[350][A 472][Rezension von:] Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze von Fr[iedrich] Naumanna[350]In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Auf die Besprechung der Schrift durch einen Theologen folgt hier eine zweite von nationalökonomischer Seite. Beide waren für die Kongreßnummer erbeten, mußten aber um ihres Umfangs willen und weil es nicht angezeigt schien, jene Nummer ganz dem Einen zu widmen, zurückstehen. D[er] H[erausgeber].
[350]In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Auf die Besprechung der Schrift durch einen Theologen folgt hier eine zweite von nationalökonomischer Seite. Beide waren für die Kongreßnummer erbeten, mußten aber um ihres Umfangs willen und weil es nicht angezeigt schien, jene Nummer ganz dem Einen zu widmen, zurückstehen. D[er] H[erausgeber].
Der auf Wunsch des Herrn Herausgebers
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hier unternommne Versuch, den ökonomischen Gehalt von Naumanns Schrift in wenigen Zeilen herauszuschälen, stößt auf besondre Schwierigkeiten. Sie enthält nichts weniger als ein positives, geschlossenes Programm oder praktische Folgerungen aus einem solchen, vielmehr sind die darin enthaltnen wirtschaftspolitischen Aphorismen ganz überwiegend Ausfluß energischer Sympathien und Antipathien ihres Verfassers und tragen das Widerspruchsvolle an sich, das mit diesem höchst persönlichen und irrrationalen Ursprung von selbst gegeben ist. Eine wirkliche Analyse müßte ihre Wurzeln bis in seine bedeutende und eigenartige Persönlichkeit zurückverfolgen, und zu einem solchen Beginnen bin ich, vor allem andern, nach meinem Empfinden, zu jung. Wenn ich trotzdem eine kurze Skizze von Naumanns sozialpolitischer Position versuche,[350]Gemeint ist Martin Rade. Das entsprechende Schreiben ist nicht überliefert.
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so muß ich überwiegend wiederholen, was ich bei andern Gelegenheiten darüber schon gesagt habe. [350][A 472]Eine dankbare Aufgabe wäre der Vergleich mit dem christlichen Sozialismus Englands. Davon ein andermal.
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| Zu einer derartigen komparativen Analyse ist es nicht gekommen.
[A 473]Was zunächst in die Augen fällt, ist der bewußt radikale, richtiger: modern-proletarische Zug seiner Auffassungsweise. Die Anlehnung an die „bürgerliche“ nationalökonomische Wissenschaft weist er aus dem Erfahrungsgrunde von sich, weil sie es erschwere, die Welt „im Sinne der armen Brüder“ zu betrachten (S. 17); die geeignete Vorbildung für einen Christlich-Sozialen sei vielmehr – wie er es in der ihm eignen scharf pointirten Weise ausdrückt – das Parallelstudium von [351]„Marx und Christus.“
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Das sei für einen Christlich-Sozialen, der nicht „Professor“ werden wolle und deshalb nicht über alle Einzelheiten im Reinen sein müsse, genug,[351]Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 17.
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– an der akademischen, zumal der historisch beschreibenden Nationalökonomie, die nach seiner Ansicht den Thatendrang gefährdet, hat er keine Freude (S. 42)Ebd.
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– eine kleine Enttäuschung für uns nach den HerbstkursenEbd., S. 48: „Aber unsere historische Art der Auffassung ist nicht die Geschichtsbetrachtung des Materialismus, […] sie ist auch nicht die der historischen Nationalökonomie, die mehr beschreibt als zum Handeln drängt“.
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–: er verlangt aber doch (S. 18), daß man die Sozialdemokratie „mit Glauben und historischer Bildung“ studire.Gemeint sind die vom Evangelisch-sozialen Kongreß vom 10. bis 20. Oktober 1893 veranstalteten nationalökonomischen Kurse für Geistliche, an denen auch Max Weber mitgewirkt hatte. Siehe zu diesen Kursen den Editorischen Bericht zu Webers Beitrag: „Landwirtschaft und Agrarpolitik. Grundriß zu 8 Vorlesungen im Evangelisch-sozialen Kursus zu Berlin. Oktober 1893“, oben, S. 254–257.
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Woher diese letztere nehmen? Marx besaß sie in seiner Art in eminentem Maße, aber weder von ihm noch vom Neuen Testament wird man behaupten, daß historische Bildung durch sie vermittelt werde. Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 18: „Wenn jemand mit dem Glauben an Jesus und mit historischer Bildung an das Studium der Sozialdemokratie herantritt, so wird er vielfache Bereicherung erfahren“.
Der Sinn dieser widerspruchsvollen Bemerkungen Naumanns ist in der, ich möchte sagen „weltfreudigen“ Tendenz seiner Anschauungsweise zu suchen. Der Kampf gegen die Weltfremdheit – pastorale wie akademische – mit ihren „aus der Vergangenheit hergeholten“ Idealen scheint ihm die dringendste Aufgabe.
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Und hier liegt ein wesentlicher Kraftquell seiner sozialpolitischen Empfindung, sympathisch und, in seiner Übertreibung, bedenklich zugleich. Es ist die rückhaltlose Anerkennung des technischen Fortschritts mit allen seinen Konsequenzen, einschließlich der modernen Arbeitsverfassung, als providentiellen Mittels zur Emanzipation der Menschheit: „Gott will die Maschine“ (S. 35).Ebd., S. 33: „Viele Christen von heute haben ihre Ideale in vergangenen Tagen.“
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Deshalb wird – im Gegensatz gegen die ältere christlich-soziale Richtung – entschlossen gebrochen mit der sentimentalen Fiktion der Interessenharmonie herrschender und beherrschter Klassen (der „allgemeinen Harmoniesuppe“ – S. 27) und, um es deutlich zu sagen, der Klassenkampf legalisirt. Das [352]ist gegenüber manchen Illusionen kirchlicher Sozialpolitiker ein Fortschritt zum Realismus. Ebd., S. 35: „Gott will den technischen Fortschritt, er will die Maschine.“
Es bedeutet aber namentlich – und darin stimmt Naumann mit Schall überein
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– die Loslösung vom konservativen Parteiprogramm. In Naumanns Augen ist das letztere (S. 16) ein „Programm für Herren“, er lehnt auch – und dies zum Teil im Widerspruch mit Schall – diejenigen Seiten desselben ab, die, wenigstens vorgeblich, die Stärkung der Stellung der Kirche bezwecken,[352]Naumann setzte sich intensiv mit der Schrift des evangelischen Geistlichen Eduard Schall über „Die Socialdemokratie in ihren Wahrheiten und Irrthümern und die Stellung der protestantischen Kirche zur socialen Frage“ (Berlin: Elwin Staude 1893) auseinander. Schall beschreibt in dem Kapitel „Zunftpartei“ die unzulängliche, oberflächliche Haltung des Konservativismus den sozialpolitischen Problemen gegenüber. Siehe bes. S. 123. Naumann zitiert diese Passage zustimmend. Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 79.
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da „nicht Kirchlichkeit, sondern Brüderlichkeit“Naumann bedauerte in seiner Besprechung, daß Schall den Konservativismus nicht ausführlicher behandelt habe, da „viele Christen noch immer an den innern Zusammenhang konservativer und christlicher Ideen“ glaubten. Ebd.
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das Ziel sein müsse. Das Arbeitsgebiet sei die „unterste Schicht“Ebd., S. 16: „Nicht Kirchlichkeit ist es, wonach wir dürsten, sondern Brüderlichkeit.“
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des Volkes, „mehr der Geselle als der Meister, mehr der Dienstbote als die Herrschaft, mehr der ungelernte Tagearbeiter als gelernte Arbeiter“ (S. 50).Ebd., S. 49.
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Scheinbar etwas unvermittelt neben diesem Programm, gerade die tiefststehende Kategorie der Arbeiter zu emanzipiren, steht die Ansicht, daß zur christlich-sozialen Bearbeitung am geeignetsten seien, neben den Hausindustriellen: Portiers, Auslaufer, Diener, Kutscher, kleine Beamte und derartige den „Rand“ des Proletariats repräsentirende Gruppen.Ebd., S. 50: „Der Gehilfe ist im allgemeinen mehr ein Gegenstand unserer Fürsorge als der Meister, der Dienstbote mehr als die Herrschaft, der ungelernte Tagearbeiter mehr als der gelernte organisierte Arbeiter, der Arbeitslose mehr als der, der dauernde Arbeit hat.“
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Der innere Grund ist aber, daß diese unter sich ungleichartigen Kategorien ein Moment gemeinsam haben: die Schwierigkeit einer gewerkschaftlichen, überhaupt einer spontanen Organisation in freien Vereinen, und der Gedanke nahe liegt, hier mit einer zunächst mehr patriarchalischen Organisation vorbereitend zu arbeiten. Der Gedanke ist fraglos richtig, und ich kann nur bedauern, daß Naumann, wie er (S. 24) besonders hervorhebt, der Ansicht ist, bei [353]den Landarbeitern des Ostens sei für ein gleichartiges Vorgehen die Zeit noch nicht gekommen, aus dem meines Erachtens doch wenig zutreffenden Grunde, daß der Tagelöhner, wenn er aus seiner Stumpfheit erwache, zunächst „schimpfen“ wolle.Ebd., S. 25. Naumann spricht in bezug auf diese Gruppen vom „Rand der Sozialdemokratie“.
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Ich sehe nicht ein, weshalb man dieses vermeintliche Bedürfnis sich zunächst austoben lassen[353]Ebd., S. 24: „[…] wenn er erwacht, dann will er zuerst räsonnieren, fluchen, er will zornig und wüst sein, ehe er praktische Politik treiben lernt.“
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und dann mit Einwirkungsversuchen nachhinken sollte. Entweder steckt hier noch ein Rest konservativer Parteitradition, oder die taktische Rücksicht, nicht zu allen andern Gegnern noch in Gestalt der wirtschaftlich übermächtigen östlichen Großgrundbesitzer vorzeitig sich einen weitern Gegner auf den Hals zu ziehen, oder endlich, Naumann hält, mit unter dem Eindrucke der ziemlich er[A 474]gebnislosen Berliner Besprechung über den Gegenstand,[353]Fehlt in A; lassen sinngemäß ergänzt.
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das Material, das zur organisatorischen Arbeit zur Verfügung stünde, noch nicht für reif und zufolge der Patronats-Es ist nicht eindeutig zu klären, welche „Berliner Besprechung“ Weber meint. Möglicherweise handelt es sich um die Ausschußsitzung des Gesamtverbandes evangelischer Arbeitervereine am 31. Mai 1893 in Berlin. Hier wurde, unter Beteiligung Naumanns, das Programm des Gesamtverbandes verabschiedet, das die volle Koalitionsfreiheit nur für gewerbliche, nicht aber für ländliche Arbeiter forderte. Vgl. Just, A., Der Gesamtverband der Evangelischen Arbeitervereine Deutschlands, seine Geschichte und seine Arbeiten. – Gütersloh: Bertelsmann 19132, S. 14–17.
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und sonstigen sozialen Verhältnisse auf dem Lande auch nicht für äußerlich genügend selbständig gestellt. Es spielt wohl noch ein andres Moment mehr unbewußt mit, von dem weiter unten zu reden sein wird.Siehe oben, S. 101, Anm. 19.
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Siehe unten, S. 356.
Nicht in vollem Maße tritt aber überhaupt in der hier erörterten Schrift Naumanns seine Stellung zur Organisationsfrage der Arbeiter zu Tage. Vielleicht sind auch seine Ansichten über die weitere Zukunft in dieser Beziehung (christlich-soziale Fachvereine?) noch nicht geklärt, da speziell die Bewegung der Evangelischen Arbeitervereine vorerst noch zu sehr in den Anfängen steht, als daß wir das Weitere nicht zunächst der Zukunft überlassen müßten. Die Zukunft wird dann auch über die Stellung entscheiden, die evangelische Geistliche innerhalb oder zu dieser Bewegung von ihrem Standpunkte aus einnehmen können. Es wird dann zu bedenken sein, daß ein [354]Unterschied ist zwischen dem Organisator einer Massenbewegung, wie es Naumann in seiner Art ist, und einem Interessenvertreter, der sich in den Dienst der Klasse stellt. Es wird die Gefahr sein, der Jüngere, die es ihm nachthun wollen, verfallen, daß sie nicht jenes, sondern dieses werden. Darüber aber jetzt schon zu diskutiren, hätte keinen Zweck, und ich kann es jedenfalls nur erfreulich finden, wenn Naumann die anachronistische Vorstellung, als ob ein Geistlicher zwar in konservativen Handwerkervereinen gegen die Börse wettern dürfe, dem Versuch einer Organisation des Proletariats aber seine Teilnahme versagen müsse, zweifellos nie gekommen ist. Die stillschweigende Voraussetzung der christlich-sozialen Bewegung älterer Observanz, daß „Thron und Altar“ auf der Schulter des Großgrundbesitzes und des Handwerks am sichersten ruhen, ist für ihn ein überwundner Standpunkt.
Nur dem Zwecke, eine Grundlage für die Arbeiterorganisation zu gewinnen, dienen nun auch – und das ist zu ihrer Würdigung zu berücksichtigen – die im engern Sinn „nationalökonomischen“ Spekulationen Naumanns, deren Entwicklung er zu diesem Behuf für unentbehrlich hält. Er hat darin wahrscheinlich psychologisch recht, und es ist ein Charakteristikum für den deutschen Charakter der Evangelischen Arbeitervereine, daß sie mit der Wahrnehmung naheliegender Klassen- und Berufsinteressen sich nicht begnügen, sondern einer spekulativen Grundlage, einer eignen ökonomischen Theorie, bedürfen. Naumann speziell glaubt charakteristischerweise, daß hier, also auf dem Gebiete der Theorie, nicht der Praxis, die Scheidewand gegen die Sozialdemokratie gezogen werden müsse, solle anders das Bestehen einer solchen überhaupt gesichert sein. Er glaubt sie nun in der verschiednen Stellung zur „Kapitalkonzentration“ gefunden zu haben. Die Sozialdemokratie bedeute den Klassenkampf gegen das Unternehmertum, lasse dagegen fatalistisch
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die „Kapitalkonzentration“ sich fortsetzen, hoffend, dereinst die Expropriateure expropriiren zu können.[354][A 474]Die Bemerkungen über dies „fatalistische“ Moment in der sozialdemokratischen Bewegung gehören zum Besten aus Naumanns Schrift. |
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Die Bewegung der Evangelischen Arbeitervereine solle dagegen gerade den Kampf gegen [355]die „Kapitalkonzentration“ in den Vordergrund rücken, während die „Betriebskonzentration“ als Hebel technischen Fortschritts anerkannt werde.[354]Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 20f., 51 und 88, in Anlehnung an die entsprechenden Thesen des Kommunistischen Manifests.
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Wie die Gegenüberstellung von „Krupp“ und „Stumm“ (Beispiele der Betriebskonzentration) einerseits und „Rothschild“ andrerseits illustriren soll,[355]Ebd., S. 22.
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glaubt Naumann unter „Kapitalkonzentration“, kurz gesagt, die Anhäufung arbeitsloser Renten irgendwelcher Art, die Anhäufung überhaupt von Kapital, ohne daß der Zweck einer volkswirtschaftlich rationellem Betriebsorganisation dazu einen zulänglichen Grund bietet, zu verstehen. Aber ich fürchte, er identifizirt dennoch „Betriebskonzentration“ überhaupt mit „industriellem Großbetrieb“ und erkennt z. B. nicht, daß ganz die gleiche Bedeutung für die organisatorische Funktion des Handels in der Volkswirtschaft die Konzentration z. B. der großen Bankkapitalien hat. Es gehört zu den ältesten Gepflogenheiten der theologischen Nationalökonomie seit Thomas von Aquino, daß ihnen die „Handelskapitalien“ mit der chemisch reinen [A 475]arbeitslosen Rente in der gleichen Verdammnis waren. In Naumanns Ausführungen läßt die Andeutung, daß die Geschichte des kanonischen ZinsverbotsEbd.
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studirt (S. 15) und das „alte Zinsproblem“ wieder aufgerollt werden solle, den Anknüpfungspunkt an diese Antezedenzien deutlich erkennen. Ich enthalte mich, solange nicht eine nähere Präzisirung erfolgt, der Kritik und möchte für jetzt nur einem Irrtum entgegentreten, dem Naumann offenbar huldigt: daß ein hoher Zinsfuß eine gesteigerte „Kapitalkonzentration“ (in seinem Sinne) bedeute und um deswillen bekämpft werden müsse, ein Sinken des Zinsfußes also gewissermaßen eine Dezentralisirung des Kapitals oder doch eine Vermehrung des Einkommens aus Arbeit auf Kosten des Kapitals herbeizuführen geeignet sei. Der Stand des Zinsfußes ist im wesentlichen nur ein Symptom, das je nach den Umständen sehr verschieden zu deuten ist. Keinesfalls bedeutet sein Sinken an sich eine Abnahme der großen Vermögen, noch weniger bewirkt es eine solche, – regelmäßig umgekehrt: es entzieht einer ganzen Klasse [356]kleiner und mittlerer Vermögen die werbende Kraft und die Fähigkeit, der Existenz des Besitzers einen Halt zu verleihen, und stärkt also die relative Macht der großen Kapitalisten, indem es die kleinen aus den Reihen der „Besitzenden“ streicht. Man kurirt auch hier die Krankheitsgründe nicht, wenn man die Symptome unterdrückt. Im 12. und 13. Jahrhundert wurde das Gesetzbuch des kanonischen Rechts um Bestimmungen gegen den Wucher erweitert. Die Kirche wollte damit sowie mit zahlreichen Konzilsbeschlüssen der geldwirtschaftlichen Umgestaltung begegnen. Vgl. ausführlich zur Geschichte des Zins- und Wucherverbots: Le Goff, Jacques, Wucherzins und Höllenqualen. – Stuttgart: Klett-Cotta 1988, bes. S. 18–23.
Naumann wird aber dem Anschluß an den Lassalleanismus
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auch bei seiner Legalisirung der „Betriebskonzentration“ nicht entgehen, wenn er konsequent bleibt. Nicht zufällig schweben ihm nämlich gerade die völlig exzeptionellen Beispiele von Krupp und Stumm vor. Die normale Form der Schöpfung von Großbetrieben ist und wird notwendig immer mehr die Anhäufung großer Aktienkapitalien, und die Dividende ist Naumann schwerlich heiliger als der Zins. Er denkt aber, wie gesagt, offenbar nur an den Fall des von einem Privatunternehmer persönlich geleiteten industriellen Großbetriebes, und dieser genießt seine relative Sympathie. Weshalb? das ist ihm vielleicht selbst teilweise unbewußt geblieben, – thatsächlich aber ist es der gleiche Grund, aus dem die Kirche von jeher der Evolution der bürgerlich-geldwirtschaftlichen Wirtschaftsorganisation mißtrauisch gegenüberstand. Das Charakteristikum der modernen Entwicklung ist der Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse als Grundlage der Arbeitsverfassung und damit der subjektiven, psychologischen, einer religiös-ethischen Deutung und Ausprägung zugänglichen Voraussetzungen der Abhängigkeit der beherrschten Klassen. Im Handwerk, in der Arbeitsverfassung der Landwirtschaft, auch und gerade der landwirtschaftlichen Großbetriebe, ist die psychologische Unterlage für ein Unterwerfungsverhältnis, wie es jedes Arbeitsverhältnis ist, die persönliche, individuelle Beziehung zum Herrn, vorhanden. Daher, wie ich glaube, auch Naumanns unbewußt geringeres Interesse an dem Emanzipationskampf der Landarbeiter. Der persönlich geleitete industrielle Großbetrieb, den Naumann als Enwicklungsprodukt anzuerkennen sich genötigt sieht, steht dem noch relativ nah. Die moderne Entwicklung aber setzt an die Stelle dessen zunehmend die unpersönliche Herr[357]schaft der Klasse der Besitzenden, rein geschäftliche an die Stelle der persönlichen Beziehungen, Tributpflichten an eine unbekannte, nicht sichtbare und greifbare Macht an die Stelle der persönlichen Unterordnung und beseitigt damit die Möglichkeit, das Verhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten ethisch und religiös zu erfassen. Der einzelne Unternehmer ist nur Typus der Klasse. Dies, und nicht irgend welche wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Besitzverteilung, ist vom religiösen Standpunkt aus das Problem. Die Logik dieser Entwicklung, die die spezifisch moderne Klassenbildung darstellt, wird auch Naumann, soll sein Programm für ihn Wahrheit werden, zur Parteinahme gegen jede Form des privaten Kapitals zwingen, denn es stehen sich nicht mehr einzelne Personen mit individuellen psychologischen Beziehungen, sondern kampfbereite Klassen gegenüber, bei denen die sittlich-religiöse Einwirkung auf das Individuum vorerst versagt. Thatsächlich fühlt er sich auch bereits als „Partei“ gegenüber den „Besitzenden“ schlechthin (S. 14).[356]Im Gegensatz zum Marxismus, der die Kapitalkonzentration als unabwendbares Schicksal der modernen wirtschaftlichen Entwicklung ansah, ging Lassalle von der Erwartung aus, den Kapitalismus auf betrieblicher Ebene mit Hilfe der Gründung von Produktivassoziationen mit Staatshilfe überwinden zu können. Dies dürfte Weber mit der Bemerkung vom „Lassalleanismus“ im Auge gehabt haben.
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Wenn er dabei auf Christus exemplifizirt, der bei den Zöllnern saß (S. 92),[357]Naumann spricht hier von den „besitzenden Klassen“.
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so möge er mir die etwas pedantische [A 476]Bemerkung nicht verargen, daß die römischen PublikanenEbd., S. 97.
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wohl nicht als Repräsentanten des arbeitenden Volkes, sondern nach der Volksauffassung als solche der Erpressung und des Wuchers und als Vertreter des Kapitalismus der damaligen Zeiten zu gelten haben. Naumann hält „Geiz und Wucher“ für die „Todsünden“ der heutigen herrschenden Klassen (S. 22).Publikanen hießen die privaten Geschäftspartner des römischen Staats für öffentliche Lieferungen, vor allem aber für die Pacht staatlichen Besitzes und staatlicher Einkünfte. Die Publikanen entrichteten als Steuerpächter dem Staat eine pauschale Pachtsumme und trieben die Steuern vor Ort selbst bzw. durch ihr Personal (im Neuen Testament die „Zöllner“ genannt) ein, was z. T. zu unerträglichen Pressionen in den Gemeinden und Provinzen führte. Siehe auch Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1891, S. 183 (MWG I/2, S. 263f.).
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Darin liegt der Begriff einer „Klassensünde“, denn es soll der Vorwurf ja nicht die Individuen treffen. Zugehörige einer in gleichem Sinne „sündigen“ Klasse aber waren die Zöllner: und zu ihnen kam Christus. Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 22: „Geiz und Wucher sind die Haupttodsünden, ethisch und wirtschaftlich.“
[358]Wie steht es nun mit der Praktikabilität des Kampfes gegen die Kapitalkonzentration als eines Programms für eine proletarische Bewegung? Wird sie dauernd um dieses Banner zu scharen sein? Zum Kampf gegen den Zins werden stets die in erster Linie sich berufen fühlen, die Zinsen zu zahlen haben. Das sind nicht die Proletarier. Alle Erfahrung spricht dagegen, denn das Hemd ist jedermann näher als der Rock. Eine Arbeiterpartei wird stets mit dem sich auseinandersetzen wollen, der ihr Herr ist: das ist der Unternehmer, und nicht mit dem Kapitalisten, der der Plagegeist eben dieser Herren ist. Nur an einem Punkte berühren sich die Interessen des Proletariats unmittelbar und fühlbar feindlich mit denen des Besitzes als solchen: das ist in der Wohnungsfrage. Daher ist auch für Naumann der Bodenbesitz der Typus des „Kapitals“. Wenn er hier positive, zumal agrarpolitische Vorschläge (mit denen ich mich nicht identifiziren will) als Flickwerk bezeichnet (S. 36) und das Recht des Kapitals an sich erörtert sehen will,
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so dokumentirt sich darin wie in der grundsätzlichen Verwerfung der privaten Ausnutzung der Bodenrente (S. 22) und in dem positiven Vorschlag der Verstaatlichung oder Kommunalisirung des Rentenzuwachses seine Anhängerschaft an den extremeren Flügel der Bodenbesitzreformer.[358]In Anlehnung an Eduard Schall (siehe oben, Anm. 10) wirft Naumann den Konservativen „ewige Reparaturarbeit ohne Bauplan“ auf ihrem ureigensten Gebiet, der Landwirtschaft, vor. Als agrarpolitische Vorschläge böten sie nur die Reform des Erb- und Familienrechts, die Einführung eines Heimstättengesetzes, die Überführung der Hypothekenschulden in amortisierbare Rentenschuld, Kornzölle, den Bimetallismus und die Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnort an. Ebd., S. 79f. Demgegenüber stellt Naumann den privaten Besitz an Boden grundsätzlich in Frage. Ebd., S. 22 und 86. (Auf der von Weber genannten S. 36 findet sich keine Auseinandersetzung mit diesen Fragen.)
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Ich enthalte mich hier einer Auseinandersetzung mit letztern. Die Aneignung des Bodens durch die Gemeinschaft ist mir eine leere juristische Formel, so lange ich nicht weiß, was nun weiter werden soll. Programmpunkte in Betreff einer kommunalen Wohnungspolitik würden mir wertvoller erscheinen. Der 1888 gegründete Deutsche Bund für Bodenbesitzreform, die Vorläuferorganisation des Bundes Deutscher Bodenreformer von 1898, sah in dem Privateigentum an Grund und Boden die Ursache für alle zeitgenössischen sozialen Probleme und plädierte daher in seinem Programm „für die Überführung des Grundbesitzes bzw. der Grundrente aus Einzelhänden in die Hände der Gesamtheit oder der Gemeinde“. Zitiert nach Seemann, Josef, Bund Deutscher Bodenreformer, in: Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. von Dieter Fricke u. a., Band 1. – Köln: Pahl-Rugenstein 1983, S. 283.
[359]Glaube ich hiernach nicht, daß das von Naumann jetzt teils formulirte, teils angedeutete Programm mit seinen theoretischen Unterlagen sich dauernd brauchbar erweisen wird, so ist aber damit gegen ihn noch nichts bewiesen. Es ist, wie gesagt, eine deutsche Sitte – vielverspottet und doch ein Symptom des unausrottbarsten Idealismus –, daß der Einzelne sich für seinen Privatgebrauch eine eigne Philosophie und ein eignes ökonomisches System zurechtzimmert. Darin ist Naumann den Seinigen mit gutem Beispiel vorangegangen. Gerade das Widerspruchsvolle seines Systems zeigt, daß er nicht zu den üblichen theoretischen Weltverbesserern gehört. Entscheidend für die Zukunft der von ihm geleiteten Bewegung ist nicht sein System, sondern das Maß von gesund proletarischem Bewußtsein, das er ihr zu geben verstehen wird. Und in dieser Beziehung strotzt er von Lebenskraft und Vertrauen auf die Zukunft. Manche seiner Worte lesen sich fast wie eine Drohung nach oben: Gott könne „das Elend nicht wollen“, das Gegenteil zu behaupten, sei „Blasphemie“, und er würde, glaubte er es, keinen Sonntag mehr von diesem Gott zu predigen vermögen.
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Mit diesem aprioristischen Optimismus tritt er auch an das Bevölkerungsproblem heran. Dieses älteste und ernsteste Problem der gesamten Sozialgeschichte – wer ihm diesen Rang bestreitet, mit dem wird man wenigstens wissenschaftlich nicht diskutiren wollen – besteht für Naumanns Anschauung nicht. Daß er die wirtschaftliche Notlage als Folge eines reichen Kindersegens für eine spezifische „Unbarmherzigkeit“ der modernen Wirtschaftsverfassung hält, ist ein völliger historischer Irrtum.[359]Naumann, Was heißt Christlich-Sozial, S. 76.
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Daß der Gedanke der „Beschränkung der Kinderzahl“ ihm offenbar identisch ist mit dem Schmutz der Großstadt,Naumann setzt sich in dem Kapitel „Malthus und seine Nachfolger“ mit den sozialen Fragen des Bevölkerungswachstums auseinander. Ebd., S. 75–77. Siehe auch ebd., S. 35f.
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entspricht nicht den Thatsachen, wie er bei den tagelöhnernden ländlichen Kleinbesitzern im Oberelsaß und bei dem Bauernschlage, den man in Frankreich (nicht überall, aber vielfach) an Orten findet, wo das Zweikindersystem herrscht, erkunden könnte. Der Grund seiner völlig negativen Stellung ist wiederum seine bewußt proletarische Betrachtungsweise, die – dies unbewußt – die [A 477]Konsequenz hat, daß ihm die Zuerkennung einer [360]sozialpolitischen Funktion an den Besitz als solchen regelmäßig schwer fällt. Wir Bourgeois sehen in dem Besitz – nicht allein, aber allerdings wesentlich auch in dem privaten erblichen Bodenbesitz – einen bevölkerungspolitischen Regulator, ein Mittel, das dem Einzelnen die Verantwortlichkeit zuschiebt für die Kinder, die er in die Welt setzt, und darin liegt für uns eine wesentliche Seite des Besitzverteilungsproblems, daß die gegenwärtige Entwicklung den Besitz dieser Rolle entkleidet. Daß für Naumann das Problem nicht besteht, ist auch eine Konsequenz seines Glaubens an die unbegrenzte Zukunft des technischen Fortschritts. Auch diesen Glauben teilen wir nicht. Wenn das jetzige Zeitalter der Evolution der Technik sich seinem Ende nähern wird, dann wird die Menschheit wieder in die Lage kommen, sich auf Dauer berechnete wirtschaftliche Organisationen zu geben. Vielleicht wird dann der numerus clausus, der in den englischen Gewerkvereinen als Organisationsprinzip aufzutauchen begonnen hat,Ebd., S. 75: „[…] der Rat, daß das Volk im ganzen weniger Kinder haben sollte, ist ein Rat der Sünde“.
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die Stelle der alten Zunftorganisation übernehmen, damit aber auch deren bevölkerungspolitische Bedeutung. Verschwinden aber wird das Bevölkerungsproblem nie, so wenig wie es jemals gefehlt hat. [360]In Großbritannien kontrollierten die Gewerkschaften in einer Reihe von Gewerben, insbesondere im Bereich der Hafenarbeit, die Vermittlung von Arbeitsgelegenheiten und waren demgemäß an einer Beschränkung der um Arbeit nachsuchenden Mitglieder interessiert. Dabei kam es verschiedentlich zu Aufnahmebeschränkungen bei den Gewerkschaften (numerus clausus). Vgl. Brentano, Lujo, Gewerkvereine, in: HdStW 42, 1900, S. 618.
Damit genug der Auseinandersetzung. Ich habe absichtlich nicht die praktischen Ziele,
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die Naumann, wennschon nur als vorläufige, aufführt (S. 86), besprochen, sondern versucht, seine Gesamtposition zu verdeutlichen. Soweit er diese seine Gesamtposition seinerseits theoretisch hat formuliren wollen, nahm die Erörterung notgedrungen den Charakter der Kritik an, denn er hat sie eben, wie ich [361]glaube, teils unrichtig, teils unvollständig formulirt. Der aufrichtigen Sympathie für den Mann und seine praktische Arbeit und der Freude an der Kraft der Rede und des Willens, von der auch die hier besprochne Schrift zeugt, werden diese Bemerkungen bei niemand, namentlich nicht bei mir, Eintrag thun. [360][A 477]Es sind neben der Betonung des Arbeiterschutzes teils bodenreformerische, nämlich 1. obligatorische staatliche Hypothekenbanken, 2. staatliches Bodenvorkaufsrecht zum jetzigen Bodentaxwert als Vorbereitung des Bodenregals
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; teils die Einkommen- und Vermögensverteilung betreffend: 1. progressive Einkommensteuer, 2. ebensolche Erbschaftssteuer; teils organisatorische: Fachvereine und Gewerkschaften in allen Berufen als obligatorische Berufsvertretungen. | Mit „Bodenregal“ ist hier wohl in Anlehnung an mittelalterliche Rechtsverhältnisse die Einführung des staatlichen Oberbesitzes an Grund und Boden gemeint.