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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[619][Diskussionsbeitrag in der Debatte über das allgemeine Programm des Nationalsozialen Vereins]

[A 47]Naumann hat mit scharfer Accentuierung von der Stellung der Gebildeten zu dieser national-sozialen Bewegung gesprochen und uns – denn ich darf zwar nicht [A 48]im Namen derer, die er meint, wohl aber als Einer von ihnen sprechen – gesagt, wie weit wir mitgehen können. Da müssen wir aber unserseits zunächst fragen: „Was wollen Sie denn eigentlich?“ Will man in einer nationalen Arbeiterpartei die aufsteigenden Klassen der Arbeiter für sich zu gewinnen suchen, so wäre das zweifellos ein Fortschritt. Es würde die geistige Emanzipation der Arbeiter bedeuten, Gedankenfreiheit, die die Sozialdemokratie nicht duldet, indem sie Marx’ zerbrochenes System als Dogma in die Köpfe der Masse stempelt, Gewissensfreiheit, die es bei ihr, wie jeder Berliner Stadtmissionar berichten kann, nur dem Worte, nicht der Sache nach giebt.
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[619] Anspielung darauf, daß die Sozialdemokratie sowohl im Gothaer Programm von 1875 als auch im Erfurter Programm von 1891 die „Religion zur Privatsache“ erklärt hatte. Zitiert nach: Fricke, Dieter, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, Band 1. – Berlin: Dietz Verlag 1987, S. 150 und 219. Weber führt diesen Sachverhalt in einem Vortrag „Die nationalen Grundlagen der Volkswirtschaft“ näher aus, unten, S. 723, 725, 728.
Aber in einer Klassenpartei hätten wir natürlich keinen Platz, und vollends dann nicht, wenn Sie jetzt einen neuen Gewissensdruck ausüben wollen, indem Sie verlangen, daß der christliche Glaube zum öffentlichen Versammlungs-Bekenntnis gemacht werde.
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In Naumanns neuem Programmentwurf hieß es unter Punkt sechs, daß „der Glaube an Jesus Christus, der nicht zur Parteisache gemacht werden darf, sich aber auch im öffentlichen Leben als Macht des Friedens und der Gemeinschaftlichkeit bewähren soll.“ Protokoll über die Vertreter-Versammlung aller National-Sozialen in Erfurt vom 23. bis 25. November 1896. – Berlin: Verlag der „Zeit“ [1896], S. 39.
– Was nun aber in dem Entwurf Naumanns geboten wird, ist ein Rückschritt. Seltsam kontrastiert mit dem vermeintlichen Realismus, welcher politische Parteien nur auf wirtschaftlicher Interessenbasis aufbauen zu können meint, die Art, wie hier diese Interessengruppe, die den nationalen Sozialismus tragen soll, umschrieben wird. Denn welches ist sie? Es ist die Partei der Mühseligen und Beladenen, derjenigen, die irgendwo der Schuh drückt, aller [620]derer, die keinen Besitz haben und welchen haben möchten. Ob Professor oder Arbeiter ist gleich; das Kriterium soll sein, ob das Einkommen aus Arbeit oder Rente fließt. Wer kann nun da zu Ihnen kommen und bei Ihnen bleiben? Ein Kellner gehört zu Ihnen. Wird er morgen Oberkellner, wird seine Befähigung zum nationalen Sozialismus schon fraglich. Und ist er ein tüchtiger Mann und bringt er es einmal zum Wirt, der selber Kellner und Oberkellner hält, hat er sicherlich bei Ihnen nichts mehr zu suchen. Ein bis zum Hals verschuldeter Gutsbesitzer kann der Ihrige sein, ein Bauer, der aufsteigt und seinen Besitz mehrt, nicht. Nun, das sind Karrikaturen, werden Sie sagen – aber vergegenwärtigen Sie sich, daß eine Partei, die kein anderes Prinzip kennt, als: nieder mit den wirtschaftlich Starken, die Karrikatur einer Partei ist. Alle aufsteigenden Schichten des Volkes, auch die aufsteigenden Schichten der Arbeiterklasse, werden dann damit, daß sie aufsteigen, natürliche Gegner der national-sozialen Bewegung. Nur der Bodensatz der Bevölkerung bleibt bei Ihnen. Eine Partei aber, die nur die Schwächsten zu sich rechnet, wird die politische Macht nie erlangen. Wollen Sie derartige an die ethische Kultur
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[620] Zu der von dem Berliner Astronomen Wilhelm Foerster 1892 gegründeten Gesellschaft für Ethische Kultur siehe oben, S. 573, Anm. 58. – Die Gesellschaft für Ethische Kultur reagierte auf Webers Angriff höchst kritisch. Die von ihm geforderten Maßnahmen zur Zurückdrängung des Polentums bezeichnete sie als „brutale Aktionen“. Vgl. Ethische Kultur, 4. Jg., 1896, S. 390f. und 415f.
erinnernde miserabilistische Gesichtspunkte zu Grunde legen, so werden Sie nichts anderes als politische Hampelmänner, Leute, die je nachdem wo ihnen der Anblick irgend eines wirtschaftlichen Elendes auf die Nerven fällt, durch unartikulierte Bewegungen bald nach rechts, bald nach links, hier einmal gegen die Agrarier, dort einmal gegen die Börse und die Großindustrie reagieren. Das sind keine politischen Gesichtspunkte. Die einzige klare politische Formel
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[620]A: Form
, welche das seinerzeit vereinbarte erste Programm, auf Grund dessen allein ich hier erschienen bin, enthielt, die Bewegung gegen die Großgrundbesitzer[,] ist aus Unklarheit fallen gelassen.
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Der ursprüngliche Programmentwurf sah unter Punkt vier vor: „Für den deutschen Osten wünschen wir unter gleichzeitiger Verhinderung fremdländischer Einwanderung innere Kolonisation und Einschränkung der Latifundien, in deren Ausdehnung wir eine nationale Gefahr erblicken, ebenso wie in dem politischen und sozialen Übergewicht ihrer Besitzer.“ Protokoll über die Vertreter-Versammlung, S. 7.
[621]Damit ist die politische Pointe fortgefallen. Denn [A 49]seien Sie sich klar: Sie haben heute einzig und allein die Wahl, welches von den einander bekämpfenden Interessen der heute führenden Klassen Sie stützen wollen: das bürgerliche oder das agrarisch-feudale. Eine Politik, die das nicht berücksichtigt, ist eine Utopie. Jede aufstrebende neue Partei steht vor der Entscheidung, ob sie die bürgerliche Entwickelung fördern oder unbewußt die feudale Reaktion stützen will. Auch wenn Sie es nicht wollen und meinen, ein Drittes thun, eine Politik des vierten Standes treiben zu können, wird das, was Sie wirklich erreichen, doch stets nur und allein die Stützung eines dieser beiden Interessen sein. Zwischen ihnen müssen Sie wählen, und, wenn Ihnen die Zukunft der Bewegung am Herzen liegt, die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung wählen. Die Sozialdemokratie hat dadurch, daß sie gegen das Bürgertum vorgegangen ist, der Reaktion die Wege geebnet. – Wie unpolitisch Naumann denkt, ist daran zu ersehen, daß er dem Parlament die Entscheidung über die Heeresstärke nehmen möchte.
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[621] Naumann hatte in seiner programmatischen Rede auf der Erfurter Versammlung gefordert: „Es ist nötig, daß die Militärbewilligungen überhaupt dem Streite der Parteien entzogen werden und die Militärmacht in Progression gesetzt wird zu der Bevölkerungszahl.“ Ebd., S. 42.
Im Gegenteil: Die einzige gesunde Lösung ist die Behandlung der Militärfrage als einfache Budgetfrage, also die jährliche Bewilligung. Die neue Partei muß sein eine nationale Partei der bürgerlichen Freiheit, denn nur eine solche fehlt uns: es fehlt eine Demokratie, der wir die Leitung Deutschlands durch unsere Wahlstimmen anvertrauen könnten, weil wir der Wahrung der nationalen und wirtschaftlichen Machtinteressen in ihrer Hand sicher sein würden. – Damit komme ich zu einem Spezialpunkt, dessen Behandlung in Ihrer Presse mir gezeigt hat, daß Sie vorläufig diese Partei nicht sind. Es ist die Art, wie in der letzten Zeit die sogenannte „Polenfrage“ in der „Zeit“ erörtert worden ist. Über die Einzelmaßnahmen, die da diskutiert wurden, läßt sich streiten, davon spreche ich nicht, sondern von der Art der Behandlung dieser Dinge in einem deutschen Blatte, wie die „Zeit“ sein will. Die „Zeit“ hat diejenigen, die eine energische Stellungnahme gegen die Polen befürworten, in einem hämischen Tone angegriffen, den Deutsche in nationalen Fragen gegen einander nie anschlagen sollten. Man hat gesprochen von einer Herabdrückung der Polen zu deutschen Staats[622]bürgern zweiter Klasse.
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[622] Dies bezieht sich auf einen Artikel Hellmut von Gerlachs in der „Zeit“, in dem die Polen mit den Sozialdemokraten zur Zeit des Sozialistengesetzes verglichen worden waren: „Wie man die Sozialdemokraten zu Staatsbürgern zweiter Klasse herabdrückte und gerade dadurch ihrer Bewegung einen riesigen Aufschwung verlieh, so geht es genau ebenso mit den Polen.“ Die Zeit. Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage, Nr. 29 vom 3. Nov. 1896, S. 1.
Das Gegenteil ist wahr: wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht. Auch in der Auffassung der Polenfrage tritt bei Ihnen eben jener unpolitische Zug des Miserabilismus hervor. Aber die Politik ist ein hartes Geschäft, und wer die Verantwortung auf sich nehmen will, einzugreifen in die Speichen des Rades der politischen Entwicklung des Vaterlandes, der muß feste Nerven haben und darf nicht zu sentimental sein, um irdische Politik zu treiben. Wer aber irdische Politik treiben will, der muß vor allen Dingen illusionsfrei sein und die eine fundamentale Thatsache, den unabwendbaren ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen auf der Erde, wie er thatsächlich stattfindet, anerkennen. Wenn nicht, dann soll er davon abstehen, eine politische Partei zu begründen. Ich möchte hier, in dieser thüringischen Stadt, Ihnen das alte Thüringerwort entgegenrufen: „Landgraf, werde hart“.
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[622]In A folgt der redaktionelle Zusatz: (Vereinzelter Beifall).
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Zeile aus Wilhelm Gerhards Gedicht „Der Edelacker“ von 1817. Das Gedicht lehnt sich an die Sage vom Landgrafen Ludwig den Eisernen von Thüringen an, der seinen milden Regierungsstil den Großen des Landes gegenüber, die die Bevölkerung unterdrückten, erst änderte, nachdem er einen arbeitenden Schmied beobachtet hatte, der jedesmal, wenn er das Eisen schlug, rief: „Nun werde hart“.