen Arbeitgebern. Und auch wenn Sie unsere alten östlichen Adelsgeschlechter betrachten, die Charakterzüge, welche ihre Repräsentanten zunehmend aufweisen, gerade diejenigen, welche auch wir als wirtschaftspolitische Gegner wegen ihrer geistigen [A 71]Bedeutung besonders hoch stellen – ich denke z. B. an einen Namen, der in letzter Zeit unter einem vielberufenen Antrag gestanden hatIn A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)
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– so werden Sie finden: das sind nicht mehr die Leute von ehedem. Auf ihrer Stirn wechselt die Zornesröte der Leidenschaft mit der Blässe des Gedankens; agrarische Grübler sind es, eine Mischung von Stubengelehrten und Edelleuten, eine Klasse vollständig anderer Art, als wir sie im Osten gewohnt waren. Wir sehen hier die Entwicklung einer gewerblichen Unternehmerklasse vor uns; das ist eine Funktion, die so gut von irgend einem technisch-landwirtschaftlich vorgebildeten Geschäftsmann versehen werden kann, wie von Nachkommen unseres alten Adels. [326]Gemeint ist der konservative Reichstagsabgeordnete Hans Wilhelm Alexander Graf Kanitz. Er hatte am 7. April 1894 einen Antrag auf Errichtung eines Getreidemonopols im Reichstag eingebracht, demzufolge der Ein- und Verkauf von ausländischem, für den Verbrauch im Inland bestimmten Getreides vom Reich übernommen werden sollte. Zugleich sollten Mindestverkaufspreise festgesetzt werden, um so den durch den überseeischen Getreideimport verursachten Preisverfall bei inländischem Getreide rückgängig zu machen. Der Antrag ist abgedruckt in: Sten. Ber. Band 137, S. 1414; die Debatte über den Antrag fand am 13. und 14. April 1894 statt. Vgl. Sten. Ber. Band 135, S. 2096ff. und 2105ff.
Und wie liegt es auf der andern Seite bei den Landarbeitern? Das Charakteristische der Entwicklung – auch Göhre hob das hervor – ist [327]nicht etwa, daß es den Landarbeitern schlechter geht als ehedem. Das kann kein Mensch allgemein behaupten. Man kann freilich auch nicht allgemein das Gegenteil behaupten. Das individuelle Moment überwiegt gerade in der ländlichen Arbeitsverfassung alles andere. Aber eins ist ein absolut durchgehender Entwicklungszug, der weitaus wichtigste: daß sie als Klasse proletarisiert werden. Ihr ganzer materieller Interessenstandpunkt und mehr noch ihre soziale Physiognomie nähert sich in konsequenter Entwicklung dem, was wir an den Industriearbeitern, an dem modernen Proletariat überhaupt zu sehen gewohnt sind. Sie werden eine unter sich gleiche proletarische Klasse, wie die Grundbesitzer zu einer Klasse von Unternehmern werden. Und das wird hier auf die Dauer die gleiche Wirkung üben, wie überall, wo wir dieser Erscheinung begegnen. Vor allem tritt eins ein, ein Phänomen von alles überragender Bedeutung der Ersatz der persönlichen Herrschaftsverhältnisse durch die unpersönliche Klassenherrschaft. Wir kennen die Erscheinung und ihre psychologischen Konsequenzen aus der Industrie. Der einzelne Unternehmer verweist den Arbeiter, der ihn um höheren Lohn angeht, auf die Wirkung der Konkurrenz. Nur die Klasse kann mit der Klasse verhandeln; die Verantwortlichkeitsbeziehungen zwischen dem einzelnen Herrn und dem einzelnen Arbeiter verschwinden; der einzelne Unternehmer wird gewissermaßen fungibel; er ist nur noch Typus der Klasse. Die persönliche Verantwortlichkeitsbeziehung verschwindet; etwas Unpersönliches, die Herrschaft des Kapitals pflegt man es zu nennen, tritt an die Stelle. Und das hat vor Allem eine naturgemäße psychologische Folge. Die alte Arbeitsverfassung mit ihrer persönlichen Verantwortlichkeit des Herren für das Ergehen seiner Leute, und mit der übermächtigen Herrscherstellung des Herrn, trug zugleich die psychologischen Vorbedingungen einer Unterwerfung des Beherrschten, wie sie jedes Arbeitsverhältnis darstellt, in sich. Sie konnte, in ihrer brutalen Ehrlichkeit, gegen die Person des Herrn, welcher seiner Pflichten gegen die Beherrschten uneingedenk war, einen persönlichen Haß [A 72]erzeugen. In Zeiten wilder Erregung nahm man an ihm persönlich Rache. Aber ungleich gewaltiger ist, was uns die neue Entwicklung bringt. Die Resignation der beherrschten Massen schwindet, und wie an Stelle der persönlichen Herrschaftsbeziehung die Herrschaft der Klasse, so tritt mit Naturnotwendigkeit an die Stelle des persönlichen Hasses das Phänomen des „objektiven Hasses“ – ein bekannter technischer Aus[328]druck des Sozialismus –
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des Hasses der Klasse gegen die Klasse, vergleichbar dem Nationalhaß feindlicher Völker, den er oft genug psychologisch ersetzt. Wie der Erbfeind gehaßt wird, nicht als Person, sondern als Angehöriger seiner Nation, so der Unternehmer als Angehöriger seiner Klasse, nicht weil man ihn sittlich verantwortlich macht für das, was die Klasse thut. Die äußersten Konsequenzen dessen zeigte uns die letzte Zeit in deutlicher Sprache.[328]Als Zitat nicht nachgewiesen.
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Wer die psychologisch zwingende Notwendigkeit dieser Erscheinung nicht sehen will, muß sich die Augen verbinden. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Anspielung auf eine Reihe anarchistischer Attentate, die sich zwischen 1892 und 1894 in Frankreich häuften. Vgl. Linse, Ulrich, „Propaganda der Tat“ und „Direkte Aktion“, in: Mommsen, Wolfgang J. und Hirschfeld, Gerhard (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. – Stuttgart: Klett 1982, S. 247.
Man muß den Thatsachen ins Gesicht sehen können. Ist das nicht ein Problem neuer und eigner Art auch für die Kirche? Ich meine fast, es ist heute morgen mit Unrecht daran vorbeigegangen worden. Es wurde behauptet, es sei eine moderne Erscheinung, daß die Kirche daran denke, im wirtschaftlichen Leben „Partei zu nehmen,“
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– hat sie das nicht schon immer gethan? Sie hat, gerade in diesem Entwickelungsprozeß, von dem wir sprechen, von jeher Partei genommen, von Thomas von Aquino angefangen, bis zu unserm Freunde Naumann hier.Die Vormittagsdiskussion hatte sich in Anknüpfung an das Referat von Hermann Cremer über „Die soziale Frage und die Predigt“ um die Frage gedreht, ob und inwieweit in der Predigt soziale und wirtschaftliche Fragen angesprochen werden sollten. Dabei wurde unterstellt, daß die Stellung und Parteinahme der Kirche zu diesen Fragen ein modernes Phänomen sei. Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 11–43.
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Sie hat von jeher äußerst mißtrauisch dem entgegengestanden, was wir als Geldwirtschaft zu bezeichnen gewohnt sind, nicht nur dem Kapitalzins, sondern allem, was damit zusammenhängt. Warum hat sie das gethan? Deshalb, weil, wie sie instinktiv erkannte, die Geldwirtschaft notwendig die unmittelbaren Herrschaftsbeziehungen des Einzelnen zum Einzelnen beseitigte, und Beziehungen rein „geschäftlicher“, das heißt unpersönlicher Art, die Herrschaft des Besitzes als Klasse über die Besitzlosen an die Stelle setzte. Sie können die brutalste Herrschaftsbeziehung, [329]auch die Beziehung des Herrn zu dem rechtlosen Sklaven, sittlich erfassen und verklären, unter einen religiösen Gesichtspunkt bringen und mit religiösen Postulaten daran treten, weil sie Beziehungen des einzelnen Menschen zum Menschen sind. Dagegen fehlen Ihnen noch – irre ich nicht – die Formen, um den Klassenkampf mit ethischen Momenten zu durchdringen. Hier fehlt das persönliche Verantwortlichkeitsmoment, der Angriffspunkt, an dem die seelsorgerische Behandlung des Individuums, Herrschers wie Beherrschten, einzusetzen gewohnt ist. Das ist die Erscheinung, welche schon der älteren Kirche unheimlich war, und welche, wenn ich nicht irre, auch unsern Freund Naumann beschäftigt.[328]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)
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Er giebt den Widerstand auf, soweit der industrielle Großbetrieb in Frage kommt, den er als Thatsache und als notwendig anerkennt, aber [A 73]er zieht in seiner Anschauung nicht die Konsequenzen für die kapitalistische Entwickelung überhaupt. [329]Anspielung auf Friedrich Naumanns Schrift „Was heißt Christlich-Sozial?“, mit der sich Weber in seiner gleichnamigen Rezension, unten, S. 350–361, näher auseinandersetzte.
Heute, meine Herren – gern oder ungern – wird die Kirche mit der Thatsache, daß ein Ersatz der persönlichen Herrschaft durch die Klassenherrschaft sich vollzieht, rechnen müssen. Jedes Eifern gegen die psychologischen Konsequenzen dessen, als gegen eine „Auflehnung wider die gottgesetzte Autorität“
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ist vergebens. Aber noch weniger verstehe ich, wie man glauben kann, das gehe die Kirche nichts an; sie könne es ignorieren. Es ist der wesentlichste Grund, weshalb wir glauben, über diese Dinge zu Ihnen sprechen zu sollen, daß wir der Ansicht sind: der Versuch, an diesen Thatsachen vorbeizugehen, ist unmöglich. Jede Stellungnahme der Kirche zu sozialen Problemen, welche davon absieht und nach alter Art an die persönliche Verantwortlichkeit ausschließlich anknüpfen will, geht von irrealen Voraussetzungen aus. Der Klassenkampf ist da und ein integrierender Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung – nur die Form steht zur Diskussion – die Thatsache aber muß auch die Kirche anerkennen, und mit dieser Anerkennung allein schon ist der Klassenkampf für die heutige Gesellschaft, auch vom Standpunkt der Kirche aus, legalisiert.Als Zitat nicht nachgewiesen.
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Man darf nicht glauben, dem Phänomen des [330]Klassenhasses psychologisch näher kommen zu können, wenn man seine Wurzeln ignoriert. Überlieferte „Autoritäten“ haben ethische Bedeutung, wenn ihre innerliche Anerkennung psychologisch möglich ist. Hier ist aus der Autorität selbst etwas andres geworden: wie sollte der Glaube an sie derselbe bleiben? – Wenn ich soeben von Legalisierung des Klassenkampfes gesprochen habe, so kann das ja mißdeutet werden. Ich habe damit nicht gesagt, daß die Kirche in diesem Kampfe Partei zu ergreifen habe, auch nicht, daß es der einzelne Pfarrer solle oder auch nur könne. – Übrigens, meine Herren, wäre das etwas Unerhörtes vom sittlichen Standpunkte aus? Der Klassenkampf innerhalb der Nation ist psychologisch und sittlich – verhehlen wir es uns nicht – ein Analogon zu den Kämpfen unter Nationen. Die Beamten der christlichen Kirchen haben von jeher den Segen auf die Waffen des Vaterlandes herabgefleht, und ich persönlich vermag keinen Stein auf einen Geistlichen zu werfen, dessen Überzeugung es ist, daß der Emancipationskampf einer aufsteigenden Klasse ein gottgewollter und guter Kampf sei.[329]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Bewegung.)
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[330]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Beifall.)
Nun, meine Herren, ich habe hier über die ländliche Arbeiterfrage zu sprechen. Meinem sonstigen Arbeitsgebiet gemäß, erörtere ich deshalb diejenigen Aufgaben, die für den Staat und seine Gesetzgebung auf diesem Gebiete erwachsen. Nicht weil ich glaube, daß der Evangelisch-soziale Kongreß zu aktiver Mitarbeit berufen wäre. Er kann die Frage seinerseits so wenig lösen, wie er etwa die Bauernkolonisation in die Hand nehmen kann. Aber wir be[A 74]schränken unsre Erörterung hier doch mit Recht nicht auf solche Probleme: man muß das Arbeitsgebiet im ganzen kennen, wissen, wo und mit welchen Zielen andre Kräfte, der Staat, die Gemeinde, arbeiten, will man die Bedeutung der etwa möglichen Thätigkeit der Kirche und ihrer Diener nicht unrichtig einschätzen.
Eine Forderung, welche von der Sozialdemokratie für die Landarbeiter von jeher erhoben worden ist, zugleich die einzige praktische Forderung, welche sie auf diesem Gebiete erhebt, ist die Gewährung der Koalitionsfreiheit. Für Preußen besteht sie bekanntlich nicht, und Koalitionen zur Erlangung besserer Lohnbedingungen sind strafbar.
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Das ist eine Anomalie, die m. E. Exzesse nicht verhin[331]dert, aber, wenn die Entwickelung weiter fortgeschritten ist, den Klassenkampf nur verbittern wird. Alle Erfahrungen sprechen dafür. Ich für meine Person kann nur sagen, daß mir die Gewährung der Koalitionsfreiheit vollständig selbstverständlich erscheint. Ich würde in diesem Punkte sogar glauben, daß auch für die Landgeistlichen an dieser Forderung ein gewisses Interesse besteht. Ich hoffe auf die Begründung evangelischer Arbeitervereine auf dem Lande unter ihrer Führung und kann nicht wünschen, daß diese, wie es jetzt möglich ist, Chikanen ausgesetzt sind. Aber für die Schicksale und Chancen der Landarbeiter im Klassenkampf darf man andrerseits freilich die Bedeutung dieser Forderung auch nicht überschätzen. Die Koalitionsfreiheit für die Landarbeiter wird nicht dieselben Folgen haben, wie die entsprechende Institution für die Industriearbeiter. Es handelt sich um eine Bevölkerung, die über weite Gegenden disloziert und in der buntesten Weise aus Knechten, Instleuten, Kleinbesitzern, besitzlosen Arbeitern und Parzellenpächtern zusammengesetzt ist. Es ist vorerst noch ausgeschlossen, daß von dieser Koalitionsfreiheit in derselben Weise Gebrauch gemacht wird, wie in der Industrie. Das könnte ja aber anders werden, und man möge doch jedenfalls nicht glauben, daß durch die Beseitigung dieser Schranke der Kampf etwa erst geschaffen werde. Latent ist er vorhanden, auch ohne die Koalitionsfreiheit. Das einzige Kampfmittel, welches die Arbeiter zur Zeit haben, ist die Fortwanderung, und davon machen sie Gebrauch. Es wäre zweifellos erwünscht, daß auch die Landarbeiter in die Lage versetzt würden, die Interessen ihrer Klasse organisiert wahrzunehmen. Denn wer nimmt diese Interessen jetzt wahr? Verbände verschiedenster Art fühlen sich dazu berufen. Wenn man z. B. das Programm des „Bundes der Landwirte“ liest, so müßte man meinen, er sei dazu da, auch die Landarbeiterschaft zu vertreten.[330]Zum Fortbestehen der Koalitionsverbote für Landarbeiter in Preußen siehe oben, S. 188, Anm. 49.
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Das ist denn doch eine Naivität[331]Der Bund der Landwirte beanspruchte in seinem Gründungsprogramm vom 18. Februar 1893, die Interessen der deutschen Landwirtschaft schlechthin zu vertreten. Das Programm ist abgedruckt in: Schulthess, 1893, S. 9, und Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. von Dieter Fricke u. a., Band 1. – Köln: Pahl-Rugenstein 1983, S. 244.
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. Gegen die Existenz des Bundes der Landwirte kann nur der etwas einwenden, der auf einem borniert gegnerischen wirtschaftlichen oder politischen Interessenstandpunkte steht. Es ist selbstverständlich, daß eine solche Organi[332]sation entsteht, um die Interessen der Landwirte wahrzunehmen; aber ebenso selbst[A 75]verständlich ist, daß diese Organisation eine solche der ländlichen ArbeitgeberA: Naivetät
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und deshalb gerade unter den heutigen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Arbeiter zu vertreten, so wenig wie die Gruppe der Steuer- und Wirtschaftsreformer dazu legitimiert war, die die gleiche Prätension erhob.[332]A: Arbeitgeber,
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Die einzigen Forderungen aber, welche sie aufstellten, waren: die Beschränkung der Freizügigkeit und die Einführfreiheit für die russisch-polnischen Arbeiter.[332]In der „Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer“ hatten sich 1876 Agrarier zunächst freihändlerischer, dann aber schutzzöllnerischer Richtung zusammengeschlossen. Gemäß ihrer Satzung bezweckte die Vereinigung, „die Ideen und Grundsätze einer gemeinnützigen, auf christlichen Grundlagen beruhenden Volkswirthschaft im Volke zu verbreiten und in der Gesetzgebung zum Ausdruck zu bringen.“ Tatsächlich handelte es sich aber um eine Interessenorganisation des Großgrundbesitzes. Zit. nach Stephan, F., Die 25jährige Thätigkeit der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer (1876–1900). – Berlin: Bureau der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer 1900, S. 15.
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[332]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit.)
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Das sind Forderungen, die von Arbeiterverbänden doch wohl nicht aufgestellt würden. Ich möchte, wie gesagt, über die Möglichkeit, daß die Landarbeiter die Wahrung ihrer Interessen in organisierten Verbänden selbst in die Hand nehmen, ziemlich skeptisch denken. Immerhin wäre es möglich, daß aus Evangelischen Arbeitervereinen solche Verbände im Lauf der Zukunft erwüchsen. Die Evangelischen Arbeitervereine mit ihrer mehr patriarchalischen Organisation wären dann Vorstufen dazu. Und soweit in den Landgeistlichen des Ostens das geeignete Material zur Organisation solcher Vereine gegeben wäre, und soweit sie sich zu dieser Aufgabe berufen fühlten, würde ich mich freuen, wenn sie sich ihr unterzögen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sie im weiteren Verlauf auch als Interessenvertreter sich in den Dienst der Klasseninteressen der [333]Arbeiterschaft stellen könnten. Ob sie dazu berufen oder auch nur in der Lage sind, ist eine ganz andre Frage, die aber die Landgeistlichen jetzt nicht zu kümmern braucht. Denn keineswegs ist etwa die Wahrnehmung von materiellen Klasseninteressen gegenüber dem Arbeitgeber der einzige oder der wesentliche Gesichtspunkt, unter welchem die Entstehung Evangelischer Arbeitervereine auf dem Lande unter Führung der Geistlichen erfolgen sollte und könnte. Der Bund der Landwirte forderte in seinem Programm vom 18. Februar 1893 unter Punkt 7: „Anderweitige Regelung der Gesetzgebung über den Unterstützungswohnsitz, die Freizügigkeit und den Kontraktbruch der Arbeiter.“ Die „Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer“ forderte auf ihrer Generalversammlung 1892 ebenfalls eine Revision dieser Gesetzgebung mit dem Ziel, die Bewegungsfreiheit der Landarbeiter einzuschränken. Weiterhin wurde die unbeschränkte Zulassung von „Arbeitern aus Nachbarstaaten“ verlangt. Bericht über die Verhandlungen der XVII. Generalversammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer zu Berlin, am 24. Februar 1892, erstattet vom Bureau des Ausschusses. – Berlin: Bureau der Steuer- und WirthschaftsReformer 1892, S. 96f.
Ihrer warten umfassendere Aufgaben.
Verkennen wir nicht, meine Herren, daß wir mit einem langsamen, aber unaufhaltsamen Umschwung bei den Landarbeitern auch inbezug auf ihre geistigen Bedürfnisse zu rechnen haben. Es ist nicht zuletzt auch der dunkle und halb unbewußte Drang nach geistiger Kultur, was die Leute vom Lande treibt. Grade das Unbekannte daran ist es, was sie suchen. Und diesen geistigen Bedürfnissen wird Rechnung getragen werden, darauf verlassen Sie sich, wenn nicht von Ihnen, dann von andern und unter andern Gesichtspunkten. Nimmermehr darf gerade dies geistige Arbeitsfeld der Sozialdemokratie überlassen werden. Wir sind heute hinaus über die Aufklärungswut, welche vor 20 und 30 Jahren herrschte,
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sie ist in die Rumpelkammer geworfen. Seitdem wir mit Bewußtsein der nackten Thatsache gegenüberstehen, daß unsre gesellschaftlichen Zustände uns noch auf lange hinaus, vielleicht auf immer, höchstens gestatten, eine lendenlahme Halbbildung in den Massen zu züchten, haben wir das Interesse an der „Aufklärung“ um ihrer selbst willen verloren. Aber der tiefe idealistische Drang, der in dem Durst nach geistiger Kultur sich geltend macht, [A 76]schlummert auch in den Landarbeitern. Derjenige wird ihr Vertrauensmann sein, der ihn weckt. Hier liegen vielleicht die wichtigsten Aufgaben, welche der evangelischen Landgeistlichen in nächster Zukunft harren. – [333]Die klassische liberale Doktrin ging davon aus, daß der Erwerb von Bildung den geeigneten Weg darstelle, um der Arbeiterschaft zum sozialen Aufstieg innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems zu verhelfen. Sie fand ihren Niederschlag insbesondere in den Arbeiterbildungsvereinen, die Ende der 1850er und während der 1860er Jahre allerorten, meistens auf bürgerliche Initiative hin, gegründet wurden.
Kehre ich nun zu der Frage zurück, die ja auch Göhre in den Kreis seiner Erörterungen gezogen hat, zu der Aufgabe des Staats gegenüber der jetzigen Situation auf dem Lande im Osten, und stelle ich damit zugleich die Frage, welche damit zusammenfällt: Welche Ziele [334]würde eine zielbewußte Bewegung der Landarbeiter im Osten, wenn sie jemals entstehen könnte, sich zu stellen haben? so muß ich etwas weiter ausgreifen und fragen: Von welchen Gesichtspunkten aus können wir überhaupt unter unsren deutschen Verhältnissen praktische Agrarpolitik treiben? Kann etwa das Produktionsinteresse für uns das maßgebende sein? – das heißt, meine Herren: daß wir es nicht einfach zu ignorieren vermögen, wird sich von selbst verstehen; aber es fragt sich: ist es das entscheidende? Handelt es sich also mit andern Worten darum, wie mit technisch möglichst vollkommenen Mitteln ein möglichst großes Quantum landwirtschaftlicher Güter erzeugt werden kann, und ist das die Frage, die wir zu lösen haben? Ich glaube es nicht. Treten wir dem Sinn der Frage näher. Um das gleiche Quantum Feldfrüchte und Vieh, dem Werte nach, wie es unser Boden jetzt erträgt, oder auch ein größeres, landwirtschaftlich zu produzieren, dazu würde eine Menschenzahl von sehr viel geringerem Umfange genügen, als die Zahl der heutigen landwirtschaftlichen Bevölkerung ist. Eine Anzahl über das Land zerstreuter, mittelgroßer Betriebe mit Maschinen unter Ersparung menschlicher Arbeitskraft würde mit einem Bruchteil der heute vorhandenen Landbevölkerung diesen Zweck erreichen können. Allein, nimmt man einmal diesen rein wirtschaftlichen Produktionsstandpunkt ein, so muß man noch weiter gehen und sagen: Unser landwirtschaftlicher Boden ist zum großen Teile ökonomisch überhaupt nicht wert, daß man ihn bebaut. Der Boden im Osten Preußens ist zum guten Teil derart, daß eine weltwirtschaftliche Produktionsorganisation getrost zwei Drittel des Landes als Wüste liegen lassen würde, wenn es sich nur darum handelte, die Welt mit Brot zu versorgen. Das liefern uns unsere ausländischen Konkurrenten billiger. Aber gerade an diesen Konsequenzen sehen wir: nicht dieses Interesse kann für uns im Vordergrund stehen, sondern ein andres: Das Interesse an der Art der Dislokation der Bevölkerung des Landes. Es ist für die Zukunft der Nation nicht gleichgiltig, wie sich die Bevölkerung zwischen landwirtschaftlicher und industrieller Thätigkeit, zwischen der Stadt und dem Lande verteilt. Für uns ist die Landbevölkerung etwas ganz anderes als eine Bevölkerung, die dazu bestimmt ist, sich selbst und andre mit Getreide und Kartoffeln zu versorgen. Sie ist die physische Reserve, nicht nur der Stadtbevölkerung, sondern der Nation überhaupt.
[A 77]Sie ist auch in der Geschichte niemals etwas anderes gewesen. [335]Fragen wir uns, welcher tiefe Sinn der historisch überkommenen Organisation der Landwirtschaft zu Grunde gelegen hat, wie sie unter der Gutswirtschaft in der Vergangenheit bestand, so finden wir: das Interesse des Staates und der Gesellschaft war das, eine herrschende Klasse zu haben, mit welcher der Staat regieren konnte, und unterthänige Bauern und Landarbeiter, welche dieser Klasse die Mittel zu einer standesgemäßen Existenz und dem Staat die Soldaten lieferten. Es war absolut nicht das Produktionsinteresse oder ein Interesse an rationeller Bewirtschaftung des Grundes und Bodens dabei im Spiele. Und in der That hat der patriarchalische Großbetrieb des preußischen Ostens dieser Aufgabe genügt, jene herrschende Klasse zu sustentieren, daneben aber auch in seiner Weise in relativ großer Vollkommenheit die Aufgabe erfüllt, eine physisch kräftige Landbevölkerung zu erhalten. Wo der alte patriarchalische Großbetrieb noch heute besteht, haben wir die physisch kräftigste Bevölkerung; wo seine Desorganisation am weitesten fortgeschritten ist, haben wir die erbärmlichsten sozialen, nationalen und physischen Zustände. Ein Arbeiter aus Pommern leistet das Doppelte, wie ein Arbeiter aus Schlesien, das Dreifache wie ein Russe. – Aber dieser landwirtschaftliche Großbetrieb hatte noch eine weitere politische Bedeutung. Er war eine politische Reserve des Staates gegenüber dem städtischen Bürgertum. Es war nicht gleichgiltig, daß in Gestalt unsrer östlichen Gutshöfe eine herrschende Klasse gerade dieses Charakters, ohne geschäftliche Erwerbsinteressen, über das Land disloziert war, daß hier soziale Anschlußpunkte vorhanden waren, z. B. für die Garnisonen, für die Beamten des Ostens, daß dadurch im Osten ein agrarisches Element in die Verwaltung des Staates hineinkam, und daß so Einhalt geboten wurde der Monopolisierung der politischen Intelligenz durch das Bürgertum, das seine Qualifikation zur politischen Herrschaft erst nachzuweisen hatte und leider bis heute noch nicht nachgewiesen hat. Ich als klassenbewußter Bourgeois kann das ohne Verdacht der Befangenheit konstatieren.
Aber, meine Herren, darin stimme ich mit Göhre überein: Heute ist der patriarchalische Grundbesitz in diesen seinen Funktionen tot. Der unvermeidlich wachsende Klassengegensatz gegen seine Arbeiter entzieht ihm die Brauchbarkeit für den Staat für die bisherigen Zwecke; weder erzieht er uns in der Gestaltung, die er mehr und mehr annehmen muß, eine physisch kräftige Landbevölkerung, noch [336]ist er selbst noch fernerhin zum politischen Herrscher berufen. Göhre will ihn ekrasieren.
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Er sagt, und das ist ja im wesentlichen richtig: Er verteuert das Brot und verbilligt die Menschen. Vornehmlich in seinem Interesse sollen wir die Getreidezölle aufrecht erhalten, die Getreideeinfuhr absperren, und seinetwegen müssen wir dagegen die Grenzen aufmachen für die Einfuhr russischer [A 78]Nomaden. Er will ihn durch Bauern ersetzen, und da hat er nun von der Zukunft dieser Bauern ein ungemein optimistisches Bild entrollt. Er macht sich, glaube ich, kaum eine Vorstellung von den unerhörten Schwierigkeiten, welche sich der Ansiedlung von Bauern mit hoher Lebenshaltung bisher entgegengestellt haben, und davon, welche finanziellen Opfer es dem Staate kosten würde, wenn man hier Wirtschaften schaffen wollte, welche, wie z. B. auch Sering sie sich vorstellt,[336]Göhre forderte in seinem Vortrag die „Vernichtung der Vorherrschaft des östlichen Großgrundbesitzes“. Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 59.
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einen technischen Fortschritt und eine intensivere Bodenausnützung gegenüber der jetzigen Art der Bewirtschaftung durch den Großbetrieb darstellen würden. Solche zu schaffen, ist ja das Bestreben der Ansiedlungskommission in Posen,Max Sering war unter anderem in seiner Schrift „Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland“ (Leipzig: Duncker & Humblot 1893) dafür eingetreten, in den östlichen Gebieten Deutschlands eine starke mittelbäuerliche und kleinbäuerliche Siedlungsstruktur zu schaffen.
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und wer die Ansiedlungsgüter gesehen hat, der weiß, daß es dort auch von Erfolg begleitet ist. Das erfordert aber, daß man Bauern bekommt, welche womöglich mit einem Kapital von 10 000 Mk. dahin kommen.Die Ansiedlungskommission hatte gemäß dem Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 die Aufgabe, in den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen polnischen Besitz aufzukaufen, zu parzellieren und in Rentengüter für deutsche Bauern umzuwandeln, mit dem Ziel einer Stärkung der deutschen Volksgruppe.
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Nun, meine Herren, das mindeste, was ein solcher Mann braucht, sind 4000 Mk.[336]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Widerspruch.)
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Der prosperiert aber nicht bei der Ansiedlungskommission. Ich habe einen Bauern gesehen, der 18 000 Mk. in seine Höfe und Ställe verbaut hat.In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Zuruf: 1000 Mk.)
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Und er hatte nicht zu viel darauf verwendet. [337]Das sind dann freilich stattliche Wirtschaften; sie bringen mehr aus dem Boden hervor, als das der Großbetrieb konnte. Aber es erfordert auch, daß der Staat gewaltige pekuniäre Opfer dafür bringt, und die Mittel dazu sind nicht vorhanden, um hunderttausend solcher Bauernwirtschaften erster Klasse zu schaffen. Trotzdem ist auch meiner Ansicht nach das Verlangen nach staatlicher, groß angelegter, systematischer Kolonisation richtig. Nur darf man nicht Göhres optimistische Erwartungen daran knüpfen. Weber hatte mehrfach Gelegenheit zur Besichtigung preußischer Ansiedlungsgüter in Posen, so im Sommer 1888 anläßlich seiner zweiten militärischen Übung sowie anscheinend am 21. April 1894, also kurz vor seiner Teilnahme am fünften Evangelisch-sozialen Kongreß. Siehe die Ausführungen in der Einleitung zu diesem Band, S. 12, Anm. 26.
Der entscheidende Gesichtspunkt liegt anders wo.
Wir müssen festhalten an dem Ziele der Kolonisation des deutschen Ostens, weil wir den Großbetrieb, wie er war, nicht halten können, und weil sie zugleich das einzige Mittel einer Lösung der Landarbeiterfrage ist: sie schafft einen Weg nach oben für die Arbeiter, bietet die Möglichkeit, sie wieder anzuschließen an die Klasse der Besitzenden, mit der sie den Anschluß verloren haben. Die soziale Kluft zwischen ihnen und den Gutsbesitzern zu füllen, ist die erste Aufgabe, um die es sich handelt. Denn, wo dieser Anschluß vorhanden ist, wie z. B. im mecklenburgischen Domanium, im Gegensatz zur Ritterschaft,
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da bleiben sie im Lande. Das führt nun aber keineswegs dazu, daß man ein Ekrasieren des Großgrundbesitzes in Aussicht nimmt. Ein weit bescheideneres Ziel genügt. Es ist nicht dasselbe, oder nur dem Grade nach verschieden, ob der Großgrundbesitz 20 oder 50% des Bodens in der Hand hat. Es ist vielmehr sozialpolitisch das Gegenteil von einander; denn das Maß der Bodengliederung, der Bevölkerungsgruppierung ist das allein Ausschlaggebende für die Stellung der Masse der Landarbeiterschaft. Der mögliche Anschluß an volk[A 79]reiche Dorfgemeinden erhält die Arbeitskräfte dem Lande. Alle Erfahrungen sprechen dafür, daß auch die Güter dann aus den Dörfern mit Arbeitskräften versorgt werden können, und keine Änderung der Arbeitsverfassung – auch nicht die auch von mir vertretene Umwandlung der Insten in Parzellenpächter, wie wir sie in Holstein finden – ist aussichtsvoll, ohne eine solche tiefgreifende Umwandlung des sozialen Ensembles, in [338]dem die Arbeiter sich bewegen sollen. Wir halten also an dem Gedanken der Kolonisation als Hauptforderung an den Staat fest, aber ich für meinen Teil sage, wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir daran festhalten unter einem pessimistischen Gesichtspunkte. Ich glaube nicht, daß die Kolonisation des deutschen Ostens – zunächst wenigstens – dazu führen wird, daß eine Hebung der landwirtschaftlichen Technik eintritt, etwa weil die Technik der Bauern besser wäre als die des Großbetriebs – das Umgekehrte ist der Fall – sondern ich halte sie deshalb für notwendig und aussichtsvoll, weil unsere internationalen Konkurrenzverhältnisse den Boden des deutschen Ostens unter dem Gesichtspunkte des Produktionsinteresses für den Weltmarkt wertlos machen. Es ist nicht möglich für uns, zu konkurrieren mit Ländern wie Argentinien, die eine Struktur gröbster Form haben, wo soziale Pflichten irgendwelcher Art unbekannt sind.[337]Mecklenburg-Schwerin hatte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Ansiedlung von Landarbeitern auf dem großherzoglichen Domanium begonnen. Diese Politik führte zur „Entstehung großer und wohlhabender Bauerndörfer“, während sich auf den ritterschaftlichen Gütern nur bäuerliche Kleinstellen (Büdnereien und Häuslereien) befanden. Vgl. Weber, Landarbeiter, S. 698f. (MWG I/3, S. 810).
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Ich bin der Meinung, daß die Bauernkolonisation deshalb Aussicht auf Erfolg hat, weil derjenige zur Zeit am existenzfähigsten ist, der seine Produkte soviel als möglich selbst verzehrt und möglichst ohne Lohnarbeit sein Land bestellt, der deshalb unabhängig ist von den Schwankungen der Preislage auf dem Weltmärkte und von der Bewegung der Arbeitslöhne. Das werden aber keine technisch hochstehenden Großbauern sein, sondern kleine Kolonisten, die mit der Not des Tages kämpfen. Aus diesem pessimistischen Grunde glaube ich, daß die Kolonisation im Osten Aussicht hat. Nicht ohne daß technische Rückschritte eintreten werden. Ich halte uns aber trotzdem, ja gerade deshalb für verpflichtet, sie durchzuführen. Warum? Wir setzen diese Bauern nicht an, damit sie sich selbst im Osten materiell wohl und behaglich fühlen, oder etwa, weil ihre Arbeiter materiell besser gestellt sein werden, als beim großen Besitzer – das Gegenteil trifft zu, – sondern im Interesse des Staates. Wir wollen sie anschmieden an den Boden des Vaterlandes, nicht mit rechtlichen Ketten, sondern mit psychologischen. Wir wollen, ich sage es offen – ihren Landhunger ausnützen, um sie an die Heimat zu fesseln, und müßten wir eine Generation in den Boden stampfen, um die Zukunft des Landes zu wahren, so würden wir diese Verantwortung auf uns nehmen. [338]Siehe dazu Webers Artikel „Argentinische Kolonistenwirthschaften“, oben, S. 286–303.
Denn, meine Herren, um auf den größeren Zusammenhang zu kommen, in dem sich unsre Sozialpolitik zur Zeit bewegt – wir be[339]finden uns in einer Übergangsperiode im eigentlichsten [A 80]Sinn des Wortes. Wir kennen den weiteren Fortgang der technisch-ökonomischen Umwandlung nicht. Wir wissen nicht, und es ist zweifelhaft, wie weit die Illusion, unter der z. B. auch unsre industriellen Arbeitermassen stehen, daß wir technisch noch lange so weiter fortschreiten werden, berechtigt ist. Das Tempo zum mindesten wird sich schwerlich so fortsetzen. Erst dann, wenn das Ende des gegenwärtigen rapiden Fortgangs, der technischen Umgestaltung gekommen sein wird, erst dann wird die Menschheit in der Lage sein, sich definitive, neue und dauernde soziale Organisationen zu geben. Wir können jetzt nur für diese Zukunft – wir wissen nicht, wann sie da sein wird – arbeiten, deshalb interessirt uns für jetzt ausschließlich die Erhaltung der Volkskraft, und dafür steht uns im Osten zur Zeit das Mittel der Bauernkolonisation allein zur Verfügung. Wir wollen also den Osten weiter bäuerlich besiedeln einerseits, weil wir im Besitze einer relativ zahlreichen Landbevölkerung bleiben müssen und nicht anders bleiben können; und wir erwarten andrerseits von der Verleihung des Grundbesitzes an breitere Schichten des Volks, daß sie einen Regulator der Volksvermehrung darstellen werde.
Was ist nun das Ergebnis dessen, was ich ausgeführt habe? Manches, zumal das letzte, erschien wohl vielen von Ihnen schroff und brutal. Allein wir treiben Sozialpolitik nicht, um Menschenglück zu schaffen. Meine Herren, ich verlasse mit dieser Bemerkung den speziellen Gegenstand unsrer heutigen Erörterung, um meinen Standpunkt in dieser Frage kurz prinzipiell zu rechtfertigen. Ich bin überzeugt, daß das Quantum subjektiven Glücksgefühls mit der Hebung der Massen, die wir als unumgängliche Aufgabe vor uns sehen, nicht zunehmen, sondern wahrscheinlich abnehmen wird. Das Quantum des subjektiven Glücksgefühls ist größer bei geistig tief stehenden, stumpf resignierten Volksschichten, als bei einem von Ihnen hier, größer beim Instmann als beim Bauer, größer bei dem stumpf resignierten Arbeiter des Ostens, als bei dem städtischen Proletarier, größer beim Tier, als beim Menschen. Wir hörten aus der Begrüßungsansprache des Herrn Pfarrer Naumann gestern eine unendliche Sehnsucht nach Menschenglück heraus,
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die uns sicher [340]alle ergriff, aber grade von unserem pessimistischen Standpunkt aus gelangen wir, und speziell ich persönlich, zu einem Gesichtspunkte, der mir doch noch ungleich idealistischer erscheint. Ich glaube, wir müssen darauf verzichten, positives Glücksgefühl im Wege irgend einer sozialen Gesetzgebung zu schaffen. Wir wollen etwas Anderes und können nur etwas Anderes wollen: Das, was uns wertvoll erscheint am Menschen, die Selbstverantwortlichkeit, den tiefen Drang nach oben, nach den geistigen und sittlichen Gütern der Menschheit, den wollen wir hegen und stützen, auch wo er uns in seiner primitivsten Form entgegentritt. Wir wollen, soweit es in unsrer Macht steht, die [A 81]äußeren Verhältnisse so gestalten, nicht: daß die Menschen sich so wohl fühlen, sondern daß unter der Not des unvermeidlichen Existenzkampfes das beste in ihnen, die Eigenschaften, – physische und seelische – welche wir der Nation erhalten möchten, bewahrt bleiben. Nun, meine Herren, dabei handelt es sich um Werturteile, und diese sind wandelbar. Es handelt sich überhaupt um ein irrationales Moment. Aber dieser irrationale Gesichtspunkt ist in Wahrheit nicht nur uns eigen, sondern – zum Beispiel – auch den besten Vertretern des Sozialismus. Die Sozialdemokratie hat freilich einen mechanischen, materialistischen Jargon. Sie spricht von der allesbewegenden Bedeutung der „Messer- und Gabelfrage“.[339]Der öffentlichen Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses war am 15. Mai 1894 eine Sitzung des Ausschusses und eine Begrüßungsversammlung für die bereits anwesenden Kongreßmitglieder vorausgegangen. Bericht über die Verhandlungen des Fünften [340]Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 1. Über die Begrüßungsansprache Naumanns berichtete die Frankfurter Zeitung, Nr. 134 vom 16. Mai 1894, Ab.BI., S. 1. Diesem Bericht zufolge forderte Naumann eine „Wiedergeburt der Gesinnung und des Gemüths“ und ein erneuertes Verständnis des Evangeliums, das „zum sozialen Frieden“ führen und den gegenwärtigen „schleichenden Krieg“ beenden solle.
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Nehmen wir sie aber bei ihren Forderungen beim Worte, so steckt dahinter derselbe Irrationalismus wie bei uns. Warum läßt sie denn nicht das polnische Tier da, wo es wie jetzt genug zu essen bekommt, existieren, bis es stirbt, ohne eine andere Existenz geahnt oder gewünscht zu haben, wenn es ihr lediglich auf die Messer- und Gabelfrage ankommt? Der Hohn gegen den Idealismus ist Jargon, Renommage, weiter nichts. In der Ehrlichkeit, den irrationalen Gesichtspunkt jedes Arbeitens am Fortschritt der Menschheit auszusprechen, sind wir jünger, als die greisenhaften Nörgler, die jetzt die Vertretung des Sozialismus zu ihrer Sache gemacht haben. Der Begriff geht auf den Chartistenführer Joseph Rayner Stephens zurück, der auf einer Versammlung 1838 bei Manchester verkündete: „Der Chartismus […] das ist eine Messer- und Gabel-Frage, die Charte, das heißt gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit.“ Friedrich Engels zitierte diese Rede in seiner Schrift: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. – Leipzig: Otto Wigand 1845, S. 277.
[341]Unter solchen idealistischen Gesichtspunkten kann aber auch meines Erachtens die evangelisch-soziale Arbeiterbewegung allein bestehen, auf die ich hier zum Schluß noch einmal zurückkomme. Schon jetzt steckt sie ja ihr Programm weiter, als die eigenen Berufsinteressen erheischen würden. Will sie das thun, dann muß sie rücksichtslos und ohne Angst und Sentimentalität vorwärts; ein Rückwärts giebt es dann nicht. Und soll ich einen Blick in ihre Zukunft wagen, so kann ich die Hoffnung nicht unterdrücken, daß der Geist, der in ihr lebt, dereinst für das Proletariat auch von politischer Bedeutung wird. Wir stehen heute in Deutschland vor keiner größeren Gefahr für unser politisches Leben, als die ist, daß wir unter die Herrschaft des Spießbürgertums, des Kleinbürgertums geraten. Und die typischen Eigenschaften des Spießbürgertums: – das Fehlen der großen nationalen Machtinstinkte, die Beschränkung des politischen Strebens auf materielle Ziele oder doch auf das Interesse der eigenen Generation, das Fehlen des Bewußtseins für das Maß der Verantwortung gegenüber unsrer Nachkommenschaft – das ist dasjenige, was uns auch von der sozialdemokratischen Bewegung – auch sie ist zum guten Teil ein Produkt deutschen Spießbürgertums – dauernd trennt. Das Interesse an der Macht des nationalen Staates ist für niemand ein größeres als für das Proletariat, wenn es weiter denkt, als bis zum nächsten Tage. Die höchststehenden Arbeitergruppen Englands würden keinen Tag – aller Gewerkvereine ungeachtet – ihren [A 82]standard of life erhalten können, wenn eines Tages die internationale politische Machtstellung ihres Reiches dahinsänke. Das möge sich auch unser Proletariat gesagt sein lassen. Wir hoffen, daß das bei uns überwunden wird, daß wir in Zukunft einmal über die Köpfe der Spießbürger hinweg einer proletarischen Bewegung die Hand werden reichen können, welche in dieser Beziehung größer denkt, als die heutige. – Und endlich, meine Herren: das Maß von politischer Macht und von Macht im weitesten und höchsten Sinne des Wortes, welche die Arbeiterschaft im eigenen Staate einnimmt, auch dies wird von dem Maße des Ernstes und der Gewalt ihrer Ideale abhängen, und von dem Maße des Mutes, mit welchem sie dafür eintritt, aber nicht von dem Maße des Geschreis, mit welchem sie materielle Interessen, die Messer- und Gabelfrage der lebenden Generation, auf ihre Fahne schreibt.
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[341]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Langanhaltender Beifall.)
[342][A 92][Diskussionsbeitrag]
Ich habe zunächst mit einer persönlichen Bemerkung zu beginnen. Herr Landesökonomierat Nobbe sprach von einem gewissen Gefühl der Enttäuschung über das „Ergebnis“ der Enquête. Nun, meine Herrn, ich glaubte für jeden hinlänglich deutlich gesagt zu haben, daß und warum ich „Ergebnisse“ der Enquête hier nicht vortragen, sondern nur ihre allgemeine Bedeutung für die agrarpolitischen Fragen der Gegenwart charakterisieren konnte, und vor allen Dingen glaube ich, keinen Anlaß zu dem Glauben gegeben zu haben, als ob ich etwa diesen Vortrag, der meine subjektive persönliche Ansicht darüber enthielt, als „alles, was die Enquête überhaupt nur zu Tage fördern sollte“, angesehen wissen wollte.
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Diese sogenannte Enttäuschung war wohl auch mehr sachlicher Art: er war unangenehm davon berührt, daß ich nicht in schärferer Tonart mich Göhre gegenüber für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Bedeutung des Großgrundbesitzes im Osten engagiert habe. Das kann ich deshalb nicht, weil ich ehrlicherweise nicht die Meinung vertreten kann, daß diese Stellung sich halten lasse. Die Junker als Junker zu halten, als einen Stand von demjenigen sozialen und politischen Charakter, der sie in der Vergangenheit waren, wäre – gegen diese meine Ansicht hat niemand hier ein ernstliches Argument vorzubringen gesucht – selbst mit ökonomischen Mitteln, wie sie uns nicht zu Gebote stehen, nicht möglich. Kann sich der Staat politisch dauernd auf einen Stand stützen, der selbst der staatlichen Stütze bedarf? An Stelle der „Herren“, auf sicherer väterlicher Scholle sitzenden Existenzen, die ihm ererbte Herrschertugenden ersten Ranges, wie ich stets anerkannt habe, zur Verfügung stellten, finden wir im Osten heute den Typus des „notleidenden Landwirts“, der die politische Macht umgekehrt in den Dienst wirtschaftlicher Interessen stellt – stellen muß. – Herr [343]Geheimrat Wagner berührte die Getreidezölle:Der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses, Moritz August Nobbe, hatte in der Diskussion die Zuverlässigkeit der Darlegungen Göhres und Webers in Zweifel gezogen: „Ich muß nun sagen, daß, wenn die Resultate dieser Enquête mit den heutigen beiden Vorträgen erschöpft wären, daß ich dann das Gefühl des Ungenügenden hätte.“ Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 82.
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da ich mich stets als deren Anhänger bekannt habe, so liegt nur die Quantitätsfrage zwischen ihm und mir, und die ist, daran möchte ich erinnern, unter anderm doch auch eine Machtfrage. Ich betrachte, obwohl ich gewiß hier nicht für Verteidigung der Handelsverträge bin, die 1½ Mark [A 93]Zollermäßigung als eine freilich etwas hohe Versicherungsprämie für den Bestand der Zölle überhaupt.[343]Adolph Wagner forderte eine Erhöhung der Kornzölle. Ebd., S. 89.
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Im Zuge seiner Handelsvertragspolitik hatte Reichskanzler Leo von Caprivi eine Ermäßigung der Einfuhrzölle für Getreide im Reichstag durchgesetzt. Seit 1892 galt damit für die Länder, die Handelsverträge mit dem Deutschen Reich abgeschlossen hatten (1891/92: Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, die Schweiz; 1893/94: Rumänien, Serbien, Rußland) der neue Tarif von 3,50 Mark pro Doppelzentner Getreide. Zuvor hatte der Tarif 5 Mark betragen. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. – Stuttgart: W. Kohlhammer 19822, S.1077f.
Herr Geheimrat Wagner stützte sich für die Erhaltung des Großbesitzes auf unser Bedürfnis nach einer zahlreichen Landbevölkerung;
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– wem dies Interesse in erster Linie steht, der muß aber konsequent für die Vermehrung der Steuergemeinden auf Kosten der Großbetriebe eintreten, denn es ist statistisch feststehend und auch natürlich, daß diese im Verhältnis zur Fläche weit weniger Menschen auf dem Lande ernähren, als die Dörfer. Erhaltung der Landbevölkerung und Erhaltung der „Junker“ ist aber heute nicht mehr ein und dasselbe. – Daß die Koalitionsfreiheit die bestehenden Zustände auf die Dauer nicht verschlimmern wird, davon bin ich überzeugt, denn wie bekannt, ist der Kontraktbruch doch gerade jetzt, wo wir sie nicht haben, auf dem Lande eine alltägliche Erscheinung. Es hat aber auch seine eigenartigen Konsequenzen, daß man den Arbeitern als einziges Kampfmittel gegen die Besitzer nur die Fortwanderung läßt. Die gleichen Argumente, wie heute hier,Vgl.: Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, S. 89f.
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sind seiner Zeit für die Industrie gebraucht worden. Daß ich im Übrigen auf diese Forderung fundamentalen Wert nicht legen kann und warum nicht, habe ich ja gesagt. – Nobbe hatte auf die Gefahr des Mißbrauchs der Koalitionsfreiheit durch die Sozialdemokratie, besonders bei Erntestreiks, hingewiesen. Ebd., S. 86.
Dann coramiert mich – gewissermaßen – Herr Geheimrat Wagner, wen ich mit dem Ausdruck „Spießbürgertum“ gemeint habe.
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Ich [344]dachte dabei zunächst an die Masse des Kleinbürgertums, deren Dominieren die Signatur der Wahlen mehr und mehr geworden ist. Aber da ich darnach gefragt werde, kann ich freilich nicht leugnen, daß mir auch diejenige weit verbreitete Anschauung als eine „spießbürgerliche“ erscheint, welche Thron und Altar auf die Schultern sinkender Klassen: des Großgrundbesitzes und des Handwerks, am sichersten stützen zu können glaubt. Daß wir ein großdenkendes Proletariat zur Zeit nicht haben, habe ich selbst gesagt, aber wer daran verzweifelt, daß wir es bekommen können in Gestalt einer klassenbewußten, aber weitblickenden Arbeiteraristokratie, der verzweifelt an der politischen Zukunft des Vaterlandes. Wagner hob demgegenüber die Bedeutung des Mittelstandes hervor. Ebd., S. 90.
Gegen den Gedanken, man könne und solle den Großgrundbesitz „ekrasieren“, habe auch ich mich verwahrt. Was mir aber möglich und erwünscht erscheint, ist z. B. – da einmal die Frage: was denn nun Concretes geschehen solle, aufgeworfen ist – das Erscheinen eines ständigen Etatstitels zum Ankauf herabgewirtschafteter Güter zur Vermehrung des Domänenbestandes einerseits und die planmäßige Parzellierung geeigneter Domänen andrerseits. Wenn man auf etwas derartiges hier den Namen „Expropriation“
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hat verwenden wollen, nun, meine Herrn, dann ist auch die private Güterschlächterei eine „Expropriation“. Diese aber besteht und wird bestehen, und ich meine, ein staatlicher Güterverkauf verhält [A 94]sich zu ihr ebenso wie ein Zentralschlachthaus zu Einzelschlächtereien[344]Diesen Begriff hatte Nobbe in die Diskussion eingeführt. Ebd., S. 84.
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, sie hat vor ihr die gleichen Vorzüge voraus. [344]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Heiterkeit)
Endlich ist hier auch bestritten worden, daß die evangelische Geistlichkeit auf dem Lande sich an der Gründung von Evangelischen Arbeitervereinen aktiv beteiligen könne.
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Ob dies bei den derzeitigen Patronats- und sonstigen ZuständenEin Pfarrer aus Pommern hatte als Diskutant auf der Tagung so argumentiert. Ebd., S. 87.
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auf dem Lande möglich ist, ist sicher zweifelhaft. Wo es aber möglich ist, und der betreffende Geistliche Kraft und Beruf dazu in sich fühlt, da, meine ich, sollte er vor dem Versuch nicht zurückschrecken. Daß der Geistliche einen solchen Verein nicht unter dem Gesichtspunkt einer [345]Organisation zum Klassenkampf schaffen oder wie eine Gewerkschaft organisieren wird, soll und kann, versteht sich von selbst; ich habe ja betont, daß es ganz andere Aufgaben gegenüber dem Landproletariat giebt, die in diesen Vereinen angegriffen werden müssen. Es ist lediglich meine persönliche Hoffnung, die ich ehrlich ausspreche, daß an Stelle des ungeordneten und latenten Kampfes – denn ich wiederhole es, er besteht auf dem Lande oder er wird entstehen, und nur auf die Form kommt es an – eine geordnete Interessenvertretung auch der Landarbeiterschaft erwachsen wird, und ich meine, daß dazu Evangelische Arbeitervereine eine Vorstufe bilden können, und daß es im Interesse der Gesamtheit liegt, wenn das der Fall wäre, und die Herausbildung des Klassenbewußtseins, welches auch dem Landproletarier kommen wird, nicht unter anderen Händen sich vollziehe. Eine geordnete Vertretung der Klasseninteressen aber halte ich auch bei den Landarbeitern für die Dauer unvermeidlich.Zum Institut des Patronats siehe oben, S. 101, Anm. 19.