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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[626][Diskussionsbeiträge zum Vortrag von Karl Oldenberg: „Über Deutschland als Industriestaat“]

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[A 105]Verehrte Anwesende! Ich habe meinerseits nicht die Schauder geteilt, von denen der Herr Vorsitzende angesichts der Schilderung meines verehrten Freundes Oldenberg ergriffen worden ist, und ich kann auch nicht sagen, daß ich in dem Maße, wie der Herr Vorsitzende, gespannt wäre auf die positive Seite der Erörterungen des Herrn Referenten. Denn eine solche positive Seite dieser Erörterungen giebt es nicht. Es geht aus den eigenen Bemerkungen des Herrn Referenten hervor, daß es eine solche nicht giebt, daß es ihm an positiven Zukunftsidealen in demselben Maße fehlt, wie seine Stärke in der Kritik liegt. Und ich bin der Meinung, daß eine solche Kritik, wie sie hier an den Wegen, die unsere Wirtschaftspolitik wirklich oder angeblich eingeschlagen hat, geübt worden ist, in dieser scharfen und aggressiven Art nur dann berechtigt ist, wenn positive Ideale hinter dieser Kritik stehen, und der Kritiker einen bessern Weg zu zeigen vermag oder zu erkennen wenigstens glaubt. Aber auch die Kritik selbst scheint mir in fast allen Punkten unglücklich. Nur auf einige von ihnen kann ich eingehen.
Verehrte Anwesende! Als Herr Kollege Oldenberg seine Philippika gegen die angebliche Züchtung des Exportes begann, da glaubte ich, er würde zu sprechen kommen auf Zuckerprämien,
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[626]Für ausgeführten Zucker ab einer Mindestmenge von 500 Kilogramm wurden seit dem 1. August 1892 (zunächst für fünf Jahre) Zuschüsse aus dem Ertrag der Zuckersteuer gewährt. Siehe § 68 des „Gesetzes, die Besteuerung des Zuckers betreffend“ vom 31. Mai 1891, RGBl 1891, S. 318f. 1896 wurde diese Praxis der Gewährung von Ausfuhrprämien verlängert.
auf [A 106]die Branntweinsteuergesetzgebung,
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Nach dem Branntweinsteuergesetz vom 24. Juni 1887 wurde der zur Ausfuhr vorgesehene Branntwein von der Verbrauchsabgabe befreit. RGBl 1887, S. 253. Darüber hinaus wurde seit 1895 eine Ausfuhrprämie von sechs Mark pro Hektoliter gewährt.
auf diejenigen Exportprämien, die wir dem landwirtschaftlichen Export in Gestalt der Getreidezölle bei [627]aufgehobenem Identitätsnachweis
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[627] Rückvergütungen des Einfuhrzolls wurden ursprünglich nur bei Nachweis der Identität der ausgeführten Ware mit der ehemals importierten Ware gewährt, z. B. nach der Weiterverarbeitung von Rohstoffen oder Halbfabrikaten. Dieser Identitätsnachweis wurde 1894 für Getreide aufgehoben, das heißt, bei Export von Getreide wurde grundsätzlich eine Vergütung in Höhe des bestehenden Getreidezolls gezahlt. Diese Vergütung wurde in Form von Einfuhrscheinen gewährt, die beim Import von Getreide, Tee, Kaffee, Petroleum und weiteren Kolonialwaren an Stelle des Einfuhrzolls einzulösen waren. Dieses Einfuhrscheinsystem lief auf eine indirekte Prämierung des Getreideexports hinaus, der 1894 wieder sprunghaft anstieg. Lexis, Wilhelm, Identitätsnachweis, in: HdStW 42, 1900, S. 1315–1320.
gewähren.
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In der Druckfassung hat Oldenberg die Hinweise auf die Zucker- und Branntweinsteuergesetzgebung sowie die Aufhebung des Identitätsnachweises bei Getreide nachgetragen, offensichtlich aufgrund der Kritik Max Webers. Die Verhandlungen des Achten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Leipzig am 10. und 11. Juni 1897. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1897, S. 89.
Denn das – diese Subventionen der Landwirtschaft – sind ja doch die einzigen Beispiele von wirklicher Exportprämiirung, die wir in Deutschland kennen. Ich kenne nichts Ähnliches auf dem Gebiete der Industrie, und nicht von einem Exportlande überhaupt, sondern von einem Exportindustriestaate war ja doch hier die Rede.
Nun hat zwar Herr Kollege Oldenberg als Beispiel für eine „latente“ Exportprämie auf dem Gebiet des Gewerbes gewisse Verhältnisse auf dem Gebiete der Eisenindustrie hier berührt: die von gewissen industriellen Kartellen beobachtete Praxis, die Unterbietung des Auslandes auf dem Weltmarkt durch billige Preise dort mittelst teurerer Preisstellung im Inlande zu ermöglichen.
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In seinem Vortrag hatte Oldenberg angeführt, daß die größten Walzwerke des Deutschen Reichs unter der Führung Friedrich Krupps ein Kartell gegründet hätten, „um die Schienen im Inlande teuer, im Auslande eher aber unter dem Kostenpreis zu verkaufen.“ Ebd., S. 86.
Fragt man sich aber, worin hier eigentlich – soweit staatliche mit jenen Begünstigungen der Landwirtschaft zu vergleichende Maßnahmen in Betracht kommen – die Exportprämie liegt, so zeigt sich: in den Eisenzöllen, und die positive Folgerung des Herrn Kollegen müßte lauten: Freihandel auf dem Gebiete des Eisens, also die Durchbrechung derselben nationalen Wirtschaftspolitik, welche er gerade ins Extreme steigern möchte, Beweis genug für die Planlosigkeit seiner Kritik. Ich befürworte meinerseits zur Zeit jene Maßnahme nicht, aber welche andere sich Herr Kollege Oldenberg als positives Mittel zur Beseitigung dieser einzigen von ihm als „Züchtung des Exportes“
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In der gedruckten Fassung als Zitat nicht nachgewiesen.
[628]auf dem Gebiete der Industrie angeführten Erscheinung denkt, hat er nicht gesagt und weiß ich nicht. Aber kommen wir nach dieser Richtigstellung zu den eigentlichen Kernpunkten seiner Kritik.
In gewisser Beziehung verdient ja der nach mancher Richtung hervorragend scharf logische Vortrag des Herrn Kollegen Oldenberg als ein Denkmal der Zukunft überliefert zu werden. Man wird an nichts anderem den ungeheuren Umschwung der wirtschaftspolitischen Anschauungen in Deutschland, den wir seit dem letzten Vierteljahrhundert erlebt haben, veranschaulichen können, als wenn man die damals selbstverständliche Auffassung, daß der zunehmende Export der ganz naturgemäße Ausdruck der zunehmenden internationalen Arbeits- und Produktionsteilung sei, wie sie gegeben ist durch die Differenzen der klimatischen und örtlichen Bedingungen der Produktion, also etwas ganz ebenso Natürliches und Gesundes, wie der Güteraustausch innerhalb der durch den Zufall der Geschichte politisch zusammengefaßten geographischen Gebiete – vergleicht mit dem, was wir heute erlebten: daß ein angesehener deutscher Nationalökonom aufsteht und – ohne die Anwesenden auszunehmen – diejenigen Nationalökonomen, welche diesen internationalen Güteraustausch als etwas, nicht etwa künstlich zu Züchtendes, sondern durch die Verhältnisse in gewissem Umfang unvermeidlich Gewordenes ansehen und anerkennen, „blöder geldwirtschaftlicher Befangenheit“
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[628]Die Nationalökonomie, so hatte Oldenberg ausgeführt, habe sich von ihren Ursprüngen als Finanzwissenschaft niemals lösen können. „Dafür zeugt die blöde geldwirtschaftliche Grundstimmung, die sie noch heute beherrscht.“ Ebd., S. 75.
zeihen zu können glaubt.
[A 107]Nun, jenen technologischen Optimismus und jenen freihändlerischen Dogmenglauben von vor 25 Jahren teilen wir heute nicht mehr; er ist, so wie er war, für immer überwunden. Aber das schließt nicht aus, daß jene Anschauung eben doch auch ihren berechtigten Kern hatte, und diesen berechtigten Kern hat Herr Kollege Oldenberg in einer wirklich kaum glaublichen Weise ignorirt.
Wenn Sie, verehrte Anwesende, dem Vortrag des Herrn Kollegen Oldenberg aufmerksam gefolgt sind, so werden Sie den Eindruck haben gewinnen müssen – jedenfalls diejenigen von Ihnen, welche noch niemals eine statistische Übersicht von Deutschlands auswärtigem Handel in der Hand gehabt haben – daß die Abnehmer unsres Exports zu neun Zehnteln die Wilden Afrikas, die Ostasiaten und [629]Südamerikaner und ähnliche in der kapitalistischen und industriellen Entwicklung spezifisch rückständige Völker seien – daß also jene „Stützen“, diese vorgebauten Exporterker und -Balkone unsrer Industrie
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[629]Oldenberg hatte die Volkswirtschaft als Haus bezeichnet. Das Fundament sei die Landwirtschaft, der erste Stock die Industrie. Je mehr die Industrie expandiere, desto mehr bedürfe sie der „Pfeiler“ oder „Stützen“ im Ausland, das heißt der ausländischen Absatzmärkte. Ebd., S. 68f.
auf dem unbekannten Boden finstrer Barbarenländer aufgestellt sind und weiter dort hineinstreben, und deshalb, wenn andere kommen und sie wegziehen, das Gebäude, wie Oldenberg meint, einstürzen würde – und daß ferner mit zunehmender Entwicklung eines jeden solchen Landes zum „Industriestaat“ oder doch zum Kapitalismus der Export dorthin versiegen würde. Dieser Teil von Ihnen würde nach dem Vortrag sehr erstaunt sein, wenn Sie aus den Exportübersichten ersehen, daß unser größter Exportabnehmer England ist. Daß überhaupt die ökonomisch höchstentwickelten, die großen kapitalistisch-entwickelten Nationen und gerade die Industriestaaten unter ihnen unsre größten Abnehmer, und zwar auch gerade unserer industriellen Erzeugnisse sind – darüber schwieg die Darstellung des Herrn Kollegen Oldenberg. Und doch fällt damit sein ganzes „entsetzliches“ Schauergemälde, welches auf der problematischen Zukunft jener, erst in den Anfängen der kapitalistischen Entwicklung begriffenen fernen Völkerschaften aufgebaut war. Ich gehöre nicht zu denjenigen Optimisten des Kapitalismus und der Verflechtung in die internationale Produktionsteilung, gegen welche sich Herr Kollege Oldenberg in erster Linie gewendet hat. Aber unmöglich kann ich mit ihm den Versuch, die Schranken, welche der naturgemäßen Weiterentwicklung der Absatzmärkte der deutschen Industrie durch Maßnahmen fremder Wirtschaftspolitik gezogen werden, im Wege der Handelsvertragspolitik zu beseitigen, als „Züchtung des Exports“ bezeichnen. Er hat darauf hingewiesen, daß der Export eine Abhängigkeit von fremden politischen Maßnahmen bedinge, und gemeint, die daraus resultirende, besonders schwankende Unsicherheit der Erwerbsgelegenheit steigere sich mit steigendem Export. Ich bin umgekehrt der Meinung, daß die steigende Bedeutung des stehenden Kapitals allmälig dazu führen wird, daß in den führenden Nationen die Interessen an einer Stabilisirung der gegenseitigen Handelsbeziehungen eine stetig zunehmende Macht [630]erlangen. Die absolute Unsicherheit der Existenzbedingungen der eigenen Industrie wird vielmehr eine Eigentüm[A 108]lichkeit derjenigen Nationen sein, welche die „autonome“ Zollpolitik, die Herr Kollege Oldenberg offenbar als Ideal ansieht, treiben werden. – Trotzdem betrachte ich mit dem Herrn Kollegen Oldenberg die zunehmende Verschiebung eines Teiles der Erwerbsgelegenheit der inländischen Bevölkerung auf die durch den Export gebotenen Absatzchancen als ein gewaltiges Risiko, welches die Nation in ökonomischer Beziehung auf ihre Schultern ladet. Es ist das aber dasselbe Risiko, welches alle großen Handels- und Industrievölker der Vergangenheit, welches die in der Kulturentwicklung führenden Völker der Vergangenheit, welches die großen Nationen der Weltgeschichte in der Zeit ihrer Größe auf ihre Schultern genommen haben, und ich bin allerdings der Meinung, daß wir keine Politik der nationalen Behaglichkeit, sondern eine solche der nationalen Größe treiben und deshalb dieses Risiko ebenfalls auf unsere Schultern nehmen müssen, wenn wir ein nationales Dasein anderer Art als etwa die Schweiz führen wollen. Ich bin aber ferner der Meinung: wir werden von der geschichtlichen Entwicklung gar nicht danach gefragt, ob wir es wollen. Versuchen wir unser uns auferlegtes Schicksal abzulehnen, so wird ganz etwas anderes als die ländliche Idylle des Kollegen Oldenberg bei uns sich entwickeln. Wenn man natürlich es hinnehmen will, daß infolge der Stillstellung der gewerblichen Entwicklung, wie Oldenberg sie wünscht, die Massenauswanderung uns unsere psychisch und physisch kräftigsten Männer aus dem Lande führt, dann kann man dem Rest, dem Bodensatz, ein solches „ländliches“ Dasein bereiten, aber man muß sich eben klar sein, daß jene selbstgenügsame
a
[630]A: selbst genügsame
Politik, wie Herr Kollege Oldenberg sie wünscht, praktisch nur bedeutet, daß Deutschland seinen besten Kindern zuruft: „Sucht euch eine andere Heimat, denn ich will Ruhe haben.“ Und wie es mit der „inneren Verarmung“
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[630]Durch die Industrialisierung, so hatte Oldenberg argumentiert, sei das wirtschaftliche Leben „zwar komfortabler geworden, aber innerlich verarmt“. Ebd., S. 74.
im einen und im andern Falle steht, – das ist schließlich Geschmacksache. Ich möchte Herrn Kollegen Oldenberg einmal vor die realen Vertreter jener von ihm nach Art der [631]„Dorfgeschichten“
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[631]Gemeint ist eine Literaturgattung, auf die Weber auch mit Bezug auf Karl Leberecht Immermann an anderer Stelle anspielt. Siehe unten, S. 834, Anm. 10.
geschilderten „Eigenwirtschaft“ stellen, ihm einen kassubischen Kleinbauern präsentiren und dann sehen, wo, wenn er einen Arbeiter aus unserer ganzen Exportindustrie daneben stellt, er den „inneren Reichtum“ finden wird. Am erstauntesten über die idyllischen Bilder, die er entrollte, würden wohl diejenigen sein, die in diesen „Eigenwirtschaften“ zu existiren haben. –
Allein ich sehe nicht ein, warum ich mich mit der Frage des Exports herumschlagen soll. Einmal hat ja Herr Kollege Oldenberg selbst in seiner Schrift über die Arbeitslosigkeit
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Gemeint ist vermutlich der Artikel Oldenbergs „Arbeitslosenstatistik, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 19. Jg., 1895, S. 631–660.
die – meines Erachtens allerdings unrichtige – Behauptung aufgestellt, unser Export vermehre sich gar nicht. Dann aber: wir sprechen ja hier vom „Industriestaat“, und die ganze erste Hälfte der Ausführungen des Herrn Kollegen Oldenberg war ein wütender Hieb gegen den Industrialismus und Kapitalismus, gegen die Herrschaft [A 109]und führende Stellung des Kapitals. Nun ist zwar die internationale Produktionsteilung eine normale Begleiterscheinung des expansiven Kapitalismus, aber damit, daß man sie etwa totschlägt[,] schlägt man heute doch nicht den Kapitalismus tot. Anstatt des Ingrimms des Herrn Kollegen Oldenberg gegen den Kapitalismus wäre wohl vom wissenschaftlichen Standpunkt die Frage am Platze gewesen: kann denn diese kapitalistische Entwicklung für Deutschland gehindert werden, und so lange nicht der Herr Kollege Oldenberg das Gegenteil auch nur zu behaupten vermag, sage ich: nein, sie kann nicht gehindert werden, sie ist unabwendbar für uns, und nur die Bahn, in der sie sich bewegt, läßt sich wirtschaftlich beeinflussen. Ob aber diejenige Wirtschaftspolitik, die Oldenberg zu wünschen scheint, die kapitalistische Entwicklung in erfreuliche Bahnen lenken würde, ist mehr als zweifelhaft. Hemmung der industriellen Entwicklung im Inlande bedeutet, daß in noch vermehrtem Maße das deutsche Kapital im Auslande Anlage sucht und die thatkräftigsten Elemente der industriellen Bevölkerung abfließen; faule Rentiers und eine stumpfsinnige traditionalistische Masse bleibt zurück; an die Stelle des Industrialismus, wie ihn ein gesunder Merkantilismus zu schaffen sich vorsetzt, wird der [632]Rentenkapitalismus gesetzt. Der deutsche Kapitalist bezieht die Gewinste von ausländischen Unternehmungen. Ist das das Ideal des Kollegen Oldenberg? –
Aber beachten wir auch die ländliche Seite der Entwicklung, die er sich vorstellt. Wenn man die Kritik des Herrn Kollegen Oldenberg acceptiren würde, müßte man doch fragen: was soll an die Stelle dieser kapitalistischen Organisation der Volkswirtschaft gesetzt werden? Darüber hat nun Herr Kollege Oldenberg geschwiegen; er hat sich zugeknöpft. Aber nach dem, was er andeutete, will er offenbar eine Verschärfung der sogenannten „nationalen Wirtschaftspolitik“, wie sie Bismarck 1879 inaugurirte.
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[632]Gemeint ist der Übergang zum Schutzzollsystem für industrielle und landwirtschaftliche Produkte von 1879. Der Begriff der „nationalen Wirtschaftspolitik“ wurde vom Bund der Landwirte geprägt. Siehe die Präambel der Leitsätze von 1895, zitiert nach: Puhle, Hans-Jürgen, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914). – Hannover: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen 1967, S. 78.
Ich halte diese Wirtschaftspolitik auch meinerseits für eine notwendige Phase in unserer Entwicklung, aber sehen wir zu, was ihre Weiterführung und Steigerung bedeuten würde. Nichts anderes, als daß neben dem Kapitalismus in der Industrie auch der Kapitalismus in der Landwirtschaft erhalten und gesteigert wird. Denn ihm – der geldwirtschaftlichen Absatzproduktion von Getreide [–] kommt diejenige Koalition der Interessen zu Gute und soll sie zu Gute kommen, welche durch jene nationale Wirtschaftspolitik geschlossen wurde. Dies „Kompagniegeschäft“,
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Oldenberg hatte die Volkswirtschaft als ein „Kompagniegeschäft“ bezeichnet, „das die Nation, die Gesamtheit mit dem Kapital geschlossen“ habe. Verhandlungen, S. 71.
diese Kompagniegesellschaft der großgrundbesitzerlichen kapitalistischen Interessen und des Kapitals des großindustriellen Unternehmertums haben wir ja nun als Folge der Abschließungspolitik, der Politik des „innern Marktes“ gründlich kennen lernen können.
Diese Interessenkoalition ist es, welche alle diejenigen Erscheinungen gezeitigt hat, gegen welche die Gegner zusammenstehen, welche Herr Kollege Oldenberg hier mit und ohne Nennung ihres Namens bekämpfte, und welchen auch ich, so wenig ich z. B. unbedingt mit [A 110]Brentano oder meinem Freund Schulze-Gävernitz in allen Einzelheiten harmonire, mich zuzählen zu müssen glaube. Diese Koalition, wie sie zu Ende der siebziger Jahre zu stande kam, ist es gewesen, welche die Angliederung des großindustriellen Bürger[633]tums an die Interessen des Großgrundbesitzes, man kann sagen, die Feudalisirung des bürgerlichen Kapitals, herbeigeführt hat. Das war ihr großer Erfolg, und dieser Erfolg stand unter der politischen Tendenz, die in ihrer ökonomischen Unterlage wankend gewordene Herrschaft der östlichen Junker bei uns zu erhalten, deren Interessen unsere Wirtschaftspolitik bisher so gut wie ausschließlich zu Diensten sein mußte. Denn im Gegensatz zu dem, was der Minister Miquel wiederholt behauptet hat,
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[633]Der preußische Finanzminister Johannes von Miquel forderte seit Anfang 1897 eine Rückkehr zum Protektionismus, um die durch die Caprivischen Handelsverträge angeblich verursachte Benachteiligung der Landwirtschaft wieder wettzumachen und einem Interessenausgleich zwischen Industrie und Landwirtschaft den Weg zu bahnen. Förster, Stig, Der doppelte Militarismus. – Stuttgart: Franz Steiner 1985, S. 79.
im Gegensatz zu dem, was man aus dem Vortrag des Herrn Kollegen Oldenberg heraus entnehmen mußte, bin ich der Meinung: wir haben noch niemals eine andere Politik betrieben, als diejenige, die dem Großgrundbesitz, die den landwirtschaftlichen, und nicht den industriellen Interessen genehm war – womit natürlich nicht gesagt ist, daß sie deren ökonomischen Interessen nun auch wirklich objektiv entsprochen habe; denn nicht immer sind die jeweiligen Interessenten selbst die objektivsten Urteiler über das, was den dauernden Interessen ihres Standes entspricht. – Wir sind Freihändler gewesen, so lange es die Großgrundbesitzer in Preußen waren, so lange das Wort galt, welches ein solcher sprach: „ich bin konservativ und deshalb bin ich Freihändler“;
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Vermutlich handelt es sich um eine Anspielung auf eine Äußerung Bismarcks während der Friedensverhandlungen in Frankfurt am Main 1871 gegenüber dem französischen Unterhändler: „Jawohl, ich bin zur Zeit Freihändler.“ Poschinger, Heinrich von, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Band 2. – Breslau: Eduard Trewendt 1895, S. 216.
und wir sind Schutzzöllner geworden in dem Augenblick, als gewisse Erscheinungen den Großgrundbesitzer veranlaßten, schutzzöllnerisch zu werden. In einer Periode, als die Industrie der Schutzzölle absolut bedurft hätte, haben wir, nachgebend dem Interesse der Landwirtschaft, diese Schutzzölle beseitigt,
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Das Deutsche Reich verfolgte bis Mitte der 1870er Jahre konsequent den Ausbau des Freihandelssystems und den Abbau aller noch bestehenden Schutzzölle. Am 1. Januar 1877 wurden die letzten Zölle, die noch für Eisen- und Eisenprodukte bestanden, aufgehoben. Der Abbau der Eisenzölle wurde u. a. auch von der Landwirtschaft gefordert, die sich eine Verbilligung landwirtschaftlicher Maschinen erhoffte.
und erst als die Landwirtschaft schutzzöllnerisch wurde, als dann diese Koalition, von der ich sprach, zu stande gekommen war, erhielten wir die „nationale Wirt[634]schaftspolitik“. Und alsbald zeitigte diese Koalition ihre eigenartigen Früchte.
Wir erlebten jenes eigentümliche Emporschwellen der rein äußerlichen, rein formalen büreaukratischen Religiosität, wie sie dem Feudalismus und Konservatismus, dem Offizierstand und feudalisirten Beamtentum eigentümlich ist, das Eindringen dieser büreaukratischen formalen Kirchlichkeit in unser Bürgertum. Wir erlebten den Umschwung in der Sittlichkeitsvorstellung unserer herrschenden Schichten nach der feudalen Seite hin. Ich selbst erinnere mich sehr wohl aus meinen jungen Jahren, wie die allerdings ja vielleicht „bürgerlich-philiströsen“ Anschauungen der bürgerlichen Kreise, des Nachwuchses über das, was z. B. auf geschlechtlichem Gebiet ehrbar ist und was nicht, feudalisirt, d. h. umgestaltet wurden zu Gunsten anderer Anschauungen, die herstammten nicht aus dem Kreise des Bürgertums, sondern aus jenen Kreisen, an die es sich damals angliederte. Wir haben dann neuerdings erlebt jene widerwärtige Erscheinung des industriellen Briefadels mit seiner gerade für An[A 111]hänger des Zweikampfes wahrhaft ekelhaften öffentlichen Duellrenommage:
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[634]Anspielung auf die Duellaffäre des saarländischen Schwerindustriellen Carl Ferdinand Freiherr von Stumm mit dem Berliner Nationalökonomen Adolph Wagner aus dem Jahre 1895. Siehe dazu Webers Zuschriften „Die Kampfesweise des Freiherrn v. Stumm“ und „Eingesandt“. In diesem Band abgedruckt, S. 517–519, 522f.
deren Träger sind nicht die Repräsentanten des alten Adels, sondern jene bramarbasirenden Parvenus, vor denen heute der preußische Kultusminister zittern muß – so sehr, daß er nur durch ein kluges Mißverständnis des Ausdrucks „Praktiker“ sich zu helfen weiß.
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Am 28. Mai 1897 war es im preußischen Herrenhaus zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen von Stumm und dem preußischen Kultusminister Robert Bosse gekommen: Von Stumm warf Bosse vor, mit den Kathedersozialisten zu sympathisieren, die gegen „Kapital und Besitz“ hetzten, ohne praktisch etwas für das Wohl der Arbeiterschaft zu leisten. Bosse entgegnete, da von Stumm selbst hervorgehoben habe, „daß die kathedersozialistischen Professoren in der Praxis absolut nichts gethan hätten, auch nicht zu Gunsten der Arbeiter“, müsse er ja wohl auch anerkennen, daß die „praktische Thätigkeit eines Mannes und die wissenschaftliche Stellung des Gelehrten“ auseinanderzuhalten seien. Sten. Ber. pr. HH, 1896/97, Band 1, S. 383f. und 388.
Sie sind es auch, welche den Moment ersehnen, wo die Sozialpolitik mit den Kanonen getrieben wird. Das Weiterwuchern dieser Feudalisirung des bürgerlichen Kapitals würde die „ländliche“ Idylle sein, welche eine nach dem Wunsch des Herrn Kollegen Oldenberg gestaltete Wirtschaftspolitik uns bringen würde. Denn [635]jene Koalition ruht auf derjenigen wirtschaftlichen Anschauung, welche die einzig mögliche positive Kehrseite der Kritik des Herrn Kollegen Oldenberg bildet: die Theorie von der Pflege des sogenannten „innern Marktes“ an Stelle der internationalen Arbeitsteilung, d. h. eines Zustandes, bei welchem 1. der deutschen Industrie in der künstlich gesteigerten Kaufkraft der Landwirtschaft ein Ersatz für die Einschränkung des Exports geboten werden und 2. Deutschland seinen Getreidebedarf ganz aus dem Inland decken soll. Hier, in dieser Theorie, und namentlich in dem letzterwähnten Punkt, liegt das entscheidende Problem. Denn nicht daß Güter exportirt, sondern daß Getreide importirt wird und werden muß, ist das dem Herrn Kollegen Oldenberg Odiöse.
Oldenberg hat nun dabei Deutschland als eine ökonomische Einheit angenommen, indem er glaubte fragen zu dürfen, ob Deutschland, also diese Einheit[,] den Weg zum „Industriestaat“ weiter verfolgen solle. Deutschland ist aber keine ökonomische Einheit, Deutschland ist zusammengeschweißt aus zwei von einander wesentlich verschiedenen wirtschaftlichen Gebieten, von denen das eine nach Westen, das andere nach Osten blickt, das eine längst „Industriestaat“ ist, das andere bisher „Agrarstaat“ blieb; und das fundamentale Problem unserer ganzen nationalen Wirtschaftspolitik liegt in dem unausgeglichenen Verhältnis dieser beiden, ungefähr an der Elbe und untern Weser sich von einander scheidenden Hälften, welche politisch zusammengehören, ökonomisch aber auseinanderstreben.
Die praktische Seite dieses Problems ist die Frage: können wir unserer Industrie durch Zollschutz der Landwirtschaft einen den Export ersetzenden „inneren Markt“ in jener agrarischen Hälfte Deutschlands schaffen, und ferner: können wir unsere Wirtschaftspolitik darauf einrichten, daß wir die ganze Ernährung unserer Bevölkerung aus unserem eigenen Boden, d. h. aus dem Überschuß jener agrarischen Hälfte den Unterschuß
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[635]A: Überschuß
der industriellen Hälfte[,] decken? sollen wir eine darauf sich zuspitzende Wirtschaftspolitik treiben oder nicht, können wir sie vor allen Dingen treiben?
Ich will heute nur wenige Worte über diese entscheidende Frage sagen. Da die Bevölkerung Deutschlands schnell steigt, müßte auch [636]der Überschuß der agrarischen Hälfte, der auf den Markt kommt, stetig gesteigert werden. Damit aber dies [A 112]geschehen könne, ist die stetige Abnahme der Landbevölkerung der agrarischen Hälfte notwendig. Unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung eines möglichst hohen Absatzquantums für die Ernährung der deutschen Bevölkerung, ist das platte Land Deutschlands noch heute übervölkert, sind unsere Bauern, sind die Produkte unsrer inneren Kolonisation
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[636] Gemeint ist die durch das Ansiedlungsgesetz von 1886 und die Rentengutsgesetze von 1890 und 1891 geförderte Ansiedlung von deutschen Landarbeitern und Bauern in den preußischen Ostprovinzen.
vom Übel. Zwei Dinge, die so oft mit einander verwechselt werden, sind eben nicht identisch, sondern das Gegenteil von einander: starke, d. h. zahlreiche Landbevölkerung einerseits und große Überschüsse des produzirten Kornes über den Eigenbedarf andererseits. Je dichter die Landbevölkerung, desto weniger Überschuß für die Städte, desto mehr also drückt
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[636]A: rückt
deren Ernährung auf den Getreideimport, desto unentbehrlicher wird dieser und desto unentbehrlicher damit der von Oldenberg perhorreszirte industrielle Export. Wer das Maximum von Getreideertrag aus dem deutschen Boden herauswirtschaften lassen will im Interesse der Ernährung eines Maximums von Volkszahl durch inländisches Korn, der muß den Boden in rationell bewirtschaftete Großbetriebe zerlegen, und damit das platte Land zu Gunsten der Städte – und damit zu Gunsten der Vermehrung des industriellen Proletariats – entvölkern. Damit so wirtschaftlich wie möglich so viel wie möglich Korn gewonnen werde, müßte die landwirtschaftliche Bevölkerung fortwährend in die Städte abfließen und also den industriellen Unternehmern billige Arbeitskräfte bei niedrigen Löhnen zur Ermöglichung der kapitalistischen Weiterentwicklung und damit – zur Ermöglichung des billigen Exportes liefern. Das ist der eigentümliche Zirkel, in dem sich die Wirtschaftspolitik des Herrn Kollegen Oldenberg bewegen würde. Daß ich Ihnen hier nicht graue Theorie vortrage, sondern daß sich die Bewegung der landwirtschaftlichen Bevölkerung thatsächlich diesem Gesetze fügt, das werde ich demnächst an der Hand der Volkszählungsergebnisse der [637]einzelnen Perioden zeigen.
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[637]Wie aus einer Anmerkung zu Webers Artikel „Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen“, in: AfSS, Band 19, 1904, S. 504 (MWG I/8), hervorgeht, trug sich Weber mit dem Gedanken einer „größeren agrarstatistischen Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapitalismus“. Dieser Plan kam jedoch nicht zur Ausführung.
Die landwirtschaftliche Marktproduktion verdrängt die Bevölkerung vom Lande. Starke deutsche Landbevölkerung und Ernährung Deutschlands nur von inländischem Getreide sind unversöhnliche Gegensätze.
Und wie steht es mit dem „innern Markt“, der unsrer Industrie durch jene Politik der „Selbstgenügsamkeit“ dargeboten werden soll? Der Gedanke dieses „innern Marktes“ läßt sich dahin zusammenfassen: um den deutschen Industrieunternehmern einen kaufkräftigen Abnehmer in den deutschen Landwirten zu sichern, giebt man diesen noch mehr Getreidezölle, das heißt, eine Kontribution aus den Taschen der Industriearbeiter – nicht nur aus den ihrigen, sondern auch aus den unseren, aber
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[637]A: oder
soweit das Verhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft in Frage kommt, aus denjenigen der Industriearbeiter. Diese Kontribution aus der Tasche der Arbeiter fließt in die Tasche des Landwirtes und von da in die Tasche des Industrieunternehmers, dem der so „kaufkräftig“ gemachte Landwirt seine Produkte abnimmt. Seine eigenen Arbeiter sind es, die auf dem Umwege über die [A 113]Landwirtschaft dem Industriellen den „innern Markt“ bezahlen müssen, denn die Belastung des übrigen Teils der Bevölkerung mindert deren Kaufkraft für industrielle Produkte um ebensoviel als die entsprechend gestiegene Kaufkraft der Landwirtschaft austragen kann. Das ist – theoretisch formulirt – der eigentümliche Zirkel, den man die „Erweiterung des inneren Marktes“ nennt. Die Steigerung dieses wirtschaftspolitischen Systems bedeutet aber nicht Abnahme, sondern Zunahme des Kapitalismus, gesteigerte Einkommensdifferenzirung, gesteigerte Proletarisirung der Arbeiterschaft, welche den „inneren Markt“ bezahlt. Daraus erwächst dann jener eigentümliche konservative Binnenkapitalismus, der nicht in der Erschließung neuer Absatzbahnen, sondern in der ökonomischen Niederhaltung der Arbeiterschaft seinen Vorteil sucht, ökonomisch den Klassenkampf von Oben gegen Unten züch[638]tet und politisch den Todfeind in der Emporentwicklung der Arbeiterklasse und den freien Institutionen des Landes erblickt. Dies sind die sozialpolitischen Seiten des Oldenbergschen Programms – eines Programms, vor dessen positiver Darlegung er selbst aus guten Gründen zurückscheut, welches aber die allein mögliche positive Seite seiner Kritik ist. Den Interessenten dieses Kapitalismus wird er aus dem Herzen gesprochen haben. –
Gegen die künstliche Züchtung solcher Zustände wenden sich alle diejenigen, die Herr Kollege Oldenberg heute bekämpft hat. Sie wollen eine bürgerliche Politik, sie wünschen die Loslösung des sich auf sich selbst besinnenden, zur selbstbewußten Pflege seiner eigenen Ideale zurückkehrenden Bürgertums aus seiner unnatürlichen Bundesgenossenschaft, im Interesse der gedeihlichen sozialen Entwicklung und in dem der Entwicklung der politischen Freiheit des Landes.
Wenn Herr Kollege Oldenberg damit gedroht hat, daß einst die Erde und ihr Brot knapp werden würde, so meinen wir, daß nicht die angebliche Exportpolitik, sondern die Volksvermehrung es ist, welche – möge die Wirtschaftsverfassung der Erde sein welche sie will, es ist, was den Kampf um das Dasein, den Kampf des Menschen mit dem Menschen, in Zukunft wieder schwerer und härter gestalten wird, und wir leiten daraus das Evangelium des Kampfes ab
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[638]Oldenberg hatte in seinem Vortrag auf die Gruppe deutscher Nationalökonomen um Gerhart von Schulze-Gaevernitz angespielt, die in einer machtvollen Außenpolitik Deutschlands im Wettlauf um neue Absatzmärkte den einzigen Weg zur dauerhaften Hebung der materiellen Lage der Arbeiterschaft sahen. Dieses Programm, so Oldenberg, sei ein „neues sozialpolitisches Evangelium“. Verhandlungen, S. 96.
als einer Pflicht der Nation, als ökonomisch unvermeidliche Aufgabe wie des einzelnen so der Gesamtheit, und wir „schämen“ uns dieses Kampfes, des einzigen Weges zur Größe, nicht.
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Mit Blick auf den englischen Imperialismus hatte Oldenberg von einer nicht erstrebenswerten „Größe“ gesprochen, „deren man sich zu schämen hat.“ Ebd., S. 95f.
Wir wissen sehr wohl, daß die weitere Entwicklung der Nation dazu führen muß, daß sie ihre Zukunft einsetzt. Wir halten das aber für eine unvermeidliche Folge der geschichtlichen Entwicklung, und wir glauben, daß diejenigen Nationen, die ihre ökonomische Zukunft heute nicht einsetzen für ihre Größe, überhaupt keine Zukunft haben.
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[638]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Lebhafter Beifall und Zischen.)

[639]2.

[A 122]Zwei Worte in Erwiderung einiger Bemerkungen des Herrn Geheimrat Wagner. Er hat gefragt: wie kommt es, daß nicht nur der ostelbische Junker, sondern auch der Bauer in Frankreich und am Rhein Anhänger der Getreidezölle ist?
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[639]Adolph Wagner hatte Weber vorgeworfen, in den Getreidezöllen fälschlich nur den Ausdruck großagrarischer Interessenpolitik zu sehen. Immerhin hätten auch französische, italienische, west- und süddeutsche Bauern ihr Interesse an Kornzöllen bekundet. Verhandlungen, S. 117.
Darauf erlaube ich mir zu antworten: das kommt daher, daß jeder Mensch das nimmt, was er kriegen kann. Damit, daß jene Bauern eine Erhöhung der Getreidepreise, wenn man sie ihnen anbietet, getrost einstecken, folgt noch nicht, daß sie sie nötig haben. Wenn sie vor die Frage gestellt würden, ob sie lieber auf die Getreideschutzzölle verzichten würden oder auf die Entwicklung der Industrie am Rhein, die ihr einziger kauffähiger Abnehmer ist, dann würden sie nach kurzer Probe eine Stellung zur Entwicklung Deutschlands zum „Industriestaat“ bekunden, die von der des Kollegen Oldenberg radikal abweichen würde.
Mit einer zweiten Bemerkung gestatte ich mir nochmals in aller Schärfe eine Ausführung zu wiederholen, die, glaube ich, Herrn Geheimrat Wagner entgangen ist, da er sonst manche Gegenbemerkungen nicht hätte machen können. Es herrscht die Illusion, auch bei Herrn Kollegen Oldenberg offenbar, und, wie es scheint, auch bei Herrn Geheimrat Wagner, daß zwei Dinge identisch seien: das Vorhandensein eines einheimischen Getreidequantums, welches für [A 123]den Bedarf der Bevölkerung verfügbar ist und dafür ausreicht einerseits, und einer starken deutschen landwirtschaftlichen Bevölkerung andrerseits. Das ist aber nicht dasselbe; das ist das Gegenteil von einander. Je dünner die landwirtschaftliche Bevölkerung, und sie ist da am dünnsten, wo der Großbetrieb vorherrscht, desto mehr Getreideüberschuß ist verfügbar für den Konsum der Städte, je dichter, desto weniger ist Getreide dafür verfügbar. Jede Stärkung der bäuerlichen Bevölkerung Deutschlands macht den Import von Getreide für die Industriebevölkerung Deutschlands unentbehrlicher. Je mehr die Landbevölkerung zunimmt, desto mehr Getreide muß importirt werden, desto mehr rückt der industrielle Bruchteil der [640]Bevölkerung auf jene „Balkone“ hinaus, von denen Oldenberg sprach.
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[640]Vgl. oben, S. 629, Anm. 8.
Schließlich noch eine letzte Bemerkung. Herr Geheimrat Wagner wunderte sich, daß ich so temperamentvoll gegen meinen Freund Oldenberg auftrat. Das wird er selbst am wenigsten ausdeuten. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund, so wenig wie Herr Geheimrat Wagner dies zu thun pflegt. Wogegen ich mich gewendet habe, war das böse Wort von der „nationalen Größe, deren man sich schämen müsse.“
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Vgl. oben, S. 638, Anm. 22.
Eine solche nationale Größe giebt es für mich nicht. – Ich kann mich zum Schluß nur resumiren: es giebt Optimisten und Pessimisten in der Betrachtung der Zukunft der deutschen Entwicklung. Nun, zu den Optimisten gehöre ich nicht. Das gewaltige Risiko, welches die unvermeidliche ökonomische Expansion Deutschlands nach außen uns auferlegt, erkenne auch ich. Aber ich halte dies Risiko für unvermeidlich, und deshalb sage ich: „So mußt du sein, du wirst dir nicht entrinnen.“entrinnen.“
a
[640]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Beifall.)
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Johann Wolfgang von Goethe, Urworte. Orphisch, Dämon: „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“. Goethes Werke, Band 1/3. – Weimar: Hermann Böhlau 1890, S. 95.