[671][Stellungnahme zu der von der Allgemeinen Zeitung im Dezember 1897 veranstalteten Flottenumfrage]
[A 4]Für eine Vorlage, welche durch die unerwartete Geringfügigkeit ihrer Anforderungen fast ebenso sehr wie durch die kluge Sachlichkeit ihrer Vertretung
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die Gegner in offenbare Verlegenheit gesetzt hat, noch besonders einzutreten, scheint mir unnöthig. Wird auf formale Momente kein unnöthiges Gewicht gelegt, so erscheint sie ja glücklicherweise im wesentlichen gesichert. Nur völlige politische Verzogenheit und naiver Optimismus können verkennen, daß das unumgängliche handelspolitische Ausdehnungsbestreben aller bürgerlich organisirten Kulturvölker, nach einer Zwischenperiode äußerlich friedlichen Konkurrirens, sich jetzt in völliger Sicherheit dem Zeitpunkt wieder nähert, wo nur die Macht über das Maß des Antheils der Einzelnen an der ökonomischen Beherrschung der Erde und damit über den Erwerbsspielraum ihrer Bevölkerung, speziell auch ihrer Arbeiterschaft, entscheiden wird. Wenn nun angesichts der Selbstverständlichkeit dieser Entwicklung, die uns stets erneute militärische Opfer im Interesse unsrer Zukunft, für welche wir, als eine große Nation, unsern Nachfahren vor der Geschichte verantwortlich sind, näherlegen wird, sich trotzdem auch hier im Südwesten ein verhängnißvoller Mangel an Verständniß dafür gerade in breiten bürgerlichen Kreisen zeigt, so darf zur Erklärung dessen verschiedenes nicht vergessen werden. Zunächst, daß die Art des Regimes in Deutschland in den letzten 20 Jahren, halb cäsaristisch, halb „patriarchalisch“, neuerdings überdies durch eine spießbürger[672]liche Furcht vor dem rothen Gespenst verzerrt,[671] Angesichts der zu erwartenden parlamentarischen Widerstände war die erste Flottenvorlage in ihrem Umfang vergleichsweise bescheiden: sie beschränkte sich auf die Schaffung von zwei Geschwadern mit je acht Schlachtschiffen in den nächsten sechs Jahren. Im Vergleich mit den weitreichenden Tirpitzschen Plänen von 1896 war dies eine Überraschung. Außerdem hatte das Reichsmarineamt dem Reichstag zur sachlichen Begründung der Vorlage ein umfangreiches Dossier über die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des deutschen Außenhandels, insbesondere des Seehandels, zugeleitet. Sten. Ber. Band 162, Anlagen, Band 1, Nr. 5, S. 11–90.
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das Gegentheil politischer Erziehungsarbeit an der Nation gewesen ist. Zumal durch[672] Vermutlich Anspielung auf die konservative Wende, eingeleitet durch die sogenannte Umsturzvorlage von 1894/95, mit der, nachdem das Sozialistengesetz 1890 nicht mehr verlängert worden war, die Sozialdemokratie erneut bekämpft werden sollte.
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die Benutzung der Militärfragen als Kampfmittel gegen unbequeme Oppositionsparteien hat sie – sehr zum Schaden der Heeresinteressen – um einfach sachliche Budgetfragen in Angelpunkte des periodisch sich wiederholenden inneren Machtkampfs umzuwandeln an ihrem Theil beigetragen.[672] Fehlt in A; durch sinngemäß ergänzt.
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Eine ostentative „gefällige“, die errungenen Lorbeeren schonende, allen überseeischen Expansionsgedanken ersichtlich abholde Politik, wie sie nach 1870 begann, konnte der Erweckung des Interesses an der Flotte gewiß nicht förderlich sein. Noch weniger aber kann dies in der Gegenwart eine Wirthschaftspolitik, welche sich von der allmächtigen agrarischen Phrase beherrschen läßt, der auch die Allge[meine] Z[ei]t[un]g nicht selten arglos zum Opfer fällt. Es ist begreiflich, daß zwischen dem Streben nach maritimer Macht und einer Politik, welche Deutschlands kommerzielle Machtstellung theils schon geschädigt hat, theils weiter preiszugeben sich bereit zeigt, ein Widerspruch gefunden wird. Nicht eine mit antikapitalistischen Schlagworten operirende Politik selbstgenügsamer sogenannter „Sammlung“,Dies bezieht sich auf die von Bismarck wiederholt, zuletzt bei den Wahlen 1887 angewandte Taktik, die Wehrvorlagen für die Wahlpropaganda der Regierung auszunutzen. Bismarck brandmarkte den Widerstand der linksliberalen Parteien und des Zentrums gegen die unter Mißachtung des jährlichen Budgetbewilligungsrechts des Parlaments jeweils für sieben Jahre zu bewilligenden Heeresvorlagen bei den Wählern als Verletzung der nationalen Interessen.
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sondern allein eine entschlossene Durchführung der Konsequenzen unsrer kraftvollen bürgerlich-gewerblichen Entwicklung – ohnehin die auf die Dauer allein [673]mögliche Wirthschaftspolitik Deutschlands im Zeitalter des Kapitalismus, man mag ihn nun lieben oder hassen – kann für die bürgerliche Klasse dem Verlangen nach Macht zur See einen Sinn verleihen. Zum Schutze der Grundrente bedarf es keiner Flotte. Und nur einem Regiment, welches in seiner [A 5]inneren Politik zeigt, daß es die freien Institutionen des Vaterlandes zu erhalten und freiheitlich weiterzuentwickeln sich nicht fürchtet, wird man das Vertrauen entgegenbringen, daß ihm nicht auf dem Gebiete der äußeren Politik Kraft und Muth im entscheidenden Momente, aller starken Worte ungeachtet, versagen werden, ebenso, wie dies auf dem Gebiete der sozialpolitischen Arbeit im Innern der Fall zu sein scheint.Der preußische Finanzminister Johannes von Miquel hatte in seiner programmatischen Rede vom 15. Juli 1897 in Solingen die Parole der „Sammlung“ aller staatstreuen Parteien gegen die Sozialdemokratie ausgegeben, mit dem Ziel, eine Wiederannäherung von Großindustrie und Landwirtschaft herbeizuführen. Den Begriff selbst scheint Miquel am 23. Juli 1897 vor dem Preußischen Landtag geprägt zu haben. Miquel widersetzte sich der Flottenpolitik Tirpitz’, weil diese einseitig im Interesse der Industrie liege; angesichts der Zurückhaltung der Konservativen gegenüber der Flottenpolitik sah er dadurch die Strategie der „Sammlung“ gefährdet. Vgl. Eley, Geoff, Sammlungspolitik, Social Imperialism and the Navy Law of 1898, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 15,1974, bes. S. 29–34.
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[673] Dies bezieht sich vermutlich auf eine Erklärung des eben berufenen Staatssekretärs des Innern und Stellvertreter des Reichskanzlers Arthur Graf von Posadowsky-Wehner. Am 13. Dezember 1897 hatte dieser im Reichstag eine Verlangsamung der sozialpolitischen Gesetzgebung angekündigt und den Bestrebungen nach einer rechtlichen Besserstellung der Gewerkschaften eine Absage erteilt. Vgl. Born, Karl Erich, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. – Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1957, S. 140–144.