MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands. 1893
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[209][A 535]Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands

Die äußere Veranlassung zu der Enquete, über deren Zweck und wahrscheinliches Ergebnis in Nachstehendem einige vorläufige Mitteilungen gemacht werden sollen, bot die Publikation der Ergebnisse einer umfassenden Erhebung, die der „Verein für Sozialpolitik“ über den gleichen Gegenstand veranstaltet hatte. Der gedachte Verein hatte sich, nach dem Muster früherer, in den Jahren 1849 und 1873 veranstalteter Ermittelungen,1[209]Gemeint sind die vom preußischen Landesökonomiekollegium 1848/49 und vom Kongreß deutscher Landwirte 1873 durchgeführten Erhebungen über die ländliche Arbeiterfrage. Die Ergebnisse wurden 1849 von Alexander von Lengerke unter dem Titel „Die ländliche Arbeiterfrage“ bzw. 1875 von Theodor von der Goltz unter dem Titel „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich“ veröffentlicht. durch Versendung eines Fragebogens an etwas über 3000 ländliche Arbeitgeber in ganz Deutschland gewendet und von über zwei Dritteln der Befragten mehr oder weniger ausführliche Beantwortungen erhalten;2Von insgesamt 3742 abgesendeten Fragebögen wurden 2568 beantwortet. Thiel, Einleitung. S. X. dagegen hatten die Mittel des Vereins nicht ausgereicht, er auch die äußere Möglichkeit nicht gehabt, innerhalb seiner Erhebung auch die Landarbeiter selbst zu Worte kommen zu lassen. Es war das namentlich von sozialistischer Seite als eine ungerechtfertigte Einseitigkeit heftig getadelt worden,3Kritik dieser Art wurde insbesondere im Sozialpolitischen Centralblatt, im Vorwärts und in Die Neue Zeit geübt. Genauere Nachweise oben, S. 120, Anm. 2 und 4. und wenn auch dem Verein nach Lage der Umstände ein Vorwurf aus der Unzulänglichkeit seiner Mittel nicht gemacht werden darf, so kann doch schlechterdings nicht bestritten werden und ist auch von keiner Seite bestritten worden, daß eine Kontrolle der Angaben und noch mehr der immerhin oft recht subjektiv gefärbten Urteile der Arbeitgeber durch Befragung andrer Vertrauensmänner dringend erwünscht erscheinen mußte.

[A 536]Eins – das scheinbar Nächstliegende – konnte dabei nicht in Frage kommen: die Arbeiter selbst in Gestalt der Versendung eines Frage[210]bogens an sie heranzuziehen. Es ist diese Möglichkeit bisher von keiner Seite behauptet worden, und jeder, der die Eigenart dieser Arbeiter, wie sie wenigstens in dem überwiegenden Teile Deutschlands und speziell im Osten ausgeprägt ist, kennt, weiß, daß ein solches Vorgehen erhebliche Verwirrung gestiftet, aber kein sachliches Ergebnis gehabt hätte. An die Arbeiter selbst konnte man nur im Wege entweder der direkten persönlichen Lokalrecherche gelangen oder – und das konnte allein in Frage kommen – auf dem Umwege, daß man ortsangesessene und möglichst unbefangne Mittelspersonen mit ihrer Befragung betraute. Als solche konnten im wesentlichen nur die Geistlichen und die Ärzte auf dem Lande in Betracht gezogen werden. Nun hätte man über die materielle Situation, speziell über die hygienische Seite der Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse wohl mit größerer Wahrscheinlichkeit von den Landärzten wirklich sachverständige Auskunft erhalten.4[210]Ein schlesischer Arzt hatte sich in der Zeitschrift Das Land mit dem Vorschlag, Landärzte zu befragen, zu Wort gemeldet. Weber hatte zu diesem Vorschlag Stellung genommen, siehe oben, S. 156. Dem stand aber einmal die äußerliche Unmöglichkeit entgegen, von einer Zentralstelle sich die Adressen der ungeheuern Zahl von Landärzten im Reiche zu verschaffen, und dann war auch ihre Bereitwilligkeit zur Beantwortung im allgemeinen recht fraglich. Beide Schwierigkeiten waren bei den Landgeistlichen ganz erheblich geringer. Endlich aber und namentlich hatten die bisherigen Enqueten die Wahrscheinlichkeit ergeben, daß die Probleme, die die Lage der Landarbeiter bietet, in ganz hervorragendem Maße auf dem psychologischen Gebiet liegen.

Wenn diese Gründe dafür sprachen, den Versuch zunächst bei den Geistlichen zu machen, so wird es kaum einer besondern Begründung dafür bedürfen, daß gerade der Evangelisch-soziale Kongreß die Befragung der Geistlichen in die Hand nahm. Auf Veranlassung des Ausschusses des Kongresses arbeitete deshalb dessen Generalsekretär, Herr Paul Göhre, dem der Unterzeichnete manche bei der Erhebung des Vereins für Sozialpolitik gemachte Erfahrungen zur Verfügung stellen konnte,a[210]In A bindet die redaktionelle Anmerkung an: Herr Göhre bemerkt hierzu, daß der Verfasser obigen Artikels ebenso viel Anteil an den Fragebogen habe wie er. D[er] H[erausgeber]. einen vorläufigen Entwurf eines Frage[211]bogens aus, der in mehrfachen Sitzungen des Aktionskomitees, speziell vonseiten der Herren Ökonomierat Nobbe und Professor Adolf Wagner, eingehend kritisirt und erörtert und in seiner demgemäß verbesserten Form zur Versendung gelangt ist. Die Unmöglichkeit, aus der Gesamtheit der deutschen evangelischen Pfarreien diejenigen auszusondern, die nur oder überwiegend ländliche Distrikte umfaßten, nötigte dazu, den Fragebogen an alle überhaupt existirenden Pfarrämter, d. h. in rund 15 000 Exemplaren, zu versenden. Der Vorschlag, die zur Berichterstattung geeigneten Geistlichen durch die Superintendenturen auswählen und bezeichnen zu lassen, wurde, meines Erachtens mit Recht, abgelehnt, weil jeder Anschein eines auch nur „halbamtlichen“ Charakters der Erhebung aus mannigfachen und naheliegenden Gründen vermieden werden mußte, auch keineswegs feststand, inwieweit die Stellungnahme der kirchlichen Obern eine freundliche sein würde.

Der Fragebogen wurde im Dezember mit einem Anschreiben versendet, das um Einsendung der Antworten bis zum 15. März bat – später wurde der Termin auf mehrseitiges Verlangen bis 1. Mai hinausgeschoben – und sich im übrigen über Zweck und Methode der Erhebung aussprach.5[211]Das Anschreiben ist abgedruckt in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 1 von Januar 1893, S. 6f. Es ist unterzeichnet von dem 1. Vorsitzenden Moritz Nobbe und dem 2. Vorsitzenden Adolf Stoecker sowie dem Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses Paul Göhre; es ist mit „Neujahr 1893“ datiert. In der redaktionellen Einleitung zu dem Anschreiben heißt es: „In diesen Tagen werden die Fragebogen und das dazu verfaßte Anschreiben verschickt.“ Ebd., S. 6. Es wurde darin das dringende Ersuchen ausgesprochen, grundsätzlich lediglich Angaben der Arbeiter der Beantwortung zu Grunde zu legen und jedenfalls, wo aus eigner Erfahrung und aus andern Quellen geschöpft werde, dies im einzelnen erkennbar zu machen.

Der Fragebogen, auf dessen Inhalt hier etwas näher eingegangen werden soll, zerfällt äußerlich in vier Abschnitte, von denen der erste die allgemeinen zur Orientirung über Ursprungsort und allgemeine landwirtschaftliche Verhältnisse erforderlichen Fragen, der zweite solche über die Beschaffung des Lebensbedarfs der Arbeiter, Arbeitsgelegenheit und Familienleben, der dritte die Einkommensverhältnisse im einzelnen und der letzte einige unter der Bezeichnung „Ethische und soziale Verhältnisse“ zusammengefaßte Fragen allgemeiner Art enthält, ohne daß die [A 537]im einzelnen ziemlich willkürliche [212]Scheidung der Fragen auf systematischen Wert Anspruch machen könnte.

Es ist dem Fragebogen nun zunächst die große Zahl der gestellten Fragen vorgeworfen worden – das Sächsische Kirchen- und Schulblatt hat deshalb seine Versendung als eine „Zumutung“ bezeichnet, die mit „Totschweigen“ beantwortet zu werden verdiene.6[212]Das Sächsische Kirchen- und Schulblatt, Nr. 8 vom 23. Febr. 1893, Sp. 74, bezeichnete die Forderung nach der Beantwortung der Fragebögen bis zum 15. März 1893 als eine „Zumuthung“. Schon die Sammlung des für die Beantwortung nötigen Stoffes würde die „Arbeiterschaft in die größte Aufregung“ versetzen und die Geistlichen nur unnötig mit Arbeit beschweren: „So dürfte unsere einzige Antwort für Herrn Göhre sein – Todtschweigen!“ Einzelne Berichterstatter finden, die Fragen seien bei den einzelnen Punkten derart gehäuft und zusammengeschachtelt, daß man „nervös“ werde. Von wissenschaftlicher Seite wurde darauf hingewiesen, daß eine große Anzahl der Fragen – die über Kindersterblichkeit, Heiratsalter u.s.w. – aus der Statistik korrekter zu beantworten seien und lediglich zu unrichtigen Generalisationen verleiten würden.7Auf welche Stellungnahmen Weber hier anspielt, konnte nicht ermittelt werden. Dem allem ist zunächst entgegenzuhalten, daß der Fragebogen keineswegs nur den Zweck verfolgt, neues Beobachtungsmaterial zu erfragen; mindestens ebenso wichtig war der fernere, den Landgeistlichen Anregung zu systematischer Beobachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Gemeindeglieder auch in ihrem eignen Interesse zu geben, und hierzu war eine ebenfalls systematische Aufstellung möglichst aller der Fragen geboten, die für die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiter überhaupt in Frage kamen. Es wurde auch nicht von der Voraussetzung ausgegangen, daß alle einzelnen Nebenfragen beantwortet werden müßten.

Im ersten Abschnitt des Fragebogens sind zunächst Fragen nach dem Ursprungsort, der Art der Besitzverteilung und der Bodenbewegung, den vorkommenden Kategorien von Arbeitern und ihrem Zahlenverhältnis untereinander und zur Größe der Wirtschaften gestellt, namentlich auch darnach, inwieweit Arbeitskräfte durch Heranziehung von Wanderarbeitern von auswärts beschafft werden, ferner nach der Art der Fruchtfolge, der Höhe der üblichen Bodenpachten und insbesondre, um einen konkreten Anhalt zu haben, nach den für etwaige Schul- und Pfarräcker erzielten Pachten und den Grundsätzen, nach denen die Verpachtung (an Bauern oder an [213]kleine Besitzer oder Arbeiter) erfolgt. Der zweite Abschnitt fragt zunächst, bis zu welcher Größe des Besitztums ansässige Leute auf Lohnarbeit als Ergänzung der Einnahme angewiesen sind – eine Angabe, die im allgemeinen ein charakteristischeres Bild von der Bodengüte giebt als andre Zahlen, und wendet sich dann den Wohnungsverhältnissen zu. Es wird nach Zahl, Größe, Ausstattung, Qualität der Zimmer, speziell der Schlafräume, Zahl der Betten im Verhältnis zur Zahl der Familienglieder, Gesindestuben, Unterkünften für die „Sachsengänger“ (auswärtige Wanderarbeiter) und nach der Höhe des Mietzinses oder der Zahl der Arbeitstage, die für die Wohnung zu leisten sind – das Abarbeiten der Wohnung ist im Osten die Regel –, gefragt. Hier wie sonst wird ausdrücklich um Angabe von Beschwerden gebeten, die – gleichviel ob mit Recht oder Unrecht – seitens der Arbeiter erhoben zu werden pflegen. Es gelangen dann die Fragen nach der Beschaffung des Brennwerks und nach den von den Arbeitern benutzten Einkaufsstellen für Lebensbedürfnisse zur Erörterung. Sodann ist ziemlich spezialisirt nach der Art der Ernährung gefragt, zunächst den – von den städtischen Marktpreisen oft ziemlich unabhängigen und nicht immer niedrigern – Kosten der wichtigsten Nahrungsmittel (Kartoffeln, Brot, Milch, Fleisch) an Ort und Stelle, dann nach der Art der Beköstigung (Selbstbeköstigung, Beköstigung durch den Arbeitgeber), ferner im einzelnen nach der Zusammensetzung der Nahrung (Zahl der Fleischmahlzeiten, Brot- und Kartoffelkonsum, Alkoholkonsum). Es ist wohl kaum allgemein bekannt, wie ungemein groß die Unterschiede gerade der typischen Ernährungsweise auf dem Lande sind, daß es im Norden (Mecklenburg) Gegenden giebt, wo eine tägliche, und andre nicht minder fruchtbare (Schlesien), wo eine wöchentliche Fleischmahlzeit als günstiges Durchschnittsmaß gilt, der Brotkonsum um mehr als das Doppelte schwankt u.s.w. Es handelt sich da um gewaltige Differenzen der Bedürfnisse, damit aber hängt das gesamte Kulturniveau, und ferner die Bedeutung des Alkoholgenusses für den Körper derartig zusammen, sodaß gerade diese scheinbar rein äußerlichen und kleinlichen Momente von geradezu grundlegender Bedeutung sind.

Des weitern wird von der Art und Zeitdauer der Arbeitsgelegenheit, dem Berufswechsel und den Folgen von Arbeits[A 538]losigkeit oder Arbeitermangel und sodann von der Arbeitszeit, den Pausen, der Sonntagsruhe gehandelt. Hier wie immer ist auf die durchaus not[214]wendige Scheidung der verschiednen Kategorien von Arbeitern gedrungen. Es folgen einige Fragen nach dem materiellen Einfluß etwaiger Maschinenarbeit, sowie endlich nach der Art der Krankenversorgung und der Armenhäuser und die bei den Arbeitern darüber herrschenden Ansichten.

Bei Behandlung des Familienlebens, auf das sich der nächstfolgende Fragekomplex bezieht, ist die zentrale Frage stets, in welcher Weise im allgemeinen der Lohnerwerb sich verteilt, ob die Frau stark, wenig oder gar nicht daran beteiligt ist, und in welcher Weise sie etwa in der eignen Wirtschaft (durch Viehzucht, Arbeit auf eignem Land u.s.w.) produktiv thätig ist. Es ist von ganz wesentlichem Interesse, zu erfahren, welche von beiden Arten der Beschäftigung die Stellung der Frau am meisten hebt, und welche, rein wirtschaftlich betrachtet, die rationellere ist, und es hat sich im Gegensatz zu oft gehörten Meinungen auch hier gezeigt, daß diese Frage durchaus nicht immer im selben Sinne zu beantworten, sondern von sehr mannigfachen Umständen abhängig ist. Selbstverständlich sind bei dieser Gelegenheit auch die naheliegenden Fragen nach den Mißständen, die die Lohnarbeit der Frau nach sich zieht, gestellt und auch die fernere, wie es mit der „Schonung von Wöchnerinnen“ steht – ein Begriff, der teilweise bekanntlich auf dem Lande noch völlig fehlt.

Näher eingegangen wird ferner auf das Heiratsalter; es ist überraschend, wie allgemein die bekannte Thatsache, daß das Proletariat früher heiratet und kinderreicher ist als die Besitzenden (Bauern), sich in den Angaben der Berichtenden wiederspiegelt. Es gehört hierher weiter die Frage, inwieweit die Vorwegnahme des ehelichen Zusammenlebens die Regel bildet und die eheliche Treue gewahrt wird: beides pflegt auf dem Lande, wie im allgemeinen ja bekannt, in einer für unsre Begriffe eigentümlichen Weise mit einander verbunden zu sein. Die fernere Frage nach Kinderzahl und Kindersterblichkeit hat, trotz den vorhandnen statistischen Daten, manche nicht uninteressante Bemerkungen zu Tage gefördert, ebenso die Frage nach dem Vorkommen bewußter Beschränkung der Kinderzahl. Es ist sodann auch um Ermittlung des Umfangs, der Art, der Wirkungen der Kinderarbeit, des Verhaltens der Arbeiter dazu, ferner der Stellung der Halberwachsenen bis zur Militärzeit und ihres pekuniären und sittlichen Verhältnisses zu den Eltern ersucht und endlich ein Komplex von Fragen den alten und invaliden Familiengliedern, der [215]oft vorkommenden „Abschiebung“ solcher Leute wegen befürchteter Armenlasten und der Wirkung der sozialpolitischen Gesetze hierauf und auf die Stimmung der Arbeiter gewidmet.

Es ist leicht ersichtlich, daß die zuletzt berührten Gegenstände – die Fragen des Familienlebens – dem Interessenkreise der Berichterstatter besonders nahe liegen, und daß die Berührung der rein materiellen Fragen mit den höchsten ethischen Interessen hier besonders leicht erkennbar ist. Das ist sowohl bei den oben erwähnten Fragen der Ernährungsweise, als bei dem nun folgenden, die Einkommensverhältnisseb[215]A: Einkommenverhältnisse im einzelnen behandelnden Abschnitt in sehr viel geringerm Maße der Fall. Es war eine Frage von prinzipieller Bedeutung, ob aus diesem Grunde diese Fragen entweder gänzlich fortzulassen oder doch erheblich zu beschränken seien. Der Inhalt der Antworten aber, die eingegangen sind, zeigt, daß das ein schwerer Fehler gewesen wäre. Das Material, das über die Details des Arbeiterhaushalts auf Grund dieser Fragen geliefert worden ist, hätte auf keinem andern Wege und durch keine andern Mittelspersonen beschafft werden können. Es konnte nur durch die strenge Forderung ganz konkreter materieller Angaben vermieden werden, daß die Berichterstatter sich auf allgemeine Klagen beschränkten, und es ist anzunehmen, daß der Zwang, sich ganz konkret ins Einzelne zu vertiefen, ihnen selbst oft Gelegenheit bot, auf völlig neue Gesichtspunkte auch über die Existenzbedingungen eines gesunden Familienlebens zu stoßen. Aus einer nicht geringen Anzahl von Berichten geht das hervor, es ist vielleicht manchem Referenten ergangen wie einem von ihnen, der gesteht, wie „be[A 539]troffen“ er gewesen sei, als er mit einem nach seiner Ansicht gut gestellten Tagelöhner den Minimalbedarf der Familie und ihr Einkommen bis ins Einzelne aufgestellt und sich dabei in jedem Punkte von der Unmöglichkeit, dabei menschenwürdig und schuldenfrei zu existiren, überzeugt habe.

Der Fragebogen scheidet außer dem ledigen Gesinde die „freien“, d. h. kontraktlich nicht gebundnen und meist nur in Geld gelohnten von den in dauerndem Kontraktverhältnis stehenden und im Norden und Osten überwiegend in Naturalien (Land, Deputaten, Viehweide) abgelohnten Arbeitern. Es ist in erster Linie, soweit dies den Verfassern möglich sein würde, um Aufstellung detaillirter Budgets [216]auf Grund der Angaben der Arbeiter ersucht und sind solche von den Referenten teilweise in ausgezeichneter Vollständigkeit geliefert worden. Festgestellt sollte jedenfalls werden: welchen Teil des Bedarfs die Arbeiter aus dem eignen Lande oder den Naturalien decken, was sie an Nahrungsmitteln zukaufen müssen, oder ob und wieviel sie an Getreide oder landwirtschaftlichen Produkten aus ihrem Deputat noch verkaufen können. Es ist das für das Verhältnis der Interessen des Gutsherrn, der stets an hohen, und des Arbeiters, der, wenn er zukaufen muß, an niedrigen Preisen der Nahrungsmittel ein Interesse hat, das in letzter Linie entscheidende Moment. Die Fragen, inwieweit den Arbeitern nach ihren Angaben die Eigenwirtschaft als erwünscht gilt oder nicht und weshalb nicht, ob und wie sich eine Verschiebung zwischen den einzelnen Arbeiterkategorien vollzieht und eventuell warum und welche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses den Arbeitern selbst – mit Recht oder Unrecht – als die erstrebenswerteste gilt, schließen sich naturgemäß an.

Spezielle Aufmerksamkeit sollte nach der Fragestellung den meist recht unerfreulichen Verhältnissen der sogenannten Hofgänger, d. h. der von den Arbeitern im Osten für den Dienstherrn als zweite oder dritte Arbeitskraft zu haltenden Dienstboten, zugewendet werden.

Die letzte Gruppe der Fragen, Abschnitt 10 des Fragebogens,8[216]Es handelt sich um den Abschnitt „IV. Ethische und soziale Verhältnisse.“ Siehe unten, S. 703–705. Die Angabe „Abschnitt 10“ ist vermutlich ein Druckfehler, da Webers Beschreibung mit dem unten abgedruckten Fragebogen ansonsten übereinstimmt. behandelt zunächst die Herkunft und Abstammung der Landarbeiter, die Aus- und Abwanderung und den Einfluß der Bevölkerungsfluktuation und der modernen Wirtschaftsweise in psychologischer Beziehung, ferner den Umfang des Sparsinns, des Lektürebedürfnisses, das Verhältnis zu Schule und Kirche, endlich die Beziehungen zu den Arbeitgebern und Gutsbeamten, etwaige Arbeiter- oder Arbeitgeberverbände und den Stand der sozialistischen Agitation. –

Man sieht, die Anforderung, mit der der Kongreß an die Geistlichen herantrat, war eine auch quantitativ ganz gewaltige. Es kann vorläufig nur mit Genugthuung konstatirt werden, daß die Erwartungen, die man dabei hegte, durch den Erfolg weit übertroffen worden sind.

[217]Das quantitative Ergebnis anlangend, so beträgt die Gesamtzahl der bisher eingegangnen Berichte rund 980, es sind noch weitere zugesagt, sodaß im ganzen gegen 1000 vorliegen werden. Von den 15 000 Befragten sind etwa 9000 Landgeistliche, es haben also etwas über zehn Prozent geantwortet, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß ein Teil der Antworten zusammengefaßte Berichte von bis zu etwa zwanzig Geistlichen einer Gegend darstellen, die die Antwort gemeinsam redigirt haben. In nicht ganz seltenen Fällen ist die Beantwortung ausdrücklich abgelehnt worden, teils weil sie zu viel Arbeit mache, teils weil die Befragung der Arbeiter Mißtrauen erregt habe, teils unter allerlei andern Gründen, schmählicherweise auch mehrfach, weil – einerseits – der Hofprediger Stöcker, oder – andrerseits – der Professor Harnack zu den Ausschußmitgliedern gehörten, als ob das mit der Sache etwas zu thun hätte.9[217]Adolf Stoecker und Adolf von Harnack verkörperten die unterschiedlichen Richtungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, und zwar sowohl in kirchen- als auch in sozialpolitischer Hinsicht. Stoecker vertrat die konservativ-positive Richtung und die patriarchalische Variante der Sozialpolitik. Harnack war Haupt der vom Ritschlianismus beeinflußten freien theologischen Richtung; er stand der Sozialpolitik Stoeckerscher Observanz skeptisch gegenüber. Einige Synoden haben die Verweigerung der Antwort beschlossen, an andern Stellen haben umgekehrt die kirchlichen Obern sich für den Gegenstand interessirt – kurz, es zeigt sich ein äußerst buntes, vielfach nicht uninteressantes pastoralpsychologisches Bild. Einige Bearbeiter haben auf die ganze Angelegenheit geringes Gewicht gelegt und sich begnügt, den Fragebogen mit einigen Randglossen zu versehen, ein andrer wieder hält die Sache für so epochemachend, daß er den Bericht dem Knopf der im Bau begriffenen Kirche einverleiben will.

[A 540]Das Wichtigste ist, daß die Qualität der überwiegenden Zahl der Berichte eine ganz über alle Voraussicht gute ist. Zunächst ist die Zuverlässigkeit eine große. Einigen wenigen Berichten aus dem Osten merkt der Kundige wohl die waltende Hand des ländlichen Patrons etwas an; die Anweisung, besonders anzugeben, wo andre Quellen als Angaben der Arbeiter benützt sind, ist aber im allgemeinen gewissenhaft beobachtet; ein großer Teil der Berichte giebt genau an, wie die Daten gewonnen sind, und läßt erkennen, daß dabei in durchaus zweckmäßiger und sorgfältiger Weise und namentlich unter Heranziehung der Arbeiter in einem Maße, wie das bisher [218]noch niemals versucht worden ist, verfahren wurde. Der Umfang der Berichte ist oft ein sehr bedeutender, ein ostpreußischer Bericht ist vom Verfasser gedruckt und umfaßt vierzig Druckseiten.10[218]Gemeint ist vermutlich die Schrift des ostpreußischen Pastors Carl Ludwig Fischer, Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche. – Königsberg: Gräfe & Unzer o. J. [1893]. Max Weber befaßte sich in dem Artikel „Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter“ (unten, S. 275–281) ausführlich mit dieser Schrift. Es sind das systematische Monographien, die einen dauernden kulturhistorischen Wert haben. Die große Präzision, die Beschränkung auf konkretes Thatsachenmaterial und das praktische Verständnis für den landwirtschaftlichen Betrieb verdienen vollste Anerkennung und zeigen aufs schlagendste das Thörichte des Glaubens, daß die Geistlichen für Anfragen dieses Inhalts nicht die richtige Adresse seien. Die Mehrzahl der Berichte verdient vor allem, was die Befragung der Gutsbesitzer durch den Verein für Sozialpolitik an Berichten erzielt hat, durchaus den Vorrang.

Dem Herkunftsort nach verteilen sich die Berichte wie folgt:11Diese Tabelle, nur in anderer Gliederung, stellte Paul Göhre an den Anfang seines Vortrags über die Enquete auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß. Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. – Berlin: Rehtwisch & Langewort 1894, S. 43. Zu Webers und Göhres Referaten vgl. unten, S. 308–312.

Provinz Ostpreußen 32Thüringische Staaten48
Provinz Westpreußen14Provinz Westfalen und Lippe21
Provinz Posen17Provinz Hessen-Nassau und
Waldeck
46
Provinz Schlesien58
Provinz Pommern50Großherzogtum Hessen70
Provinz Brandenburg95Rheinprovinz22
Großherzogtum Mecklenburg24Elsaß-Lothringen 2
Provinz Sachsen und Anhalt141Baden43
Königreich Sachsen54Württemberg92
Provinz Schleswig-Holstein24Bayern52
Provinz Hannover, Oldenburg und Braunschweig72

Dies Material ist, darüber kann kein Zweifel sein, ein ganz hervorragendes, wie es in ähnlicher Art wohl auf wenigen Gebieten zur Verfügung stehen dürfte. Aber allerdings stehen wir ihm insofern [219]fast ratlos gegenüber, als wir bisher nicht im klaren sind, wie es verarbeitet werden soll. Wer derartige Zusammenarbeitungen nie gemacht hat, kann sich von dem Umfange dieser Arbeit schlechterdings keine Vorstellung machen. Jedenfalls dürfen die Ansprüche nach dieser Richtung nur auf ein bescheidnes Maß gestellt werden; die eigentliche Frische der Darstellung, die den Leser an den Originalberichten erfreut, wird überwiegend verloren gehen.

Es wird nunmehr Sache des Kongresses und seines Aktionskomitees sein, zunächst zu erwägen, welche Form die für die Bearbeitung passendste ist. Diesen Erörterungen soll hier ebensowenig vorgegriffen werden wie den künftigen Mitteilungen aus dem Inhalt der Berichte. Hier sollte nur die Art und das äußere Ergebnis der Erhebung in Kürze dargestellt werden.