MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

MWG I/4: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892–1899, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff (1993)
Bände

[1]Einleitung

1. Zum zeitgeschichtlichen Kontext der Schriften und Reden Max Webers zur Landarbeiterfrage und zur Volkswirtschaftspolitik

Der hier vorgelegte Band enthält die Schriften, Reden, Vorträge und sonstigen Texte Max Webers zur Agrarpolitik und zu zahlreichen, damit in Zusammenhang stehenden politischen Themen aus den Jahren 1892 bis 1899. Er knüpft unmittelbar an Band I/3 der MWG an,1[1]Hg. von Martin Riesebrodt. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. der Max Webers Auswertung des ostelbischen Teils der großen Enquete des Vereins für Socialpolitik enthält, die 1892 unter dem Titel „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ in den Schriften des Vereins für Socialpolitik erschien und den jungen Privatdozenten mit einem Schlage zu einem bekannten Mann machte. Max Weber stellte die Ergebnisse der Enquete und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und politischen Schlußfolgerungen nicht nur im Kreis der engeren Fachkollegen vor, sondern zugleich auch der breiteren Öffentlichkeit in einem reichen Strom von Abhandlungen, Aufsätzen sowie Vorträgen und Vortragsreihen. Der Ertrag der ersten Werkphase Max Webers nach dem Abschluß der Habilitation am 1. Februar 1892 bis zu seiner Erkrankung im Sommer 1899 war quantitativ höchst umfangreich. Es nötigt Bewunderung ab, mit welcher Energie und unermüdlichen Schaffenskraft sich Max Weber in diesen Jahren gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Gebieten aktiv engagierte und in den zeitgenössischen agrarpolitischen Auseinandersetzungen immer wieder mit bemerkenswerten Stellungnahmen zur Sache aufzuwarten verstand, obschon er gleichzeitig ein gewaltiges Arbeitspensum an Vorlesungen und Vorlesungsvorbereitungen zu bewältigen hatte.2Die Vorlesungen Max Webers werden in der Abt. III der MWG veröffentlicht werden. Näheres siehe unten, S. 39ff.

Die Eckpfeiler dieses Œuvres bilden das Referat über „Die ländliche Arbeitsverfassung“ auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in BerlinNDruckfassung der MWG: Posen am 20./21. März 1893, auf der die Lage der ländlichen Arbeiterschaft allgemein zur Debatte stand, die Abhandlung „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter“, in der er die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen seiner Analyse der ostelbischen Landarbeiterfrage einem breiteren Publikum vorstellte, sowie die Freiburger Akademische Antrittsrede „Der Nationalstaat und die Volkswirt[2]schaftspolitik“. Daneben steht eine große Zahl von kleineren Abhandlungen, Aufsätzen, Gutachten, Rezensionen, Vorträgen und sonstigen öffentlichen Stellungnahmen, die uns allerdings zu einem Teil nur in indirekten Textzeugen, jedoch überwiegend von hervorragender Qualität überliefert sind; sie decken ein bemerkenswert großes Feld ab und haben eine beachtliche Breitenwirkung entfaltet.

Max Webers agrarwissenschaftliche und agrarpolitische Arbeiten der Jahre 1892 bis 1899 entstanden in einer Zeit großer politischer Instabilität und eines krisengeschüttelten politischen Systems. Der Sturz Bismarcks im Frühjahr 1890 warf lange Schatten auf die politischen Verhältnisse; große Teile der Öffentlichkeit orientierten sich weiterhin an den, freilich idealisierten, Verhältnissen der Ära Bismarcks. Die teils direkten, teils anonymen Attacken des Fürsten Bismarck und seines Sohnes Herbert auf die Regierung Caprivi, für die sie sich vornehmlich der Hamburger Nachrichten als eines Sprachrohrs bedienten, trugen nicht eben zur Hebung der Autorität der Reichsleitung bei.3[2]Stribrny, Wolfgang, Bismarck und die deutsche Politik nach seiner Entlassung (1890–1898). – Paderborn: Ferdinand Schöningh 1977, S. 21–55. Zwischen dem politischen Kurs des Reichskanzlers Caprivi, der um eine Politik des Ausgleichs und der Verständigung mit den bürgerlichen Parteien im Reichstag bemüht war, und jenem des hochkonservativen preußischen Staatsministeriums, in dem sich der Reichskanzler immer weniger durchzusetzen vermochte, hatte sich ein tiefer Spalt geöffnet, der die Entscheidungskraft der Regierungen zunehmend lähmte. 1892 legte Caprivi, um für eine Politik des Entgegenkommens gegenüber den Parteien im Reichstag den Rücken frei zu haben, die Ministerpräsidentschaft in Preußen nieder. Der Gedanke dabei war, Preußen hinfort ebenso wie die anderen Bundesstaaten zu behandeln und sich dem Druck der hochkonservativen Kräfte in Preußen zu entziehen. Aber auf diese Weise konnte die schleichende Verfassungskrise, die durch das Auseinanderdriften Preußens und des Reiches verursacht wurde, keinesfalls überwunden werden.4Mommsen, Wolfgang J., Die latente Krise des Wilhelminischen Reiches. Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890–1914. – Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, S. 295–298. Im Gegenteil, die Trennung der beiden höchsten Regierungsämter machte die Dinge nur noch schlimmer.

Es kam hinzu, daß Caprivi wegen der Politik der Handelsverträge mit zahlreichen europäischen Staaten, die durch eine Senkung der Schutzzölle für Agrarprodukte bessere Ausgangsbedingungen für die deutschen industriellen Exporte zu schaffen bemüht war, von der Konservativen Partei und von dem 1893 gegründeten „Bund der Landwirte“, einer unter konservativer Führung stehenden, aber populistisch operierenden Massenorganisation der agrarischen Interessen, immer schärfer angegriffen wurde. Die [3]Voraussetzungen für eine gemäßigte Politik der Mitte waren dergestalt immer weniger gegeben. In der Umgebung Wilhelms II. gewannen die Anhänger eines hochkonservativen politischen Kurses, die gegebenenfalls auch einen Konflikt mit den Parteien des Reichstags nicht scheuten, zunehmend an Einfluß, und Caprivi konnte diesen Bestrebungen angesichts der unsicheren parlamentarischen Konstellation im Reichstag, die ihm keinen festen Rückhalt in einer geschlossenen Parteienmehrheit gewährte, nichts entgegensetzen.

Die Zuspitzung der inneren Lage kam auch in einer dramatischen Verschärfung des Verhältnisses zur Arbeiterschaft und zur Sozialdemokratie zum Ausdruck. Zu Beginn seiner Regierung hatte Wilhelm II. mit den „Sozialpolitischen Erlassen“ vom Februar 1890, die noch unter der Ägide Bismarcks, wenn auch gegen dessen Widerstand und ohne dessen verfassungsmäßig vorgeschriebene Gegenzeichnung ergangen waren, eine neue Ära fortschrittlicher Sozialpolitik in Aussicht gestellt. Die kaiserliche Initiative war damals von der Öffentlichkeit außerordentlich positiv aufgenommen worden, und selbst im Lager der Sozialdemokratie fanden sich einzelne wohlwollende Stellungnahmen. Dies hatte dazu beigetragen, daß sich auch die Evangelische Kirche für den Gedanken einer Politik umfangreicher Sozialreformen öffnete; so kam es zur Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses, der es sich zur Aufgabe stellte, den Gedanken einer fortschrittlichen Sozialpolitik, die die bestehende Kluft zwischen Staat und Arbeiterschaft schließen sollte, auch im kirchlichen Raum zur Geltung zu bringen. Jedoch versiegte der Strom der Reformbereitschaft bei Hofe binnen weniger Jahre wieder und machte seit 1893 einer ausgeprägt reaktionären Einstellung Platz. Die Evangelisch-soziale Bewegung wurde von Wilhelm II. zurückgepfiffen: „Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, der ist auch sozial; christlich-sozial ist Unsinn […]. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiel lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.“5[3]Zit. bei Oertzen, Dietrich von, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte. – Berlin: Vaterländische Verlags- und Kunstanstalt 1910, Band 2, S. 162.

Auf sozialpolitischem Gebiet wurde nunmehr wieder auf einen Repressivkurs umgeschwenkt. Ungeachtet der ablehnenden Haltung des Reichskanzlers schmiedete die preußische Regierung an einem neuen Ausnahmegesetz, das das 1890 im Reichstag abgelehnte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, das gemeinhin als Sozialistengesetz bekannt war, ersetzen sollte. Als sich dies wegen des Widerstands des Reichskanzlers und der ablehnenden Haltung der Parteien des Reichstags nicht realisieren ließ, wurde unter Caprivis Nachfolger Fürst [4]Hohenlohe noch Ende 1894 eine „Umsturzvorlage“ im Reichstag eingebracht. Diese sollte den Staatsbehörden ein umfassendes Instrumentarium von rechtlichen Handhaben verschaffen, um aufgrund des geltenden Rechts gegen alle oppositionellen und potentiell staatsgefährdenden Elemente vorgehen zu können. Die „Umsturzvorlage“ löste nach ihrem Bekanntwerden sogleich einen Proteststurm in der Öffentlichkeit aus. Sie hätte es angesichts ihrer reichlich allgemein gehaltenen Straftatbestände den Staatsbehörden ermöglicht, nicht nur die sozialdemokratische Agitation, sondern alle politisch mißliebigen und mit der Regierungsmeinung nicht konformen Richtungen unter Verfolgung zu stellen. Die Konzession an das Zentrum, wonach auch die Verächtlichmachung der Religion und der Kirchen gegebenenfalls zum Straftatbestand erhoben werden könne, machte die Sache nur noch schlimmer. Insbesondere das liberale Bürgertum reagierte mit großer Schärfe gegen die „Umsturzvorlage“, unter anderem in einer Flut von öffentlichen Protesterklärungen. Auch die Wissenschaft blieb nicht untätig. Max Weber beteiligte sich aktiv an einer von führenden Nationalökonomen verfaßten Protestresolution, die mit großer Eindringlichkeit gegen die reaktionären Tendenzen der „Umsturzvorlage“ Einspruch erhob.6[4]Vgl. unten, S. 872ff.

Zwar wurde die „Umsturzvorlage“ am 11. Mai 1895 vom Reichstag mit überwältigender Mehrheit abgelehnt, aber bei Hofe und bei den preußischen Staatsbehörden wurden weiterhin repressive Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie ins Auge gefaßt. Unter anderem wurde eine Neufassung des preußischen Vereinsgesetzes vorbereitet, die der Polizei wenigstens in Preußen die Möglichkeit geben sollte, gegen mißliebige politische Parteien und Organisationen strafrechtlich vorzugehen. Allerdings blieben diese Pläne weitgehend auf dem Papier, da sich auch Hohenlohe weigerte, einen derart riskanten Konfliktkurs einzuschlagen. Am Ende kam es dann nur zur Vorlage eines Gesetzes, welches im Falle von Streiks den Einsatz von Streikposten unterbinden sollte. Infolge einer scharfmacherischen Rede des Kaisers erhielt diese Vorlage, noch bevor sie überhaupt im Reichstag eingebracht wurde, bereits im vorhinein in der Öffentlichkeit die Bezeichnung „Zuchthausvorlage“; sie war politisch eigentlich schon erledigt, noch bevor sie in den parlamentarischen Verhandlungen ein Begräbnis erster Klasse erfuhr.

Die „Zuchthausrede“ des Kaisers am 6. September 1898 in Bad Oeynhausen7Siehe Johann, Ernst (Hg.), Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II. – München: Deutscher Taschenbuchverlag 1966, S. 79–80. war nur einer der zahlreichen Auswüchse des „persönlichen Regiments“ Wilhelms II., das sich nach dem Rücktritt Caprivis im Oktober 1894 unter der eher nominellen Kanzlerschaft des greisen Fürsten Hohenlohe-[5]Schillingsfürst zunächst ungehemmt entfaltete. Fürst (damals noch Graf) Bülow, der 1897 zum Staatssekretär des Äußeren berufen wurde und dann im Jahre 1900 zum Reichskanzler avancierte, suchte das persönliche Engagement des Kaisers in der Politik zu einem Instrument einer populistischen Herrschaftsstrategie umzufunktionieren, mit der Folge, daß sich dieser in seinen eigenmächtigen Eingriffen in die Tagespolitik eher noch bestärkt fühlte.8[5]Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Wilhelm II. and German Politics, in: Journal of Contemporary History, Band 25, 1990, S. 289–316, sowie Röhl, John C.G., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. – München: C.H. Beck 1987, S. 116ff.

Max Weber gehörte zu jenen, die schon sehr früh die politischen Eigenwilligkeiten des jungen Kaisers mit großer Sorge betrachtet hatten.9Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 19742, S. 151ff. In seinen frühen agrarpolitischen Aufsätzen klingt Max Webers Mißbilligung des kaiserlichen Regierungsstils zwar nur am Rande an; immerhin wurde die Veröffentlichung einer uns nicht überlieferten Fassung eines gegen den saarländischen Großindustriellen von Stumm-Halberg gerichteten Artikels von der Kreuzzeitung „wegen ‚Majestätsbeleidigung‘“ abgelehnt.10Brief an Alfred Weber vom 24. Febr. 1895, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/4, BI. 41. Späterhin sollte Max Weber zu einem der schärfsten Kritiker des „persönlichen Regiments“ werden.11Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 151–159.

Die zeitgenössische Debatte wurde freilich beherrscht von der Auseinandersetzung über die Handelsverträge Caprivis. Die seit 1885 betriebene Hochschutzzollpolitik hatte sich in den Verhandlungen mit zahlreichen europäischen Ländern über eine Erneuerung der bestehenden Handelsverträge, die in den Jahren 1892 bis 1894 anstand, als ein großes Hindernis erwiesen. Ohne zollpolitische Konzessionen im Bereich der Agrarprodukte waren Vereinbarungen, die dem Export deutscher Industriegüter in die europäischen Nachbarstaaten günstige Bedingungen eröffneten, nicht zu erreichen. Insbesondere Österreich-Ungarn und das zarische Rußland waren gar nicht in der Lage, ohne eine Steigerung ihrer Agrarexporte in das Deutsche Reich größere Mengen von Industrieprodukten und Investitionsgütern abzunehmen. Sie erwarteten daher als Gegenleistung eine fühlbare Absenkung der Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte.

Damit war die Frage aufgeworfen, ob das Deutsche Reich hinfort in erster Linie ein exportorientierter Industriestaat sein oder ob es weiterhin an dem bisherigen vergleichsweise hohen Zollschutz für die Landwirtschaft festhalten solle, und dies, obwohl diese schon längst nicht mehr in der Lage war, den Eigenbedarf an Agrarprodukten allein oder auch nur überwiegend zu [6]decken. Hinter dieser auf den ersten Blick rein wirtschaftspolitischen Frage stand ein weit grundsätzlicheres Problem, nämlich die zukünftige gesellschaftliche Ordnung. Sollte die bisher von den kaiserlichen Regierungen verfolgte Politik fortgesetzt werden, die die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Landwirtschaft einerseits und Gewerbe und Industrie andererseits als ihr vornehmstes Ziel betrachtet hatte? Sollte die Landwirtschaft im Hinblick auf die übermächtige überseeische Konkurrenz weiterhin auf Kosten des Steuerzahlers, der Lebenshaltung der breiten Massen und nicht zuletzt auch der Industrie vermittels hoher Schutzzölle auf Getreide sowie eines ganzen Bündels von flankierenden Maßnahmen, unter anderem rigider veterinärpolizeilicher Bestimmungen, die den Import von Vieh und Fleischwaren behinderten, vom Staat subventioniert werden? Oder sollte die deutsche Politik der Tatsache Rechnung tragen, daß nur eine leistungsfähige Industriewirtschaft, die ihre Produkte nicht allein im Inland, sondern auf den Weltmärkten abzusetzen vermag, in der Lage sein werde, der deutschen Bevölkerung auf Dauer angemessene Lebensbedingungen zu sichern und der Auswanderung einer großen Zahl von Deutschen nach Übersee ein Ende zu setzen?12[6]Vgl. dazu Barkin, Kenneth D., The Controversy over German Industrialization 1890–1902. – Chicago: The University of Chicago Press 1970, S. 131ff. Der Reichskanzler Caprivi selbst war sich in diesem Punkte seiner Sache sicher. Er setzte konsequent auf eine Politik des exportorientierten Industriestaats, statt die Landwirtschaft und insbesondere die vor allem Getreide produzierenden Großbetriebe im deutschen Osten weiterhin zu begünstigen: „[…] wir müssen exportieren; entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage weiter zu leben.“13Rede vom 10. Dez. 1891, in: Arndt, Rudolf (Hg.), Die Reden des Grafen von Caprivi im Deutschen Reichstage, Preußischen Landtage und bei besonderen Anlässen 1883–1893. – Berlin: Ernst Hofmann & Co. 1894, S. 177.

Damit zog der Reichskanzler allerdings die erbitterte Gegnerschaft der Agrarier auf sich, und dies nicht allein unter wirtschaftlichen, sondern auch unter gesellschaftspolitischen Aspekten. Denn in der Erhaltung eines starken agrarischen Sektors sahen die konservativen Eliten in Preußen und im Reich ein Unterpfand nicht nur für die Erhaltung der bisherigen politischen Ordnung, sondern auch der physischen Volkskraft der Deutschen. Ein weiteres Vorantreiben der Industrialisierung werde, so wurde argumentiert, noch stärkere Verstädterung, moralische Dekadenz, physische Schäden und womöglich ein noch stärkeres Anwachsen der Sozialdemokratie bringen. Zudem sei keineswegs sicher, ob sich der Außenhandel unbegrenzt werde steigern lassen. Der Nationalökonom Adolph Wagner beispielsweise meinte damals, daß die deutsche Volkswirtschaft nicht einseitig auf den [7]Export setzen dürfe; tendenziell sei vielmehr mit einem Rückgang der Erträge aus dem Außenhandel zu rechnen, und dies werde unter anderem eine Verschlechterung der Lage auch der arbeitenden Klassen zur Folge haben. Daher müsse die Landwirtschaft, entgegen den Ansichten der „radikalen Freihändler, […] die nichts gelernt und nichts vergessen haben“, auf Dauer leistungsfähig erhalten werden.14[7]Vgl. Wagner, Adolph, Industriestaat und Agrarstaat, in: Die Zukunft, Band 8, 8. September 1894, S. 437–451, bes. S. 439f.

Angesichts der steigenden Konkurrenz aus Übersee befand sich vor allem die getreideproduzierende Großgüterwirtschaft, wie sie namentlich in den ostelbischen Provinzen Preußens vorherrschte, schon seit geraumer Zeit in einer bedrängten wirtschaftlichen Situation. Bislang hatte sich der Preisverfall für Agrarprodukte durch umfassende Modernisierungsmaßnahmen weitgehend auffangen lassen. Jedoch verschlechterte sich die Ertragslage der Landwirtschaft auf dem Höhepunkt der internationalen Agrarkrise 1892 bis 1895 schlagartig, und die Gefahr eines Zusammenbruchs der ostelbischen Großgüterwirtschaft war nicht mehr ohne weiteres von der Hand zu weisen. Unter diesen Umständen nahmen die Auseinandersetzungen über die wirtschaftliche Zukunft der Landwirtschaft, insbesondere aber des Großgrundbesitzes, der traditionell die soziale Basis der hegemonialen Stellung der preußisch-deutschen Aristokratie in der deutschen Gesellschaft abgegeben hatte, beträchtlich an Schärfe zu.

An und für sich befand sich die Landwirtschaft um 1890 in einer wirtschaftlich durchaus starken Position. Sie hatte im Verlauf der letzten Jahrzehnte ihre Produktivität außerordentlich steigern können, einerseits durch den Übergang zu einer kapitalintensiven Wirtschaftsführung, andererseits durch den Einsatz von neuen Technologien und vor allem von verbesserten Fruchtarten bzw. neuen tierischen Züchtungen. Auch wenn der relative Anteil der Beschäftigten im Sektor Landwirtschaft, Forsten und Fischerei, verglichen mit den Beschäftigten in Bergbau, Industrie und Handwerk, seit 1870 beständig zurückgegangen war, war die Zahl der Beschäftigten in absoluten Zahlen nahezu konstant geblieben. Zwar war der landwirtschaftliche Sektor um 1890 mit seinem Anteil an der Wertschöpfung von dem Sektor Industrie und Handwerk auf den zweiten Platz verwiesen worden. Aber die Landwirtschaft beschäftigte weiterhin einen sehr hohen Anteil aller Arbeitnehmer: 1871 waren 8,5 Millionen Menschen in Landwirtschaft, Forsten und Fischerei tätig gewesen. Die in der Landwirtschaft Beschäftigten nahmen bis zur Jahrhundertwende weiterhin zu; 1896 waren dies 9,7 Millionen. Auch wenn der Anteil der Landwirtschaft an der Wertschöpfung bis 1896 auf 31,7 Prozent zurückging, lag er immer noch nur um weniges hinter jenem von Industrie und Handwerk zurück. Ungeachtet der gewaltigen Fortschritte der [8]Industrialisierung war in den 1890er Jahren noch immer mehr als ein Drittel aller abhängig Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig.15[8]Hoffmann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. – Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1965, S. 204f. und 454f.

Die bedrängte Lage der ostelbischen Großgüterwirtschaft war keineswegs in erster Linie auf die internationale Agrarkrise und den damit verbundenen Preisverfall für agrarische Produkte zurückzuführen. Die Preise für Agrarprodukte waren zu einem immerhin erheblichen Teil durch die 1887 letztmals heraufgesetzten Zollsätze von 50 Mark je Tonne für Weizen und Roggen sowie 22,50 Mark je Tonne für Gerste und 40 Mark je Tonne für Hafer auf einem erträglichen Niveau gehalten worden. Weit stärker wirkten sich die starken Schwankungen der Getreidepreise aus; sie erschwerten der Landwirtschaft eine rationale Kalkulation und begünstigten deren weitere Verschuldung.

Vor allem aber klagte die Großgüterwirtschaft über einen zunehmenden Mangel an Arbeitskräften oder, wie dies in der Sprache der Zeit lautete, über „Leutenot“. Die Abwanderung eines großen Teils der deutschstämmigen Landarbeiter aus den östlichen Gebieten Preußens und Mecklenburgs führte dort zu akutem Arbeitermangel, der nur zu Teilen durch Rückgriff auf saisonale Arbeitskräfte aufgefangen werden konnte. Dies beeinträchtigte die Möglichkeiten, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch eine Intensivierung der Bodenbearbeitung sowie durch den Übergang zu anderen Agrarprodukten, wie z. B. Rüben- oder Gemüseanbau, zu überwinden. Die Beschäftigung von Wanderarbeitern, vornehmlich aus Russisch-Polen und Galizien, bot unter den obwaltenden Bedingungen zusätzlich den Vorteil geringerer Lohn- und Lohnnebenkosten. Denn im Unterschied zu den bodenständigen deutschen Landarbeitern mußten diese Arbeitskräfte nur während der Hochsaison entlohnt und untergebracht werden und waren zudem häufig mit niedrigerer Bezahlung und vor allem einer höchst bescheidenen Unterbringung zufrieden. Aber gerade gegen die Beschäftigung polnischer Wanderarbeiter erhoben sich politische Bedenken, die 1887 zu einer Schließung der östlichen Grenzen geführt hatten.

Hinzu kam freilich ein weiteres Moment, nämlich die hohe Verschuldung des Großgrundbesitzes. In den vorangegangenen Jahrzehnten einer im ganzen durchaus ertragreichen Agrarwirtschaft waren die Güterpreise enorm gestiegen und dies auch deshalb, weil dem Besitz eines Rittergutes ein hoher gesellschaftlicher Wert zugemessen wurde. Im Zusammenhang damit erreichte die Verschuldung vieler Güter ein Niveau, das in keinem realen Verhältnis zu ihrem Ertragswert stand. Alle diese Probleme kumulierten auf dem Höhepunkt der internationalen Agrarkrise. Nur mit Hilfe großzü[9]giger Hilfe des Staates war, so schien es, eine Überwindung der bestehenden, die Existenz des Großgrundbesitzes bedrohenden, Krise erreichbar. Vor allem aber erschien es als vordringlich, Mittel und Wege zu finden, um eine weitere Abwanderung der Landarbeiter zu verhindern und auf diese Weise die „Leutenot“ der Großlandwirtschaft zu lindern. In diesem Zusammenhang steht die später zu besprechende Enquete des Vereins für Socialpolitik über die Lage der Landarbeiter im Deutschen Reich.16[9]Vgl. unten, S. 16–24, und MWG I/3, S. 20f.

Bereits seit 1880 war das Deutsche Reich von einer großen Wanderungsbewegung erfaßt worden, in der sich die Auswanderung nach Übersee, die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten in die industriellen Ballungszentren und die Nahwanderung vom Lande in die Städte überlagerten. Vor allem Sachsen, Berlin und sein wirtschaftliches Umfeld, der Hamburger Raum und mehr und mehr auch das Rheinland und Westfalen, mit dem Ruhrgebiet als einer sprunghaft wachsenden industriellen Kernregion, zogen immer größere Zahlen von bisher in der Landwirtschaft Beschäftigten an. Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, in denen vornehmlich der Südwesten Deutschlands von der Auswanderung betroffen war, kam nunmehr die Masse der Abwanderer aus den nordöstlichen Regionen des Deutschen Reiches.17Bade, Klaus J., Massenwanderung und Arbeitsmarkt im deutschen Nordosten von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 20, 1980, S. 273. Die östlichen Provinzen Preußens sowie Mecklenburg hatten seit 1880 Wanderungsverluste erheblichen Ausmaßes erlitten: Bis zur Jahrhundertwende verloren sie trotz des sich erneut beschleunigenden Bevölkerungswachstums 1,9 Millionen Menschen.18Bade, Klaus J., Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980. – Berlin: Colloquium-Verlag 1983, S. 23ff. Die Abwanderung eines erheblichen Teils der ländlichen Unterschichten führte in den preußischen Ostprovinzen zu einer Verschiebung der ethnischen und konfessionellen Relationen zwischen der deutschen Bevölkerung einerseits, der polnischen und masurischen Bevölkerung andererseits. Während der Anteil der deutschen Bevölkerung zwischen 1880 und 1900 nahezu stagnierte und zeitweilig sogar absolut zurückging, nahm der Anteil der Polen, die nicht im gleichen Maße von der Abwanderungswelle nach Westen erfaßt wurden, kräftig zu.19Vgl. Broszat, Martin, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 142–145.

Dies ließ im Deutschen Reich die Sorge vor einer „Polonisierung des deutschen Ostens“ wach werden. In vorderster Linie stand dabei die Nationalliberale Partei, die sich zum vernehmlichsten Sprecher dieser Befürchtungen machte und Maßnahmen gegen ein weiteres Vordringen des Polentums in den deutschen Ostprovinzen forderte. Den Anfang bildete im Januar [10]1884 ein Aufsatz des Philosophen Eduard von Hartmann in der Wochenschrift „Die Gegenwart“. Wenn man es schon nicht verhindern könne, so hieß es hier, daß „die deutsche Art“ außerhalb der Grenzen des Reiches „ausgerottet“ werde, dann müsse wenigstens im eigenen Hause die unbedingte Herrschaft des Deutschtums sichergestellt werden, „wenn nicht der Einfluß des Deutschtums in der Geschichte der Naturvölker beträchtlich sinken soll“.20[10]Zit. bei Neubach, Helmut, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/86. Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses. – Wiesbaden: Harrassowitz 1967, S. 23–25. Das wurde sogleich von der Presse aufgegriffen. Es bestehe, so schrieb das Leipziger Tageblatt, die Gefahr, daß der polnische Einwanderungsstrom in die östlichen Provinzen Preußens immer größere Dimensionen annehmen könnte. Es sei ein Gebot der nationalen Selbsterhaltung, dieser bedrohlichen Entwicklung einen Riegel vorzuschieben.21Vgl. Neubach, Ausweisungen, S.25 ff.; Mai, Joachim, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885–1887. – Berlin: Rütten & Loening 1962, S. 76ff. Das Postulat des ethnisch homogenen Nationalstaats verband sich hier mit einem ausgeprägten Kulturnationalismus. Dies stieß in den bürgerlichen Schichten, namentlich aber der Bildungsschicht, weithin auf Zustimmung.

Auch von seiten der preußischen Staatsbehörden wurde die Einwanderung aus Russisch-Polen seit längerem mit Besorgnis beobachtet. Anfänglich waren dabei allerdings eher antisemitische Tendenzen vorherrschend gewesen. Bereits 1881 war es, unter dem Einfluß der damals aufflammenden antisemitischen Agitation, die sich insbesondere gegen die aus Polen eingewanderten Juden richtete, zu einzelnen Ausweisungen von Polen aus Berlin und den östlichen Provinzen Preußens gekommen. 1885 verfügte dann der preußische Innenminister von Puttkamer auf Anweisung Bismarcks die Ausweisung einer großen Zahl von sog. polnischen „Überläufern“, d. h. von Bürgern polnischer Nationalität, die keine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnten. Dabei wurden vielfach auch polnische Arbeiter und Gewerbetreibende, ja in einzelnen Fällen auch Ärzte und Angehörige anderer gehobener Berufe binnen weniger Tage über die Grenzen abgeschoben, obschon sie vielfach bereits seit langen Jahren in Preußen gelebt und gearbeitet hatten. Bis 1887 wurden von insgesamt 42 000 nichteingebürgerten Polen zirka 33 000 ausgewiesen. Zur Ergänzung dieser Maßnahme wurde, sehr zum Mißvergnügen der Großgrundbesitzer, eine Grenzsperrung für polnische Wanderarbeiter, die sog. „Sachsengänger“, verfügt, die bisher den Sommer über als Saisonarbeiter auf den großen Gütern beschäftigt worden waren. Diese Massenausweisungen riefen einen Proteststurm in der internationalen Öffentlichkeit hervor und wurden auch im Reichstag scharf mißbilligt. Außerdem erwies es sich als schwierig, die [11]Bereitschaft der zarischen und der österreichisch-ungarischen Regierung zur Aufnahme der Ausgewiesenen zu erwirken.22[11]Ebd.

Unter diesen Umständen entstand der Plan einer deutschen Ostkolonisation. Insbesondere seitens der Nationalliberalen wurde die Forderung erhoben, daß die repressiven Maßnahmen der Staatsbehörden gegenüber den Polen in den deutschen Ostprovinzen, die elementare Grundsätze der Rechtsgleichheit verletzten und über deren Wirksamkeit überdies begründete Zweifel bestanden, durch ein großangelegtes Programm der „inneren Kolonisation“ in der Tradition Friedrichs des Großen ergänzt und ins Positive gewendet werden müßten. Johannes von Miquel, damals Oberbürgermeister von Frankfurt und als solcher Mitglied des preußischen Herrenhauses, einer der Führer der Nationalliberalen Partei, machte sich zum Vorkämpfer eines Programms der Ansiedlung deutscher Bauern in den östlichen Gebieten Preußens mit staatlicher Hilfe, um auf diese Weise den deutschen Volksteil in Posen und in Westpreußen wieder zu stärken und zugleich der Abwanderung der deutschen Landarbeiterschaft entgegenzuwirken. Durch die Förderung des mittleren und kleineren bäuerlichen Besitzes sollte zugleich das gefährdete Gleichgewicht von Industrie und Landwirtschaft, worin eine wesentliche Voraussetzung für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs gesehen wurde, erhalten werden. Eine staatliche Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen sollte, mit aus öffentlichen Kassen bereitgestellten Mitteln, Grund und Boden aus polnischem und gegebenenfalls auch deutschem Besitz aufkaufen, parzellieren und die einzelnen Parzellen dann an deutsche Bauern und Landarbeiter vergeben, gegen eine feste, jährlich an den preußischen Staat zu zahlende Rente, allerdings mit der Maßgabe, daß daraus nach Ablauf einiger Jahre freies, wenn auch rechtlich gebundenes Eigentum entstehen sollte. Dahinter stand die große Vision der Schaffung geschlossener deutscher Bauerndörfer in den Grenzregionen mit polnischer Mehrheit.23Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890. – Berlin: Propyläen Verlag 1993, S. 594ff.

Das schließliche Ergebnis dieser Bestrebungen war das Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886, aufgrund dessen eine preußische Ansiedlungskommission ins Leben gerufen wurde, die mit Hilfe erheblicher staatlicher Gelder – zunächst wurden 100 Millionen Mark zur Verfügung gestellt – den Aufkauf von polnischen Gütern und die Ansiedlung von deutschen Bauern im Osten in systematischer Weise betreiben sollte.24Vgl. dazu Waldhecker, Paul, Ansiedelungskommission und Generalkommission. Ein Beitrag zur inneren Kolonisation des Ostens, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 21. Jg., 1897, S. 201–227. Zum Vorsitzenden der [12]Ansiedlungskommission wurde der Oberpräsident der Provinz Posen, Robert Graf Zedlitz-Trützschler, berufen. Miquel räumte anläßlich der Annahme des Ansiedlungsgesetzes ein, daß es sich dabei um die Fortsetzung der gewaltsamen Germanisierung des Ostens, wenn auch mit anderen, „friedlichen Mitteln“ handele, zumal der Kampf zwischen der polnischen Bevölkerung und dem Deutschtum „– ich will nicht sagen der Rasse, aber der Nationalität“ auch heute noch andauere.25[12]Miquel, Johannes von, Reden, hg. von Walther Schultze und Friedrich Thimme. – Halle a.S.: Buchhandlung des Waisenhauses 1913, Band 3, S. 165. Die Auseinandersetzung zwischen den Deutschen und den Polen im deutschen Osten erreichte damit eine neue Stufe; der preußische Staat griff nunmehr zu offen diskriminierenden Maßnahmen gegen die polnische Bevölkerung und konnte sich dafür der Zustimmung der bürgerlichen Öffentlichkeit sicher sein.

Max Weber hatte bereits während seines Militärdienstes im Sommer 1888 Gelegenheit gehabt, sich einen persönlichen Eindruck von der Tätigkeit der preußischen Ansiedlungskommission in Posen zu verschaffen; er wurde während seines Wehrdienstes in Posen von dem dortigen Landrat Nollau eingeladen, eine Reihe von Rittergütern zu besichtigen, die von der Ansiedlungskommission mit dem Ziel der Ansiedelung von deutschen Bauern angekauft worden waren.26Vgl. Brief an Helene Weber vom 23. Aug. 1888, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3, BI. 137–138. Vgl. auch die Einleitung zu: Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. 1891, hg. von Jürgen Deininger (MWG I/2). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1986, S. 12. Eine erneute Besichtigung der Ansiedlungsgüter in Posen fand dann vermutlich am 21. April 1894 statt. Vgl. Brief an Helene Weber vom 15. April 1894, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3, BI. 169–170. Soweit wir sehen, identifizierte er sich schon damals uneingeschränkt mit dem politisch vor allem von der Nationalliberalen Partei getragenen Programm der „inneren Kolonisation“ und der dahinterstehenden Idee des homogenen Nationalstaats.

Es erwies sich freilich bald, daß die Politik der „inneren Kolonisation“ im Osten keineswegs die erhofften Ergebnisse brachte. Zwar gelang anfangs der Ankauf einer größeren Zahl von maroden Gütern aus polnischem Besitz. Aber der Erwerb polnischen Grundbesitzes erwies sich in der Folge als zunehmend schwieriger, da sich die Polen ihrerseits zur Abwehr dieser Maßnahmen zusammenschlossen und eine eigene Landbank gründeten, die den Übergang polnischer Ländereien in deutsche Hände zu verhindern bestrebt war. Infolgedessen sah sich die Ansiedlungskommission in steigendem Umfang genötigt, statt dessen Grundbesitz von deutschen Eigentümern anzukaufen, obschon dadurch das ursprüngliche Ziel, die polnischen Grundbesitzer zurückzudrängen, nicht erreicht wurde. Außerdem hatte dies den unerwünschten Nebeneffekt, daß dadurch die ohnehin über[13]höhten Güterpreise im Osten noch stärker in die Höhe getrieben wurden. Dies entsprach nicht der ursprünglichen Zielsetzung der Ansiedlungsgesetzgebung. Ebenso erwies es sich als durchaus nicht einfach, geeignete ansiedlungswillige Bauern zu finden. Das Anwachsen antipolnischer Stimmungen in der deutschen Öffentlichkeit konnte durch die Ansiedlungspolitik nicht wirksam abgefangen werden; noch weniger konnten dadurch die Ursachen der Abwanderung der deutschen Landarbeiterschaft nach Westen beseitigt werden. Der Großgrundbesitz aber drängte die preußischen Staatsbehörden, angesichts der wachsenden „Leutenot“, welche die Großgüterwirtschaft vor große wirtschaftliche Probleme stelle, die Beschäftigung von polnischen Wanderarbeitern wieder zuzulassen.27[13]Vgl. Nichtweiss, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik von 1890 bis 1914. – Berlin: Rütten & Loening 1959, S. 36f.; ferner Baier, Roland, Der deutsche Osten als soziale Frage. – Köln: Böhlau 1980, S.17f.

Die nationalpolitischen und die wirtschaftlichen Interessen gerieten hier in scharfen Konflikt miteinander; die Staatsbehörden sahen sich vor schwierige Entscheidungen gestellt, zumal sie unter massivem Druck der großagrarischen Kreise standen, deren Interessen man nicht ohne weiteres vernachlässigen zu können glaubte. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Bismarck entschloß sich Caprivi, nach anfänglichem Zögern das Einwanderungsverbot für sog. „Sachsengänger“ wieder zu lockern, zumal umfängliche behördliche Erhebungen ergeben hatten, daß das Verbot vielfach umgangen wurde. Im Dezember 1890 wurde die Grenze für ledige polnische Wanderarbeiter ungeachtet fortbestehender „nationaler“ Bedenken zunächst für drei Jahre wieder geöffnet, wenn auch mit allerlei administrativen Restriktionen, die eine Seßhaftmachung der Landarbeiter verhindern sollten. Außerdem suchte Caprivi durch die Rentengutsgesetzgebung von 1890/91, die sich nicht in gleicher Weise wie die Maßnahmen der Ansiedlungskommission gegen den polnischen Volksteil richtete, zusätzliche Anreize zu schaffen, um einen Teil der bäuerlichen Bevölkerung an das flache Land zu binden und damit indirekt auch dem Arbeitskräftemangel auf den großen Gütern zu begegnen. Da auch polnische Bürger in den Genuß der Vorteile des Rentengutsgesetzes kommen konnten und diese auch in Anspruch nahmen, erschien diese Politik unter nationalpolitischen Gesichtspunkten jedoch als bedenklich. Demgemäß hielt die Polemik in der Öffentlichkeit gegen die Zuwanderung von Polen und Ruthenen aus Kongreßpolen und Galizien weiterhin an. Die Furcht vor einer fortschreitenden „Polonisierung des deutschen Ostens“ wurde von den radikalen Agitationsverbänden, wie dem Allgemeinen Deutschen (wenig später Alldeutschen) Verband und dem 1894 eigens zu diesem Zwecke gegründeten „Verein zur Förde[14]rung des Deutschthums in den deutschen Ostmarken“, dem sog. „Hakatistenverein“, nach Kräften geschürt. Auch die Proteste gegen die Wiederzulassung polnischer Landarbeiter, wie sie von den Großgrundbesitzern im Zuge des Übergangs zu einer intensiveren Bodenbewirtschaftung und einer Vermehrung des arbeitsintensiven, aber ertragreichen Zuckerrübenanbaus für unabweisbar gehalten wurde, verstummten nicht. Unter solchen Umständen gewann die Landarbeiterfrage erhebliche politische Sprengkraft.

Mitte der 1890er Jahre wurde der anfänglich auch von dem Nachfolger Caprivis im Amt des Reichskanzlers, dem Fürsten Hohenlohe-Schillingsfürst, angestrebte Kurs einer konservativ-liberalen Diagonale immer stärker in ein reaktionäres Fahrwasser abgelenkt. Die Reichsleitung und die preußische Staatsregierung suchten nach Mitteln und Wegen, um den Agrariern für die in der Ära Caprivi angeblich erlittenen Unbilden einen Ausgleich zu verschaffen. Dazu gehörte insbesondere die Verabschiedung eines Börsengesetzes, welches den börsenmäßigen Getreideterminhandel verbot. Auf diese Weise sollte die Preisbildung auf dem deutschen Binnenmarkt von der Entwicklung auf den Weltmärkten, wo der Terminhandel mit Agrarprodukten längst zu einer geläufigen Sache geworden war, abgekoppelt und damit die Auswirkungen der überseeischen Konkurrenz auf den landwirtschaftlichen Sektor abgeschwächt werden; man erhoffte sich davon eine Stützung der Getreidepreise im Binnenmarkt. Dabei stand der Gesichtspunkt im Hintergrund, daß die Börsenspekulation in agrarischen Kreisen für die starken Schwankungen der Getreidepreise verantwortlich gemacht wurde. Max Weber gehörte zu jenen, die damals leidenschaftlich gegen das Börsengesetz protestierten. Dieses sei mit den nationalen Interessen des Deutschen Reiches keinesfalls vereinbar, da es zu einer Verlagerung der Börsengeschäfte ins Ausland führen und im übrigen die beabsichtigten Effekte nicht haben werde. Das „wirkliche Ziel“ sei die „Verschiebung der ökonomischen und damit der politischen Machtlage im Innern zu gunsten des ländlichen Grundbesitzes, insbesondere des Großgrundbesitzes, durch Herabdrückung der Bedeutung der deutschen Börsen.“ Dies aber sei „nur auf Kosten der ökonomischen Machtstellung Deutschlands“ zu erreichen.28[14]Weber, Max, Börsenwesen. (Die Vorschläge der Börsenenquetekommission), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 1. Supplementband. – Jena: Gustav Fischer 18951, S. 252 (MWG I/5). Im Rückblick urteilte Max Weber über das Börsengesetz: Mit dem „gesetzlichen Totschlag“ des Terminhandels werde „die deutsche Preisbildung nicht dem Einfluß der Spekulation entzogen, sondern wesentlich nur an die Stelle des deutschen, durch die deutsche Gesetzgebung zu beeinflussenden [Börsen-]Platzes Berlin“ der Börsenplatz New York ge[15]setzt „und dessen Übermacht den deutschen EffektivplätzenNDruckfassung der MWG: Effektenplätzen gegenüber […] gesteigert.“29[15] Brief an den badischen Finanzminister Adolf Buchenberger vom 26. Juli 1899, GLA Karlsruhe, Nl. Buchenberger, Nr. 44.

Auch sonst suchten die Reichsleitung und die preußische Staatsregierung nach Mitteln und Wegen, um der notleidenden großagrarischen Wirtschaft zu helfen. Dazu gehörten Überlegungen, wie der Überschuldung der Landwirtschaft abzuhelfen sei bzw. ob und auf welche Weise es möglich sei, eine Verschuldungsgrenze für landwirtschaftlichen Besitz einzuführen, um eine Stabilisierung des Großgrundbesitzes zu bewirken. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Johannes von Miquel, der 1890 zum preußischen Finanzminister aufgestiegen war und sich im Zeichen der „Sammlung der staatstragenden Kräfte“ gegen die Sozialdemokratie und die Parteien der Linken die Wiederherstellung des Bündnisses von Großindustrie und Landwirtschaft zum Ziele gesetzt hatte. Ebenso wurde sogleich mit Vorbereitungen für eine Revision der Handelsverträge nach deren zu erwartendem Ablauf begonnen, mit dem Ziel, eine erneute Anhebung der Agrarzölle zu erreichen. Zu diesem Zwecke wurde am 15. August 1897 ein „Wirtschaftlicher Ausschuß“ berufen, dem unter dem Vorsitz des Grafen Posadowsky die Aufgabe obliegen sollte, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Industrie und der Landwirtschaft zu finden. Der „Wirtschaftliche Ausschuß“ war von vornherein einseitig zugunsten der Agrarier zusammengesetzt; von seinen 30 Mitgliedern waren allein 10 Großgrundbesitzer, gegenüber 5 Industriellen, vornehmlich aus dem Lager der Schwerindustrie, und 11 Vertretern der Handelskammern. Er war gedacht als eine Plattform von Industrie und Agrariern, die als Instrument einer neuen, in ihrer politischen Zielsetzung verengten „Politik der Sammlung“ dienen sollte. 1901/02 wurden die Handelsverträge dann im Sinne der Interessen der Großlandwirtschaft modifiziert und die Zollsätze für Getreide wieder erheblich heraufgesetzt, wenn auch nicht mehr ganz auf das Niveau, das sie in der späten Bismarckzeit gehabt hatten.

Schließlich fällt in den Zeitraum von 1890 bis 1899 auch die Anlaufphase der deutschen „Weltpolitik“. Zuvor war Kolonialpolitik eigentlich nur die Sache einer vergleichsweise schmalen Gruppe von unmittelbar Interessierten gewesen, obschon der „Deutsche Kolonialverein“ sich der Mitwirkung zahlreicher einflußreicher Persönlichkeiten der deutschen Gesellschaft hatte versichern können. Der Allgemeine Deutsche Verband machte sich die Propagierung eines kraftvollen deutschen Imperialismus zu seiner wichtigsten Aufgabe. Aber wirklich populär wurde der Gedanke eines deutschen Imperialismus erst Mitte der 1890er Jahre. Im Dezember 1897 beanspruchte Fürst Bülow in einer großen Rede im Reichstag aus Anlaß [16]der Annexion Kiautschous für das Deutsche Reich einigermaßen theatralisch „auch einen Platz an der Sonne“. Bereits zuvor hatte Tirpitz die ersten Schritte für den Bau einer großen deutschen Schlachtflotte eingeleitet, die Großbritannien dazu zwingen sollte, dem Deutschen Reich in der europäischen Politik, vornehmlich aber in den Fragen der überseeischen Expansion, mehr Entgegenkommen als bisher zu zeigen. Beide, Bülows lautstark betriebene „Weltpolitik“ und Tirpitz’ langfristig angelegte Flottenbaupolitik, sollten in der Folge die Rahmenbedingungen der deutschen Außenpolitik grundlegend verändern; damals freilich war dies noch nicht abzusehen.

2. Max Weber und die Enqueten des Vereins für Socialpolitik und des Evangelisch-sozialen Kongresses zur Lage der Landarbeiter

Die Abwanderung eines erheblichen Teils der unterbäuerlichen Schichten vornehmlich des deutschen Nordostens in die rasch wachsenden industriellen Zentren hatte, wie bereits dargelegt wurde, nicht nur zu zunehmendem Arbeitskräftemangel in der ostelbischen Großgüterwirtschaft geführt, sondern auch zu einer Verschiebung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zugunsten des polnischen Volksteils. Darüber hinaus wurde dadurch das gesellschaftliche Gleichgewicht zwischen den ländlich-agrarischen und den städtisch-industriellen Regionen im Deutschen Reiche gestört, mit unübersehbaren Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Schließlich zeichnete sich ab, daß, sofern diese Entwicklung weiter anhalten sollte, die Sozialdemokratie immer mehr Anhänger gewinnen würde.

Überdies war nicht auszuschließen, daß die Sozialdemokratie früher oder später auch bei der Landarbeiterschaft stärkeren Anklang finden und damit den Klassenkampf auch in die bislang friedlichen Sozialbeziehungen auf dem flachen Lande hineintragen würde. Die Sozialdemokratie selbst hatte auf ihrem Parteitag zu Halle vom 12. bis 18. Oktober 1890 demonstrativ eine Resolution gefaßt, die eine Verstärkung der sozialdemokratischen Agitation auf dem Lande vorsah.30[16]Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a.S. vom 12. bis 18. Oktober 1890. – Berlin: Verlag der Expedition des „Berliner Volksblatt“ 1890, S. 39f.

Es gab also für den Verein für Socialpolitik einigen Anlaß, sich mit der Landarbeiterfrage zu befassen. Es war Hugo Thiel, der als Generalsekretär des Preußischen Landes-Ökonomiekollegiums und als Geheimer Oberregierungsrat im preußischen Landwirtschaftsministerium mit diesen Fragen [17]aus erster Hand vertraut war, welcher den Anstoß zur Durchführung einer umfassenden empirischen Erhebung gab, die die Verhältnisse der Landarbeiterschaft in allen Teilen des Reiches untersuchen und gegebenenfalls Lösungsvorschläge für die bestehenden drängenden Probleme erarbeiten sollte.31[17]Vgl. Riesebrodt, Martin, Einleitung zu MWG I/3, S. 20f. Der Ausschuß des Vereins für Socialpolitik griff diesen Vorschlag auf und beschloß in seiner Sitzung vom 26. September 1890, die Lage der Landarbeiter zum Gegenstand einer großangelegten sozialpolitischen Erhebung zu machen, die die ländlichen Arbeitgeber über die Lage der Landarbeiterschaft innerhalb ihres Tätigkeitsbereichs befragen sollte.32Vgl. Boese, Franz, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872–1932 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Band 188). – Berlin: Duncker & Humblot 1939, S. 66.

Ursprünglich stand dahinter eher ein sozialkonservatives Motiv. Die Frage war, wie unter den gegebenen Verhältnissen ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem landwirtschaftlichen und dem industriellen Sektor der deutschen Volkswirtschaft aufrechterhalten und die „Landflucht“ der unterbäuerlichen Schichten abgebremst werden könne. Denn die Führungsgruppe des Vereins für Socialpolitik, namentlich Gustav Schmoller, war gegenüber dem Großgrundbesitz eher positiv eingestellt. Die Erhaltung des Großgrundbesitzes im Osten wurde als unabdingbar angesehen, denn dieser bildete die ökonomische Grundlage der Vorrangstellung der preußisch-deutschen Aristokratie in der deutschen Gesellschaft. Auch aus anderen Gründen empfahl sich eine Erhaltung der bestehenden Agrarverhältnisse. Denn ein überdimensionales Wachstum der städtischen Metropolen wurde keinesfalls als wünschenswert angesehen; Gustav Schmoller beispielsweise erblickte in der sprunghaften Verstädterung der deutschen Bevölkerung sogar eine „Kulturgefahr“33Schmoller, Gustav, Über Wesen und Verfassung großer Untersuchungen, in: ders., Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze. – Leipzig: Duncker & Humblot 1890, S. 397.

Max Weber wurde mit der Auswertung der Ergebnisse der Enquete für die ostelbischen Gebiete Deutschlands betraut, jener Teilregion, die unter politischen Gesichtspunkten bei weitem am bedeutsamsten war. Seine agrarhistorischen Studien bei August Meitzen, die sich unter anderem mit dem antiken Latifundienwesen beschäftigt hatten, konnten als eine, wenn auch nur indirekte Qualifikation für diese Aufgabe angesehen werden. Im übrigen war er, wie bereits berichtet wurde, mit der Tätigkeit der preußischen Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen bestens vertraut. Max Weber gab der Auswertung der Enqueteergebnisse von vornherein einen politischen Akzent, der mit Sicherheit von den Initiatoren der Enquete nicht beabsichtigt war. Er arbeitete in aller Deutlichkeit heraus, daß die Abwanderung der deutschen Landarbeiter in erster Linie eine Folge des Zusammen[18]bruchs der älteren patriarchalischen Sozialordnung war, wie er sich im Zuge des Vordringens kapitalistischer Formen der Wirtschaftsführung unvermeidlich ergab. Vor allem aber wies er darauf hin, daß überwältigende ökonomische Zwänge darauf hinwirkten, daß die ehemals seßhaften und das ganze Jahr über beschäftigten deutschen Landarbeiter zunehmend durch polnische und ruthenische Saisonarbeiter ersetzt würden. Es seien gerade die bescheideneren Lebensansprüche und das niedrigere Kulturniveau der polnischen Landarbeiter, welches ihre Überlegenheit gegenüber der deutschen Landarbeiterschaft begründe.

In seiner ausführlichen Präsentation der Ergebnisse der Enquete „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“, die noch im Jahre 1892 in den Schriften des Vereins für Socialpolitik erschienen war, hatte Max Weber davon Abstand genommen, die eminent politischen Schlußfolgerungen, die sich aus seiner Analyse ergaben, in voller Schärfe herauszustellen. Im Gegenteil, er hatte sich in dieser Hinsicht große Zurückhaltung auferlegt: „Auf die Frage: was nun weiter geschehen wird und gar: was geschehen soll“, sei „an dieser Stelle eine Antwort nicht [zu] erwarten.“34[18]MWG I/3, S. 918f.; vgl. auch Mommsen, Max Weber2, S. 26f. Nur höchst vorsichtig hatte er angedeutet, daß mit dem Zusammenbruch des patriarchalischen Systems in den ostelbischen Gebieten Deutschlands auch die historische Machtstellung des ostelbischen Großgrundbesitzes sich ihrem Ende zuneige. Er hatte diese Bemerkung sogar mit einer Ehrenerklärung für die „vielgeschmähten Junker“ und deren historische Verdienste verbunden.35MWG I/3, S. 922f. Max Webers Auswertung des ostelbischen Teils der Enquete löste gleichwohl heftige Kontroversen sowohl seitens der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit aus. Im Zuge dieser Debatten trat Max Weber immer mehr aus der Reserve heraus, wobei die Irritation über einen Artikel der Kreuzzeitung, die seine diesbezüglichen Äußerungen für die Sache der Konservativen in Anspruch genommen hatte, eine gewisse Rolle gespielt haben mag.36Vgl. unten, S. 465. Er setzte hinfort alles daran, seinen Kritikern sowohl in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit Paroli zu bieten.

Bereits im Januar 1893 veröffentlichte Max Weber die erste Folge einer sechsteiligen Artikelserie über die Ergebnisse der Enquete in der Zeitschrift „Das Land“.37„Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter“, unten, S. 120–153. Weber behandelte hier eingehend die ländliche Arbeitsverfassung und ihre unterschiedlichen regionalen Ausprägungen im Deutschen Reich. Besonderes Gewicht legte er dabei auf die ostelbischen Gebiete. Er betonte hier schärfer, als er dies in der Auswertung der Enquete [19]selbst getan hatte, daß die dort vorherrschende patriarchalische Arbeitsverfassung, die auf der Interessengemeinschaft von Gutsherr und Instleuten beruhte, unwiderruflich im Zerfall begriffen sei. Dies aber bedeute, daß die Tage des Großgrundbesitzes, so wie es ihn in der Vergangenheit gegeben habe, unwiederbringlich vorüber seien.

Angesichts der nahezu einhelligen Anerkennung, die „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ bei den Fachleuten im Verein für Socialpolitik, nicht zuletzt bei Hugo Thiel, gefunden hatte, der – wie bereits erwähnt – die Enquete ursprünglich ins Werk gesetzt hatte, wurde Max Weber die große Ehre zuteil, auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Berlin am 20. und 21. März 1893 das Hauptreferat über die Ergebnisse der Enquete zu halten. Nach anfänglichem Zögern nahm Max Weber, obschon er fürchtete, daß sich Karl Kaerger zurückgesetzt fühlen könnte, das ihm von Gustav Schmoller angetragene Angebot an.38[19]Vgl. Brief an Gustav Schmoller, undat. [vor dem 31. Mai 1892], ZStA Merseburg, Verein für Socialpolitik, Rep. 196, Nr. 67, BI. 170–171. Möglicherweise war für diese Entscheidung auch bedeutsam, daß Gustav Schmoller im Frühjahr 1892 einen Vortrag Max Webers in der „Staatswissenschaftlichen Vereinigung“ über die Agrarverfassung in Deutschland gehört hatte. Der Text dieses Vortrags ist uns allerdings nicht überliefert. Siehe unten, S. 908f. Die Generalversammlung gab ihm Gelegenheit, seine Thesen einem breiten Publikum von Fachleuten vorzustellen.39Siehe unten, S. 157–207. Wiederum konzentrierte er sich auf die verschiedenen Typen der ländlichen Arbeitsverfassung in Deutschland, den Zerfall der patriarchalischen Strukturen im Osten, und, als Folge davon, die Abwanderung der deutschen Landarbeiter und deren fortschreitende Ersetzung durch polnische Wanderarbeiter. Er zögerte nunmehr nicht länger, die politischen Schlußfolgerungen klar herauszuarbeiten. Er wählte als Leitmotiv seiner Darlegungen das Staatsinteresse an der Erhaltung der deutschen Nationalität im Osten und ließ nunmehr keinen Zweifel mehr daran, daß aus seiner Sicht der unveränderte Fortbestand des Großgrundbesitzes im Osten Deutschlands nicht länger mit den Interessen der Nation vereinbar sei. Im übrigen erörterte er eingehend die praktischen Möglichkeiten, die es gebe, um ein weiteres Abwandern der deutschen Landarbeiter zu verhindern. Neben einer großzügigen staatlichen Siedlungspolitik in Fortführung der „inneren Kolonisation“, durch welche die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts verschwundenen Bauerndörfer wieder geschaffen werden müßten, sah er die besten Chancen darin, eine neue Schicht von Landarbeitern zu schaffen, die durch ein Pachtverhältnis in Verbindung mit einem Arbeitsvertrag an das Land gebunden würden. Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten stünden die Chancen für die ostelbische Großgüterwirtschaft nicht gut; er hielt es daher für unabweisbar, statt dessen [20]schrittweise zum vergleichsweise selbstgenügsamen Kleinbetrieb überzugehen, gerade deshalb, weil dieser nicht darauf angewiesen sei, für den Markt zu produzieren.

In den folgenden Jahren hat Max Weber diese provozierenden Thesen dann weiter entfaltet und zugleich die Gelegenheit wahrgenommen, sie einem breiteren Publikum zur Kenntnis zu bringen. Er veröffentlichte 1894 im Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, einer Zeitschrift, die von dem Sozialdemokraten Heinrich Braun herausgegeben wurde, eine umfängliche Abhandlung über „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter“ und setzte sich hier eingehend mit der fachwissenschaftlichen Detailkritik an seinen Untersuchungen auseinander. Gleichzeitig publizierte er diese Abhandlung in einer gestrafften, für das allgemeine Publikum bestimmten Fassung in den Preußischen Jahrbüchern, die von Hans Delbrück herausgegeben wurden und unter anderem auch unter der hohen Beamtenschaft eine breite Leserschaft hatten. Diese letztere Fassung ging näher auf die politischen Fragestellungen ein und akzentuierte die aktuellen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Zukunft des ostelbischen Großgrundbesitzes.40[20]Siehe unten, S. 362–462.

Bereits zuvor war es Max Weber gelungen, dank seiner guten persönlichen Beziehungen zu dem Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses, Paul Göhre, den Kongreß dafür zu gewinnen, seinerseits ebenfalls eine Enquete über die Lage der Landarbeiter durchzuführen, die sich nicht an die Arbeitgeber, sondern an die ländlichen Gemeindepfarrer richten sollte. Weber erwartete davon unparteiischere Ergebnisse als von einer ausschließlichen Befragung der Arbeitgeber; er wollte damit zugleich der von sozialdemokratischer Seite vorgetragenen Kritik an der Einseitigkeit der Enquete des Vereins für Socialpolitik entgegentreten.41In dieser Hinsicht erwies sich Max Webers Erwartung als zutreffend. Die sozialdemokratische Presse reagierte durchaus positiv auf die Enquete. Besonders die Aufforderung an die Geistlichen, Auskünfte, die nicht von den Arbeitern selbst stammten, besonders kenntlich zu machen, wurde „als methodologische Klarheit“ anerkennend vermerkt. Vgl. Sozialpolitisches Centralblatt, Nr. 23 vom 6. März 1893, S. 273f. Über die wirtschaftlichen Faktoren, die zum Zerfall der patriarchalischen Arbeitsverfassung im Osten beigetragen hatten, bestand aus seiner Sicht weitgehend Klarheit: Dazu gehörten insbesondere die Einführung einer intensiveren Bodenkultur anstelle des Getreidebaus, das Vordringen der Hackfruchtkultur, beides verbunden mit einem gesteigerten Bedarf an saisonalen Arbeitskräften, und die Einführung der Dreschmaschine.42Vgl. bes. den Schlußartikel der Landarbeiterenquete: Weber, Landarbeiter (MWG I/3), S. 895–903. Gänzlich unerforscht dagegen erschienen Weber die psychologischen Auswirkungen dieses Transforma[21]tionsprozesses. In einer Artikelserie „,Privatenquêten‘ über die Lage der Landarbeiter“, die seit April 1892 in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses erschien, heißt es: „[…] dagegen wird es die Aufgabe lokaler Privatenquêten sein müssen, die psychologischen Momente, welche teils als mitwirkende Ursachen, teils als Begleiterscheinungen und Folgen dieser Umgestaltung hervortreten, zu ermitteln.“43[21]Unten, S. 89f.

Der Evangelisch-soziale Kongreß griff diesen Vorschlag auf und machte sich ihn zu eigen. Am 22. Juni 1892 beschloß das Aktionskomitee die Durchführung der Enquete.44„Aus der letzten Sitzung des Aktionskomitees“, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 6. Daraufhin arbeiteten Max Weber und Paul Göhre einen umfangreichen Fragebogen aus. Um die Jahreswende 1892/93 wurde der Fragebogen zirka 15 000 protestantischen Geistlichen im Deutschen Reich zugesandt, da es technisch unmöglich war, die Gruppe der Landpfarrer gesondert anzuschreiben.45Siehe unten, S. 705f. – Vgl. auch den dazugehörigen Editorischen Bericht.

Noch vor dem Abschluß der Fragebogenaktion veröffentlichte Max Weber eine erste Bilanz der Enquete; Martin Rade öffnete ihm dafür, vermutlich durch Vermittlung Paul Göhres, die Spalten der Zeitschrift „Die christliche Welt“, des führenden Organs des deutschen Kulturprotestantismus.46„Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands“, unten, S. 208–219. Er begründete darin die Anlage des Fragenkatalogs und die damit verbundenen Zielsetzungen. Im übrigen äußerte er sich sehr befriedigt über die „ganz über alle Voraussicht gute“ Qualität der Berichte, die bislang eingegangen waren. Insgesamt hatten etwa zehn Prozent der angeschriebenen Gemeindepfarrer geantwortet.47Ebd., S. 217. Siehe ferner den Jahresbericht Paul Göhres, in: Bericht über die Verhandlungen des Vierten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 1. und 2. Juni 1893. – Berlin: Rehtwisch & Langewort 1893, S. 7. Darunter befand sich eine Reihe außerordentlich informativer Berichte; einer davon – der des ostpreußischen Pfarrers Carl Ludwig Fischer – wurde noch im Jahre 1893 als selbständige Broschüre veröffentlicht.48Fischer, Carl Ludwig, Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche. – Königsberg: Gräfe & Unzer, o. J. [1893]. Max Weber stellte diese Schrift im November 1893 gemeinsam mit zwei weiteren Studien von Landgeistlichen über sozialpolitische Fragen im Sozialpolitischen Centralblatt vor.49Siehe unten, S. 272–281.

Auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß in Frankfurt am Main im Mai 1894 referierten Paul Göhre und Max Weber über die Ergebnisse der [22]Enquete. Göhre gab seinem Vortrag eine kämpferische Note; gestützt auf Max Webers Analysen der ostelbischen Landarbeiterfrage forderte er eine großangelegte staatliche Siedlungspolitik im deutschen Osten; der Staat müsse „selbst die Initiative bei der Rentengutsbildung“ ergreifen und diese „planmäßig, distriktweise, unter allmählicher Verdrängung des großen Grundbesitzes“ durchführen, „mit dem letzten Ziele: in möglichst kürzester Frist den ganzen Osten mit Hunderttausenden von deutschen Bauern zu besiedeln […]. Es bedeutet das freilich nichts anderes als die Vernichtung der Vorherrschaft des östlichen Großgrundbesitzes und die Erhebung einer ganzen großen Volksschicht auf ein unendlich viel höheres wirtschaftliches, geistiges, und sittliches Niveau.“50[22]Bericht über die Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Frankfurt am Main am 16. und 17. Mai 1894. – Berlin: Rehtwisch & Langewort 1894, S. 58f. Max Weber äußerte sich in der Sache sehr viel zurückhaltender; er vermochte den Enthusiasmus seines Freundes Göhre nicht zu teilen und distanzierte sich von dessen allzu optimistischer Einschätzung der Chancen einer großzügigen Bauernansiedlung im Osten. Seine Ausführungen waren von einer resignativen Grundstimmung getragen. Aber dennoch bekannte er in der Sache deutlicher Farbe als zuvor: „Die Junker als Junker zu halten, als einen Stand von demjenigen sozialen und politischen Charakter, der sie in der Vergangenheit waren, wäre […] selbst mit ökonomischen Mitteln, wie sie uns nicht zu Gebote stehen, nicht möglich. Kann sich der Staat politisch dauernd auf einen Stand stützen, der selbst der staatlichen Stütze bedarf?“51Ebd., S. 92 = unten, S. 342. Nahezu ebensoviel Aufregung löste freilich Max Webers freimütige Erklärung aus, daß die Kirche den Tatsachen ins Gesicht sehen und den „Klassenkampf“ als ,,integrierende[n] Bestandteil der heutigen Gesellschaftsordnung“ anerkennen müsse.52Ebd., S. 73 = unten, S. 329. Es kann nicht überraschen, daß angesichts dieser Äußerungen die Enquete des Evangelisch-sozialen Kongresses in der Folge zum Gegenstand einer leidenschaftlich geführten politischen Debatte gemacht wurde, in der die eigentlichen Sachverhalte zunehmend in den Hintergrund traten.

Die sich an den Evangelisch-sozialen Kongreß in Frankfurt anschließende Auseinandersetzung in der Presse53Vgl. unten, S. 463–479. hat vermutlich dazu beigetragen, daß eine eingehende Auswertung der Ergebnisse der Enquete des Evangelisch-sozialen Kongresses am Ende unterblieb. Allerdings hatte Max Weber bereits in Frankfurt festgestellt: „Grundsätzliche, große Abweichungen von den Kenntnissen“, die bereits aus der Enquete des Vereins für Socialpolitik [23]gewonnen worden seien, habe die Enquete nicht gebracht.54[23]Unten, S. 316. Max Weber und Paul Göhre hatten vereinbart, die Auswertung der Berichte der Landgeistlichen untereinander aufzuteilen. Göhre sollte den Westen und Süden bearbeiten, Weber die ostelbischen Gebiete sowie die Provinz Sachsen und Anhalt. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Max Weber setzte statt dessen eine Reihe seiner Schüler an das Material, die dieses zur Grundlage von Promotionsarbeiten machten. Drei Dissertationen kamen in der Folge zustande, die Arbeiten von Salli Goldschmidt „Die Landarbeiter in der Provinz Sachsen, sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt“, Andreas Grunenberg „Die Landarbeiter in den Provinzen Schleswig-Holstein und Hannover östlich der Weser, sowie in dem Gebiete des Fürstentums Lübeck und der freien Städte Lübeck, Hamburg und Bremen“ und von Alfred Klee „Die Landarbeiter in Nieder- und Mittelschlesien und der Südhälfte der Mark Brandenburg“; sie wurden zwischen 1899 und 1902 in der von Max Weber herausgegebenen Reihe „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands“ veröffentlicht.55Siehe unten, S. 688f. Max Weber hatte sich dabei offenbar nicht mit dem Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses abgestimmt. Jedenfalls heißt es im Protokoll der Sitzung des Aktionskomitees vom 14. Juni 1899: „Enquete über die Landarbeiter. Die bisher erschienenen Hefte sind nach Mitteilungen des Vorsitzenden [Moritz August Nobbe] zwar nicht ganz konzis, doch sehr wertvoll und unparteiisch. Prof. Delbrück bemerkt, es sei nicht richtig gehandelt, daß Prof. Weber, ohne sich mit der Kongreßleitung in Verbindung zu setzen, über das Material zur Publikation verfügt habe.“ Akten des Evangelisch-sozialen Kongresses, Versöhnungskirche Leipzig-Gohlis, A I 2: Protokolle der Sitzungen des Aktionskomitees 1898 bis 1922. Den Hinweis hierauf verdanken wir Herrn Dr. Walter Mogk, München. Für das erste Heft verfaßte Weber neben einem kurzen Werbetext eine Vorbemerkung, in deren Rahmen auch der Fragebogen der Enquete wiedergegeben wurde.56Der Werbetext, die Vorbemerkung sowie eine Fußnote Webers zum zweiten Landarbeiterheft sind abgedruckt unten, S. 693–711. Eingangs beschrieb Max Weber hier die sozialpolitische Aufbruchstimmung zu Beginn der 1890er Jahre. Im übrigen legte er erneut die Zielsetzungen dar, die mit der Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses verbunden waren. Unter anderem sollten die Pfarrer mit den „psychologischen Konsequenzen der modernen Wirtschaftsentwicklung und Klassenbildung“ vertraut gemacht werden.57Unten, S. 709. Max Weber plante darüber hinaus noch ein viertes Heft sowie ein Schlußheft mit ausgewählten Berichten, für das er ein Resümee verfassen wollte. Beides ist jedoch nicht zustande gekommen. Weitere Materialien der Enquete wurden im Rahmen der von Max Weber betreuten Dissertationen von Felix Gerhardt und Karl Borries Breinlinger sowie der [24]Dissertation von Eugen Katz, einem Schüler Lujo Brentanos, verwendet.58[24]Siehe unten, S. 689. Die Berichte der Landgeistlichen wurden nach der Auswertung, so jedenfalls im Falle von Salli Goldschmidt, an das Heidelberger Seminar zurückgesandt. Wo sie verblieben sind, konnte nicht mehr ermittelt werden. Eine darüber hinausgehende Auswertung der Ergebnisse der Enquete durch Max Weber selbst, wie er sie ursprünglich beabsichtigt hatte, unterblieb nicht zuletzt infolge der Übernahme des Lehrstuhls in Freiburg, die ihn zwang, sich in kürzester Zeit in ein ganz neues Fachgebiet einzuarbeiten.59Max Weber führte rückblickend in der Vorbemerkung zum ersten Heft der Reihe „Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands“ von 1899 neben Schwierigkeiten, einen geeigneten Verlag zu finden, dafür persönliche Gründe an: die Übernahme des Lehramts, die mit einem Fachwechsel verbundenen Berufungen nach Freiburg und Heidelberg und schließlich seine Erkrankung. Siehe unten, S. 706.

Allerdings verfolgte Max Weber einen anderen, höchst ehrgeizigen, im Grunde nicht zu bewältigenden Plan, nämlich die Ergebnisse der Enqueten des Vereins für Socialpolitik und des Evangelisch-sozialen Kongresses mit einer Auswertung der amtlichen statistischen Materialien für Preußen zu kombinieren, um „daraus für die sämtlichen in Frage kommenden Gemeinden und Gutsbezirke das soziale und wirtschaftliche Ensemble, innerhalb dessen sich die Arbeiterschaft befindet […] zu ermitteln“.60Vgl. Max Webers diesbezügliche Hinweise auf dem fünften Evangelisch-sozialen Kongreß im Mai 1894, unten, S. 317. Siehe ferner Marianne Weber, Lebensbild1, S. 208: „So überspannt er den Bogen weiter. Das Material der Pastorenenquete wartet noch der Verarbeitung, sie soll aber zuvor durch umfängliche Berechnungen der ostelbischen Bevölkerungsbewegung in den einzelnen Landkreisen unterbaut werden.“ Offenbar beabsichtigte er, eine weitere, umfassende agrarstatistische Untersuchung zur Landarbeiterfrage zu veröffentlichen, die sich auf diese Daten stützen sollte.61Ein entsprechender Hinweis findet sich bereits in der Vorbemerkung zur Antrittsrede, in der er sich auf im Zusammenhang mit der Enquete berechnetes Zahlenmaterial stützte. Weitere Hinweise finden sich in seiner Rezension der Schrift Karl Grünbergs (unten, S. 584), seinem Artikel „Der preußische Gesetzentwurf über das Anerbenrecht bei Rentengütern“ (unten, S. 593) und in seinem Diskussionsbeitrag „Deutschland als Industriestaat“ (unten, S. 636f.). Vermutlich handelte es sich dabei um die „größere agrarstatistische Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapitalismus“, von der im Fideikommißaufsatz aus dem Jahre 1904 die Rede ist. Hier heißt es: „Ich meinerseits mußte mich […] nachstehend meist mit der Verwertung einigen Zahlenmaterials begnügen, welches ich vor Jahren zum Zweck einer größeren agrarstatistischen Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapitalismus zusammengestellt bzw. vorwiegend selbst errechnet hatte.“62Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: AfSS, Band 19, 1904, S. 504 (MWG I/8). Aus den Hinweisen in den zahlreichen kleineren agrarpolitischen Schriften und dem dort verwendeten Zahlenmaterial seit Mitte der 1890er Jahre ergibt sich, daß er mit dieser agrarstatistischen Untersuchung seine These noch weiter hat unter[25]mauern wollen, daß die mit kapitalistischen Methoden betriebene Großgüterwirtschaft des Ostens die deutschen Bauern und Landarbeiter zur Abwanderung veranlasse und die Einwanderung polnischer Arbeiter und Bauern begünstige. So bezieht sich Max Weber in seinem Gutachten von 1897 über die Einführung eines Heimstättenrechtes auf Berechnungen des ,,Procentsatz[es], welchen die am Orte oder im Kreise ihres Aufenthaltsortes nach der Volkszählung Geborenen von der gezählten Gesammtbevölkerung“ auf dem Lande ausmachten.63[25]Unten, S. 661. Er zog daraus die Schlußfolgerung, daß die Bevölkerung des Westens weit seßhafter sei als jene des Ostens: Die „Stabilität der Bevölkerung“ nehme „mit zunehmender Kleinheit der Durchschnittsgröße der landwirthschaftlichen Betriebe“ zu, während sie umgekehrt um so mehr absinke, „je mehr der landwirthschaftliche Großbetrieb, der, in die Conjuncturschwankungen des Weltmarktes verflochten, seiner Natur nach ein Saisonbetrieb ist, die wirthschaftlichen Verhältnisse beeinflußt.“64Unten, S. 666. Diese Beobachtungen brachte Weber pointiert auf die Formel, daß sich im Westen der Boden unter einer stabilen Bevölkerung bewege, im Osten aber die Bevölkerung über dem in starren Besitzverhältnissen festgefügten Boden.65Unten, S. 664. Auch in der Freiburger Antrittsrede wird auf diese Materialien Bezug genommen.66Unten, S. 545ff. Offenbar handelte es sich dabei vor allem um Datenreihen, die auf den Angaben der preußischen Gemeindelexika beruhten. Wegen seiner Erkrankung ist die erwähnte agrarstatistische Untersuchung jedoch nicht mehr zum Abschluß gekommen.67Max Weber ist ursprünglich fest entschlossen gewesen, diese umfangreiche Untersuchung doch noch zustande zu bringen. Vgl. Brief an Marianne Weber vom 13. August 1898 – Weber war zu diesem Zeitpunkt in einem Konstanzer Sanatorium in Behandlung „Bei dem Zusammenarbeiten dachte ich egoistischer Weise auch an meine Sachen, und zwar nicht etwa wieder nur als Schreib-Sekretär oder als Rechenmaschine. Ich muß an meine agrarstatistische Arbeit gehen, sobald ich gesund bin.“ Dabei rechnete er mit der Hilfe seiner Frau. Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. – Übrigens hat Max Weber auch während seines Aufenthalts im Sanatorium intensiv gearbeitet und die in der (heutigen) Wessenberg-Bibliothek vorhandenen reichhaltigen Bestände zur Sozial-, Wirtschafts- und Finanzgeschichte Badens im 19. Jahrhundert benutzt (Hinweis von Prof. Horst Baier, Schreiben vom 11. Jan. 1993). Vgl. auch Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 214: „Das kostbare Zahlenmaterial wurde teils Schülern zur Verfügung gestellt, teils bei späteren agrarpolitischen Aufsätzen verwertet.“ Im Fideikommißaufsatz aus dem Jahre 1904, der in gewissem Sinne den Abschluß seiner ersten, agrarpolitischen Werkphase darstellt, hat Max Weber dann noch einmal auf diese umfangreichen, aber offenbar noch weitgehend unaufbereiteten statistischen Materialien zurückgegriffen.68Vgl. Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage, [26]S. 563f., Anm. 1 (MWG I/8). Hier zitiert Weber zum Teil dieselben Prozentzahlen in bezug auf die ländlichen Kreisgebürtigen wie schon 1897 im Heimstättengutachten, unten, S. 661f.

[26]3. Max Webers Engagement in der Evangelisch-sozialen Bewegung und im Nationalsozialen Verein

Max Weber war in seinen frühen Jahren der Evangelisch-sozialen Bewegung eng verbunden.69Vgl. zum Folgenden auch: Aldenhoff, Rita, Max Weber und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 285–295. Seine Mutter Helene Weber und Otto Baumgarten, sein Vetter und Freund aus den Straßburger Tagen, hatten ihn bereits Ende der 1880er Jahre in Verbindung mit dem Kreis von sozialpolitisch engagierten Theologen gebracht. Diese beteiligten sich dann 1890 am Evangelisch-sozialen Kongreß und benutzten diesen als Forum, um für eine Öffnung der evangelischen Kirche gegenüber den brennenden sozialen Fragen der Gegenwart zu wirken und die Arbeiterschaft wieder für die christliche Botschaft zu gewinnen.70Vgl. dazu Brakelmann, Günter, Krieg und Gewissen. Otto Baumgarten als Politiker und Theologe im Ersten Weltkrieg. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 10f. Zeitweilig hat Max Weber sogar an den von Otto Baumgarten herausgegebenen Evangelisch-sozialen Zeitfragen, einem halboffiziösen Organ des Evangelisch-sozialen Kongresses, mitgearbeitet.71In Otto Baumgartens Erinnerungen heißt es: „Immerhin befriedigte meinen politischen Ehrgeiz die Übertragung der Herausgabe der ,Evangelisch-sozialen Zeitfragen‘, eines halboffiziösen Unternehmens des Evangelisch-sozialen Kongresses, dessen Programm ich mit Max Weber zusammen entworfen hatte.“ Baumgarten, Otto, Meine Lebensgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1929, S. 215. Bei Weber ist allerdings nur die Rede davon, daß er Baumgarten „einen Teil der zu führenden Correspondenzen etc. abgenommen“ und bei Freunden in Berlin für die Zeitschrift geworben habe. Vgl. Brief an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 7; Weber, Max, Jugendbriefe. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) [1936], S.324f. Einige Passagen aus dem Programm der Evangelisch-sozialen Zeitfragen bzw. dem Anschreiben zur Werbung von Mitarbeitern, die bei Baumgarten, Otto, Der Seelsorger unsrer Tage (Evangelisch-soziale Zeitfragen, 1. Reihe, 3. Heft). – Leipzig: Fr. W. Grunow 1891, S. 19f., wiedergegeben werden, lassen auf eine sehr enge Kooperation beider schließen. Weber warb auch bei Adolph Wagner für das Unternehmen. Vgl. Adolph Wagner, Briefe, Dokumente, Augenzeugenberichte 1851–1917, hg. von Heinrich Rubner. —Berlin: Duncker & Humblot 1978, S. 260. Außerdem sagte er Otto Baumgarten im Frühjahr 1892 eine Abhandlung über „die Landarbeiter und den Großgrundbesitz im Osten“ für die Evangelisch-sozialen Zeitfragen zu, die aber nicht zustande gekommen ist.72Vgl. Brief an Hermann Baumgarten vom 28. April 1892, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 7 (Jugendbriefe, S. 344). Dort heißt es: „Der Sommer wird sich also, denke ich, ziemlich arbeitsreich gestalten, zumal ich auch Otto ein ‚blaues Heft‘ über die Landarbeiter und den Großgrundbesitz im Osten zugesagt habe.“

[27]Der Evangelisch-soziale Kongreß konnte auf die Unterstützung breiter Kreise der protestantischen Bildungsschicht zählen, die eine fortschrittliche Sozialpolitik für das Gebot der Stunde ansahen. Auch der Evangelische Oberkirchenrat hatte sich dem vom Kaiser persönlich autorisierten neuen sozialpolitischen Kurs angeschlossen und den Geistlichen nahegelegt, die begründeten sozialen Forderungen der Arbeiterschaft ernstzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ungeachtet der Notwendigkeit, den Einfluß der Sozialdemokratie auf die Arbeiterschaft weiterhin mit allen Kräften einzudämmen.73[27]Vgl. Pollmann, Klaus Erich, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890. – Berlin, New York: Walter de Gruyter 1973, S. 86–88. Der Evangelisch-soziale Kongreß verfolgte, wie es in seinen Satzungen hieß, das Ziel, das soziale Leben „an dem Maßstabe der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirthschaftsleben fruchtbarer und wirksamer zu machen“, und zwar auf der Basis einer „vorurtheilslosen“ Untersuchung der sozialen Zustände.74Siehe Abschnitt 1 der Satzungen, in: Bericht über die Verhandlungen des Zweiten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 28. und 29. Mai 1891. – Berlin: Vaterländische Verlags-Anstalt 1891, S. 126. Dem Kongreß gehörten neben Theologen, höheren Beamten und Hochschullehrern verschiedener Fachrichtungen auch zahlreiche Nationalökonomen an, die großenteils zugleich Mitglieder des Vereins für Socialpolitik waren. Der Berliner Nationalökonom Adolph Wagner war Mitglied des Aktionskomitees, des maßgeblichen Leitungsgremiums des Evangelisch-sozialen Kongresses.

Max Weber beteiligte sich aktiv an der Arbeit des Evangelisch-sozialen Kongresses und war nahezu auf allen Kongressen von 1890 bis 1897 zugegen.75Nach Ausweis der jeweils am Ende der Verhandlungsberichte gedruckten Teilnehmerverzeichnisse fehlte Weber nur auf dem zweiten Kongreß am 28. und 29. Mai 1891. Er steckte zu dieser Zeit in Arbeiten für die Drucklegung seiner Habilitationsschrift und mußte zudem im Juni und Juli seine dritte Offiziersübung in Posen absolvieren. Vgl. die Ausführungen Jürgen Deiningers in MWG I/2, S. 60f. Sein Interesse galt in erster Linie den sozialpolitischen Fragen, doch engagierte er sich auch sonst in der Christlich-sozialen Bewegung. 1892 gewann Max Weber, wie bereits dargelegt wurde, den Evangelisch-sozialen Kongreß dafür, seinerseits eine ergänzende Enquete über die Lage der Landarbeiter durchzuführen, die sich nicht an die Arbeitgeber, sondern an die Pfarrer richtete, von denen eine unparteiischere Beurteilung der Verhältnisse erwartet werden konnte.76Siehe unten, S.209f. In diesem Zusammenhang wurde er 1892 in den Ausschuß des Evangelisch-sozialen Kongresses kooptiert, doch hat er sich an dessen Tätigkeit, soweit wir wissen, nicht [28]intensiver beteiligt.77[28]Max Weber hat allerdings vermutlich während seiner Berliner Zeit an den Ausschußsitzungen teilgenommen. Die entsprechende Akte mit den Protokollen der Sitzungen (A I 1, 1890–1898) ließ sich unter den Akten des Kongresses in Leipzig-Gohlis nicht mehr auffinden. Er nutzte den Kongreß als ein Instrument, um seinen Auffassungen über die Landarbeiterfrage eine noch größere Resonanz zu verschaffen. Unter anderem hielt er im Rahmen der Bildungsarbeit der Evangelisch-sozialen Bewegung eine bemerkenswerte Zahl von Vorträgen und Vortragszyklen, vorwiegend über agrarpolitische Themen, die einen nicht unerheblichen Zulauf hatten und über die in der Presse ausführlich berichtet wurde.

In politischer Hinsicht schlug sich Max Weber von Anbeginn auf die Seite der jüngeren Christlich-sozialen Richtung, die im Gegensatz zu den älteren Christlich-Sozialen, deren vornehmster Sprecher der ehemalige Hofprediger Wilhelms II. Adolf Stoecker war, mit der herkömmlichen patriarchalischen Sozialpolitik obrigkeitlicher Prägung brechen wollte und statt dessen für das Recht der Arbeiterschaft zur selbständigen Vertretung ihrer sozialen Interessen eintrat. Als Paul Göhre im November 1892 wegen seiner Schrift „Drei Monate Fabrikarbeiter“78Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. – Leipzig: Fr.W. Grunow 1891. von dem orthodoxen Greifswalder Theologen Hermann Cremer scharf angegriffen und ihm vorgehalten wurde, daß er damit die Grenzen der für einen angehenden Pfarrer gebotenen Zurückhaltung weit überschritten habe, kam ihm Max Weber publizistisch zur Hilfe. Webers Artikel „Zur Rechtfertigung Göhres“79Siehe unten, S. 106–119. legte den Grundstein nicht nur für die Kooperation mit Göhre bei der Landarbeiterenquete, sondern auch für die enge Zusammenarbeit bei der Durchführung einer ganzen Reihe von nationalökonomischen Kursen für Theologen, die der Evangelisch-soziale Kongreß bereits bei seiner Gründung geplant hatte. Diese Kurse verfolgten den Zweck, Theologen in die wirtschaftlichen und sozialen Tagesprobleme einzuführen; sie sollten nicht nur einer „vorurtheilslosen“ Beurteilung der sozialen Zustände durch die Repräsentanten der evangelischen Kirche dienen, sondern auch dem von konservativer Seite wiederholt erhobenen Vorwurf begegnen, daß die evangelisch-sozialen Theologen sozialpolitischen Dilettantismus betrieben.

Im Oktober 1893 führte der Evangelisch-soziale Kongreß in Berlin den ersten Kursus dieser Art durch. Max Weber war an führender Stelle beteiligt. In einem Artikel in der „Christlichen Welt“ stellte er im August 1893 das ganze Projekt vor;80Siehe unten, S. 229–237. er betonte, daß diese im Gegensatz zu den praktisch-sozialen Kursen des Volksvereins für das katholische Deutschland und den [29]Kursen der evangelischen Arbeitervereine rein wissenschaftlich ausgerichtet seien; damit würden weder speziell evangelische noch politische Ziele verfolgt. Ebenso beteiligte er sich als Referent. Er übernahm eine achtstündige Vorlesungsreihe „Landwirtschaft und Agrarpolitik“, für die er auch einen „Grundriß“ zur Verteilung an die Hörer verfaßte,81[29]Siehe unten, S. 254–271. in dem das statistische Material und weiterführende Literaturangaben zusammengestellt waren. Darüber hinaus führte er abschließend eine dreistündige Diskussion zu seinem Thema durch. Dieser großangelegte, sich über zwei Wochen erstreckende Kursus mit insgesamt sieben namhaften Referenten hatte mit zirka fünfhundert Besuchern, die das Auditorium maximum der Berliner Universität füllten, einen beachtlichen Publikumszuspruch. Auch an dem Kurs des Jahres 1896, der zweiten und zugleich letzten vom Kongreß in Berlin durchgeführten Veranstaltung dieser Art, der allerdings mit 60–100 Teilnehmern eher schwach besucht war,82Im Bericht der Täglichen Rundschau, Nr. 276 vom 24. Nov. 1896, S. 1101, ist von 60 Teilnehmern die Rede, von 100 Hörern spricht dagegen Immanuel Voelter. Vgl. Evangelisches Ringen um soziale Gemeinschaft. Fünfzig Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß 1890–1940, hg. von Johannes Herz. – Leipzig: J.C. Hinrichs, Leopold Klotz 1940, S. 24. beteiligte sich Max Weber mit einem Referat über Börsenfragen.83Die diesbezüglichen Berichte werden in MWG I/5 veröffentlicht. Auch an den 1897 in Karlsruhe veranstalteten nationalökonomischen Kursen, die 280 Hörer angezogen hatten, wirkte Max Weber in erheblichem Maße mit. Diese Tagungen wurden jeweils von den Landesvereinigungen des Kongresses abgehalten, in diesem Falle von der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden und der Evangelisch-sozialen Konferenz für Württemberg. Weber zählte zusammen mit seinem Freiburger Fachkollegen Gerhart von Schulze-Gaevernitz und dem Verlagsbuchhändler Paul Siebeck zu den Mitgliedern der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden.84Vgl. den Artikel „In der Organisation der evangelisch-sozialen Bewegung in Baden“, in: Freiburger Zeitung, Nr. 48 vom 27. Febr. 1896, 2. BI., S. 2. Er setzte sich persönlich für die Durchführung der Kurse ein und gewann andere Nationalökonomen dafür, an diesen als Referenten mitzuwirken. Weber selbst übernahm eine sechsstündige Vortragsreihe über „Agrarpolitik“ zuzüglich einer zweistündigen Diskussion.85Vgl. die ausführlichen Zeitungsberichte unten, S. 826–841, sowie den von Weber mitunterzeichneten Aufruf zum Besuch des Kurses, unten, S. 900–903.

Die Mitarbeit Max Webers im Rahmen des protestantischen Vereinswesens beschränkte sich nicht darauf, sein Fachwissen als Nationalökonom zur Verfügung zu stellen. Hin und wieder nahm er an theologischen Gesprächskreisen teil. Er gehörte zum Kreis der „Freunde der Christlichen Welt“, der sich regelmäßig traf und über theologische Reformen diskutier[30]te.86[30]Siehe dazu: Rathje, Johannes, Die Welt des freien Protestantismus. Leben und Werk von Martin Rade. – Stuttgart: Ehrenfried Klotz 1952, S. 84–95, bes. S. 90. So nahm er nachweislich an dem Treffen der „Freunde der Christlichen Welt“ im Oktober 1893 in Berlin teil.87In einem Brief an Martin Rade vom 23. Dez. 1893, UB Marburg, Nl. Martin Rade, Ms. 839, nimmt Max Weber Bezug auf die „Conferenz der ,Freunde der Chr[istlichen] W[elt]‘ hier im October“, auf der Meinungsverschiedenheiten über einen Protest gegen den neuen Agendenentwurf „zu Tage“ getreten seien. Auch Friedrich Naumann nahm an diesem Treffen teil. Er berichtete: „Die Freunde der Christlichen Welt waren auch an einem Abende versammelt, aber was sie verhandelten, war mehr privater Natur.“ Die christliche Welt, Nr. 52 vom 21. Dez. 1893, Sp. 1251. 1893/94 beteiligte er sich an einer von mehr als 800 Protestanten unterzeichneten Eingabe an den Evangelischen Oberkirchenrat, die gegen die Pläne der preußischen evangelischen Landeskirche gerichtet war, eine neue Gottesdienstordnung einzuführen. Die Unterzeichner dieser Petition sahen in der neuen Agende einen Angriff auf die individuellen Glaubensansichten und -äußerungen der Geistlichen und ihrer Gemeindemitglieder.88Die von Weber mitunterzeichnete Eingabe ist abgedruckt unten, S. 866–871.

Nach dem Ende des fünften Evangelisch-sozialen Kongresses 1894, auf dem Paul Göhre und Max Weber über die Ergebnisse der Landarbeiterenquete berichtet hatten,89Vgl.oben, S. 21f. kam es zu heftigen Kontroversen in der Presse, insbesondere wegen der scharfen Kritik an der großgrundbesitzenden Aristokratie, die Göhre vorgetragen und dem Max Weber, wenn auch zögernd, sekundiert hatte. Max Weber griff mit einem Artikel „Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß“ in die Debatte ein.90Siehe unten, S. 463–479. Die Angriffe auf den „Pastorensozialismus“ des Evangelisch-sozialen Kongresses erreichten nur wenig später einen Höhepunkt mit einer spektakulären Rede des saarländischen Schwerindustriellen Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg im Reichstag vom Januar 1895 anläßlich der ersten Lesung der sog. „Umsturzvorlage“.91Vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 160–165. Von Stumm verlangte nicht nur eine drastische Verschärfung der bestehenden gesetzlichen Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie, sondern griff auch die Evangelisch-soziale Bewegung und den Verein für Socialpolitik wegen ihrer angeblichen Komplizenschaft mit der Sozialdemokratie scharf an. Ebenso kritisierte er die von Adolph Wagner unterstützten Bestrebungen in Berliner Studentenkreisen, sich in einer Sozialwissenschaftlichen Vereinigung zusammenzuschließen und Vorträge zur Einführung in die sozialen Fragen und in die Nationalökonomie für Hörer aller Fachrichtungen zu veranstalten. Zwischen Adolph Wagner, einem der führenden Repräsentanten sowohl des Vereins für Socialpolitik als auch des Evangelisch-sozialen Kongresses, und von Stumm entspann sich daraufhin [31]eine Kontroverse, die in einer Duellforderung an Wagner gipfelte, deren Annahme dieser jedoch zurückwies. Als von Stumm daraufhin Wagner indirekt der Feigheit bezichtigte, kam Max Weber Adolph Wagner mit zwei, in der Kreuzzeitung veröffentlichten, Zuschriften zu Hilfe, in denen die Anwürfe Stumms in schärfster Form zurückgewiesen wurden.92[31]Siehe unten, S. 512–523. Diese Kontroversen trugen dazu bei, daß die Richtungskämpfe im Evangelisch-sozialen Kongreß zwischen dem sozialkonservativen und dem progressiven Flügel nunmehr offen zum Austrag kamen. Dabei spielte allerdings eine Rolle, daß der Evangelische Oberkirchenrat die konservative Wende in Preußen mitvollzog und in einem Erlaß vom 16. Dezember 1895 den sozialreformerischen Bestrebungen der Pastoren wieder enge Grenzen zog.93Vgl. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, S. 232–235. Zunächst trat der äußerste rechte Flügel, unter der Führung von Martin von Nathusius, aus dem Kongreß aus. 1896 schied schließlich auch Adolf Stoecker aus. Er begründete ein Jahr später die Freie kirchlich-soziale Konferenz.

Max Weber geriet dadurch in eine prekäre Lage. Moritz August Nobbe, der neue Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses, war bestrebt, dem Eindruck in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken, als ob der Kongreß immer stärker nach „links“ drifte. Vermutlich aufgrund solcher Erwägungen wurde daher darauf verzichtet, Max Weber als Referenten für den nationalökonomischen Ferienkursus im Herbst 1895 vorzuschlagen, der vom Verein für Socialpolitik im Einvernehmen mit dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Berlin durchgeführt werden sollte. Jedenfalls nahm Max Weber an, daß Nobbe ihn absichtlich nicht vorgeschlagen habe, damit „kein ,Anrüchiger‘ wie ich sprechen würde“.94Brief an Karl Oldenberg vom 18. Jan. 1895, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/4. Vgl. auch den Brief an Karl Oldenberg vom 28. Jan. 1895, ebd.: „Was den Punkt betr. den Kursus anlangt, so habe ich gegen niemand als Nobbe ,Argwohn‘, gegen diesen aber mit Recht, – d. h. ich fand es eine Dreistigkeit, daß er, der garnichts für den Kursus s. Zt. geleistet hat, über die Köpfe aller Beteiligten hinweg zu verhandeln sich für zuständig erachtete. Meines E.s sind ein Kursus des Vereins für Sozialpolitik und ein solcher des evangelisch-sozialen Kongresses absolut verschiedene Dinge. Bei dem ersteren wäre es eine höchst lächerliche Prätention, wenn ich, wie Sie fast zu glauben scheinen, meinte, ich hätte bei dessen Veranstaltung oder Nichtveranstaltung mitzureden, dagegen erhebe ich die Prätention, und zwar für uns alle, bei dem letzteren.“ Obwohl die Unstimmigkeiten mit Nobbe fortdauerten, kündigte Max Weber seine Teilnahme am Kongreß und Mitarbeit in der Evangelisch-sozialen Bewegung nicht auf.95Im Oktober 1897 erklärte Weber allerdings, er wolle, falls Nobbe Göhre hinausdrängen sollte, ebenfalls aus dem Kongreß austreten: „Natürlich werde ich mir die Sache noch überlegen, aber ich sehe dann keinen Grund drinzubleiben, denn einem Censurgericht [32]dieses dummen Schwätzers und Hänschen Delbrücks zu unterstehen ist mir denn doch nicht schmackhaft.“ Brief an Helene Weber vom 17. Okt. 1897, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3, BI. 175f. Vielmehr entfaltete [32]er innerhalb der Evangelisch-sozialen Bewegung weiterhin eine bemerkenswerte Aktivität. Zwischen 1895 und 1897 referierte er in zahlreichen lokalen Vereinigungen: im Evangelisch-sozialen Vortragsverein in Frankfurt am Main, der dem von Friedrich Naumann begründeten Evangelischen Arbeiterverein nahestand;96Siehe die Zeitungsberichte, unten, S. 720–728. er sprach auf dem Jahresfest des Oberhessischen Vereins für innere Mission in Gießen,97Unten, S. 732–742. und wiederum in Frankfurt am Main in dem dortigen, eher sozialkonservativ ausgerichteten Christlich-sozialen Verein.98Unten, S. 791–798. Ebenso beteiligte er sich, wie bereits erwähnt, an einem sozialwissenschaftlichen Kurs der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden und der Evangelisch-sozialen Konferenz für Württemberg vom 4. bis 8. Oktober 1897 mit einer Vortragsreihe über Agrarpolitik.99Siehe unten, S. 826–841. Schließlich hielt er am 7. Dezember 1897 im Evangelischen Vereinshaus in Straßburg einen Vortrag über „Bodenverteilung und Bevölkerungsbewegung“.100Siehe unten, S. 853–855. Alles in allem war das Engagement Max Webers in der Evangelisch-sozialen Bewegung dieser Jahre also sehr erheblich.

In diesem Zusammenhang trat Friedrich Naumann, der zu Beginn der 1890er Jahre Vereinsgeistlicher der Inneren Mission in Frankfurt am Main war und in der evangelischen Arbeitervereinsbewegung jener Jahre eine führende Rolle spielte, immer stärker in das Gesichtsfeld Max Webers.101Vgl. dazu Spael, Wilhelm, Friedrich Naumanns Verhältnis zu Max Weber. – St. Augustin: Liberal-Verlag 1985, S. 15ff., sowie Theiner, Peter, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919). – Baden-Baden: Nomos 1983, S. 34–39. Die zahlreichen Schriften des jungen, sozialpolitisch hoch engagierten Theologen über das Verhältnis der evangelischen Kirche zu Arbeiterschaft und Sozialismus waren damals in aller Munde; sie dürften der Aufmerksamkeit Max Webers kaum entgangen sein.102 Vgl. Spael, Friedrich Naumann, S. 15f. Es ist anzunehmen, daß Max Weber spätestens auf dem dritten Evangelisch-sozialen Kongreß in Berlin 1892 die persönliche Bekanntschaft Friedrich Naumanns gemacht hat; dieser hielt dort ein viel beachtetes Referat über „Christentum und Familie“, das auch Max Webers Interesse gefunden haben dürfte.103 Naumann, Friedrich, Christentum und Familie, in: Bericht über die Verhandlungen des Dritten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin am 20. und 21. April 1892. – Berlin: Rehtwisch & Seeler 1892, S. 8–28. Max Weber war [33]von der Unbedingtheit des Einsatzes des jungen Theologen für die Hebung der sozialen Lage der Arbeiterschaft tief beeindruckt und stand ihm auch menschlich nahe. Ende 1893 erkundigte sich Max Weber, der irrtümlich annahm, Naumann sei wegen seiner sozialpolitischen Aktivitäten aus seiner Stellung entlassen worden, bei Naumanns Schwager Martin Rade nach Möglichkeiten einer Unterstützung desselben: „Glauben Sie, daß irgend Jemand mir oder meinen Freunden hier Zugängliches ihm irgend nützlich sein kann? Ich meine damit natürlich nicht, daß ihm die Unehre einer ,Verwendung für ihn‘, angethan werden soll, sondern nur, daß ich nicht weiß[,] was er vorhat und ob ihm irgend welche persönlichen Anknüpfungen für seine, wie immer gearteten, Zwecke von Nutzen sein könnten, oder was sonst.“104[33]Brief an Martin Rade vom 23. Dez. 1893, UB Marburg, Nl. Martin Rade, Ms. 839.

Max Weber war freilich nicht davon überzeugt, daß es möglich sein werde, eine Verbesserung der bestehenden sozialen Verhältnisse oder gar eine Überwindung der Klassenlage der Arbeiterschaft auf dem Wege moralischer Einwirkung auf die Betroffenen, einschließlich der Unternehmerschaft, zu erreichen, wie dies Friedrich Naumann vorschwebte. In einer Rezension von Naumanns Gesammelten Aufsätzen „Was heißt Christlich-Sozial?“ formulierte Max Weber seine abweichende Position in dieser Frage mit großer Präzision; der „Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse“ im modernen kapitalistischen System und deren Ersetzung durch die „unpersönliche Herrschaft der Klasse der Besitzenden“ stehe einer religiös begründeten Einwirkung auf die Sozialbeziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern grundsätzlich im Wege. Ebenso mißbilligte er, daß Naumann die Stoßrichtung seiner Kritik in erster Linie gegen das große Kapital richte.105Siehe unten, S. 356f. Diese grundsätzliche Kritik hinderte Max Weber jedoch nicht daran, in der Folge eng mit Friedrich Naumann zusammenzuarbeiten und ihn in seinen sozialpolitischen Bemühungen wo immer möglich zu unterstützen. So verfaßte er für Naumanns „Göttinger Arbeiterbibliothek“ zwei allgemeinverständliche Darstellungen über das Börsenwesen, deren erste 1894 erschien.106Weber, Max, Die Börse. I. Zweck und äußere Organisation (Göttinger Arbeiterbibliothek, 1. Band, 2. und 3. Heft). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1894, S. 17–48; Die Börse. II. Der Börsenverkehr (ebd., 2. Band, 4. und 5. Heft). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1896, S. 49–80 (beides: MWG I/5). Als Friedrich Naumann daranging, eine neue Wochenschrift „Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe“ zu begründen, um der Christlich-sozialen Bewegung ein wirksames Sprachrohr in der Öffentlichkeit zu verschaffen, unterstützte Max Weber ihn mit einer Bürgschaft107Brief an Martin Rade vom 17. Aug. 1894, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, [34]Nr. 106, BI. 116f., sowie: Brief an Friedrich Naumann vom 4. Nov. 1894, ebd., Nr. 60, Bl. 9f. und erklärte sich darüber hinaus dazu bereit, daß er als [34]künftiger Mitarbeiter genannt werde.108In der ersten Probenummer war Max Weber denn auch namentlich genannt. Siehe Die Hilfe, 1. Probenummer, 2. Dez. 1894, S. 4. Eigene Artikel hat Max Weber in der „Hilfe“ jedoch nicht veröffentlicht. Im übrigen war Naumann bestrebt, Max Weber noch enger an sich zu binden. So wurde dieser zu Pfingsten 1895 in das „Comité der Freunde der Hilfe“ gewählt. Am 4. Dezember 1895 nahm er an einem Treffen der „Freunde der Hilfe“ aus Hessen und Hessen-Nassau in Frankfurt am Main teil.109Siehe unten, S. 885f.

Hingegen gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Max Weber und Friedrich Naumann nicht mehr ganz so reibungslos, als letzterer im August 1895 dazu überging, der jüngeren Christlich-sozialen Bewegung ein eigenständiges politisches Forum zu schaffen, da sich abzeichnete, daß der Evangelisch-soziale Kongreß für wirksame politische Arbeit im Sinne ihrer Ideale nicht länger tauglich war.110Vgl. Heuss, Theodor, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit – Stuttgart, Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1937, S. 143f. Obschon dies eigentlich ganz im Sinne Max Webers war, der ja eine Änderung der bestehenden Verhältnisse mit rein theologisch-moralischen Mitteln für unmöglich hielt und Naumann selbst auf den Weg zu politischer Aktion verwiesen hatte, hielt er dies zumindest für verfrüht. Naumanns Gedanke, Max Weber möge neben von Schulze-Gaevernitz als sog. „Agent“ an der praktischen Organisation einer eigenständigen christlich-sozialen bzw. national-sozialen Vereinigung mitwirken, wurde von letzterem mit großer Zurückhaltung aufgenommen.111Siehe Rundbrief Friedrich Naumanns vom 14. Aug. 1895, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 232, sowie die Antwort Max Webers vom 22. Sept. 1895, ebd. Weber zeigte sich hinsichtlich der „Agententätigkeit“ abgeneigt, erklärte sich aber bereit, an Zusammenkünften des „engeren Kreises (Comités)“, am liebsten in Frankfurt am Main, teilzunehmen. Ebenso beteiligte er sich nur mit halbem Herzen an den Vorbereitungen für die Herausgabe einer neuen Tageszeitung, die den Boden für die Gründung einer national-sozialen Vereinigung auf christlicher Grundlage vorbereiten sollte, und warnte von Anfang an vor einer verfrühten Parteibildung. Inwieweit Weber im Januar und Februar 1896 an der Ausarbeitung der Richtlinien für diese Tageszeitung, die den Titel „Die Zeit. Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage“ erhalten sollte, unmittelbar beteiligt war, ist nicht mehr feststellbar.112„Die Zeit“ ist vom 1. Okt. 1896 bis 30. Sept. 1897 in Berlin erschienen. Er gehörte jedenfalls dem Komitee an, das die Gründung der Zeitung vorbereiten sollte. Die im Februar 1896 ausgearbeiteten Leitlinien für den redaktionellen Kurs der Zeitung wurden auch von [35]ihm unterzeichnet;113[35]Siehe unten, S. 885–895. sie deckten sich weitgehend mit dem späteren Programmentwurf des Nationalsozialen Vereins.

Max Weber betrachtete eine definitive Trennung Naumanns und seiner engeren Gefolgschaft vom Evangelisch-sozialen Kongreß zu diesem Zeitpunkt als taktischen Fehler. Als ihm im April 1896 zugetragen wurde, daß Friedrich Naumann nicht an dem im Mai bevorstehenden Evangelisch-sozialen Kongreß in Stuttgart teilnehmen wolle, beschwor er diesen, gleichwohl nach Stuttgart zu kommen und auch in der „Hilfe“ zur Teilnahme aufzufordern.114Brief an Friedrich Naumann vom 22. April 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, BI. 6. Nur wenige Tage später lud Max Weber im Namen der Evangelisch-sozialen Vereinigung für Baden Friedrich Naumann zu einem öffentlichen Vortrag nach Freiburg ein. Ein Teil der Vereinigung wünsche, wie Weber ihm mitteilte, einen Vortrag über die „Pflichten der Gebildeten gegenüber den unteren Klassen“. Die Mehrheit, einschließlich seiner selbst, vertrete hingegen die Auffassung, daß Naumann sich „keinesfalls an rein ethische Erörterungen binden, sondern auch gewisse Grundzüge programmatischen Charakters erkennen lassen“ solle; so möge er seinem „Empfinden nach etwa dem Gegensatz gegen den ökonomischen Patriarchalismus deutlichen Ausdruck verleihen“.115Brief an Friedrich Naumann vom 29. April 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, BI. 119f. Darin lag ein vorsichtiger Versuch, Friedrich Naumann in seinem Sinne zu beeinflussen und zu konkreteren sozialpolitischen Stellungnahmen zu bewegen. Obschon sich Naumann wesentlich unter dem Einfluß Max Webers von seinen ursprünglichen Ideen eines christlichen Sozialismus abgewandt und sich der Forderung nach einer kraftvollen nationalen Weltpolitik, verbunden mit grundlegenden sozialen Reformen und einer Liberalisierung im Innern angeschlossen hatte,116Vgl. dazu Mommsen, Max Weber2, S. 74–76. war Max Weber jedoch nach wie vor nicht begeistert von dessen Plan, schon jetzt eine eigenständige politische Partei oder auch nur politische Vereinigung zu gründen. Zwar unterstützte er noch im September 1896 die in Vorbereitung befindliche Tageszeitung „Die Zeit“ mit einer Spende von 500 Mark;117Siehe unten, S. 612. an dem Treffen der Gruppe um Naumann am 6. August 1896 in Heidelberg, bei dem über konkrete Schritte im Sinne der Gründung einer politischen Vereinigung beraten werden sollte, nahm er jedoch absichtlich nicht teil. Er schrieb an Friedrich Naumann, er sei zu dem Heidelberger Treffen nicht gekommen, um ihn und Paul Göhre nicht zu [36]verletzen, halte aber nichts von dem „Versuch[,] die Ernte zu schneiden[,] ehe sie reif ist“.118[36]Brief an Friedrich Naumann vom 13. Aug. [1896], ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, BI. 4f.

Im Herbst 1896 kam es wiederholt zu Begegnungen beider Männer, sowohl in Heidelberg wie in Berlin, bei denen die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über die einzuschlagende Strategie jedoch nicht ausgeräumt werden konnten, sondern sich eher noch verhärteten; alles, was erreicht wurde, war „to agree to disagree“. Helene Weber, die selbst der Christlich-sozialen Bewegung nahestand, äußerte sich in einem Brief an ihre Schwester Ida Baumgarten sehr besorgt darüber, in welcher Weise ihr Sohn wohl auf der für November geplanten Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins in Erfurt auftreten werde: „Er wird auch im November nach Erfurt gehen und dort sprechen, im vollen Einverständnis mit Naumann seine abweichenden Ansichten entwickeln, um zur Klärung der Ziele beizutragen. Worum mir bange ist, ist, daß er dort mit Göhre und seiner etwas sehr unklaren unreifen Formulierung der Partei der kleinen Leute zusammenstoßen und sich etwa schroff auseinandersetzen wird“.119Brief Helene Webers an Ida Baumgarten vom 7. Okt. 1896, zitiert nach: Baumgarten, Eduard, Max Weber. Werk und Person. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1964, S. 331. Ausführlicher zitiert in diesem Band, unten, S. 613, dort, S. 614–617, auch alle weiteren Nachweise für das Folgende.

In der Tat kam es Ende November 1896 in Erfurt zum Eklat. Max Weber war während dieser Tage an den Verhandlungen im provisorischen Börsenausschuß im Reichsamt des Innern beteiligt und konnte daher nur zeitweise in Erfurt anwesend sein. Er unterbrach seinen Aufenthalt in Berlin am 23. November für einen Tag, um nach Erfurt zu fahren und an der Gründungsversammlung teilzunehmen; noch am gleichen Abend mußte er wieder nach Berlin zurückreisen. Diese äußere Situation mag bis zu einem gewissen Grade erklären, weshalb Max Weber seine abweichende Position in Erfurt in ätzender Schärfe vortrug und damit nicht wenige seiner früheren engsten Gefolgsleute vor den Kopf stieß. Aber im Grunde war dies die Stunde der Wahrheit. Max Weber konnte mit Naumanns Programm eines „nationalen Sozialismus“, obschon dieses de facto nicht über soziale Reformen „auf der Basis der historisch gewordenen Wirtschaftsordnung“ hinausgehen wollte, nichts anfangen. Aus seiner Sicht war nur eine Politik der konsequenten Entfaltung des industriellen Systems unter Beseitigung der ihm bisher noch anhängenden patriarchalischen Residuen und die Freisetzung der Arbeiterschaft zu einer effektiven Vertretung ihrer ökonomischen und politischen Interessen realistisch.

Es waren eher zweitrangige Probleme, die Weber zum Anlaß nahm, um sich grundsätzlich von der Parteigründung zu distanzieren. Zum einen hatte [37]Friedrich Naumann der Versammlung überraschend einen neuen Programmentwurf vorgelegt, welcher von dem ursprünglichen Entwurf, der sich weitgehend mit den von Weber zu Beginn des Jahres 1896 mitverantworteten Leitlinien der „Zeit“ deckte, in einigen Punkten abwich. Von einer Beschneidung der Macht des ostelbischen Großgrundbesitzes und einer Intensivierung der „inneren Kolonisation“ war nicht mehr die Rede, und auch die Forderung nach beruflicher und ökonomischer Gleichstellung der Frau war gefallen. Neu hinzugekommen war hingegen die Aufforderung an „die Vertreter deutscher Bildung“, „den politischen Kampf der deutschen Arbeit gegen die Übermacht vorhandener Besitzrechte“120[37]Siehe unten, S. 614f. zu unterstützen. Max Weber nahm diese Änderungen zum Anlaß zu erklären, daß er nur aufgrund des ursprünglichen Entwurfs erschienen sei und griff Naumann in ungewöhnlich schroffer und verletzender Weise an. Der in Aussicht genommenen Partei eines „nationalen Sozialismus“ fehle jede interessenpolitische Grundlage; sie sei „die Partei der Mühseligen und Beladenen, derjenigen, die irgendwo der Schuh drückt, aller derer, die keinen Besitz haben und welchen haben möchten“, mit anderen Worten, eine Partei, der keine selbstbewußte, aufsteigende Schicht des Volkes jemals ihre Gefolgschaft geben werde.121Siehe unten, S. 619f. Nur eine Partei, die eine „bürgerlich-kapitalistische Entwicklung“ wähle, habe bei Lage der Dinge eine Zukunft. Ferner übte er scharfe Kritik an der „Zeit“, die es bezüglich der Polenfrage an einer eindeutigen Linie habe fehlen lassen.122Siehe unten, S. 621f.

Schon bei den Zeitgenossen hat die schroffe Tonart, die Max Weber bei dieser Gelegenheit, insbesondere in der Polenfrage, anschlug, großes Befremden ausgelöst; Hellmut von Gerlach, einer der Redakteure der „Zeit“, dem Webers Kritik in besonderem Maße galt, warf ihm noch in der Versammlung vor, einer „Nietzscheschen Herrenmoral“ das Wort zu reden.123Protokoll über die Vertreter-Versammlung aller National-Sozialen in Erfurt vom 23. bis 25. November 1896. – Berlin: Verlag der „Zeit“ [1896], S. 54. Max Weber rechtfertigte sich gegenüber Martin Rade mit dem Hinweis, daß er den politischen Dilettantismus der Pastoren nicht habe ertragen können.124Brief an Martin Rade vom [7.] Dez. 1896, UB Marburg, Nl. Martin Rade, Ms. 839. Ähnlich drückte er sich auch gegenüber Marianne Weber aus. Siehe Brief an Marianne Weber vom [25.] Nov. 1896, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. Vgl. auch unten, S. 616f. Dahinter standen jedoch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Im Grunde mißbilligte Max Weber eine Parteigründung, die nur zu einer weiteren Zersplitterung des bürgerlichen Lagers führen mußte. Im übrigen war es der vergleichsweise liberale Kurs der „Zeit“ in der Polenfrage, die [38]den Bruch zumindest vorerst unabwendbar machte. Max Weber lehnte denn auch das Angebot Naumanns ab, seine abweichende politische Haltung in der „Zeit“ darzulegen: „Ich muß sagen, daß ich an sich nicht geneigt wäre, in der Zeit irgend etwas zu schreiben.“125[38]Brief an Friedrich Naumann vom 9. Dez. 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, Bl. 111f. Dies richtete sich allerdings weniger gegen Naumann selbst als gegen Hellmut von Gerlach.126Weber wandte sich anscheinend auch aus dem Grund gegen von Gerlach, weil dieser, ebenso wie der zweite Redakteur der „Zeit“, Heinrich Oberwinder, zuvor für die von Adolf Stoecker herausgegebene Tageszeitung „Das Volk“ tätig gewesen war. So schrieb er an Naumann: „Mit Ihnen will ich gern diskutieren, aber mit politischen Renegaten, die jetzt die erste Violine spielen wollen, nicht.“ Ebd. Im Gegensatz zu Weber, der eine Zurückdrängung des polnischen Bevölkerungsanteils anstrebte, trat von Gerlach für die volle staatsbürgerliche Anerkennung und die Integration der Polen in den deutschen Staatsverband ein.127Vgl. beispielsweise Hellmut von Gerlachs Artikel: Die Lehren von Opalenitza, in: Die Zeit, Nr. 29 vom 3. Nov. 1896, S. 1.

Obwohl Marianne Weber dies berichtet,128Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 235. ist Max Weber nach allem damals wahrscheinlich nicht dem Nationalsozialen Verein beigetreten. Andererseits blieb er der Christlich-sozialen Bewegung weiterhin verbunden. Im Oktober 1896 wurde ihm von Adolf Hausrath angeraten, sich „reinlich von allem ,Christlich-Sozialen‘ zu scheiden“, um seine Berufung nach Heidelberg, über die gegenwärtig verhandelt werde, nicht zu gefährden. Max Weber lehnte es jedoch, ungeachtet der fortbestehenden grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten mit den National-Sozialen, ab, Naumann „grade jetzt […] öffentlich zu ,verleugnen‘“.129Brief an Adolf Hausrath vom 15. Okt. 1896, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/3, BI. 1–2. Es heißt hier: „Ich bin nichts weniger als ,Christl[ich]-sozial‘, sondern ein ziemlich reiner Bourgeois, und meine Beziehungen zu Naumann beschränkten sich darauf, daß ich ihn, dessen Charakter ich hochschätze, sachte von seinen sozialistischen Velleitäten loszulösen strebte. Aber grade jetzt ihn öffentlich zu ,verleugnen‘[,] ging am wenigsten an.“ Schon aus Gründen der Fairneß und der persönlichen Achtung vor Naumann unterstützte er dessen Reichstagskandidatur für die 1898 anstehenden Wahlen, unter anderem auch mit einer substantiellen finanziellen Zuwendung. Im Herbst 1897 schrieb er an Naumann: „Ich persönlich halte einen Miserfolg [sic!] bei den Wahlen für annähernd sicher, und glaube, auch wenn er wider Erwarten nicht eintritt, nicht an die Zukunft der Bewegung so wie sie ist. Aber sie muß in die Lage gesetzt werden, mit gleicher Verteilung von Sonne und Wind [39]sich politisch zu versuchen, und deshalb durfte sie nicht an dem Fehlen von einigen Tausend Mark scheitern.“130[39]Brief an Friedrich Naumann vom [19. Okt.] 1897, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106, BI. 11.

4. Max Webers Wechsel von der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie

Die Zeitspanne zwischen 1892 und 1899 brachte grundlegende Veränderungen in der wissenschaftlichen Laufbahn Max Webers. Er war nach Abschluß seiner Habilitation am 1. Februar 1892 in Berlin zum Privatdozenten für Handelsrecht und Römisches Staats- und Privatrecht an der Universität Berlin ernannt worden.131Vgl. den Editorischen Bericht von Jürgen Deininger, in: MWG I/2, S. 64–67. Marianne Weber, Lebensbild1, S. 122, berichtet irrtümlich, Max Weber habe sich auch für deutsches Recht habilitiert. Seit dem Sommersemester 1892 lehrte er in Berlin Römisches Sachenrecht, Römische Rechtsgeschichte, Handels- und Seerecht, Wechselrecht, Versicherungsrecht; ab Wintersemester 1892/93 vertrat er seinen erkrankten Handelsrechtslehrer Levin Goldschmidt, bei dem er 1889 promoviert hatte.132Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 174. Im November 1893 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt.133Ebd., vgl. auch Hochschul-Nachrichten. Monats-Übersicht, hg. von Paul von Salvisberg, München, Nr. 39 vom 26. Dez. 1893, S. 16. Laut Webers eigenen Angaben erfolgte die Ernennung zum a.o. Prof, der Rechte am 25. November 1893. Standesliste, Universitätsarchiv Freiburg, Personalakten, Phil. Fak., Personalakte Max Weber. Im Sommersemester 1894 kündigte er erstmalig auch Preußische Rechtsgeschichte sowie Agrarrecht und Agrargeschichte an.134Nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.

Die große Beachtung und allseitige Anerkennung, die Max Webers Auswertung der Landarbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik in nationalökonomischen Kreisen fand, gab den Anstoß für die Berufung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg zum Wintersemester 1894/95. Allerdings hatte Max Weber zunächst erhebliche Vorbehalte, diesen Ruf, der zugleich einen Wechsel in ein ganz neues Fachgebiet mit sich brachte, anzunehmen, zumal anfänglich die begründete Hoffnung bestand, daß ihm nun eine Professur für Handelsrecht an der Universität Berlin angeboten würde. Friedrich Althoff, die „graue Eminenz“ der preußischen Hochschulpolitik, hat sich in der Tat darum [40]bemüht, Max Weber in Berlin zu halten.135[40]Vgl. dazu Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 211f. Die ohnehin unsichere Erwartung,136Brief an Helene Weber vom 26. Juli 1893, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 3. daß man ihm in Berlin nunmehr eine ordentliche Professur anbieten werde, was Max Weber entschieden vorgezogen haben würde, erwies sich jedoch als unbegründet.137Vgl. Brief an Clara Weber vom 15. Juli 1893, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 23. Zu Beginn des Jahres 1894 wurden die Verhandlungen zwischen der Philosophischen Fakultät in Freiburg und Max Weber wieder aufgenommen und führten schon bald zu einem positiven Ergebnis.138Zur Geschichte der Berufung siehe: Biesenbach, Friedhelm, Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Freiburg i. Br. 1768–1896. – Freiburg i. Br.: E. Albert 1969, S. 200–202. Am 25. April 1894 erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft.139Mitteilung des Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts an den Senat der Universität Freiburg vom 30. April 1894, Universitätsarchiv Freiburg, Personalakten, Phil. Fak., Personalakte Max Weber. Im September 1894 siedelte Max Weber nach Freiburg über.140Vgl. unten, S. 536, Anm. 7.

Der Weggang nach Freiburg war für Max Weber eine schwere Entscheidung. Es fiel ihm durchaus nicht leicht, die Universität Berlin, das Zentrum des wissenschaftlichen Lebens im Deutschen Reich, zu verlassen und in die „Provinz“ zu gehen. Auch angesichts seines Engagements in der öffentlichen Diskussion über die preußische Agrarpolitik wäre er lieber in Berlin geblieben, statt nach Süddeutschland überzuwechseln und in die Rolle eines Beobachters aus der Distanz zu schlüpfen. In einem Brief an seine Frau Marianne Weber heißt es: „Alle die verschiedenen Bedenken, die gegen die Übernahme der Freiburger Stelle zu machen sind, kamen mir wieder, und ich kam mir zeitweise so vor, als ob ich mit dem Weggange von Berlin mich ,pensionieren‘ ließe.“141Brief an Marianne Weber vom 9. April 1894, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. Andererseits eröffnete ihm der Ruf nach Freiburg, ganz abgesehen von der materiellen Seite der Dinge (denn für seine Tätigkeit als Extraordinarius an der Universität Berlin hatte er keine finanzielle Remuneration erhalten), die Möglichkeit, sich von der „öden Juristerei“,142Vgl. oben, Anm. 136. an die er sich geschmiedet fühlte, zu befreien.

Der Fachwechsel brachte für Weber freilich eine erhöhte Arbeitsbelastung, mußte er sich doch ganz neu in das gesamte Gebiet der Nationalökonomie einarbeiten. Er war verpflichtet, wie es damals allgemein üblich war, neben dem ihm durch seine agrarpolitischen und agrarhistorischen Studien [41]einigermaßen geläufigen Gebiet der Praktischen Nationalökonomie oder Volkswirtschaftspolitik auch Theoretische Nationalökonomie zu lehren. Max Weber hielt in den kommenden Jahren in Freiburg die folgenden Vorlesungen: In den Wintersemestern 1894/95 und 1895/96 sowie im Sommersemester 1896 las er „Allgemeine und theoretische Nationalökonomie“, im Sommersemester 1895 „Praktische Nationalökonomie (Volkswirtschaftspolitik)“ und in den Wintersemestern 1894/95 und 1896/97 „Finanzwissenschaft“. Ferner hielt er eine Reihe von Spezialkollegs ab, im Wintersemester 1895/96 über „Geld-, Bank- und Börsenwesen“, im Wintersemester 1896/97 über „Börsenwesen und Börsenrecht“, im Sommersemester 1895 über „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land“ und im Sommersemester 1896 über „Geschichte der Nationalökonomie“. Gemeinsam mit seinem Freiburger Fachkollegen Gerhart von Schulze-Gaevernitz führte er darüber hinaus in jedem Semester ein „kameralistisches Seminar“ durch.143[41]Diese Angaben beruhen auf den Ankündigungen in den Vorlesungsverzeichnissen. Vgl. auch Biesenbach, Die Entwicklung der Nationalökonomie, S. 202. – Mit Ausnahme des ersten Semesters kündigte Weber in seiner Freiburger Zeit auch Handelsrechtspraktika und Vorlesungen über Deutsche Rechtsgeschichte an, zunächst an der Juristischen Fakultät, dann im Wintersemester 1896/97 an der auf seinen Antrag hin neu gebildeten Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Die von Marianne Weber, Lebensbild1, S. 213, angegebene Stundenzahl (12 Stunden Kolleg und zwei Seminare) hat Max Weber, folgt man den Ankündigungen im Vorlesungsverzeichnis, allerdings nicht erreicht. Nur eine Lehrveranstaltung in der Freiburger Zeit war ausschließlich dem Thema „Agrarpolitik“ gewidmet.144Diese Vorlesung oder dieses Seminar vom Sommersemester 1895 wird in den Vorlesungsverzeichnissen nicht angekündigt. Max Weber erhielt jedoch, wie aus den Zahlungslisten der Universität hervorgeht, 120 Mark Hörergeld.

Im Herbst 1896 eröffnete sich die Chance, an die Universität Heidelberg überzuwechseln. Max Weber war darüber zunächst gar nicht einmal so begeistert, denn einstweilen hatte er die Absicht, sich intensiver politisch zu betätigen, noch nicht aufgegeben. Seine Berufung in den Börsenausschuß, den der Bundesrat zur Untersuchung der Auswirkungen des Börsengesetzes von 1896 eingesetzt hatte,145Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 81, sowie den Brief an Marianne Weber vom 20. Nov. 1896, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. sowie seine Mitwirkung in einer Unterkommission, die die Organisation des Getreideterminhandels an den deutschen Börsen näher untersuchen sollte,146Brief an Marianne Weber vom [22.] Nov. 1896, ebd. boten ein gutes Sprungbrett für eine weitere agrarpolitische Betätigung. Max Weber meinte, daß er „jetzt im Augenb[lick], wo die Politik, einschließlich der aussichtslosen Naumann’schen Projekte für mich gar kein Thätigkeitsfeld bietet, unbedingt die breitere akademische Thätigkeit wählen würde.“ Dennoch hätte er „die Wahl, vor die“ er mit einer Berufung nach Heidelberg gestellt wurde, nämlich „hier [42][d. h. in Freiburg] zu bleiben und mich weiter politisch zu bethätigen, so weit dazu Gelegenheit und Anlaß ist – oder eine große Stellung anzunehmen und damit natürlich die Verpflichtung zu übernehmen, auf alle andre Wirksamkeit zu verzichten – gern noch auf eine Anzahl Jahre hinausgeschoben“.147[42]Brief an Adolf Hausrath vom 15. Okt. 1896, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/3, BI. 1–2. Als er dann Anfang Dezember 1896 den Ruf an die Universität Heidelberg als Nachfolger von Karl Knies erhielt, sah er freilich keine andere Möglichkeit, als diesen sogleich anzunehmen. Max Weber wurde nach nur kurzen Verhandlungen bereits am 7. Januar 1897 zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft ernannt.148Vgl. die Briefe Max Webers an das Großherzoglich Badische Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 12., 15. Dezember und [Ende] 1896, GLA Karlsruhe 235–3140, sowie Hentschel, Volker, Die Wirtschaftswissenschaften als akademische Disziplin an der Universität Heidelberg 1822–1924, in: Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten, hg. von Norbert Waszek. – St. Katharinen: Scripta Mercaturae Verlag 1988, S. 204f. Damit war er mit den gleichen Lehraufgaben wie in Freiburg betraut. Auch in Heidelberg las er alternierend „Theoretische Nationalökonomie“ und „Praktische Nationalökonomie“.149Im Sommersemester 1897 und 1898 las er „Allgemeine (,theoretische‘) Nationalökonomie“ bzw. „Allgemeine (‚theoretische‘ Nationalökonomie, mit Ausschluß der Litteraturgeschichte“; im Wintersemester 1897/98 und 1898/99 „Praktische Nationalökonomie: Handels-, Gewerbe- und Verkehrspolitik“ bzw. „Praktische Nationalökonomie (außer Geld- und Bankwesen) Allgemeiner Teil: Bevölkerungs-, Handels-, Gewerbe-, Verkehrs- und Agrarpolitik“. Daneben hielt er ein „Volkswirtschaftliches Seminar“150Nach Ausweis der Zahlungslisten im Universitätsarchiv Heidelberg im Sommersemester 1897 und im Wintersemester 1898/99. sowie Spezialvorlesungen über Agrarpolitik und die „Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung“ ab.151„Agrarpolitik“ las Weber im Wintersemester 1897/98, „Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung“ im Sommersemester 1898. Nach dem Ausbruch seiner Krankheit im Sommer 1898 reduzierte er im Wintersemester 1898/99 seine Lehrtätigkeit.152Er ließ sich von einer Vorlesung über „Geld- und Bankwesen“, die er für das Wintersemester 1898/99 bereits angekündigt hatte, dispensieren. Vgl. Hentschel, Wirtschaftswissenschaften, S. 205. Im Sommersemester 1899 wurde er von allen Lehrverpflichtungen befreit; im Wintersemester 1899/1900 las er dann noch einmal ein zweistündiges Kolleg über „Agrarpolitik“. Dies war die letzte, schon nicht mehr zu Ende geführte Vorlesung, die Max Weber in Heidelberg gehalten hat.153Ebd., S. 205f. Vgl. auch Weber, Marianne, Lebensbild1, S. 254. Von den Vorlesungen „Agrarpolitik“ (WS 1897/98) und „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land“ (SS 1895) sind uns Mitschriften überliefert, die zur Kommentierung des vorliegenden Bandes herangezogen wurden. Die Mitschriften befinden sich im Deponat Max Weber und im Bestand Max Weber-Schäfer, beides BSB München, Ana 446.

[43]Daneben stand Max Webers Tätigkeit in zahlreichen wissenschaftlichen Vereinigungen und Institutionen. Dazu gehörte in erster Linie seine Aktivität im Rahmen des Vereins für Socialpolitik, auf die bereits eingehend hingewiesen wurde. Die Mitwirkung im „Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“, in dessen Ausschuß Max Weber am 6. Dezember 1893 gewählt wurde, ging ursprünglich auf seinen Vater zurück, der bereits seit 1869 Mitglied des „Zentralvereins“ gewesen war.154[43]Vgl. Der Arbeiterfreund. Zeitschrift des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 31. Jg., 1893, S. 566. Auf wessen Vorschlag Weber gewählt wurde, ist nicht bekannt. Möglicherweise wurde er von dem ihm befreundeten Agrarwissenschaftler Max Sering vorgeschlagen. Bezüglich der Mitgliedschaft des Vaters vgl. ebd., 27. Jg., 1889, S. 600. Alles deutet darauf hin, daß Weber nur aus Gründen der Tradition und der gesellschaftlichen Beziehungen Mitglied des „Zentralvereins“ geworden war. Aktiv hat er nicht mitgearbeitet. Jedenfalls wird er in keinem der jeweils in der Zeitschrift „Der Arbeiterfreund“ abgedruckten Sitzungsprotokolle des Ausschusses und des vereinigten Ausschusses und Vorstands als Teilnehmer genannt. Ebd., 32. Jg., 1894, S. 271f. Nach dem Umzug nach Freiburg trat Max Weber dann dem Auswärtigen Ausschuß des „Zentralvereins“ bei,155Vgl. ebd., 32. Jg., 1894, S. 562: „Herr Dr. Max Weber, Mitglied des einheimischen Ausschusses, teilt mit, daß er nach Freiburg i. B. übergesiedelt sei und sich daher als aus dem Ausschuß ausgeschieden betrachte. Da indes auch im auswärtigen Ausschuß einige Sitze erledigt sind, wählt die Versammlung Herrn Dr. Max Weber durch Acclamation zum auswärtigen Ausschußmitglied.“ legte dann aber im Jahre 1900 seine Mitgliedschaft endgültig nieder.156Ebd., 38. Jg., 1900, S. 311. Als Nachfolger wurde der katholische Sozialpolitiker und Professor Franz Hitze gewählt. Ebd., S. 472.

Bedeutsamer war, daß Max Weber im Herbst 1896 die Leitung des wenig zuvor von Wilhelm Merton gegründeten „Instituts für Gemeinwohl“ in Frankfurt am Main angeboten wurde.157Vgl. dazu Sachße, Christoph, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung, 1871–1929. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 86–89. Dem Institut gehörten mehrere „Tochtergesellschaften“ an, wie die „Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen“ und die „Auskunftsstelle für Arbeiterangelegenheiten“, ferner Speiseanstalten für Bedürftige u.ä. Das Institut gab unter anderem die Zeitschrift „Soziale Praxis“ heraus, in der auch Max Weber einen Artikel veröffentlicht hat.158Es handelt sich um den Artikel „Der preußische Gesetzentwurf über das Anerbenrecht bei Rentengütern.“ Siehe unten, S. 586–596. Er lehnte dieses Angebot, das unter anderem auch umfangreiche Verwaltungsaufgaben mit sich gebracht haben würde, jedoch ab. Da Merton jedoch zugleich die Gründung einer „Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften“ in Frankfurt am Main betrieb, für die das „Institut für Gemeinwohl“ einen institutionellen Kern abgeben sollte, erklärte er sich im Hinblick auf diese interessante Zukunftsperspektive zur Mitarbeit im Wissenschaftlichen Beirat des „Instituts für Gemeinwohl“ bereit, [44]zusammen mit Lujo Brentano, Karl Bücher, Georg Friedrich Knapp, Gustav Schmoller und Max Sering.

Ferner war Max Weber in einer ganzen Reihe von akademischen Vereinigungen aktiv. So gehörte er in Berlin einem Kreis fortgeschrittener Studenten und Nationalökonomen an, der sich im Unterschied zu der renommierten, 1883 von Gustav Schmoller begründeten „Staatswissenschaftlichen Gesellschaft“,159[44]Selbiger gehörte Max Weber, ungeachtet gegenteiliger Annahmen in einem Teil der Forschung, nicht an. Er wird auch in den Vortragslisten nicht als Redner erwähnt. Ein Exemplar dieser Liste befindet sich im BA Koblenz, Nl. Hans Delbrück, Nr. 24, BI. 134–138. Da die Mitglieder statutengemäß an eine Vortragspflicht gebunden waren, dürfte die Vortragsliste mit der Mitgliederliste weitgehend identisch sein. als „kleine staatswissenschaftliche Gesellschaft“ bezeichnete. Dieser Kreis traf sich regelmäßig alle vierzehn Tage montags zu Vorträgen wissenschaftlichen Charakters.160Vgl. unten, S. 91f., über einen uns nicht näher bekannten Vortrag Max Webers in dieser Vereinigung. Weiterhin gehörte Max Weber der „Staatswissenschaftlichen Vereinigung“ an, die, soweit wir wissen, mit dem Berliner Staatswissenschaftlichen Seminar verbunden war. Er hielt hier, wie bereits erwähnt, im Frühjahr 1892 einen Vortrag über die Agrarverfassung in Deutschland.161Vgl. unten, S. 908f. Ebenfalls noch in Webers Berliner Zeit fällt ein Vortrag über „Die landwirtschaftliche Arbeiterfrage“, den er im Sommer 1894 vor der Berliner „Sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigung“ hielt.162Näheres dazu unten, Anhang II, S. 912f. Diese Vereinigung bemühte sich darum, Studenten aller Fachrichtungen in das Studium der sozialen Frage und der Nationalökonomie einzuführen. Weiterhin war Max Weber Mitglied der im Februar 1894 gegründeten „Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“, der zahlreiche Berliner Juristen und Nationalökonomen angehörten. Im Juli 1894 sprach er hier über die Organisation der deutschen Börsen.163Die uns über diesen Vortrag überlieferten Presseberichte werden in MWG I/5 veröffentlicht. Am 26. September 1896 referierte er erneut in diesem Kreise über „Die Gegensätze der deutschen Agrarverfassung in ihren Ursachen und Wirkungen“.164Vgl. die darüber überlieferten Presseberichte unten, S. 799–809. Max Weber blieb, soweit wir wissen, zumindest bis 1899 Mitglied dieser Vereinigung.165Vgl. unten, S. 799, Anm. 3.

Über Max Webers Aktivitäten in wissenschaftlichen Vereinigungen während der Freiburger Jahre ist wenig bekannt. 1895/96 referierte er vor der Freiburger „Akademischen Gesellschaft“ über „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur.“166Der Vortrag wurde veröffentlicht in: Die Wahrheit. Halbmonatsschrift zur Vertiefung in [45]die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens, 6. Band, April–Sept. 1896, S. 57–77 (MWG I/6). Kurz zuvor war er anläßlich der Feier [45]zum 80jährigen Bestehen der deutschen Burschenschaften im Juli 1895 in die Schlagzeilen geraten. Weber gehörte seit seinem Studium der Allemannia (Heidelberg) an. Auf der Jubiläumsfeier der Alemannia (Freiburg) behauptete er, einer Burschenschaft wäre es im Unterschied zu dem Corps Hannovera niemals passiert, Bismarck erst auszuschließen und später, als berühmten Politiker, wieder aufzunehmen.167Vgl. den Pressebericht, unten, S. 731. Ein Mitglied der Hannovera bezweifelte die Richtigkeit dieser Äußerungen in einem Leserbrief, auf den Max Weber wiederum mit einer Zuschrift an die Breisgauer Zeitung reagierte, in der er seine Behauptung relativierte.168Siehe unten, S. 575–578. Ferner erklärte sich Max Weber dazu bereit, an der in Freiburg neu begründeten Zweimonatsschrift Akademische Rundschau mitzuarbeiten, in der Fragen des akademischen Lebens, wie Studiengänge, Institutionen, studentische Vereinigungen und ähnliches mehr sowie übergeordnete aktuelle Zeitfragen der Nationalpolitik und Sozialreform erörtert wurden.169Vgl. den Artike! „Unser Programm“, in: Akademische Rundschau. Blätter für Reform des akademischen Lebens, 1. Jg., Nr. 1 vom 15. April 1896, S. 1–4, sowie das Verzeichnis der Mitarbeiter, ebd., Nr. 7 vom 11. Juli 1896.

Nach seiner Berufung nach Heidelberg beteiligte sich Max Weber an der Gründung der dortigen „Socialökonomischen Vereinigung“, die die Zusammenarbeit von Studenten aller Fakultäten mit Dozenten der Staatswissenschaften zur Vertiefung des nationalökonomischen Wissens fördern wollte.170Vgl. den Bericht: Socialökonomische Vereinigung zu Heidelberg, in: Heidelberger Akademische Mitteilungen, Nr. 13, 1897 (Rubrik: Hochschulnachrichten). Die Anregung dazu ist vermutlich von ihm selbst ausgegangen.171In einem Artikel in „Der Sozialistische Student“, 2. Jg., 1898, Nr. 9 vom 21. Jan. 1898, S. 139, heißt es: „Erst seit vergangenem Jahr konstituierte sich hier auf Anregung des kürzlich hierher berufenen Professors Weber eine sozialökonomische Vereinigung ohne corporativen Charakter.“ In dem Artikel, der als offener Brief abgefaßt ist, heißt es weiter: „Thatsächlich war die werbende Kraft dieser neuen Gründung nur sehr gering, was einen auch nicht Wunder nehmen kann, da sich hier unter dem Protektorat des gesinnungstüchtigen Professors eine bleierne Langeweile der ödesten Fachsimpelei breit macht. Der erwähnte Professor Weber, der Ihnen wohl von der nationalsozialen Partei her bekannt sein dürfte, wurde im vergangenen Semester aus Freiburg hierher berufen, um den Platz von Knies, einer der Koryphäen der historischen Schule, einzunehmen. Von gewisser Seite wurden große Erwartungen auf ihn, als auf eine jüngere Kraft gesetzt, die er indessen grausam getäuscht hat. Schon die ersten Vorlesungen zeigten, wes Geistes Kind er sei. Nach einigem radikalen Wortgeklingel entpuppte er sich gar bald als Vorfechter der österreichischen Schule, der es unternommen, die Systeme seiner Lehrmeister Böhm-Bawerk und Menger nach Deutschland zu importiren. Leider begnügt sich unser Professor nicht mit dieser seiner bescheidenen Vorfechterrolle. Er will auch Marxkritiker sein. Er dürstet nach dem unblutigen Lorbeer eines Marxtödters. Da er aber Marx durch [46]eine ehrliche Kritik nicht beizukommen vermag, greift er nach einem alten, aber erprobten Mittel. Er macht sich einen Popanz von Marx zurecht, dem er allerhand grobe Ungereimtheiten in die Schuhe schiebt und dann mit dem gewaltigsten Aufwand von Gelehrsamkeit, Witz und sittlicher Entrüstung zum Gaudium seiner Zuhörer zerpflückt. Je trauriger dann der arme Marx dasteht, in um so hellerem Lichte erstrahlt der Scharfsinn unseres Professors. Ohne diese, milde ausgedrückt, nicht ganz wissenschaftliche Methode einer Kritik unterziehen zu wollen, möchten wir nur bemerken, daß sie auch ein gewisses Licht auf die Zuhörer wirft, die sie ernst nehmen.“ [46]Jedenfalls nahm Max Weber an der ersten ordentlichen Sitzung am 19. Juli 1897 teil, in der sein Schüler Salli Goldschmidt über „Die Sachsengängerei“ referierte. Er selbst kündigte einen Vortrag über „Die sociale Funktion der ländlichen Verschuldung“ für den 27. Juli 1897 an, doch ist nicht sicher, ob dieser dann auch stattgefunden hat.172Alle Angaben nach den Heidelberger Akademischen Mitteilungen (wie Anm. 170). Zur Gründung und ersten Sitzung vgl. auch die Notizen in der Heidelberger Zeitung, Nr. 170 vom 24. Juli 1897, S. 2, und Heidelberger Tageblatt, Nr. 173 vom 28. Juli 1897, S. 3. Da es sich um eine universitätsinterne Veranstaltung handelte, ließen sich in der Lokalpresse keinerlei Hinweise auf den Vortrag finden. Ferner trat Max Weber am 13. Juni 1898 dem „Historisch-Philosophischen Verein zu Heidelberg“ bei.173Protokollbuch des Historisch-Philosophischen Vereins zu Heidelberg, Band 9, UB Heidelberg, Handschriftenabteilung, Heid. Hs. 1208. Eine Durchsicht der Vereinszeitschrift, der Neuen Heidelberger Jahrbücher, ergab, daß er im Rahmen dieses Vereins keinen Vortrag gehalten hat. Außerdem wurde Max Weber im November 1896 in die Badische Historische Kommission aufgenommen.174Vgl. den Bericht der Frankfurter Zeitung, Nr. 324 vom 21. Nov. 1896, Abendblatt (MWG I/13). Er hat im Oktober 1897 und 1899 an deren Sitzungen teilgenommen.175Vgl. die Ergebnisprotokolle der Plenarsitzungen vom 25. und 26. Oktober 1897 und vom 20. und 21. Oktober 1899, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. Band XIII, 1898, S. 1, sowie dass., N. F. Band XV, 1900, S. 1. Siehe ferner den Bericht des Sekretariats über die 15. Plenarsitzung der Badischen Historischen Kommission, in: dass., N. F. Band XII, 1897, S. 164f.

Schließlich beteiligte sich auch Max Weber an der von mehr als achthundert ordentlichen Professoren im Deutschen Reich unterzeichneten Kundgebung zur Unterstützung der deutschen Universität in Prag, die sich gegen die Badenischen Sprachenverordnungen vom April 1897 richtete, in denen das Tschechische dem Deutschen im Justizwesen und in bestimmten Bereichen der Verwaltung gleichgestellt wurde.176Siehe unten, S. 896–899. Dahinter stand das Bestreben, die deutsche Kulturnation auch außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches zu unterstützen und deren Einheit zu erhalten.

[47]5. Volkswirtschaftspolitik aus nationalpolitischer und wissenschaftstheoretischer Sicht: Die Freiburger Akademische Antrittsrede von 1895

Die Akademische Antrittsrede über „Die Nationalität in der Volkswirtschaft“ – so der ursprüngliche Titel –, die Max Weber nach seiner Berufung an die Universität Freiburg am 13. Mai 1895 gehalten hat, stellt das vielleicht bedeutendste Zeugnis für die enge Verbindung von Wissenschaft und Politik dar, die uns im Frühwerk Max Webers fast ausnahmslos, wenn auch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, entgegentritt. Nirgendwo werden die politischen Ideale des jungen Max Weber mit größerer Prägnanz vorgetragen; in einer Sprache von großer Wirkkraft entwickelte er hier vor dem Hintergrund einer Analyse der agrarpolitischen Probleme des ostelbischen Deutschland einen Katalog von politischen Forderungen, durchsetzt mit scharfer Kritik an den politischen Verhältnissen im Deutschen Reich. Und dennoch war die Zielsetzung der Antrittsrede nicht in erster Linie politischer Natur; im Gegenteil, Max Weber wollte am Beispiel der agrarpolitischen Probleme, vor die sich die deutsche Politik in den ostelbischen Gebieten Preußens gestellt sah, die theoretischen Voraussetzungen erörtern, auf denen die wissenschaftliche Beurteilung volkswirtschaftlicher Vorgänge notwendigerweise beruht, gleichviel von welchen Wertstandpunkten aus dies geschieht.

Insoweit ging die Antrittsrede durchaus über die Zielsetzung hinaus, die Max Weber wohl erst nachträglich (möglicherweise in Abwehr mancher durch die mündliche Präsentation ausgelöster kritischer Stellungnahmen) in der Vorrede zur Veröffentlichung benannte, nämlich einer „offenen Darlegung und Rechtfertigung des persönlichen und insoweit ,subjektiven‘ Standpunktes bei der Beurteilung volkswirtschaftlicher Erscheinungen“.177 [47]Siehe unten, S. 543. Sie war ein politisches Pronunciamento mit weitreichenden Auswirkungen, zugleich aber war sie eine Auseinandersetzung mit der methodologischen Position der historischen Nationalökonomie; sie richtete sich gegen die Auffassung, daß ethische Gesichtspunkte, beispielsweise jener der sozialen Gerechtigkeit, für die wissenschaftliche Beurteilung sozialer und ökonomischer Phänomene maßgeblich seien,178Eine Max Weber mit Gewißheit geläufige Argumentation dieser Art findet sich repräsentativ in Gustav Schmollers Abhandlung aus dem Jahre 1881 „Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft“, wieder abgedruckt in Schmoller, Gustav, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. – Leipzig: Duncker & Humblot 19042, S. 213–261. und daß sich die Bewertungskriterien durch Induktion aus dem historischen Material selbst ableiten ließen. Max Weber stellte dieser Auffassung seine Ansicht entgegen, daß die [48]Wertmaßstäbe der Beurteilung einer der Wissenschaft heterogenen Sphäre angehören und daher niemals dem Gegenstandsbereich selbst entnommen werden können. In dieser Hinsicht steht die Antrittsrede am Anfang der Werturteilsdiskussion in den Sozialwissenschaften. Diese, allerdings mit politischen Erwägungen argumentativ eng verzahnte, theoretische Zielsetzung der Freiburger Antrittsrede ist jedoch bereits in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zurückgetreten hinter den vergleichsweise radikalen politischen Aussagen und den eindringlichen Reflexionen über die Konstellation, in der sich das Deutsche Reich am Ende der Ära Bismarcks befand. Dies war bedingt nicht zuletzt durch den Umstand, daß Max Weber im mündlichen Vortrag den wissenschaftstheoretischen Teil seiner Darlegungen großenteils ausgelassen hatte.179[48]Vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 538. In die zur Veröffentlichung bestimmte Fassung, der Max Weber nun den umfassenderen Titel „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ gab, wurden diese Passagen dann wieder aufgenommen.180Vgl. unten, S. 539.

Die Freiburger Antrittsrede hat, wie Max Weber selbst bezeugt, schon bei den Zeitgenossen große Beachtung gefunden, zugleich aber wegen der „Brutalität“ seiner „Ansichten“, wie er seinem Bruder Alfred mit einer gewissen Befriedigung schrieb, vielfach erhebliche Irritation ausgelöst.181Brief an Alfred Weber vom 17. Mai 1895, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 4, BI. 40–41. Sie hat in der Max Weber-Forschung immer schon höchst unterschiedliche Beurteilungen gefunden;182Siehe beispielsweise Bergstraesser, Arnold, Max Webers Antrittsvorlesung in zeitgeschichtlicher Perspektive, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 5. Jg., 1957, S. 209–219, sowie Hennis, Wilhelm, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, ebd., 7. Jg., 1959, S. 1–23, bes. S. 19ff.; hingegen ders., Max Weber in Freiburg. Zur Freiburger Antrittsvorlesung in wissenschaftsgeschichtlicher Sicht, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 86, 1984, S. 33–45. bis heute sind ihre Interpretation und ihr Status innerhalb des Gesamtwerks umstritten.183Vgl. dazu Aldenhoff, Rita, Nationalökonomie, Nationalstaat und Werturteile. Wissenschaftskritik in Max Webers Freiburger Antrittsrede im Kontext der Wissenschaftsdebatten in den 1890er Jahren, in: Sprenger, Gerhard (Hg.), Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 43). – Stuttgart: Franz Steiner 1991, S. 79–90. Siehe fernerhin Schluchter, Wolfgang, Religion und Lebensführung, Band I, Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 173—181, sowie Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1987, S. 88. Außer Zweifel steht jedoch, daß sie ein bedeutsames Zeugnis von Max Webers politischer Grundhaltung darstellt, obschon er seine Einstellung in vielen Einzelfragen späterhin gründlich modifiziert hat.184Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 37ff.

[49]Die Antrittsrede besteht, wie von Rita Aldenhoff dargelegt worden ist, aus drei, durchaus unterschiedlichen Teilen, einem ersten Teil, der in geraffter Form die Quintessenz seiner agrarpolitischen Forschungen zur ostelbischen Landarbeiterfrage darlegt, einem zweiten Teil, der wissenschaftstheoretischen Fragen, insbesondere der Werturteilsproblematik, zugewandt ist, und einem letzten Teil, der eindeutig politischen Charakter besitzt.185[49]Aldenhoff, Nationalökonomie, S. 81f.

Im ersten Teil seiner Ausführungen legte Max Weber erneut seine Ansichten über den Strukturwandel der ostelbischen Agrarwirtschaft dar. Unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen werde die bodenständige deutsche Landarbeiterschaft zunehmend von polnischen Bauern und Landarbeitern ersetzt, eben weil letztere einen niedrigeren Lebensstandard und demgemäß eine größere Anpassungsfähigkeit besäßen. Hier wirke sich die „Auslese im freien Spiel der Kräfte“ zuungunsten der ökonomisch höher entwickelten und auf einem höheren Kulturniveau stehenden Nationalität aus.186Siehe unten, S. 554. Max Weber zog daraus die Folgerung, daß der Staat in dieses „freie Spiel der Kräfte“ eingreifen und Bedingungen schaffen müsse, die den deutschen Landarbeitern nicht länger Anlaß zur Abwanderung geben und einem weiteren Vordringen der polnischen Bevölkerungsgruppe entgegenwirken würden. Obschon dies den ökonomischen Interessen insbesondere der Großgüterwirtschaft zuwiderlief, verlangte er eine Sperrung der Grenzen für polnische Wanderarbeiter. Weiterhin plädierte er entgegen rein ökonomischen Gesichtspunkten für die Aufsiedelung eines erheblichen Teils des Großgrundbesitzes und die Einrichtung von kleinen Bauernstellen, eben weil diese nicht in erster Linie für den Markt produzierten, im Sinne der bisherigen Politik der preußischen Ansiedlungskommission. Außerdem forderte er eine drastische Ausweitung des staatlichen Domänenbesitzes, als einer Übergangsstufe zur Ansiedlung von Bauern und Pächtern in neu zu errichtenden Bauerndörfern, um ein Reservoir deutschstämmiger ländlicher Arbeitskräfte auf dem Lande zu schaffen.

Auf diese Aussagen, die, wie ersichtlich ist, große politische Brisanz besaßen, stützte Max Weber sich in der Folge, um den Nachweis zu führen, daß das in der Nationalökonomie gemeinhin als objektives Bewertungskriterium betrachtete Prinzip der Maximierung des wirtschaftlichen Ertrags in diesem Falle mit dem nationalpolitischen Interesse an der Erhaltung des Deutschtums im Osten in einem unabweisbaren Konflikt stehe. Für Max Weber galt es unbezweifelbar, daß „der Nationalstaat“ als „der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung“ zu gelten habe, auch wenn das nationalpolitische Interesse, wie in diesem Fall, im Widerstreit mit [50]immanenten ökonomischen Wertgesichtspunkten stehe.187[50]Siehe unten, S. 561. Er leitete aus diesem, nach seiner Ansicht unbestreitbaren, Sachverhalt grundsätzliche Beobachtungen über die notwendige Trennung von analytischer Betrachtung und wertendem Urteil in der Wissenschaft ab, die sich gegen die herrschende Lehre der zeitgenössischen historischen Nationalökonomie richteten und in gewisser Hinsicht seine späteren Arbeiten zur Werturteilsfrage teilweise bereits vorwegnahmen.188Vgl. dazu neuerdings auch Hennis, Wilhelm, The pitiless ,sobriety of judgement‘: Max Weber between Carl Menger and Gustav von Schmoller in the academic politics of value freedom, in: History of the Human Sciences, Band 4, 1991, S. 37f. Man könnte auch sagen, daß er die Zugkraft nationalpolitischer Argumente einspannte, um seinen Argumenten über den theoretischen Status von Werturteilen in der Wissenschaft Stoßkraft zu verleihen. Die Vermischung von analytischer Betrachtung und wertender Darstellung, wie sie namentlich die „historische Schule“ der Nationalökonomie weithin praktiziere, sei ein Unding; im Gegenteil, die klare Scheidung der von Werturteilen geleiteten Deutung von allen Aussagen analytischen Charakters stelle die erste Voraussetzung für wissenschaftliche Objektivität dar. Im vorliegenden Fall bezog Max Weber sich dafür auf politische Gesichtspunkte, von denen er annehmen konnte, daß sie seinen Zuhörern unterschiedslos geläufig waren, konkret gesprochen darauf, daß wissenschaftsimmanente ökonomische Gesichtspunkte gleichviel welcher Art, wie etwa das Prinzip der möglichsten Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, hinter dem nationalpolitischen Interesse an der Erhaltung des Deutschtums in den östlichen Provinzen Preußens zurückstehen müßten. Ja mehr noch, die strikte Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Analyse und volkswirtschaftspolitischer Bewertung ökonomischer Phänomene erlaubte es ihm, das „Interesse des deutschen Nationalstaats“ als höchsten Wertmaßstab für die Beurteilung volkswirtschaftlicher Vorgänge zu proklamieren. Wir sehen, Max Weber war durchaus bemüht, wissenschaftliche Erkenntnis und politisches Urteil sorgfältig voneinander zu trennen; aber gleichzeitig traten diese hier in einer bemerkenswert engen Verzahnung auf, die er in dieser Weise späterhin nicht mehr aufrechterhalten hat.

Insofern war es keinesfalls inkonsistent, daß Max Weber im letzten Teil seiner Ausführungen die Frage aufwarf, welche Chancen unter den bestehenden politischen Verhältnissen im Deutschen Reich dafür bestünden, die von ihm dargelegten nationalpolitischen Ziele in konkretes politisches Handeln umzusetzen. Er sprach die politischen Konsequenzen in aller Deutlichkeit an, welche die von ihm vorgeschlagene grundlegende Umgestaltung der agrarischen Verhältnisse und mit diesen der gesellschaftlichen Struktu[51]ren im ostelbischen Deutschland nach sich ziehen würde. Dies bedingte, wie er meinte, nichts mehr und nichts weniger als die Ablösung des preußischen Junkertums als staatstragender Klasse. Die aristokratische Herrenschicht, die bisher die Geschicke des Deutschen Reiches in überwiegendem Maße bestimmt habe, habe ihre ökonomische Unabhängigkeit eingebüßt und sei zum Kostgänger des Staates geworden; demgemäß besitze sie nicht länger den „Beruf“ zur politischen Führung der Nation. Vielmehr erfordere die historische Situation, in der sich das Deutsche Reich befinde, eine entschlossene „bürgerliche Politik“, die sich die Verteidigung des Deutschtums im Osten ebenso zur Aufgabe wähle wie die Erweiterung des „Nahrungsspielraums“ der deutschen Nation vermittels einer weitsichtigen Machtpolitik imperialistischen Zuschnitts.

Dafür aber sah Max Weber unter den bestehenden Verhältnissen die Voraussetzungen nicht gegeben. Vielmehr sei das Bürgertum nicht reif dafür, die politische Macht, die unvermeidlich den Händen der Aristokratie entgleite, entschlossen aufzugreifen und die großen politischen Aufgaben, die den Deutschen durch die geschichtliche Entwicklung zugetragen würden, mit Entschiedenheit anzugehen. Vielmehr neige es dazu, sich unter den Schirm der obrigkeitlichen Gewalten zu flüchten und von diesen Schutz gegenüber der aufsteigenden Arbeiterschaft zu verlangen; einen aktuellen Beleg dafür sah er in der, wie er feststellen zu müssen glaubte, Geneigtheit eines Teils der Nationalliberalen, die „Umsturzvorlage“ (die in eben diesen Tagen im Reichstag zur Verhandlung anstand) mitzutragen, ein Tatbestand, der ihn mit äußerstem Ingrimm erfüllte. Noch ärger stand es nach seiner Auffassung in dieser Hinsicht mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, der jeglicher Sinn für die großen politischen Machtaufgaben der Nation abgehe.

Max Webers Ausführungen kulminierten in der Beschwörung der glanzvollen Zeit der Gründung und des Ausbaus des Deutschen Reiches unter liberaler Vorherrschaft, während die gegenwärtige Generation am Fluch des Epigonentums kranke und zu großem politischen Handeln weder die Kraft noch den Willen aufbringe. Allein der Übergang zu einer kraftvollen Weltmachtpolitik, verbunden mit einer Liberalisierung im Innern, die alle Schichten des Volkes einschließlich der Arbeiterschaft zu gemeinsamen Kraftanstrengungen befähige, könne der Nation zu einem Aufstieg in eine bessere Zukunft verhelfen.

Insbesondere Max Webers leidenschaftlicher Appell zugunsten einer kraftvollen Weltpolitik, durch die der Lebensraum der deutschen Nation in der künftigen Weltepoche eine angemessene Erweiterung erfahren müsse, hat bei den Zeitgenossen großen Widerhall gefunden. Sowohl Friedrich Naumann in der „Hilfe“ wie Hans Delbrück in den Preußischen Jahrbüchern griffen Max Webers diesbezügliche Ausführungen auf und identifizierten [52]sich uneingeschränkt damit.189[52]Vgl. Mommsen, Max Weber2, S. 74f., und den Editorischen Bericht, unten, S. 539f. In gewissem Sinne hat man darin die Initialzündung für die Entstehung eines „liberalen Imperialismus“ im Kaiserreich zu sehen, der die Forderung nach einer konsequent imperialistischen Politik mit einem Programm fortschrittlicher Reformen im Innern kombinierte. Die Hoffnung, die sich damit verband und die bereits Max Weber angesprochen hatte, daß auf diese Weise den Konservativen die politische Initiative entrissen und der Weg in eine neue Ära eines im echten Sinne nationalen Liberalismus, der sich den großen historischen Machtaufgaben des Tages wirklich gewachsen zeigen werde, gebahnt werden könne, hat sich am Ende freilich als trügerisch erwiesen; unter den gegebenen Umständen war diese Strategie freilich durchaus aussichtsreich.190Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: Holl, Karl und Ust, Günther (Hg.), Liberalismus und imperialistischer Staat. Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutschland 1890–1914. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 117–141.

Es steht außer Frage, daß Max Weber mit der Freiburger Antrittsrede, ungeachtet ihres primär akademischen Charakters, politische Wirkungen erzielen wollte. Dafür spricht schon, daß er für den Fall, daß sich Paul Siebeck nicht zu einer Drucklegung in Form einer eigenständigen Broschüre bereitfinden sollte, eine Veröffentlichung in den Preußischen Jahrbüchern, also einer primär politischen Monatsschrift, ins Auge gefaßt hatte.191Vgl. Brief an den Verlag J.C.B. Mohr vom 19. Mai 1895, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446. Ebenso legte Max Weber Wert darauf, daß Rezensionsexemplare der Antrittsrede nach ihrem Erscheinen an die größeren Zeitungen und Wochenschriften, unter anderem die Frankfurter Zeitung, die Kreuzzeitung, die Münchener Allgemeine Zeitung und die Nation sowie die Neue Zeit, versandt würden.192Brief an den Verlag J.C.B. Mohr vom [27. Juni 1895], ebd. Ebenso hat Max Weber ein persönliches Interesse daran gezeigt, daß ein auszugsweiser Nachdruck in den „Alldeutschen Blättern“, wie ihn der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes Ernst Hasse angeregt hatte, nicht durch unangemessene Forderungen des Verlegers verhindert würde.193Briefe an den Verlag J.C.B. Mohr vom 7. Aug. und vom 23. Sept. 1895, ebd.

Andererseits hat Max Weber die Antrittsrede zahlreichen Fachkollegen zugesandt,194Insgesamt wohl ca. 120 Exemplare, wie man der Korrespondenz mit dem Verleger entnehmen kann. unter anderem auch Georg Simmel, der damals noch Privatdozent war, ersichtlich in der Erwartung, daß seine Kritik an den methodologischen Auffassungen der historischen Schule gebührende Beachtung finden werde. Dies ist, soweit wir sehen, auch der Fall gewesen. Werner Sombart beispielsweise identifizierte sich mit Max Webers Auffassung in [53]der Antrittsrede, insoweit sie sich gegen die herrschende Lehre der historischen Nationalökonomie richtete, obschon er nicht das nationale Interesse als ein über den Klassen stehendes, sondern die Interessen der jeweils den gesellschaftlichen Fortschritt repräsentierenden sozialen Klasse für maßgeblich erklärte.195[53]Sombart, Werner, Ideale der Sozialpolitik, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 10, 1897, S. 25 und 34f. Gustav Schmoller hingegen hat offenbar keinen Anlaß dazu gesehen, an seiner Position nennenswerte Modifikationen vorzunehmen.196Vgl. dessen aus dem Jahre 1897 stammende Abhandlung: Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaften und die heutige deutsche Volkswirtschaftslehre, in: Schmoller, Gustav, Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. – Leipzig: Duncker & Humblot 19042, insbes. S. 388–393. Ungeachtet der großen Beachtung, die die Antrittsrede gefunden hat, ist damals eine förmliche Debatte über die leitenden Werturteile in der Nationalökonomie nicht zustande gekommen.197Vgl. aber Aldenhoff, Nationalökonomie, S. 86–90.

Anderthalb Jahrzehnte später hat Max Weber über seine Freiburger Antrittsrede in vieler Hinsicht kritischer geurteilt. An die Stelle der Polenfeindschaft seiner frühen Jahre war längst das Bemühen um eine aufrichtige Verständigung mit den Polen getreten.198Siehe Mommsen, Max Weber2, S. 229ff. In seinen „Äußerungen zur Werturteildiskussion“ aus dem Jahre 1913 hat Max Weber sich in wichtigen Punkten von den Thesen der Antrittsrede distanziert. Andererseits aber hat er darauf verwiesen, daß der Gedanke, daß gesellschaftliche und institutionelle Verhältnisse darauf hin befragt werden müssen, welche Art von Lebenschancen sie begünstigen und welche nicht und welche Menschentypen dabei vornehmlich zum Zuge kommen, „in sicherlich vielfach unreifer Form“ bereits in der Freiburger Antrittsrede angesprochen worden sei.199In: Äußerungen zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik. Als Manuskript gedruckt. – o.O. 1913, S. 108 (MWG I/12). 1895 freilich überschatteten die nationalistische Rhetorik und die radikalen politischen Postulate, die sich in der Freiburger Antrittsrede finden, einschließlich der rückhaltlosen Absage an jegliche Versuche einer „Ethisierung der Politik“, bei weitem ihre wissenschaftlichen Aussagen.

6. Auf der Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Politik

In den agrarpolitischen und agrarhistorischen Schriften und Reden jener Jahre tritt uns Max Weber zugleich als Wissenschaftler und als engagierter [54]politischer Bürger entgegen. Max Weber bemühte sich schon damals um eine klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Aussagen und politischen Werturteilen, jedoch nicht etwa in der Absicht, letztere zurückzudrängen, sondern vielmehr um diese in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in die Erörterung einzubringen und zum Leitfaden auch für die wissenschaftliche Analyse zu erheben. Er operierte dabei vielfach zweigleisig; er nahm zu diesen Fragen sowohl in rein wissenschaftlichen Publikationsorganen als auch in Zeitschriften Stellung, die sich an ein breiteres Publikum richteten. So veröffentlichte er 1893 eine Rezension der Schriften des Jenaer Agrarwissenschaftlers Theodor von der Goltz „Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat“ und des Berliner Nationalökonomen Max Sering über „Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland“ gleichzeitig in der Zeitschrift Das Land und, allerdings nur bezüglich des Werkes von von der Goltz, in der Fachzeitschrift Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 1895 bzw. 1896 rezensierte er die Habilitationsschrift Carl Grünbergs über die Agrarreformen in Böhmen, Mähren und Schlesien und die Untersuchung Wilhelm Vallentins über die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Westpreußen seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in der Historischen Zeitschrift.200[54]Siehe unten, S. 220ff., 238ff., 579ff., 602ff. Im Vordergrund standen freilich zunehmend Stellungnahmen zu aktuellen agrarpolitischen Fragen.201Es überrascht demgemäß auch nicht zu finden, daß Max Weber 1893 als Preisrichter an einem Preisausschreiben der Zeitschrift „Das Land“ beteiligt war, das das Ziel verfolgte, die agrarpolitischen Tagesfragen in das breitere Publikum hineinzutragen. Ausgesetzt wurden Preise „für die drei besten Aufsätze und novellistischen Arbeiten, welche soziale und volkstümliche Angelegenheiten des Landes behandeln“. Die Arbeiten sollten zwischen drei bis acht Seiten umfassen. Dabei war u. a. an folgende Themen gedacht: die Bedeutung des Bauernstandes für den Staat, die Wohlfahrtspflege auf dem Lande, die Lage der Landarbeiter (vgl. Das Land, Nr. 1 vom 1. Okt. 1893, S. 1f.). Bis Ende 1893 gingen sechzig Arbeiten ein, aus denen die preiswürdigen Artikel auszuwählen waren. Dem Preisgericht gehörten neben Max Weber der Vorsitzende des Evangelisch-sozialen Kongresses Moritz August Nobbe, der Freiburger Volkskundler Fridrich Pfaff sowie der Redakteur des „Land“ Alfred Marquard an (vgl. hierzu Das Land, Nr. 13 vom 1. April 1894, S. 193). Das Komitee wählte die ersten beiden Preisträger aus, auf einen dritten konnte man sich nicht einigen. Den ersten Preis erhielt der Anthropologe Otto Ammon mit einem Artikel über „Die Bedeutung des Bauernstandes für den Staat und die Gesellschaft. Eine sozialanthropologische Studie“. Der zweite Preis wurde Hans Wittenberg (Swantow/Rügen) zuerkannt. Wittenberg war Geistlicher und gehörte der Evangelisch-sozialen Bewegung an. Er veröffentlichte mehrere Schriften zur Landarbeiterfrage (siehe unten, S. 274, Anm. 11). Er hatte eine Arbeit zum Thema „Woran leidet der Landarbeiterstand in den östlichen Provinzen und wie ist ihm zu helfen?“ eingesandt. Ammons Studie war sozialdarwinistisch gefärbt und verklärte den „Bauernstand“ zur unverfälschten und unverbildeten Reserve der Gesellschaft. Die Arbeit wurde zunächst abgedruckt in: Das Land, Nr. 13 vom 1. April 1894, S. 194–197; Nr. 14 vom 15. April 1894, S. 209–212; Nr. 15 vom 1. Mai 1894, S. 225–228. Noch im gleichen Jahr erschien sie als selbständige und [55]erweiterte Schrift und 1906 in zweiter Auflage. Wittenbergs Landarbeiter-Studie dagegen war sozialempirisch orientiert. Wittenberg plädierte für soziale Reformen, an denen sich auch die Gutsbesitzer beteiligen sollten. Auch Wittenbergs Studie wurde zunächst im „Land“, dann selbständig unter demselben Titel 1894 veröffentlicht. Das Land, Nr. 16 vom 15. Mai 1894, S. 241–243; Nr. 17 vom 1. Juni 1894, S. 263–265; Nr. 18 vom 15.Juni 1894, S. 275–277; Nr. 19 vom 1. Juli 1894, S. 290–292; Nr. 20 vom 15. Juli 1894, S. 306–308. Leider ist nicht bekannt, wie Max Weber optiert hat. Beide Preisträger zitierte er in seinen Schriften. So rezensierte er Wittenbergs 1893 erschienene Schrift „Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen“ sehr positiv (siehe unten, S. 272ff.). Otto Ammon und seine einschlägigen Schriften erwähnte er in der Freiburger Antrittsrede, allerdings mit einigen Vorbehalten (unten, S. 554, Anm. 4). Möglicherweise hat Weber daher eher für Hans Wittenberg als für Otto Ammon votiert.

[55]Dank seiner juristischen Kenntnisse und seiner mit der Landarbeiterenquete unter Beweis gestellten großen Kompetenz in agrarpolitischen Fragen ergab sich für Max Weber in den folgenden Jahren mehrfach die Möglichkeit, zu den seitens der Staatsbehörden betriebenen Gesetzesvorhaben und sonstigen Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des ostelbischen Großgrundbesitzes abzielten, Stellung zu nehmen. Dazu gehörten unter anderem Bestrebungen, eine Verschuldungshöchstgrenze für ländlichen Grundbesitz gesetzlich festzulegen, und zu diesem Behufe womöglich das geltende Hypothekenrecht abzuändern. Ferner wurde die Schaffung eines besonderen Heimstättenrechts erwogen, von dem man sich eine Reduzierung der enorm hohen Fluktuation des ländlichen Grundbesitzes versprach. Diese Pläne wurden auf einer vom preußischen Staatsministerium 1894 einberufenen Agrarkonferenz, zu der neben Vertretern der Landwirtschaft zahlreiche Experten geladen worden waren, zur Debatte gestellt. Außerdem brachte das Staatsministerium im preußischen Abgeordnetenhaus eine Gesetzesvorlage ein, welche vorsah, das Anerbenrecht, welches eine möglichst ungeschmälerte Weitergabe eines agrarischen Anwesens an einen Haupterben rechtlich ermöglichte und in zahlreichen Regionen Deutschlands gebräuchlich war, auch in den östlichen Provinzen Preußens einzuführen. Max Weber nahm die ihm sich bietenden publizistischen Möglichkeiten wahr, um zu diesen Fragen mit großer Sachkompetenz und der ihm eigenen Entschiedenheit des Urteils Stellung zu nehmen. Dabei trat zunehmend die Frage der wirtschaftlichen Zukunft des ostelbischen Großgrundbesitzes, die Weber anfänglich eher mit Zurückhaltung behandelt hatte, in den Vordergrund.

Eine besondere Rolle spielte dabei die Frage nach den Grenzen der Anwendbarkeit des Prinzips des Freihandels. Obschon grundsätzlich ein Anhänger des Industriestaats, distanzierte sich Max Weber von der klassischen, aus seiner Sicht dogmatischen Freihandelslehre; Staatseingriffe zur Korrektur von nationalpolitisch nachteiligen sozioökonomischen Entwicklungen waren aus seiner Sicht nicht nur erlaubt, sondern im Zweifelsfall [56]unbedingt geboten. Auch war er durchaus kein Gegner des Schutzzolls, wenngleich er die Hochschutzzollpolitik der späten Bismarckzeit ebensowenig gebilligt haben dürfte wie die zeitgenössischen extremen Schutzzollforderungen der Agrarier. Analysen wie jene der „Argentinischen Kolonistenwirtschaften“ überzeugten ihn davon, daß für die Landwirtschaft auf das Instrument des Zollschutzes keineswegs verzichtet werden könne.202[56]Unten, S. 282–303. In diesem Kontext steht auch die Besprechung der Schrift des deutschen Konsuls in Buenos Aires, Bodo Lehmann, über „Die Rechtsverhältnisse der Fremden in Argentinien“, unten, S. 304–307. Im übrigen trat er mit großer Entschiedenheit dafür ein, die Probleme der ostdeutschen Landwirtschaft, und insbesondere die drängende Landarbeiterfrage, mit Hilfe staatlicher Intervention zu lösen. Die konkreten Schritte der Staatsbehörden und der Parlamente auf diesem Gebiet verfolgte Max Weber demgemäß mit großem Engagement.

Dazu gehörten unter anderem die Beratungen der preußischen Agrarkonferenz, die die Festsetzung einer Verschuldungshöchstgrenze für Grundbesitz, die Bildung von Genossenschaften der Grundbesitzer zur kollektiven Absicherung des Bodenkredits sowie die Einführung des Anerbenrechts in den östlichen Provinzen Preußens erörterte. Diese Fragen wurden von Max Weber in zwei Artikeln, die in dem von Heinrich Braun herausgegebenen Sozialpolitischen Centralblatt erschienen, eingehend behandelt.203Siehe unten, S. 480–511. Im Prinzip hielt Max Weber wenig von den auf der Agrarkonferenz vorgeschlagenen Modellen für eine gesetzliche Beschränkung der Verschuldung des Großgrundbesitzes unter Einschränkung der Verkehrsfreiheit für landwirtschaftlich genutzte Böden. Er hielt es für sehr bedenklich, an dem bewährten preußischen Hypothekensystem, das, verglichen mit den Verhältnissen in anderen europäischen Ländern, sehr fortschrittlich sei, zu rütteln. Als das preußische Landwirtschaftsministerium wenig später einen Gesetzentwurf über die Einführung des Anerbenrechts bei Rentengütern vorlegte, obschon deren Eigentümer ohnehin nur ein beschränktes Verfügungsrecht über ihren Besitz besaßen, unterzog Max Weber diesen Entwurf einer eingehenden kritischen Betrachtung; diese erschien in der neuen Zeitschrift „Soziale Praxis. Centralblatt für Socialpolitik“, welche aus einer Fusion des Sozialpolitischen Centralblatts mit den Blättern für soziale Praxis hervorgegangen war und von dem Institut für Gemeinwohl in Frankfurt herausgegeben wurde.204Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 88. Er mißbilligte es, daß an eine eventuelle generelle Einführung des Rechtsinstituts des Anerbenrechts von politischer Seite, insbesondere von Miquel, ganz unangemessene Erwartungen geknüpft worden seien. Seine Bedeutung sei „– positiv und negativ – ganz ungebührlich aufgebauscht worden durch die Art, wie Exc[ellenz] v. Miquel, [57]Sering u[nd] A[ndere] in der Einführung der Einzelerbfolge einen vernichtenden Schlag gegen den ,Capitalismus‘ etc. etc. annoncierten.“ Für das Anerbenrecht sei er in Grenzen zu haben; nicht aber für „diese unmotivierte Reklame für ein harmloses, in vielen Fällen […] ganz angebrachtes Institut“, auch wenn im Zweifelsfalle die volle geschlossene Vererbung dem „wenig wirksamen besten Anerbenrecht“ vorzuziehen sei.205[57]Brief an den badischen Finanzminister Adolf Buchenberger vom 26. Juli 1899, GLA Karlsruhe, Nl. Adolf Buchenberger, Nr. 44.

Der Vorschlag zur Einführung des Anerbenrechts sowie zur Schaffung eines besonderen Heimstättenrechts, durch welches die große Fluktuation des bäuerlichen, vor allem aber des Großgrundbesitzes eingedämmt und eine neue Schicht bodenständiger Bauern geschaffen werden sollte, wurde in der zeitgenössischen Diskussion vielfach auch unter dem Gesichtspunkt erörtert, ob das „deutsche Recht“, das die Einschränkung der Verkehrsfreiheit des Grundbesitzes in vielfachen Formen kenne, für die Lösung dieser Probleme nicht grundsätzlich geeigneter sei als das „römische“, ja mehr noch, ob es nicht überhaupt „sozialer“ sei. Auch im Zusammenhang der Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches, an der eine Sachverständigenkommission des Bundesrates seit einiger Zeit arbeitete, waren Fragen dieser Art aufgeworfen worden. Martin Rade, der Herausgeber der „Christlichen Welt“, gewann Max Weber dafür, dazu Stellung zu nehmen. Seine Antwort war eindeutig: Er warnte vor vereinfachenden Zurechnungen, sei es zur deutschrechtlichen, sei es zur römischrechtlichen Rechtstradition und bestritt, daß das deutsche Recht als besonders „sozial“ zu gelten habe.206Siehe unten, S. 524–534. Hier wie sonst trat Max Weber oberflächlichen Romantisierungen ebenso entgegen wie rechtlichen oder gesetzlichen Lösungen, die sich aus interessenpolitischen Gründen über die Grundgesetze der marktwirtschaftlichen Ordnung hinwegsetzten.

Vor allem aber beschäftigte Max Weber weiterhin die Frage, wie man die deutsche Landarbeiterschaft, die in immer größeren Zahlen nach Westen abwanderte und das Feld den nachrückenden polnischen und ruthenischen Wanderarbeitern überließ, wieder an den Boden binden könne. Erbittert darüber, daß die staatlichen Instanzen es in dieser Frage an jeglichen konkreten Schritten fehlen ließen und statt dessen die seit 1885/86 gehandhabte restriktive Gesetzgebung hinsichtlich der Beschäftigung von polnischen und ruthenischen Landarbeitern schrittweise zurücknahmen, verschärfte Max Weber zunehmend seine Haltung in der sog. „Polenfrage“. Er beschwor die Gefahr einer „slavischen Überfluthung“ des deutschen Ostens, „die einen Kulturrückschritt von mehreren Menschenaltern bedeu[58]ten würde“,207[58]Siehe unten, S. 458. und verlangte im Osten eine „deutsche Politik“, ohne Rücksicht auf die ökonomischen Interessen der unmittelbar Betroffenen, insbesondere des ostelbischen Großgrundbesitzes. Ein „großer Theil des Großbesitzes im Osten“ sei, wie er meinte, „in privaten Händen“ ohnehin nicht länger „haltbar“.208Siehe unten, S. 462.

Auch hinsichtlich seiner Forderung nach einer kraftvollen deutschen Weltpolitik, wie er sie in seiner Akademischen Antrittsrede erstmals erhoben hatte,209Siehe oben, S. 51f. verschärfte Max Weber seit 1897 zunehmend seine Sprache, so in einem Diskussionsbeitrag zu einem Vortrag von Hans Delbrück über „Die Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit“210Siehe unten, S. 606–611. und, noch ungleich schärfer, anläßlich einer Auseinandersetzung mit Karl Oldenberg über die damals äußerst umstrittene Frage, ob Deutschland zu einem Industriestaat werden solle oder ob es im nationalen Interesse liege, das bestehende Gleichgewicht zwischen dem agrarischen und dem industriellen Sektor der Volkswirtschaft weiterhin zu erhalten.211Vgl. dazu u. a. Wagner, Adolph, Agrar- und Industriestaat. Die Kehrseite des Industriestaats und die Rechtfertigung agrarischen Zollschutzes mit besonderer Rücksicht auf die Bevölkerungsfrage. – Jena: Gustav Fischer 19022, sowie oben, S. 7, Anm. 14. Max Weber verlieh in diesem Zusammenhang seiner Meinung rückhaltlos Ausdruck, daß nur durch eine entschlossene Machtpolitik, die der deutschen Wirtschaft auch im Hinblick auf die in Zukunft zu erwartende allmähliche Verlangsamung des technischen Fortschritts eine angemessene Interessensphäre sichere, das inzwischen erreichte Niveau der Lebensführung der breiten Massen auf Dauer aufrechterhalten werden könne. Das Bekenntnis zu einer weit ausgreifenden imperialistischen Politik war allerdings zugleich mit der Forderung nach einem Ausbau der Reichsverfassung im Innern im liberalen Sinne verbunden. Nur dann, wenn die breiten Massen der Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterschaft, gleichberechtigt in das politische System integriert würden, werde die deutsche Politik in der Lage sein, auch nach außen hin kraftvoll aufzutreten.

Ganz in diesem Sinne sprach sich Max Weber denn auch in anderen Zusammenhängen aus. Eine fünfteilige Vortragsreihe im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main im Februar und März 1896 widmete sich erneut dem Thema „Agrarpolitik“, freilich nunmehr im Rahmen einer Veranstaltungsserie über Volkswirtschaftspolitik. Er begann mit einem historischen Überblick, behandelte dann aber durchaus die aktuellen Tagesprobleme. Eine von Max Weber selbst verfaßte, bislang unbekannte stichwortartige Übersicht vermittelt einen guten Eindruck von dem, was er dort [59]gesagt hat.212[59]Siehe unten, S. 597–601. Zur Ergänzung verfügen wir über eine Reihe von Presseberichten.213Siehe unten, S. 743–790. Im Herbst 1896 wurde Max Weber zu einem Vortrag im Handwerkerverein in Saarbrücken eingeladen, einem Volksbildungsverein mit beachtlicher historischer Tradition und hohem Ansehen, der u. a. Politiker wie Friedrich Naumann und Nationalökonomen wie Adolph Wagner zu sozialpolitischen Vorträgen hatte gewinnen können. Dem Saarbrücker Handwerkerverein kam überdies insofern politische Bedeutung zu, als er im Wahlkreis des konservativen saarländischen Schwerindustriellen von Stumm tätig und dessen Einfluß zu bekämpfen bestrebt war. Nicht zufällig bemühte er sich um Redner, die als Kritiker von Stumms bekannt waren. In seinem Vortrag, der am 9. Januar 1897 stattfand, plädierte Max Weber mit großer Entschiedenheit für eine Wirtschaftspolitik, die ihr Schwergewicht auf die industrielle Entwicklung Deutschlands legen müsse, zugleich aber dafür, diese durch eine entsprechende Machtpolitik auf Dauer zu sichern. Darin, dies nicht zu erkennen, liege die wirkliche Gefahr der Sozialdemokratie. Im übrigen bedürfe es der Beseitigung der patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse in der Industrie und der Gewährung von Rechtsgleichheit für die Arbeiterschaft, einschließlich uneingeschränkter Koalitionsfreiheit.214Siehe den Pressebericht, unten, S. 810–818. Die gleiche Thematik behandelte Max Weber auch in einer Mannheimer Vortragsreihe vom November und Dezember 1897, die im Rahmen eines volkswirtschaftlichen Vorlesungszyklus stattfand, der im Winter 1897/98 von dem dortigen Kaufmännischen Verein, der Handelskammer und dem Börsenvorstand durchgeführt wurde. In diesem letzten Vortrag dieser Art vor seiner Erkrankung betonte Max Weber einmal mehr, daß in dem künftig bevorstehenden Zeitalter eines monopolistischen Kapitalismus nur das Maß der Machtstellung des nationalen Staates in der Welt über den künftigen Ernährungsspielraum der Deutschen entscheiden werde. Aber zugleich klang erstmals ein neues Thema an, nämlich die Frage nach den historischen Leistungen des „Zeitalters des Kapitalismus“. Dieser habe „den modernen Menschen des Occidents“, der selbstverantwortlich zu handeln gewohnt sei, geschaffen.215Siehe unten, S. 842–852; das Zitat S. 851. In einem Vortrag in Straßburg am 7. Dezember 1897 über „Bodenverteilung und Bevölkerungsbewegung“ stellte Max Weber erneut sein agrarpolitisches Programm in ganzer Breite vor.216Siehe unten, S. 853–855.

Im Frühjahr 1897 ergab sich überraschend eine Möglichkeit, in die aktive Politik überzuwechseln. Beeindruckt von seinem Vortrag vom Januar suchte eine Gruppe von Nationalliberalen, die im Gegensatz zur offiziellen [60]Parteilinie eine erneute Reichstagskandidatur von Stumms verhindern wollten, Max Weber dafür zu gewinnen, bei den für 1898 bevorstehenden Reichstagswahlen im Wahlkreis Saarbrücken zu kandidieren. Max Weber lehnte dieses Angebot jedoch ab, mit dem Hinweis auf seine Hochschullehrertätigkeit in Heidelberg. Allerdings wäre die Kandidatur ohnehin nicht sonderlich aussichtsreich gewesen, und auch die politische Großwetterlage war nicht eben dazu angetan, ihn zum Sprung in die aktive Politik zu ermutigen, obschon er dies immer wieder, und wohl auch jetzt, erwogen hat. Im Februar 1898 schrieb er an seine Cousine Emmy Baumgarten: „Alles Entscheidende und Große schlummert vorerst im Hintergrund und ist verhüllt durch einen Wust von Kleinigkeiten. Ich dächte jetzt auch nicht daran, mich politisch zu beteiligen.“217[60]Brief an Emmy Baumgarten vom 18. Febr. 1898, Bestand Eduard Baumgarten, Privatbesitz.

In der Tat stellten sich die politischen Verhältnisse aus Max Webers Sicht nichts weniger als erfreulich dar. Ungeachtet des großen Widerhalls, den seine zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträge zu aktuellen Fragen der preußischen Agrarpolitik fanden, blieben die erhofften politischen Wirkungen weitgehend aus. Die preußische und die Reichsregierung machten keinerlei Anstalten, die von ihm skizzierten agrarpolitischen Wege zu beschreiten, und auch in den parlamentarischen Körperschaften kam es zu keinerlei Ansätzen für grundlegende Reformen auf dem Gebiet der Agrarpolitik.218Vgl. jetzt auch Balzer, Brigitte, Die preußische Polenpolitik 1894–1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien (unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen). – Bern: Lang 1989. Eine massive Intensivierung der „inneren Kolonisation“ kam ebensowenig zustande wie die von Max Weber empfohlene großzügige Vermehrung des staatlichen Domänenbesitzes. Und was die Frage der Zuwanderung von polnischen Landarbeitern anging, die Max Weber durch eine strikte Sperrung der Grenzen ein für allemal unterbunden sehen wollte, so griffen die staatlichen Instanzen zu allerhand Finessen, um der Großlandwirtschaft auch weiterhin die billigen polnischen Arbeitskräfte zu erhalten.219Vgl. Bade, Klaus J., Politik und Ökonomie der Ausländerbeschäftigung im preußischen Osten 1885–1914. Die Internationalisierung des Arbeitsmarktes im „Rahmen der preußischen Abwehrpolitik“, in: Puhle, Hans-Jürgen und Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Preußen im Rückblick. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 284ff.

Besonders erbittert war Max Weber über den proagrarischen Kurs des preußischen Finanzministers von Miquel, der einmal zu den großen Männern des fortschrittsorientierten Nationalliberalismus der Bismarckzeit gehört hatte. Als es im Frühjahr 1899 im preußischen Abgeordnetenhaus zu einer neuerlichen Auseinandersetzung über die preußische Agrarpolitik [61]kam, wurden unter anderem auch die Landarbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik und speziell Max Webers Untersuchung über „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ angegriffen. Max Hirsch und Theodor Barth von der Freisinnigen Volkspartei bzw. Freisinnigen Vereinigung hatten sich in der Debatte ausdrücklich auf Max Webers Auswertung der Erhebung bezogen. Dem Mangel an Arbeitskräften – so Hirsch und Barth – könne nicht durch staatliche Zwangsmaßnahmen begegnet werden, sondern nur durch eine Verbesserung der materiellen und sozialen Lage der Landarbeiter und durch einen Verzicht auf die Beschäftigung billiger ausländischer Arbeitskräfte seitens der Grundbesitzer. Daraufhin erklärte Miquel namens der preußischen Staatsregierung, daß die Enquete von zweifelhaftem Wert sei, besonders im Hinblick auf die von Hirsch und Barth herangezogene Untersuchung Max Webers. Als dann die Deutsche Industrie-Zeitung, das Organ des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, die Rede Miquels nicht nur punktuell verfälschend abdruckte, sondern zu einem generellen Angriff auf die wissenschaftlichen und sozialpolitischen Bestrebungen des Vereins für Socialpolitik ansetzte, griff Max Weber zur Feder mit einer speziell gegen von Miquel gerichteten Stellungnahme, die in der „Sozialen Praxis“ erschien.220[61]Siehe unten, S. 678–686. Einen zweiten Artikel, mit dem er auf die sich nun entspinnende Pressedebatte seinerseits reagieren wollte, zog er dann allerdings zurück.

Max Weber wurde über die geringe Wirkung seiner agrarpolitischen Bemühungen in der Öffentlichkeit und den politischen Parteien sowie über die eher abwiegelnde Strategie der staatlichen Instanzen von einer stetig wachsenden Frustration erfaßt. Daraus erklären sich die zunehmend schrilleren Töne, die er in den agrarpolitischen Auseinandersetzungen und insbesondere in der Polenfrage anschlug. Im April 1899 trat er sogar aus dem Alldeutschen Verband aus, weil dieser es unter dem Einfluß seiner konservativen Mitglieder nicht gewagt habe, in der Polenfrage einen kompromißlos nationalen Kurs zu steuern. In einem Schreiben an Ernst Hasse, den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, vom 22. April 1899 heißt es: „In Unkenntnis, an wen sonst eine solche Erklärung zu richten ist, beehre ich mich, Ihnen meinen Austritt aus dem ,Alldeutschen Verband‘ anzuzeigen. Der Grund liegt in der Haltung des Verbandes in der Frage der polnischen Landarbeiter. Während der Verband sonst Wichtiges und Unwichtiges (oft geradezu Quisquilien wie ,Menu’s‘, u.s.w.) mit gleicher Leidenschaft bespricht und erörtert, hatte er sich in einer Lebensfrage des Deutschtums nicht über hie und da höchst selten und platonisch ausgesprochene Wünsche erhoben, niemals den vollständigen – natürlich nur stufenweise möglichen – Ausschluß der Polen mit annähernd ähnlicher Energie vertreten, wie [62]die nationalpolitisch höchst gleichgültige Ausweisung von Dänen und Tschechen, durch welche die Regierung der öffentlichen Meinung Sand in die Augen streut. Er hat es hingenommen, daß die Königsberger Landw[irtschafts]-Kammer so schamlos war, die Ansiedelung der Polen zu fordern, daß die Agrarier im Landtage die Erleichterung der Polen-Zufuhr forderten und die Regierung sie zusagte, falls sie bei Rußland (!) zu erlangen sei. Die Rücksichtnahme auf die Geldinteressen des agrarischen Kapitalismus, der in den zahlreichen conservativen Mitgliedern des Verbandes seine Vertretung hat, geht dem Verbande über die Lebensinteressen des Deutschtums. Um die Freiheit zu gewinnen, dies bei Gelegenheit auch öffentlich zu statuiren, trete ich aus; ich habe diese Sache innerhalb des Verbandes in Vorträgen in Berlin, Freiburg u.s.w. derart bis zum ,Steckenpferdreiten‘ vertreten – ohne Erfolg für die Haltung des Verbandes –, daß ich diese zwecklosen Anstrengungen satt habe, zumal Sie wissen, daß meine Stimme in diesen Dingen überhaupt nichts gilt. – Ich gelte als ,Feind der Junker‘. – Dies hindert mich natürlich nicht, lebhafte Sympathien auch für die Bestrebungen des Verbandes zu haben, und schwächt meine aufrichtige persönliche Hochachtung für die Person der leitenden Herren nicht ab.“ Hasse bedauerte in seinem Antwortschreiben vom 27. April 1899 den Austritt Max Webers, „umsomehr als der A[ll] D[eutsche] V[erband] […] großes Gewicht auf“ dessen „Urteil […] gelegt“ habe und noch lege.221[62]Vgl. Brief Max Webers an den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes Ernst Hasse vom 22. April 1899, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/4, und dessen Antwort vom 27. April 1899, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. Übrigens hatte sich Max Weber auch im Deutschen Ostmarkenverein engagiert, der sich die „Förderung des Deutschthums“ in den östlichen Gebieten zum Ziel gesetzt hatte; er war seit 1894 Mitglied des Gesamt-Ausschusses des Deutschen Ostmarkenvereins.222Laut einer Aufstellung in: Die Ostmark. Monatsblatt des Vereins zur Förderung des Deutschthums in den Ostmarken, Nr. 7 vom Juli 1897. Vermutlich war Weber am 3. November 1894 in den Gesamt-Ausschuß, dem allerdings sehr viele Mitglieder angehörten und der eigentlich keine Leitungsfunktionen ausübte, gewählt worden. Zum Zeitpunkt des Austritts aus dem Alldeutschen Verband war Max Weber bereits an einem schweren Nervenleiden erkrankt, das ihn wenig später zwang, nicht nur alle öffentlichen Auftritte, sondern auch seine wissenschaftliche Tätigkeit einstweilen gänzlich aufzugeben, in einem verzweifelten Kampf um die Wiederherstellung seiner Gesundheit. Es steht dahin, ob dabei auch seine wachsende Enttäuschung über die geringe Wirkung seines agrarpolitischen Engagements eine Rolle gespielt hat.

Der Bekanntheitsgrad des jungen Wissenschaftlers in der breiteren Öffentlichkeit als Agrarexperte war damals bemerkenswert hoch, jedenfalls [63]weit höher, als im ersten Jahrzehnt nach seiner Erkrankung. Wenn Max Weber nicht wieder gesundet wäre, wäre er vermutlich noch heute als ein bedeutender Fachmann für agrarpolitische Fragen und als liberaler Agrarpolitiker bekannt. Seine Erkrankung zwang ihn, eine ganze Reihe von agrarwissenschaftlichen Projekten, mit denen er seine agrarpolitischen Forderungen noch stärker hatte erhärten wollen, abzubrechen. Auch aus dem Projekt einer „Deutschen Agrargeschichte“, für welches ihn Friedrich Meinecke gewonnen hatte, wurde nichts. Nur in dem Vortrag aus Anlaß des Congress of Arts and Science vom Jahre 1904 „The Relations of the Rural Community to other Branches of Social Science“ – dies war mit Sicherheit eine arge Verballhornung des deutschen Originaltitels –223[63]In: Congress of Arts and Science, Universal Exposition, St. Louis 1904, hg. von Howard J. Rogers, Band 7. – Boston, New York: Houghton, Mifflin & Co. 1906, S. 725–746 (MWG I/8). und in der Abhandlung über die Fideikommißvorlage von 1904224Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: AfSS, Band 19,1904, S. 503–574 (MWG I/8). hat er wieder an seine agrarpolitischen Arbeiten der 1890er Jahre angeknüpft.

Noch ein weiterer Bereich des politischen Engagements des jungen Wissenschaftlers verdient hier Erwähnung, sein Eintreten für die bürgerliche Frauenbewegung. Diese kämpfte damals darum, den Frauen ungehinderten Zugang zum öffentlichen Bildungswesen zu verschaffen und ihnen die Wege für eine anerkannte Berufsausbildung zu ebnen, statt ihnen allenfalls die Möglichkeit zu geben, eine ehrenamtliche Tätigkeit im karitativen Bereich auszuüben. Auch hier wirkte Max Weber mit. Im Januar und Februar 1894 hielt er in Berlin im Rahmen einer sozialpolitischen Fortbildungsreihe, die von den „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hülfsarbeit“ organisiert worden war, einen Vortragszyklus über die „Grundzüge der modernen sozialen Entwickelung“.225Siehe unten, Anhang II, S. 910f. Die Arbeit dieser Gruppen wurde auch von Gustav Schmoller und Max Sering unterstützt. Max Webers Interesse an der Frauenbewegung wurde späterhin zunehmend von seiner Frau Marianne Weber beeinflußt, die seit 1897 die Heidelberger Vereinigung „Frauenbildung“ leitete. An einer Veranstaltung der Vereinigung „Frauenbildung“ im Februar 1898 nahm auch Max Weber teil. In einem längeren Diskussionsbeitrag äußerte er sich kritisch zu einem Referat des Heidelberger Staatswissenschaftlers Georg Jellinek und verteidigte die Frauenbewegung.226Siehe dazu unten, Anhang II, S. 916f.

[64]7. Zur Forschungslage und Textüberlieferung

In den bisherigen Ausgaben der Schriften Max Webers findet dessen agrarpolitisches Frühwerk nur bruchstückhaft Berücksichtigung. Marianne Weber nahm in die erste Auflage der Gesammelten Politischen Schriften nur die Akademische Antrittsrede von 1895 auf. Auf Anregung von Wolfgang J. Mommsen erweiterte Johannes Winckelmann den Textbestand in der zweiten Auflage der Gesammelten Politischen Schriften aus dem Jahre 1958 um den Diskussionsbeitrag auf der Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins im November 1896; in der dritten Auflage vom Jahre 1971 kam die Stellungnahme zur Flottenumfrage von 1898 hinzu. In den von Marianne Weber 1924 herausgegebenen Gesammelten Aufsätzen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wurden nur der Vortrag „Die ländliche Arbeitsverfassung“ auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik von 1893 sowie die kürzere Fassung des Aufsatzes „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter“ berücksichtigt.227[64]Es handelt sich dabei nicht, wie von Marianne Weber im Inhaltsverzeichnis irrtümlich angegeben, um die Fassung aus dem Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, sondern um die in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte. Sowohl Marianne Weber als auch Johannes Winckelmann modernisierten die Orthographie, führten die Interpunktion nach und griffen darüber hinaus an einzelnen Stellen direkt in die Texte ein.228Der eklatanteste Fall ist die Änderung von Johannes Winckelmann in der zweiten Auflage der Gesammelten Politischen Schriften. Im Diskussionsbeitrag auf der Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins heißt es im Original bei Weber: „wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht“ (unten, S. 622). Bei Johannes Winckelmann heißt es: „wir haben die Polen [erst] zu Menschen gemacht.“ Jeweils S. 28 der zweiten bis fünften Auflage der Gesammelten Politischen Schriften. Demgegenüber präsentiert die vorliegende Ausgabe sechsunddreißig Texte in direkter und vollständiger Überlieferung. Der größte Teil der Texte lag zuvor zwar schon gedruckt vor, doch waren diese weit verstreut und z. T. schwer zugänglich. Vier Texte waren bisher gänzlich unbekannt.229Es handelt sich um „Die Couleurschicksale des Fürsten Bismarck“, unten, S. 575–578, „Agrarpolitik. Grundriß einer Vortragsreihe“, unten, S. 597–601, zwei Werbetexte zu „Volkswirtschaftliche Abhandlungen“, unten, S. 674–677, und zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands“, unten, S. 693. Die außerordentliche Breite der Vortragstätigkeit Max Webers war nur ansatzweise bekannt. Max Weber entfaltete in diesen Jahren eine bemerkenswerte Aktivität auf politischem Felde und ebenso im Rahmen außeruniversitärer Bildungseinrichtungen. Unbekannt war auch seine Beteiligung an den meisten der hier veröffentlichten Aufrufe.

Um möglichste Vollständigkeit in der Berücksichtigung aller relevanten Textzeugen zu erreichen sowie deren angemessene historische Verortung [65]zu leisten, waren Recherchen in zahlreichen Archiven, Bibliotheken, Sammlungen und Privatnachlässen erforderlich. Vor allem wurden die Korrespondenzen im Nachlaß Max Weber im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (vormals: Zentrales Staatsarchiv) in Merseburg ausgewertet, desgleichen die Familienkorrespondenzen im Nachlaß Alfred Weber im Bundesarchiv Koblenz sowie die Korrespondenzen in den privaten Beständen Max Weber-Schäfer und Eduard Baumgarten. Darüber hinaus wurde der Briefwechsel Max Webers mit dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) durchgesehen. Zur Kommentierung wurden ferner die Vorlesungsmitschriften der Vorlesungen Max Webers „Die deutsche Arbeiterfrage in Stadt und Land“ im Sommersemester 1895 und „Agrarpolitik“ im Wintersemester 1897/98 herangezogen. Schließlich wurden die Akten der zahlreichen Vereinigungen und Verbände, denen Max Weber angehörte, nach Texten oder Hinweisen auf Texte sowie zwecks Einholung von Hintergrundinformationen durchgesehen. Dazu gehören insbesondere die Akten des Evangelisch-sozialen Kongresses in Leipzig-Gohlis, die allerdings vor 1989 nur begrenzt zugänglich waren, die Akten des Alldeutschen Verbandes im Bundesarchiv Potsdam (vormals: Zentrales Staatsarchiv Potsdam), die Unterlagen des Deutschen Ostmarkenvereins sowie die Akten des Vereins für Socialpolitik im Geheimen Staatsarchiv Merseburg. Ferner sind die einschlägigen Bestände der Kirchenarchive nach Hinweisen durchgesehen worden, vor allem das Evangelische Zentralarchiv in Berlin. Die Bemühungen, durch Anfragen an zahlreiche sonstige landeskirchliche Archive doch noch ein Original des von Max Weber zusammen mit Paul Göhre 1892 erstellten Fragebogens für die Landarbeiterenquete des Evangelisch-sozialen Kongresses aufzufinden, waren allerdings nicht erfolgreich. Des weiteren wurden zahlreiche Nachlässe ausgewertet, insbesondere die Nachlässe von Richard Boeckh und Friedrich Naumann im Bundesarchiv Potsdam, von Karl Bücher und Wilhelm Stieda in der Universitätsbibliothek Leipzig, der Restnachlaß von Paul Göhre im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn, die Nachlässe von Hans Delbrück und Gottfried Traub im Bundesarchiv Koblenz, der Nachlaß von Georg Friedrich Knapp im Privatbesitz von Frau Ursula Heuss, Basel, der Nachlaß von Martin Rade in der Universitätsbibliothek Marburg sowie der Nachlaß von Gerhart von Schulze-Gaevernitz im Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg. Bei der Suche nach Berichten über Vorträge Max Webers in der jeweiligen Lokalpresse wurden zahlreiche Stadtarchive und Universitäts- und Landesbibliotheken um ihre Unterstützung gebeten. Um Max Webers umfangreiche Vortragstätigkeit zu dokumentieren, wurden die einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften sowie sonstigen Publikationsorgane einer systematischen Durchsicht unterzogen.

[66]8. Zur Anordnung und Edition der Texte

Gemäß den Editionsrichtlinien der MWG werden hier nicht nur die von Weber verfaßten oder mitverfaßten Texte berücksichtigt, sondern auch die indirekt überlieferten Texte. Dabei handelt es sich in der Regel um Presseberichte über Reden, Vorträge und Diskussionsbeiträge sowie in wenigen Fällen um unautorisierte Mitschriften. Ferner sind alle Aufrufe, Kundgebungen usw. aufgenommen worden, die Max Weber durch seine Unterschrift mitverantwortet hat, obschon er nur in wenigen Fällen auf deren Wortlaut direkt oder indirekt eingewirkt hat. Schließlich wird eine Übersicht über Vorträge und Diskussionsbeiträge gegeben, die Max Weber nachweislich gehalten hat, von denen uns aber keine Textzeugen überliefert sind.

Die Edition ist, in Berücksichtigung des unterschiedlichen Quellenwerts dieser verschiedenen Textzeugen, in die Teile I. „Schriften“, II. „Berichte über Reden und Diskussionsbeiträge“, sowie den Anhang I: „Mitunterzeichnete Eingaben und Aufrufe“ und den Anhang II: „Nachgewiesene, aber nicht überlieferte Vorträge und Diskussionsbeiträge“ untergliedert.

Teil I: „Schriften“ enthält die Manuskripte sowie die veröffentlichten Abhandlungen, Artikel, Vorträge und Diskussionsbeiträge, die von Weber autorisiert wurden. Bei gedruckten Texten ist in der Regel das Veröffentlichungsdatum, nicht das Entstehungsdatum, für die chronologische Einordnung maßgeblich. Bei Artikelfolgen in Zeitschriften ist das Veröffentlichungsdatum des jeweils ersten Artikels für die chronologische Einordnung der gesamten Serie ausschlaggebend. Die Vorträge und Diskussionsbeiträge Webers auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik und dem Evangelisch-sozialen Kongreß sind, in Abweichung von den Editionsprinzipien, unter dem Veranstaltungsdatum angeordnet. Andernfalls wäre beispielsweise der Artikel „Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß“ (von 1894) vor das Referat und den Diskussionsbeitrag selbst zu stehen gekommen. In vergleichbaren Fällen wird in analoger Weise verfahren; das Datum der Veröffentlichung wird jeweils im Editorischen Bericht mitgeteilt. Es darf als gesichert gelten, daß Max Weber die stenographischen Mitschriften des Vereins für Socialpolitik und des Evangelisch-sozialen Kongresses vor der Drucklegung durchgesehen und autorisiert hat. Texte, bei denen der Zeitpunkt der Entstehung bzw. das Datum der Veröffentlichung nicht genau bestimmbar sind, werden jeweils am Ende des fraglichen Zeitraums eingeordnet.

In Teil II: „Berichte über Beden und Diskussionsbeiträge“ sind alle indirekten Zeugen von öffentlichen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen aufgenommen. Dabei handelt es sich mit Ausnahme der Flugschrift des Alldeutschen Verbandes durchweg um Presseberichte. Die Einordnung erfolgt [67]jeweils gemäß dem Veranstaltungsdatum; Vortragsreihen werden gemäß dem Termin des ersten Vortrags angeordnet.

In Anhang I: „Mitunterzeichnete Eingaben und Aufrufe“ werden Texte mitgeteilt, die Weber durch seine Unterschrift mitverantwortet hat. Es ist allerdings davon Abstand genommen worden, die Einladungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, die alljährlich in der Presse erschienen, zu berücksichtigen. Max Webers Name wurde hier routinemäßig unter denen der Mitglieder des Ausschusses genannt.

In Anhang II: „Nachgewiesene, aber nicht überlieferte Vorträge und Diskussionsbeiträge“ werden alle Informationen über die Texte gesammelt, von denen weder ein Manuskript noch eine gedruckte Fassung noch Berichte überliefert sind.

Gemäß den Editionsprinzipien der MWG sind die Texteingriffe auf ein Mindestmaß beschränkt. Die für Max Weber typische Zeichensetzung wurde nicht verändert, auch wurde bei grammatikalischen Eigenheiten nicht eingegriffen. Zu letzteren gehört es, daß Weber oftmals trotz mehrerer grammatikalischer Subjekte das Prädikat im Singular beläßt. Auch sprachliche Besonderheiten wie „Controle“ statt „Kontrolle“ wurden nicht emendiert. Bei den Berichten über Reden und Diskussionsbeiträge wurden eigentümliche Schreibweisen, wie z. B. „Fideikommis“ statt „Fideikommiß“ beibehalten; ebenso wurde von der Verbesserung oder dem Hinweis auf offensichtliche Widersprüche oder Fehler in indirekten Textzeugen Abstand genommen.230[67]Z. B. finden sich in den Presseberichten über den Schlußvortrag der Vortragsreihe „Agrarpolitik“ im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main direkt divergierende Aussagen, auf deren Richtigstellung oder Kommentierung jedoch verzichtet wird. Im Bericht des Frankfurter Journals heißt es beispielsweise: „Der Bau der Zuckerrübe hat zur Zeit noch Zukunft; sie gedeiht aber nicht auf Sandboden.“ Unten, S. 777. Im Bericht des Frankfurter Volksboten lautet die entsprechende Passage hingegen: „Die Zuckerrübe hat […] noch eine Zukunft […]; allerdings braucht sie hauptsächlich Sandboden.“ Unten, S. 779. Im übrigen war es nicht immer möglich, die in den Presseberichten genannten statistischen Angaben nachzuweisen, da sich hier infolge der indirekten Überlieferung zuweilen fehlerhafte Daten eingeschlichen haben.

Liegen mehrere Fassungen eines Textes vor, wird dem Abdruck grundsätzlich die Fassung „letzter Hand“ zugrundegelegt. Von diesem Prinzip wird in diesem Band verschiedentlich abgewichen, in zwei Fällen, weil die von Max Weber überlieferten Manuskripte von zuverlässigerer Qualität sind [68]als die Druckfassungen;231[68]Es handelt sich um „Die Couleurschicksale des Fürsten Bismarck“, unten, S. 575–578, und den Werbetext zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands“, unten, S. 693. in einem Fall, weil es sich um zwei eigenständige Texte mit eigener Wirkungsgeschichte handelt.232Es handelt sich um den Text „Die Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter“, unten, S. 362–462.

In einer Reihe von Fällen wurden Texten, die keinen Originaltitel besitzen, der besseren Übersichtlichkeit halber sinngemäße Überschriften gegeben; sie sind durch eckige Klammern als Zutat des Herausgebers kenntlich gemacht.

Abschließend sei noch angemerkt, daß jeder in diesem Band veröffentlichte Text als selbständige Einheit behandelt wird. Dies hat zur Konsequenz, daß sich die Angaben zur Entstehung der Texte in den Editorischen Berichten und ebenso in den Erläuterungen zu den Texten gelegentlich wiederholen. Angesichts des Umfangs des Bandes erschien es uns aber erforderlich, dem Leser den Zugang und die Arbeit mit den Texten nicht durch zahlreiche Querverweise zu erschweren und ihm statt dessen alle Informationen zum Verständnis des jeweiligen Textes an Ort und Stelle zu geben.