MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß. 1894
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[467][A 668]Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß

In einen Streit mit anonymen Gegnern in der Tagespresse mich einzulassen – sei es in Form von „Berichtigungen“ oder „Entgegnungen“ – habe ich vermieden, da mir an der Meinung politischer Parteiorgane von rechts oder links als solcher schlechterdings nichts gelegen ist. Der blinde Lärm hat sich nun wohl gelegt; ich komme rückblickend mit wenigen Worten auf das Schauspiel, das gewisse „staatserhaltende“ Organe dabei boten, zurück, da mir die Meinung der Leser dieser Zeitschrift für die Sache nicht gleichgiltig ist und Unbefangne darunter das spezifische Parteipreßwesen so wenig kennen könnten, daß sie diese Unkenrufe für bittern Ernst nehmen. Niemand wird freilich erwarten, daß ich mich auf Auseinandersetzungen mit der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung einlasse, die uns mit Ahlwardt zusammenstellte1[467] Weber nimmt Bezug auf einen in der Rubrik „Politischer Tagesbericht“ erschienenen Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, Nr. 227 vom 18. Mai 1894, Ab. Bl. Weber und Paul Göhre wurden hier mit dem Antisemiten Ahlwardt in einem Atemzug genannt. Siehe das Zitat im Editorischen Bericht, oben, S. 464. und noch jetzt in fast jeder zweiten Nummer Göhre – es ist kein andrer Ausdruck möglich – mit Schmutz bewirft. Ein Lob aus dem Munde dieses grundsätzlich gesinnungslosen Organs, das unter der gesamten europäischen Presse in der öffentlichen Achtung bereits seit Jahrzehnten einstimmig und mit Recht am tiefsten gestellt wird, hat wohl noch niemandem als Ehre gegolten, und seit 1890 wäre jede Abwehr seiner „Angriffe“ ein Anachronismus.2Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, das offiziöse Organ der Reichsleitung, war führend an der publizistischen Kampagne beteiligt, mit der Caprivi die Angriffe Bismarcks und seiner journalistischen Gefolgsleute auf die Reichspolitik zu parieren suchte. Unter anderem beteiligte sie sich an der Polemik gegen Bismarck, die im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des sog. „Urias-Briefs“ im Reichsanzeiger im Juni/Juli 1892 entstand. In diesem Brief hatte Wilhelm II. Kaiser Franz Joseph ersucht, Bismarck den Empfang in Wien zu verweigern. Die Ehre einer „Verteidigung“ dagegen hat denn auch Naumann in seinem Artikel in der Zukunft,3Es handelt sich um Friedrich Naumanns am 2. Juni 1894 erschienenen Artikel: Offiziöses zum evangelisch-sozialen Kongreß. die das Blatt als [468]eine solche auffaßt,4[468] Anscheinend handelt es sich hier um ein Mißverständnis Webers. Die Conservative Correspondenz hatte auf Naumanns Artikel repliziert. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung faßte diese Replik als Verteidigung ihres Standpunktes gegen Naumann auf. Conservative Correspondenz, Nr. 64 vom 11. Juni 1894 („Ein Versucher“); Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 268 vom 12. Juni 1894, Mo. Bl. (Notiz auf S. 1). schwerlich beabsichtigt ihm angedeihen zu lassen, sondern er hat, wie ich annehme, wohl nur die Mißlichkeit eines Zustandes beleuchten wollen, der das Publikum verleitet, hinter solchen Schmähungen aus dem Munde schlecht kontrollirter subalterner Preßexistenzen die Meinungsäußerung maßgebender Regierungskreise zu vermuten.5Weber bezieht sich hier auf die Äußerung Naumanns, derzufolge die Norddeutsche Allgemeine Zeitung ganz gezielt „in dem gravitätischen Paradeton des amtlichen Stiles“ argumentiere, um ihrer Interessenpolitik einen offiziellen Anstrich zu geben. Naumann, Offiziöses, S. 403.

Ernster ist es, daß offizielle Organe großer und respektabler Parteien wie die Konservative Korrespondenz6Die Conservative Correspondenz war das maßgebliche Presseorgan der Deutschkonservativen Partei. in einen ähnlichen anstandslosen Ton einstimmen. Jeder Stand, also auch der, in dessen Händen die Leitung dieser Partei faktisch liegt, hat auf die Dauer diejenige Preßvertretung, die er nach seinem [A 669]eignen geistigen Niveau verdient und sich bieten läßt. Dies Niveau aber, wie es hier zum Ausdruck gelangt, ist ein rücksichtsloser Portemonnaiestandpunkt, der nicht über dem der schlimmsten Organe der vielberufnen „Börsenpresse“7Zur Börsenpresse zählten u. a. der Berliner Börsen-Courier und die Berliner Börsen-Zeitung. steht. Wenn man findet, daß evangelische Geistliche, deren sozialpolitische Ansichten mit materiellen Interessen einzelner Gruppen des Großgrundbesitzes nicht harmoniren, von der Konservativen Korrespondenz und der Kreuzzeitung als „Versucher“ und „Skandalmacher“, „schlimmer als Singer“ (Naumann), als „grüne“, durch „Reklame und bedenkliche Unternehmungen bekannt gewordne“ Jugend (Göhre) bezeichnet und in pueriler Weise verdächtigt werden,8Weber zitiert hier aus Artikeln der Conservativen Correspondenz, Nr. 64 vom 11. Juni 1894 („Ein Versucher“), und aus der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 230 vom 20. Mai 1894, Mo. Bl. („Die innere Politik der Woche“). so ist es unmöglich, sich nicht der – oft wörtlich – gleichartigen Angriffe der Gegenseite auf Stöcker zu erinnern, und man wird die Wahrhaftigkeit der sogenannten Kirchlichkeit dieser Angreifer nicht höher als das „ethische“ Pathos jener „Börsenorga[469]ne“ anschlagen können. – Die Enquete des Evangelisch-sozialen Kongresses ist vom Aktionskomitee, dem bekannte Parteiführer der äußersten royalistischen Rechten angehören,9[469] Gemeint sind Adolph Wagner, Adolf Stoecker und Moritz August Nobbe. Stoecker und Wagner waren Gründer und Führer der Christlich-sozialen Arbeiterpartei von 1878, die 1881 in der Deutschkonservativen Partei aufgegangen war; Nobbe, zwischen 1884 und 1890 MdR für die Deutsche Reichspartei, war nicht nur Mitglied des Aktionskomitees, sondern auch Vorsitzender des Kongresses. Weber hatte in seinem Artikel „Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands“ ausdrücklich auf die Mitwirkung Wagners und Nobbes bei der Beratung des von ihm und Paul Göhre ausgearbeiteten Fragebogens hingewiesen. Vgl. oben, S. 210f. unter deren Mitwirkung ins Werk gesetzt; allein das hindert die Konservative Korrespondenz nicht, aus der bloßen Thatsache der Befragung der Landgeistlichen „hinter dem Rücken“ ihrer gutsherrlichen Patrone die Insinuation „agitatorischer Zwecke“ herzuleiten.10Die „Agrarenquete des Kongresses“, so schrieb die Conservative Correspondenz in ihrem Artikel „Ein Versucher“, Nr. 64 vom 11. Juni 1894, sei „nur agitatorischen Beweggründen“ entsprungen. Die cynische Mißachtung der Landgeistlichkeit, die sich darin ausspricht und nur zu deutlich an das bekannte Wort von der „schwarzen Polizei“11Gemeint sind Inspektoren, die aus dem Kreis der Militärgeistlichen stammten und die Tätigkeit der Pastoren vor Ort überwachten. Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1. – München: C.H. Beck 1987, S. 273. gemahnt, ist um so schwerwiegender, weil sie sich als zur zweiten Natur gewordne und halb unbewußte Standesanschauung darstellt und also dem Einzelnen, der sie vertritt, auch einem einzelnen Preßorgan, gar nicht einmal zur Last gelegt werden kann: ihre Stellung zu dem Stande werden die Landgeistlichen im Laufe der Zeit wohl einer Revision unterziehen, wenn solche Erscheinungen wiederkehren. Dagegen ist bei einem Organ, das über ernste Dinge, wie die Landarbeiterfrage, ernst mitsprechen zu wollen vorgiebt, eins in der That unzulässig: Ignoranz. Und ein Übermaß solcher verrät sich denn doch in dem Glauben, daß die Ansichten, die über die Entwicklung der Verhältnisse der Landarbeiter auf dem Kongreß vorgetragen wurden, etwa hier zum erstenmal und womöglich nur auf Grund der nach Ansicht des anonymen Artikelschreibers „minimalen“ Ausbeute der Befragung der Arbeiter aufgestellt worden seien. Weder Göhre noch ich können uns ein geistiges Eigentum daran anmaßen. Göhre hat hierin in allen Punkten materiell das Gleiche gesagt, was eine erste Autorität wie Professor G[eorg] F[riedrich] Knapp auf [470]dem Kongreß des Vereins für Sozialpolitik im März 1893 ausführte,12[470] Knapp, Arbeiterfrage. Zu diesem Vortrag siehe oben, S. 160. – nur in den praktischen Forderungen ging er quantitativ weiter als Knapp und auch als ich. Ich meinerseits habe in den hier in Betracht kommenden Beziehungen fast wörtlich dasselbe bereits in der Bearbeitung des Materials der Landarbeiterenquete des Vereins für Sozialpolitik13Weber, Landarbeiter. und auf dem Kongreß dieses Vereins14Referat und Diskussionsbeiträge Webers sind abgedruckt oben, S. 165–207. Auch hier forderte Weber eine Intensivierung der staatlichen Kolonisationstätigkeit aus national-politischen Motiven und auf Kosten des Großgrundbesitzes. gesagt. Die ziffermäßigen Angaben der damaligen Enquete aber stammten von Personen, die an Sachkenntnis und „Unbefangenheit“ im Sinn der Konservativen Korrespondenz und Kreuzzeitung doch wohl alle auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß aufgetretnen Redner und die Tintenfässer beider Redaktionsstuben übertreffen: nämlich ausschließlich von ländlichen Arbeitgebern. Der Kreuzzeitung galt ich schon damals als der Nationalzeitung „nahe stehend“,15 Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 56 vom 2. Febr. 1893, Ab. Bl.: „Klagen des östlichen Großgrundbesitzes“. während ich jetzt zu einer Person avancirt bin, die dieses nationalliberale Organ „mit Nutzen liest“.16 Ebd., Nr. 230 vom 20. Mai 1894, Mo.BI.: „Die innere Politik der Woche“. Trotzdem fand ich, als Abonnent und ständiger Leser der Kreuzzeitung, am 2. Februar 1893 zu meinem aufrichtigen Erstaunen, daß sie mir ins Stammbuch schrieb:17 Siehe Anm. 15.

Aber weil er die Verhältnisse des ostelbischen Grundbesitzes wirklich kennen gelernt hat, und weil sein Blick nicht durch den kapitalistischen „Fanatismus“ der Nationalzeitung getrübt ist, hat er ein Verständnis der geschichtlichen und sozialen Bedeutung dieses Grundbesitzes für die Monarchie, für die Wehrkraft und die nationale Entwicklung Deutschlands. Er fühlt daher, auch wo er es nicht ausspricht, daß diese angestammte „Treue“ mehr ist, als u.s.w.

Am 20. Mai 1894 aber „las man es anders“, nämlich:18Siehe Anm. 16. Weber zitiert im folgenden mit zwei kleinen Abweichungen. In der Kreuzzeitung heißt es: „so kann man sich nicht darüber wundern“ und „Sozialdemokraten“ statt „Sozialdemokratie“.

Dagegen aber [gegen Göhres und meine Ausführungen]a[470] [ ] in A. müssen wir uns auf das entschiedenste verwahren, um so mehr, als beide Vortragende, so [471]weit unsre Kenntnis reicht, die ländlichen Zustände im Osten ohne eigne praktische Erfahrung lediglich nach dem Inhalt von Frage[A 670]bogen beurteilen, aus denen sie, wie das ja freilich sehr natürlich ist, mit Vorliebe herauslesen, was zu ihrer vorgefaßten Meinung paßt. Da diese vorgefaßte Meinung aber bei beiden Haß gegen das Junkertum bedeutet, so kann man sich nicht wundern, daß sie zu Schlußfolgerungen gelangen, die sich von denen der Sozialdemokratie höchstens der Form nach unterscheiden u.s.w.

Sic transit gloria mundi!19[471] Laut Augustinus Patricius († 1496; Zeremoniar des Papstes Paul II.) Ausruf des Zeremoniars bei der Krönung des Papstes in der Peterskirche: „Heiliger Vater, so vergeht der Ruhm der Welt.“

Ich habe jenes Lob seinerzeit nicht ganz ernst genommen und wenig Freude daran erlebt. Es war von einer Zitatenserie aus meiner Enquetebearbeitung begleitet, die die Anerkennung der historischen Bedeutung des Junkertums, zu der ich mich stets aufrichtig bekannt habe, herausschälte unter einer mit seltner Meisterschaft vollzognen Amputation aller der Wendungen, Satzteile und Worte, die für die Zukunft die gleiche Prognose enthielten, wie wir sie auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß stellen zu müssen glaubten.20Weber hatte in der Schlußbetrachtung seiner Untersuchung über die Lage der ostelbischen Landarbeiter erklärt, daß es sicherlich nicht im Interesse des Staates liege, „einen Stand leichtfertig zu opfern, dessen Söhne die Wehrkraft der Nation zu beispiellosen militärischen Erfolgen geführt“ hätten. Aber gerade weil die Existenz dieses Standes hoffnungslos sei, „oder doch nur auf Kosten der Lebensinteressen der Nation gefristet werden“ könne, sei „der Entschluß unabweislich, die im Fluß befindliche Entwickelung von Seiten des Staates in die Hand zu nehmen und in diejenigen Bahnen zu lenken, welche dem Interesse der Nation entsprechen.“ Weber, Landarbeiter, S. 799f. (MWG I/3, S. 922f.). Die Kreuzzeitung hatte in ihrem Artikel „Klagen des östlichen Großgrundbesitzes“ in Nr. 56 vom 2. Febr. 1893, Ab. Bl., nur den ersten Teil dieser Passage zitiert. Ich kann ebensowenig den jetzigen Ausfall ernst nehmen, zumal er sich auf die, wie die Kreuzzeitung weiß, unrichtige Unterstellung gründet, als ob jemand, speziell ich, behauptet hätte, wie sie sagt: „nicht etwa … daß die Landwirtschaft des Ostens nicht mehr auf ihre Kosten komme, sondern … als ob die Landarbeiter ein unerträglich gewordnes Dasein führten.“b Auslassungszeichen in A. 21Es heißt dort, Weber und Göhre hätten die Verhältnisse im Osten als ganz unhaltbar geschildert: „Unhaltbar nicht in dem Sinne, daß die Landwirthschaft nicht mehr auf ihre Kosten kommt, sondern so, als ob die Landarbeiter ein unerträglich gewordenes Dasein führten.“ Nr. 230 vom 20. Mai 1894, Mo.BI.: „Die innere Politik der Woche“. Genau das Umgekehrte ist der Fall, und damit komme ich mit einigen Worten zur Sache selbst und [472]verlasse diese persönliche Auseinandersetzung, die ich, einem Hervordrängen in die Öffentlichkeit schlechthin abgeneigt, gern unterlassen hätte, wenn ich nicht glauben müßte, daß die Mehrzahl der Leser über die Vorgänge auf dem Kongreß nicht aus den Stenogrammen, sondern aus den Berichten schlagwortgieriger Reporter unterrichtet ist und bleiben wird.

Der Angelpunkt der ländlichen Arbeiterfrage im Osten ist – führten wir aus – die Thatsache, daß die zahlreichen mittlern und kleinern Rittergüter des Ostens, gerade die typischen Junkerbetriebe, die ihm sein Gepräge geben, wirtschaftlich in ihrem historisch überkommnen Charakter nicht zu halten sind. Nicht wegen des in unwahrer und geradezu pharisäischer Weise diesem Stande, der durchschnittlich immer noch einfacher lebt als jeder von uns, vorgeworfnen „Sekttrinkens“, sondern wegen der internationalen Konkurrenzlage, die den mittlern Boden des Ostens zur Produktion für den Markt unfähig macht, und weil – auch abgesehen davon – die gewaltig steigenden Kosten der modernen Lebenshaltung, die der Stand für sich beanspruchen muß, wenn er nicht politisch herabsteigen und verbauern will, aus seinem Areal nicht zu decken sind. Dieser Teil des Standes geht zu Grunde; der besser situirte, die größten Güter umfassend, verwandelt sich in einen kapitalkräftigen, kapitalistisch wirtschaftenden reinen Unternehmerstand. Alle Spatzen im Osten pfeifen das von den Dächern; unter vier Augen hat es mir noch kein Landwirt bestritten, in der Agrarkonferenz22[472] Zur Erörterung der bedrängten Lage der Landwirtschaft hatte vom 28. Mai bis 2. Juni 1894 in Berlin unter dem Vorsitz des preußischen Landwirtschaftsministers eine Konferenz von Sachverständigen getagt. Siehe dazu Webers Artikel „Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz“, unten, S. 483–499. war es communis opinio, und die gleichen praktischen Konsequenzen daraus hat niemand schärfer gezogen, als ein Mann, der auch bei politisch Andersdenkenden der höchsten Achtung sicher und der bedeutendste lebende konservative Staatsmann ist: Graf Zedlitz-Trützschler.23Robert Graf von Zedlitz-Trützschler, der ehemalige Vorsitzende der Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen und ehemalige preußische Kultusminister, erklärte auf der Agrarkonferenz 1894, daß eine Mischung von großem, kleinem und mittlerem Grundbesitz für die östliche Landwirtschaft das Beste sei. Diese Erkenntnis beginne sich durchzusetzen. Jedoch seien die bisher ergriffenen Maßnahmen, dieses Ziel zu erreichen, d. h. insbesondere die Rentengutsgesetzgebung, unzulänglich, es müßten daher weitaus stärkere Mittel eingesetzt werden. Die Agrarkonferenz vom 28. Mai bis 2. Juni 1894. Bericht über die Verhandlungen der von Sr. Excellenz dem Kgl. Preuß. Minister für [473]Landwirthschaft, Domänen und Forsten zur Erörterung agrarpolitischer Maßnahmen einberufenen Konferenz. – Berlin: Paul Parey 1894, S. 61. Ei[473]nen „Hundertmillionenfonds“ zur Güterparzellirung für jede der östlichen Provinzen haben vertraulich auch solche Teilnehmer für nötig erachtet, die es öffentlich nicht sagten.24[473] Der Ansiedlungskommission war 1886 ein Fonds von 100 Millionen Mark für ihre kolonisatorischen Aufgaben in beiden Provinzen, Posen und Westpreußen, von der Regierung zur Verfügung gestellt worden. Warum sagen sie es nicht öffentlich, und warum der Lärm in den Blättern der Großgrundbesitzer, wenn man es öffentlich sagt? Zunächst aus einem Grunde, der an sich menschlich-sympathisch berühren könnte: das Solidaritätsgefühl des Standes sträubt sich, die verlornen Standesgenossen offen zu opfern. Dann aber, weil (nicht mit Unrecht) eine Gefährdung der politischen Machtstellung des Großgrundbesitzerstandes als Folge der Verringerung des von ihm beherrschten Areals befürchtet wird, während es außer Zweifel ist, daß wirtschaftlich der Rest durch diese Abstoßung lediglich erstarken würde. Ich meinerseits wünsche – und zwar im teilweisen Gegensatz zu Göhre – dies Erstarken, weil ich die „Ekrasirung“ alles oder fast alles Großbesitzes für unmöglich halte, eine solche auch dem Fortschritt der Technik, dessen Träger er ist, abträglich wäre; denn in keinem andern Gewerbe ist, wie entgegen dem hochmütigen Industrialismus betont werden muß, redlicher an der Verbesserung der Technik gearbeitet worden, als in der Landwirtschaft. Aber hier kollidiren eben die politischen Machtinteressen mit den wirt[A 671]schaftlichen Interessen des Standes und noch mehr mit den sozialpolitischen und den politischen Interessen der Nation. Die Vorherrschaft – um diese handelt es sich – des Großbesitzes im Osten und der Versuch, existenzunfähige Gutsbetriebe zu halten, führt unter den jetzigen Verhältnissen mit Notwendigkeit zur Proletarisirung, zur Mobilisirung und zur Polonisirung (und damit übrigens auch zur Katholisirung) der Landarbeiter und zur Abwanderung – das war der Sinn der Ausführungen, und ich will den sehen, der das mit Ehrlichkeit zu bestreiten vermag.

Die Gefährdung dieser Vorherrschaft aber ist es, die die Kreuzzeitung in Harnisch bringt. Das ist der Angelpunkt ihrer sozial-politischen Stellungnahme. Dem Nachweis des landwirtschaftlich-technischen Fortschritts, wie ihn die landwirtschaftliche Ausstellung zeig[474]te,25[474] In Berlin fand vom 6. bis 11. Juni 1894 die achte Wanderausstellung der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft statt. mißtraut sie, angeblich weil er die Konkurrenz verschärft,26Die Kreuzzeitung befürchtete, daß bei verstärkter Technisierung die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse noch weiter gedrückt werden könnten. Notiz auf S. 2 in Nr. 268 vom 12. Juni 1894, Mo.BI. thatsächlich weil er die Umgestaltung des Grundadels in einen Stand ländlicher Gewerbetreibender beschleunigt. Gesetzentwürfe von so gesunden Grundgedanken, wie der des Oberbürgermeisters Adickes, der dem rein kapitalistischen städtischen Bodeneigentum im Interesse der Lösung des Wohnungsproblems vorsichtig zu Leibe geht,27Der „Entwurf eines Gesetzes, betreffend Stadterweiterungen und Zonenenteignungen“, den der Frankfurter Oberbürgermeister Franz Adickes ausgearbeitet hatte, um der Bodenspekulation in Ballungsräumen entgegenzutreten und den Weg für eine sozialere Wohnungsbaupolitik zu ebnen, war am 18. Januar 1894 dem preußischen Abgeordnetenhaus zugeleitet worden. Im Sinne der von Adickes 1891 für Frankfurt a.Μ. neu eingeführten Bauordnung sah der Gesetzentwurf für Stadtgemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern unter bestimmten Bedingungen die zwangsweise Umlegung von Grundstücken sowie Enteignungen vor. bekämpft sie unter nichtigen Vorwänden,28Die Kreuzzeitung führte als Argument gegen die sogenannte „Lex Adickes“ an, daß das Gesetz statt einer Einschränkung ein Anwachsen der Bodenspekulation hervorrufen würde. Nr. 47 vom 29. Jan. 1894, Ab. Bl. (Notiz auf S. 1). offenbar weil sie meint, die „Heiligkeit“ auch des ländlichen Grundbesitzes könne dadurch verblassen. Die Rentengutsbewegung diskreditirt sie als „langsam fortschreitend“,29Bezug unklar. damit nicht die Ansicht von der wirtschaftlichen Notwendigkeit der jetzigen Herrschaft der Großbetriebe im Osten korrigirt werde. Und während unser vitalstes nationales Interesse den Ausschluß der Poleneinfuhr gebieterisch fordert, während meines Erachtens niemand bestreiten dürfte, daß die Existenz von Gütern, die nur durch Verwendung außerdeutscher Arbeitskräfte bestehen können, vom nationalen und Kulturstandpunkt aus vom Übel ist, steht im Programm der agrarischen „Steuer- und Wirtschaftsreformer“ von 1892 unter „Besserung der ländlichen Arbeiterverhältnisse“(!) Nr. 2c (vgl. Konservatives Handbuch, 2. Auflage, S. 365): „unbeschränkte Zulassung von Arbeitern aus Nachbarstaaten.“30Die 1876 gegründete „Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer“ unterstützte die Agitation der Konservativen gegen die Handelsverträge Caprivis mit allen ihr verfügbaren Mitteln. Auf ihrer Generalversammlung vom 24. Februar 1892 verabschiede[475]te sie eine Adresse an die zuständigen Stellen des Reichs und Preußens, in der Kompensationen für die Handelsverträge gefordert wurden, u. a. die Revision der Gesetzgebung über den Unterstützungswohnsitz, die Freizügigkeit und den Kontraktbruch. Gefordert wurde auch die unbeschränkte Zulassung ausländischer Landarbeiter. Das Programm, das Weber hier nach dem „Konservativen Handbuch“ zitiert, wurde zuerst abgedruckt in: Bericht über die Verhandlungen der XVII. Generalversammlung der Vereinigung der Steuer- und Wirthschafts-Reformer zu Berlin, am 24. Februar 1892 erstattet vom Bureau des Ausschusses. – Berlin: Bureau der Steuer- und Wirthschafts-Reformer 1892, S. 96f. Also: Ausschluß des fremden Korns – Einfuhr der fremden [475]Menschen: ein Programm, dessen Gemeinschädlichkeit von den extravagantesten Auswüchsen der Börse nicht von ferne erreicht wird.

Genug der Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen; diese Zeitschrift ist nicht der Ort zu wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen, es kam für mich nur darauf an, die Motive des Sturmläutens klarzustellen. Sie sind nicht sachliche und sozialpolitische, sondern partei- und machtpolitische. Solche Interessenvertreter des Großgrundbesitzerstandes können sich nicht beschweren, wenn wir heute dessen politische Prätensionen als das schwerste Hemmnis ernstlicher sozialpolitischer Arbeit auf dem Lande betrachten und dies stärker zum Ausdruck bringen als die oft und deutlich genug – von mir wenigstens – ausgedrückte Anerkennung der Hochachtung vor der politischen Bedeutung des „Junkertums“ in der Vergangenheit. Nachgerade werden uns die politischen Standesinteressen dieser Klasse, auf die sich der Staat nicht mehr stützen kann, da sie selbst der Stütze bedarf, gefährlicher als die ehemalige Manchesterei,31Der nach seinem englischen Vorbild so genannte „Manchesterliberalismus“, der seine Hochphase im deutschen Bereich Ende der 1850er und bis zu Beginn der 1870er Jahre hatte, lehnte strikt jegliche Eingriffe des Staates in die Wirtschaft ab und plädierte für eine uneingeschränkte Selbstorganisation der Gesellschaft. die nicht mit Heer und Beamtentum verwachsen war. Es darf die Usance, daß gewisse Machtinteressen ein Noli me tangere32Joh. 20,17: „Rühre mich nicht an!“ sind, sich nicht noch weiter befestigen.

Allein: wir stoßen in das Horn der Sozialdemokratie und sind vom Vorwärts, wenn auch natürlich in sehr kühler und verklausulirter Form, belobigt worden. Eine Bauernkolonisation ist wohl so ziemlich das Antisozialistischste, was es geben kann, und wenn der Vorwärts trotzdem sie nicht schroff abzulehnen wagt, so thut er es, wie sein Verhalten nach dem Kongreß des Vereins für Sozialpolitik zeigte, weil er den individualistischen „Landhunger“ der Landarbeiter als unwiderstehlich kennt und – wie er ausdrücklich zugab – nicht [476]ignoriren kann.33[476] Unmittelbar nach der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik vom 20. und 21. März 1893 schrieb der Vorwärts, daß den sozialdemokratischen Bestrebungen der industriellen Arbeiter der Wunsch nach einem eigenen Stück Land der ländlichen Arbeiter entspreche. Der Landarbeiter habe nicht den „Drang nach sozialistischer Produktionsweise“. Daher werde auch die Sozialdemokratie nicht alle Produktionsbereiche der Landwirtschaft über einen Kamm scheren, sondern anerkennen, daß manche eine gemeinsame, andere aber eine individualistische Betriebsweise verlangen. Vorwärts, Nr. 69 vom 22. März 1893. Siehe auch oben, S. 245, Anm. 15. Kein größerer Gefallen aber könnte der Sozialdemokratie geschehen, als wenn wir, d. h. der Staat, ihn dauernd unbefriedigt ließen. Im übrigen sehe ich nicht, warum wir eine höfliche bedingte Zustimmung von dieser Seite unhöflich ablehnen sollten, nur um uns „nach rechts“ zu legitimiren. Der Vorwärts weiß, daß wir ehrliche Gegner sind. Mir wenigstens steht das Staatsinteresse turmhoch [A 672]über dem Interesse jedes noch so zahlreichen Standes, sowohl des Großgrundbesitzes wie des Proletariats, als dessen Interessenvertreter ich mich ebensowenig geberde, wie mir die soziale Frage sich in der Arbeiterfrage erschöpft. Aber wie man die politische Zukunft des Landes sich denken soll ohne die Hoffnung auf das Entstehen einer politisch gereiften und positiv an Deutschlands Größe mitarbeitenden Arbeiterbewegung, vermag ich nicht zu sehen, und eine spießbürgerliche Illusion ist es nach meiner Meinung, zu glauben, eine solche werde erwachsen, wenn man das Klassenbewußtsein eines aufsteigenden Standes ignorirt oder unterdrückt und ihn von der freien Selbstbestimmung fernhält. Der Aufforderung der Kreuzzeitung, uns an der Art, wie dies langsam erwachende Klassenbewußtsein unter den Landarbeitern sich bis jetzt geltend oder nicht geltend macht, zu „freuen“, können wir nicht folgen.34Die Kreuzzeitung hatte Weber und Göhre vorgeworfen, „Öl ins Feuer zu gießen“, anstatt sich „zu freuen“, daß die sozialdemokratische Landagitation so wenig erfolgreich sei. Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), Nr. 230 vom 20. Mai 1894, Mo.BI.: „Die innere Politik der Woche“. Kein noch so gewaltiger Streik zeitigt Erscheinungen von so gefährlicher Dimension, wie das jetzt einzige Kampfmittel der Landarbeiterschaft, die Fortwanderung vom Lande, die nach Serings richtigem Ausdruck die Völkerwanderung zahlenmäßig und an elementarer Gewalt hinter sich läßt und gerade die höchststehenden Landarbeiter ergreift.35Sering hatte die Abwanderung in Industriegebiete als eine wirtschaftliche Notwendigkeit angesehen: „Aber eine Völkerwanderung nach Art derjenigen, welche gegenwärtig den ganzen Osten ergriffen hat, geht weit über dieses natürlich bedingte Maß hinaus." Sering, Kolonisation, S. 7. [477]Der „Klassenkampf“ hat hier andre Formen, er ist „latent“, aber er ist da; wir haben ihn nicht gerufen, sondern nur konstatirt.

Möge man daran sachlich Kritik üben, aber wenn es selbst einem so besonnenen Blatt wie der Post widerfährt, daß ein Skribent darin in einer sehr wohlweisen und etwas anmaßenden Form von „Verirrungen“ der Referenten auf dem Kongreß zu sprechen sich begnügt,36[477] Das Sprachrohr der Deutschen Reichspartei, Die Post, hatte ausführlich über den fünften Evangelisch-sozialen Kongreß berichtet. Die von Weber zitierten Passagen konnten nicht nachgewiesen werden. Siehe Die Post, Nr. 132 vom 17. Mai 1894, Nr. 133 vom 18. Mai 1894, 1. Beilage, Nr. 134 vom 19. Mai 1894, 2. Beilage, und Nr. 138 vom 23. Mai 1894, 2. Beilage. so ist eine derartige weder von Sachkunde noch von Kenntnis dessen, was eigentlich auf dem Kongreß gesagt worden ist, zeugende Bemerkung zwar harmlos, aber doch nur für solche ein geeignetes Schlafmittel, die den Ernst der Lage nicht ahnen. Das Präpariren solcher Schlafmittel besorgen andre hinlänglich, und es ist kein Bedarf darnach, daß der Kongreß sich als Apotheke dafür konstituirt. Es scheint – der Ton des Artikels läßt das erkennen – die Befürchtung bei dem Schreiber obzuwalten, „maßgebende“ Persönlichkeiten möchten sich von so bedenklichen „Konventikeln“ zurückziehen, die mir auch sonst gelegentlich entgegentrat. Nun: wäre das der Fall, so wäre es eben auch einer der Kinderschuhe, die unsern politischen Gewohnheiten anhaften, ebenso wie der lächerliche Zustand, daß politische Parteidifferenzen den geselligen und persönlichen Verkehr alteriren: in dieser Beziehung hätten wir (übrigens gerade auch unsre Liberalen) von England manches zu lernen. Aber daß der Kongreß, der der frischen Luft und der Freiheit der Meinungsäußerung bedarf, auf dem wir Andersdenkenden mit Männern zusammenarbeiten und gern zusammenarbeiten, die, wie Stöcker, gar nicht die Möglichkeit haben, von ihrem Standpunkte aus auch nur die Grundlagen unsers politischen und kirchlichen Denkens als diskutabel, geschweige denn als berechtigt anzuerkennen, – daß der Kongreß auf solche fossile büreaukratische Spießbürger, wenn es, was Gott verhüte, solche geben sollte, Rücksicht zu nehmen hätte, ist denn doch eine vorsündflutliche Ansicht. Das in ein Verwaltungsinventarstück verwandelte Hirn eines Offiziosus kann natürlich keine andre Vorstellung fassen, als daß „die von der Kongreßleitung berufnen Referenten“ eben die Kongreß-Offiziösen sind und die [478]Ansichten irgend einer „Leitung“ halbamtlich deklariren. Dagegen müßte sich, wenn selbständig Denkende es glaubten, das Aktionskomitee verwahren, noch entschiedner aber wir selbst.

An einer besonders widerwärtigen und keineswegs harmlosen Erscheinung hat sich die Kreuzzeitung vermöge eines Restes jener Empfindung, die ihr in der Behandlung politischer Gegner sonst zunehmend abhanden kommt, erfreulicherweise weniger beteiligt: an der Hetze gegen Göhre persönlich, in der neben Norddeutscher Allgemeiner Zeitung die Konservative Korrespondenz den Reigen führt.1)[478] Aus der K[onservativen] K[orrespondenz] stammt z. B. das Artikelchen „Aus der Göhreschen Schule“ gegen Pastor Fabers Rede in Greiz,38Die Conservative Correspondenz, Nr. 72 vom 2. Juli 1894, hatte über die Rede des Pastors Wilhelm Faber auf einer öffentlichen Versammlung in Greiz bei Gera (Thüringen) berichtet, in der sich dieser positiv über Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus“ geäußert und angeblich behauptet hatte, nicht der Arbeiter, „sondern die besitzende Klasse sei es, welche auf Grund ihres Geldbeutels die Bordelle fülle und in Sekt schwimme“. von vielen Blättern und Blättchen mit Vergnügen abgedruckt. | Dem Mammon erscheinen die Sozialdemokraten ungefährlich für seine Interessen, während er Naumann bitter haßt und ihn lieber heute als morgen aus seiner Stellung drängen möchte; – ebenso geht es Göhre. Er ist kein Sozial[A 673]demokrat, deshalb ist auch er „schlimmer als Singer“, und man muß ihn drängen, ebenso „ehrlich“ zu sein wie v. Wächter!37[478] In dem von Weber zitierten Artikel „Ein Versucher“ der Conservativen Correspondenz, Nr. 64 vom 11. Juni 1894, heißt es: „Wer ist schlimmer, Herr Singer oder Herr Naumann? Wir glauben der Letztere. Von Singer weiß jeder, was er für ein Endziel im Auge hat, von Herrn Naumann weiß man es nicht.“ Der sozialdemokratische Politiker Paul Singer war ein bedeutender Mäzen der Arbeiterbewegung. Er war jüdischer Herkunft und Fabrikant. Den württembergischen Predigtamtskandidaten Theodor von Wächter, der seit Sommer 1891 der Sozialdemokratischen Partei angehörte und 1893 für den Reichstag kandidiert hatte, bezeichnete die Conservative Correspondenz als den „charaktervollsten“ jener jüngeren, „mit der Sozialdemokratie liebäugelnden“ Pastoren, da er sich offen zur Sozialdemokratie bekannt habe. – Jeder positive Reformer erscheint dem mobilen und immobilen Kapital gefährlicher als ein negativer Radikaler. Man muß ihn isoliren und in seiner sozialen Stellung boykottiren; deshalb sucht man sich gerade den Geistlichen als Angriffsobjekt heraus, dessen auf Vertrauen beruhende Stellung hierfür die bequemsten Angriffspunkte bietet. Und wenn es auf diese Art gelingen sollte, ihn zu zwingen, sich der Sozialdemokratie in die [479]Arme zu werfen in der vergeblichen Hoffnung, innerhalb derselben für christliche Reformideale arbeiten zu können, dann wird man die Genugthuung haben, triumphirend behaupten zu können: „das habe man ja immer vorausgesehen“. Für diesen Versuch der Propagirung der Sozialdemokratie giebt es keinen parlamentarischen Ausdruck: er ist eine Schande. – Solchen Gegnern keine Konzessionen. Die Geistlichkeit in Stadt und Land kennt sie oder wird sie kennen und „schätzen“ lernen, und dafür sorgt nichts besser als der Abdruck der Artikel dieser Organe in allen kleinen und kleinsten Winkelblättchen der Provinzen.

Der sichtliche Verfall des Selbstgefühls bei einem Stande, der sich diese Preßvertretung gefallen lassen muß, ist eines der Symptome seiner Schwäche, die deutlicher für unsre Zukunftsprognose sprechen, als wir es konnten. Sie werden auch die evangelisch-soziale Bewegung von manchen traditionellen Illusionen befreien, die ihr, wie der Kongreß zeigte, noch anhaften. Und dies ist, wie die Dinge liegen, ein Fortschritt, so wenig erfreulich die Erscheinung an sich ist. |