MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Vortrag in der sog. „kleinen staatswissenschaftlichen Gesellschaft“ am 23. März 1896 in Berlin
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[914][Vortrag in der sog. „kleinen staatswissenschaftlichen Gesellschaft“ am 23. März 1896 in Berlin]

Am 23. März 1896 hat Max Weber einen Vortrag in der sog. „kleinen staatswissenschaftlichen Gesellschaft“ gehalten. In einem Brief vom 24. März 1896 an Marianne Weber heißt es: „Montag – gestern – war ich Mittag bei Oldenberg, Abends hatte ich Vortrag in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft.“1[914] Brief an Marianne Weber, undat. [24. März 1896], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. In einem zweiten, ebenfalls an Marianne Weber gerichteten Brief vom 26. März 1896 berichtet Weber ausführlicher: „Montag bei Oldenberg – der hoffentlich bald nach Marburg kommt. Abends heftige Diskussion in der Staatsw[issenschaftlichen] Gesellschaft bis gegen 1 Uhr, besonders mit Sering, der Anfangs ganz wild, nachher gemütlicher war. Auch Jaffé war da – unverändert, – ebenso Münsterberg, – ebenfalls unverändert“.2Brief an Marianne Weber vom 26. März 1896, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. Das Thema, sowie ein Manuskript oder Mitschriften des Vortrags sind nicht überliefert.

Bei der sog. „kleinen staatswissenschaftlichen Gesellschaft“ handelte es sich um einen Kreis fortgeschrittener Studenten und junger Gelehrter, zumeist Juristen und Nationalökonomen, die sich alle zwei Wochen, jeweils an einem Montag, trafen. Bei Max Weber heißt es: „Ich sehe ganz regelmäßig Altersgenossen der verschiedensten Kategorien in unserer ,staatswissenschaftlichen Gesellschaft‘, der Mehrzahl nach allerdings Juristen und Nationalökonomen.“3Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 7. Sie ist nicht zu verwechseln mit der „Staatswissenschaftlichen Vereinigung“, die vermutlich dem Berliner staatswissenschaftlichen Seminar eng angeschlossen war und der Gustav Schmoller und August Meitzen angehörten.4Siehe oben, S. 908. Sie ist auch nicht zu verwechseln mit der 1883 von Gustav Schmoller begründeten „Staatswissenschaftlichen Gesellschaft“, die ausschließlich renommierte Hochschullehrer und hohe Regie[915]rungs- und Verwaltungsbeamte vereinigte. Diese Gesellschaft traf sich statutengemäß jeweils am letzten Montag eines Monats.5[915] Siehe dazu: vom Bruch, Rüdiger, Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft, in: Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, 1883–1983. – Berlin: Duncker & Humblot 1983, S. 9–69. Weber wird als Referent in den Vortragslisten nicht aufgeführt. Außerdem fanden diesen Listen zufolge nur am 3. und 30. März 1896 Treffen statt, keines aber am 23. März 1896. Vgl. BA Koblenz, Nl. Hans Delbrück, Nr. 24, BI. 134–138.

Hermann Schumacher, der Mitglied der „kleinen staatswissenschaftlichen Gesellschaft“ war, berichtet in seinen ungedruckten Erinnerungen über deren Tätigkeit. Dabei verwechselt er allerdings selbst teilweise die „kleine staatswissenschaftliche Gesellschaft“ mit der „Staatswissenschaftlichen Vereinigung“. Es handelt sich jedoch um die erstere und den aus dieser hervorgegangenen Donnerstagskreis:6Germanisches Nationalmuseum Nürnberg ABK, Nl. Hermann Schumacher, Fasz. 5a, S. 176–178. – Marianne Weber, Lebensbild1, S. 148, identifiziert die „kleine staatswissenschaftliche Gesellschaft“ mit dem Donnerstagskreis; tatsächlich ging letzterer aus ersterer hervor.

„Ganz anderen Halt hatte die Staatswissenschaftliche Gesellschaft. Sie wurde die kleine genannt zum Unterschied von der von Schmoller gegründeten, der ältere Männer in Amt und Würden angehörten. Von ihr hatte ich von verschiedenen Seiten gehört und im Winter 1892/3 wurde ich in sie eingeführt. Ich war erstaunt über das hohe Niveau der hier gepflogenen Verhandlungen. […] Alle überragte Max Weber. Er stand damals […] auf dem ersten, menschlich vielleicht bedeutendsten Höhepunkt seiner Entwicklung. […] Ebenso zeichnete er sich im Gespräch und in der Debatte aus. Eine verblüffende Beschlagenheit auf fast allen Gebieten des neuzeitlichen Lebens verband sich mit einer bewundernswerten Beherrschung des Wortes und meist auch gewinnender Liebenswürdigkeit. Mir war noch kein jüngerer Mann begegnet, der mir einen ähnlichen Eindruck gemacht hatte. Und Max Weber stand nicht allein. Er war unzweifelhaft der Bedeutendste; aber um ihn gruppierte sich eine Schar von Persönlichkeiten, von denen fast jeder etwas Bemerkenswertes aufzuweisen hatte. Ob es mir je gelingen werde, in diesen Kreis hineinzuwachsen? Ich war darüber sehr im Zweifel. Umso mehr erfreute es mich, daß ich aufgefordert wurde, auch an einer kleineren Tafelrunde teilzunehmen, die sich aus Mitgliedern der Staatswissenschaftlichen Vereinigung, die nur alle vierzehn Tage montags eine Sitzung abhielt, zusammensetzte und sich beim Glase Bier jeden Donnerstag versammelte. Zu seinen regelmäßigen Mitgliedern gehörten außer Max Weber und seinem Bruder Alfred, der damals bei Acta Borussica tätige, spätere Berliner Professor Hintze, der spätere Präsident des Preußischen Statistischen Landesamts Evert, der Sekretär des Zentralverbandes Deutscher Industrieller Wilhelm Hirsch, der Syndikus der Diskonto-Gesellschaft Sattler und der merkwürdige Kenner der Kolonialwirtschaft Kärger; außerdem brachte Max Weber manchmal noch Bekannte, die nicht zur Vereinigung gehörten mit, wie Erich Marcks. Ich habe diesem Kreis mehr Förderung als irgendeinem Seminar zu danken. Ihn empfand ich als eine Entschädigung für das ungemütliche Großstadtleben.“