[821]Das Polenthum in den deutschen Ostmarken
[A(1) 2][Bericht der Freiburger Zeitung]
Die Ostmarken, so führte der Redner in seiner bekannten, fesselnden und lichtvollen Art aus, seien überwiegend friedlich germanisirt worden. Verweisend auf allgemeine Unterschiede des Ostens und Westens, schilderte er den Osten als agrarisches, den Westen als industrielles Exportgebiet und erinnerte dabei an die Thatsache, daß im Westen die Stadt, im Osten das Land der typische Sitz des Millionärs sei und, schon nach dem Gefühl des Volkes, auch der Sitz höherer Kultur. Wer etwa Bomst, Meseritz oder Krotoschin sähe, werde erst dann wieder die Eindrücke eines Kulturlandes erhalten, wenn er auf das Land gehe. In Folge der Naturalwirthschaft habe eben nur die dünne Schicht der Bauern die Stadt in Nahrung gesetzt; eine Hemmung des Aufstiegs habe sich in Stadt und Land herausgebildet. Falsch sei die Annahme von der Seßhaftigkeit der dortigen Bevölkerung: kein seßhafterer Theil der Einwohnerschaft als der am Rhein, keine beweglichere als die der großen Güter des Ostens! Diese dünnst besiedelten Gegenden entvölkern sich am meisten – in Folge der agrarischen Bewirthschaftung. Sähe man sich nun die dortige polnische Bevölkerung an, so zeige sich, daß die Polen stärker vertreten seien in den unselbstständigen Schichten; wo die Löhne höher sind, nehmen die Polen ab. Der beste Boden sei in deutschen Händen. Im kleineren Betriebe überwiege der Pole. Erst ein bestimmtes Lohn-Niveau trägt eine deutsche Existenz. Angesichts des Unfugs, der von Dilettanten und Journalisten mit sogen. Ausleseprodukten getrieben werde, müsse man feststellen, daß niedrige Löhne niedrige Rassen heranziehen. Des Weiteren sprach der Redner über den Einfluß der ökonomischen Lage auf die Zahl der Ehen und den Kinderreichthum. Der Überschuß an Kindern ist auf polnischer Seite. Trotzdem sind die Polen früher stets zurückgedrängt worden; das Lebens- und Lohn-Niveau stieg eben und zog Deutsche an. Dann trat der Umschwung zu unserem Nachtheil ein. Zu Anfang der siebziger Jahre versiegte der englische Markt, der Osten hatte weniger Abnehmer für seine Produkte. Die östliche Agrarverfassung aber war dem neuen Stande der Dinge nicht mehr angepaßt. Preise und Löhne sanken. Nun war der an der Reihe, der den größten [822]Theil der Ernte selber brauchte: die unterste Schicht, die Polen. In die großen Güter drang die Geldlöhnung, und die Arbeiter hatten nun nicht mehr ein Interesse an theuern, sondern an billigen Preisen der Produkte. Dazu kam, daß sich der Pole der vorzugsweisen Kartoffelnahrung am meisten anpaßte; auch der Zuckerrübenbau begann seinen Siegeszug und bewirkte große soziale Umwälzung durch das Emporkommen der Saison-Arbeitskräfte. Der Lebenshaltung dieser russischen Wanderarbeiter sich anzuschließen, war dem Deutschen nicht möglich. An diesem Beispiel zeigte Herr Prof. Weber, daß das Streben der zurückgedrängten deutschen Arbeiter nach höheren Löhnen nicht einer Verhetzung entsprungen sein muß, sondern die Frucht sehr ernster Verhältnisse sein kann. Eine sentimentale, mitleidige Berücksichtigung der fremden Elemente sei nicht am Platze und wirke sozial destruktiv. Die preußische Regierung thue auch nicht recht daran, einen polnischen Bischof zu berufen,
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der außer seiner fremden Nationalität gar nichts besonderes mit sich bringe. …[822] Gemeint ist Florian Oksza von Stablewski, der Mitglied der Polnischen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus war. Er wurde auf Vorschlag der preußischen Regierung, die unter Leo von Caprivi neue Zeichen in der Polenpolitik setzen wollte, 1891 vom Heiligen Stuhl zum Erzbischof von Gnesen und Posen ernannt. Er hatte das Amt bis 1906 inne.
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Was soll nun geschehen, da der Deutsche, unfähig, sich der Lebenshaltung der Polen anzuschließen, zurückweicht? Prinzipiell ist das Problem unlösbar, denn der Getreide-Export ist ruinirt und mit Zöllen ist dauernd nicht zu helfen; nur als Übergangsmittel – nach dem Grundsatze: Alle für Einen, Einer für Alle – konnten sie in Betracht kommen. Eine Lösung der Aufgabe wäre möglich, könnte man in den bedrohten Gegenden eine Industrie heranzüchten; doch ihr schnürt die russische Zollpolitik das Hinterland ab; russische Industrieplätze ersten Ranges entwickeln sich dort.[822]Auslassungszeichen in A(1).
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Eine Förderung der bürgerlichen Entwickelung müsse verlangt werden. Die gegenwärtige Verfassung hindere sie aber. Der Stadt müsse durch staatlichen Boden-Ankauf und durch innere Kolonisation Licht und Luft geschaffen werden. Zur inneren Kolonisation [823]gehöre freilich nicht 1 Million,Gemeint ist vor allem das russisch-polnische Industriegebiet in und um Lodz.
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sondern 1 Milliarde, und wer diese Summe so ungeheuerlich finde, solle sich doch erinnern, daß in Gestalt des Antrags Kanitz eine Forderung von jährlich etwa ½ Milliarde gestellt wurde[823] Die Ansiedlungskommission verfügte zum Aufkauf polnischer Güter und zur Ansiedlung deutscher Bauern in den preußischen Provinzen Westpreußen und Posen über einen Fonds von 100 Millionen Mark, der ihr 1886 von der preußischen Staatsregierung zur Verfügung gestellt worden war. 1898 wurden ihr erneut 100 Millionen Mark zur Fortsetzung ihrer Kolonisationstätigkeit bewilligt. Baier, Roland, Der deutsche Osten als soziale Frage. – Köln: Böhlau 1980, S. 59f.
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zu Zwecken der Konservirung, während durch Anwendung einer Milliarde eine Änderung des ungesunden Zustandes ermöglicht werde. – Der Redner beleuchtete schließlich die Gefahren, die sich im Verlaufe des bisherigen Kolonisationswerkes u.A. durch Aufhebung der staatlichen Kontrolle herausgebildet haben und durch die Möglichkeit, daß durch Verfügungen der Gutsbesitzer auf der einen Stelle die Polen eindringen, während auf der anderen Land für Deutsche gekauft werde.Der erstmalig am 7. April 1894 eingebrachte Antrag des Reichstagsabgeordneten Kanitz hatte die Errichtung eines Reichsmonopols für Getreidehandel zum Ziel, durch das die Getreidepreise künstlich hochgehalten werden sollten. Als der Antrag im März 1895 im Reichstag zum zweiten Mal eingebracht wurde, argumentierte der freisinnige Abgeordnete Theodor Barth, daß die Einführung des Getreidemonopols der Einführung einer Kopfsteuer gleichkäme, die die Bevölkerung mit 400 Millionen Mark jährlich belasten würde. Sten. Ber. Band 140, S. 1802.
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Die Verhältnisse seien so, daß selbst ein Mongole, käme er zur deutschen Herrschaft, unbeschadet aller sonstigen Anordnungen, im Osten deutsche Politik treiben müßte. Weber spielt hier offensichtlich auf das Nebeneinander von Ansiedlungskommission und Generalkommission in Westpreußen und Posen an. Im Gegensatz zur Ansiedlungskommission, die an einen nationalpolitischen Auftrag gebunden war, konnten die mit der Durchführung der Rentengutsgesetzgebung von 1890 und 1891 beauftragten Generalkommissionen Privatleute bei dem Verkauf und der Parzellierung von Gütern nur beraten, ohne auf die Vergabe von Bauernstellen unter nationalpolitischem Gesichtspunkt Einfluß zu nehmen; es konnten also auch Polen auf den parzellierten Gütern angesiedelt werden.
[824][A(2) 2][Bericht der Breisgauer Zeitung]
Im Harmoniesaale sprach am Samstag Abend Herr Prof. Dr. Μ. Weber auf Veranlassung des alldeutschen Verbands über das Polenthum in den deutschen Ostmarken.
Der Redner eröffnete sein Thema damit, daß er auf den historischen Verlauf der Germanisirung Polens näher einging, also schilderte, wie in den Städten die bessere deutsche Handelstechnik, auf dem Lande die vorgeschrittenere Art des deutschen Ackerbaues allmählich die polnischen Elemente verdrängte. Heute bilden die Letzteren hauptsächlich die unselbständigen Bevölkerungsschichten, sind aber dort spärlich vertreten, wo Unternehmungen der modernen Industrie Platz greifen. So scharf, sagt der Redner, ist die Scheidung zwischen Polen und Deutschen, daß man in der arbeitenden Klasse von einer bestimmten Lohnhöhe aufwärts die Letzteren, abwärts aber die Ersteren antrifft. In interessanter Weise schildert H[er]r Prof. Weber die Bestimmung der Ostmarken im Gegensatz zum Westen Deutschlands. Jene sind agrarisches, dieser ist industrielles Exportgebiet. Im Osten herrscht darum der Großgrundbesitz vor, im entgegengesetzten Theile Deutschlands findet man ihn nur schwach vertreten. Und demgemäß verschieben sich auch die Gegensätze zwischen Stadt und Land. Der Redner kommt auf die wirthschaftliche Lage der Ostmarken zu sprechen. Bis in die 60er Jahre sei diese eine günstige gewesen. Aber die „goldenen Tage“ hätten sich in’s Gegentheil verwandelt, sobald die überseeische Konkurrenz das ostländische Hauptprodukt, nämlich das Getreide verdrängt habe. Die allmählich bevorzugte Anwendung einer Ablohnung in Geld, statt wie bislange durch Realien, habe zu allem noch eine Verschiebung der Ernährungsverhältnisse mit sich geführt. Die Kaufverhältnisse lägen so darnieder, daß in den Städten sich die deutschen Kaufleute nicht mehr zu behaupten vermöchten. Auf dem Lande bemerke man die frappirende Erscheinung, daß die deutsche Bevölkerung sich gerade vom besten Boden mehr und mehr zurückziehe. Der Pole mit seiner genügsameren Lebensführung wisse sich den Verhältnissen weit besser anzupassen. Eine glatte Lösung des schwierigen Problems hält der Redner geradezu für unmöglich. Der Osten sei auf den Getreideexport angewiesen, den man aber gegenwärtig gänzlich eingeschnürt sehe. Ein anderer Ausweg, „Großzüchtung“ der Industrie, sei dadurch versperrt, weil direkt hinter der russischen Grenze das fremde Industriegebiet beginne, mit dem man [825]unmöglich in Konkurrenz zu treten vermöchte. Eine Nothstandspolitik sei noch das Einzige, womit man die Ostmarken über Wasser halte. Als besondere Heilmittel gegen den kranken Zustand empfiehlt der Redner: Förderung der bürgerlichen Entwicklung, staatlichen
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Bodenaufkauf und eine Kolonisation in größerem Maaßstab, als bisher betrieben. Um letztere in heilbringender Weise durchzuführen, genügten selbst Millionen nicht. Vor allem aber befürwortet Herr Prof. Weber die Verfolgung einer deutschen Politik, nimmt also eine Stellung gegen die gleichmäßige Behandlung von Polen und Deutschen ein. [825]A(2): staatlicher