MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz. 1894
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[483][A 533]Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz.1)[483][A 533]Die Agrarkonferenz vom 28. Mai bis 2. JunibA: Juli ; vgl. Anm. 5. 1894,5 Die Konferenz fand vom 28. Mai bis 2. Juni 1894 statt. Bericht über die Verhandlungen etc. Berlin, Parey 1894, 368 S. 8°. Preis 8 Mk.

Die Agrarkonferenz wurde durch Schreiben des Preußischen Landwirthschaftsministers vom 10. Mai 1894 zu dem Zweck einberufen, „alle diejenigen Maaßnahmen in Erwägung zu nehmen, welche zur Erhaltung und Kräftigung des ländlichen Grundbesitzes und der heimischen Landwirthschaft zu dienen geeignet sind“,1[483] Zitiert nach dem Text des Einladungsschreibens vom 10. Mai 1894, in: Agrarkonferenz, S. VIII. speziell Maaßregeln gegen die Überschuldung des ländlichen Grundbesitzes zu berathen. Sie trat unter dem Vorsitz des Landwirthschaftsministers am 28. Mai zusammen und hielt 6 Sitzungen hinter einander ab, von welchen 3 der Generaldebatte – welche in der stenographischen Ausgabe 200 Seiten füllt, der Rest der Spezialdiskussion – 160 Seiten füllend – gewidmet waren. Unter den 38 der Einberufung gefolgten Experten2Ein Verzeichnis der Teilnehmer mit Berufsangabe ist abgedruckt ebd., S. XVIIf. war der Grundbesitz mit 12 Vertretern, 11 Rittergutsbesitzern und 1 „Bauern“a[483]A: „Bauer“ (dem nationalliberalen Hochagrarier Schoof3Siehe unten, Anm. 8. )[,] die Grundkreditinstitute mit 4 (3 Vertretern der Landschaften4Die Landschaften waren öffentliche, unter staatlicher Aufsicht stehende landwirtschaftliche Kreditinstitute. Sie waren im 18. Jahrhundert als ständische Bodenkreditverbände gegründet worden und als Zwangskorporationen der Rittergutsbesitzer organisiert. Erst später öffneten sie sich auch für andere Grundbesitzer und gingen zur freiwilligen Mitgliedschaft über. und 1 Hypothekenbankdirektor – Dr. Hecht aus Mannheim), die amtliche Statistik durch 2 – die Direktoren der Reichs- und Preußischen Statistik –, die akademische Wissenschaft mit 9 (7 Professoren der Nationalökonomie, 2 der Jurisprudenz) betheiligt, der Rest von 11 waren Staats- und provinzielle Beamte, darunter 1 Richter und 4 Beamte der ländlichen Auseinandersetzungs- und [484]Ansiedlungsbehörden.6[484] Gemeint sind die mit der Durchführung der preußischen Ansiedlungs- und Rentengutsgesetze von 1886 und 1890/91 betrauten Ansiedlungs- und Generalkommissionen. Als Vertreter des Bauernstandes könnten nur die politisch stark vinkulirten7Vinkulation: finanztechnischer Ausdruck aus dem Bereich des Börsenwesens. Gemeint ist damit die Bindung des Rechts, ein Wertpapier an einen Dritten zu übertragen, an die Genehmigung des Wertpapierausstellers. – Hier wird offenbar darauf angespielt, daß die genannten „Bauern-“Vertreter dem Großgrundbesitz sehr nahe standen. Herren Schoof8Johann Friedrich Schoof war von 1867 bis 1906 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Aufgrund seiner Agitation für den Bund der Landwirte, dessen Provinzialvorsitzender er in Hannover war, wurde er 1897 aus der nationalliberalen Fraktion ausgeschlossen. und Winkelmann (Vorsitzender des Schorlemer’schen Bauernvereins)9Christoph Winkelmann war zunächst stellvertretender, dann, von 1903–1906, erster Vorsitzender des 1862 von Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst gegründeten Westfälischen Bauernvereins, in dem sich in erster Linie der katholische kleine und mittlere Grundbesitz zusammenschloß. Schorlemer-Alst war bis zu seinem Tode 1895 Vorsitzender des Vereins. Winkelmann gehörte wie Schorlemer-Alst dem rechten Flügel des Zentrums an. 1893 gerieten beide als Vertreter des Bauernstandes mit der handelsvertragsfreundlichen Politik des Zentrums in Konflikt. Bachem, Karl, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Band 5 (Neudruck der Ausgabe Köln 1929). – Aalen: Scientia Verlag 1967, S. 23f. angesehen werden. Unter den Grundbesitzern befanden sich die namhaftesten Vertreter der konservativen Agrarier: Graf Kanitz, v. Ploetz, v. Puttkamer-Plauthc[484]A: Puttkammer-Plauth, ferner von hervorragenden Großgrundbesitzern der frühere Staatsminister Graf Zedlitz, Wendorff-Zdziechowo, Graf Holstein-WaterneverstorffdA: Holstein-Waterneverstorf, Graf Dönhoff, Frhr. v. Huene, von namhafteren entschieden antiagrarischen Grundbesitzern Sombart,10Gemeint ist Anton Ludwig Sombart, genannt Sombart-Ermsleben, der Vater Werner Sombarts. Er befaßte sich intensiv mit Fragen der „inneren Kolonisation“ und führte eine private Kolonisation auf dem Rittergut Steesow (Provinz Brandenburg) durch. unter den Professoren neben den Nationalökonomen Conrad, Knapp, Meitzen, Paasche, Sering, Schmoller, A[dolph] Wagner die Berliner Germanisten Brunner und Gierke. Der Finanzminister Dr. Miquel, 6 Vertreter des Landwirthschaftsministeriums, darunter Geh. Rath Thiel, je einer des Finanz-, Justiz- und des Ministeriums des Innern waren zugezogen. Sachverständige hat die Kommission nicht vernommen, Beschlüsse hat sie gleichfalls nicht gefaßt, sondern sich auf Pourparlers im Kreise der Theilnehmer beschränkt, bei denen man die Erzielung eines consensus spiritualis erstrebte und in [485]einigen allgemeinen Grundzügen erreichte. Nach Alledem ist der Sinn der Konferenz dahin zu verstehen, daß der Regierung gewisse allgemeine Gesichtspunkte, unter welchen der landwirthschaftliche Nothstand legislatorisch zu behandeln sei, vorschwebten, über deren Praktikabilität und Konsequenzen aber Zweifel und deshalb das Bedürfniß bestand, einen Meinungsaustausch mit Personen herbeizuführen, welche im Wesentlichen den grundsätzlichen Auffassungen der Regierung nahe standen, namentlich aber: mit möglichster Beschleunigung zur Formulierung positiver Vorschläge zu gelangen. Die von dem Vorsitzenden im Eingang der Berathung mehrfach aufgeworfene Frage, ob das vorhandene statistische Material denn als Grundlage ausreichend sei, trat im Verlauf der Besprechung entschieden in den Hintergrund, fast durchweg wurden neben allgemeinen Betrachtungen ziemlich konkrete Vorschläge erörtert, und erst in seinem Schlußwort kam der Minister wieder mit der Bemerkung darauf zurück, daß das in Angriff genommene Arbeitsfeld durch die Besprechungen „noch nicht die erste Furche“11[485] Agrarkonferenz, S. 361. erhalten habe. Daran wurde die Konsequenz geknüpft, daß ein engerer Ausschuß aus der Mitte der Konferenz demnächst noch weiter über die besprochenen Fragen Erörterungen pflegen und die Konferenz selbst seinerzeit – im Winter – abermals berufen werden sollte. Dagegen konnte keine bindende Zusage gemacht werden in betreff der Veranstaltung bestimmter thatsächlicher Erhebungen: an eine umfassende Agrarenquete wurde [A 534]nicht gedacht, aber auch der Gedanke einer Verschuldungsstatistik fallen gelassen und ebenso eine systematische Nachfrage bei dem unvertretenen Mittel- und Kleinbesitz über seine Stellung zu den aufgetauchten Projekten nicht in Aussicht genommen. Mindestens eine solche Nachfrage hielt namentlich der Präsident des Oberlandeskulturgerichts, Glatzel, für unumgänglich,12Ebd., S. 207f. während von zahlreichen anderen Seiten sehr viel weitergehende Wünsche, namentlich solche nach einer umfassenden Verschuldungsstatistik, laut wurden. Demgegenüber wurde auf die drängenden Zeitumstände hingewiesen. Eine der hervortretendsten Erscheinungen auf der Konferenz war demnach ein gewisses Gefühl [486]von Eile, verbunden mit dem Bedürfniß, dennoch alle definitiven Entschlüsse aufzuschieben.2)[486][A 534] Dankenswerth ist, daß der Minister aus eigner Initiative eine Umfrage bei den Landräthen und Amtsgerichten nach den faktisch bestehenden Vererbungsgewohnheiten auf dem Lande veranstaltet hat.16Die Ergebnisse dieser durch den Erlaß des Landwirtschaftsministers vom 15. Mai 1894 und den Erlaß des Justizministers vom 31. Mai 1894 angeordneten Umfrage wurden in vier Bänden von Max Sering unter dem Titel herausgegeben: Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes im Königreich Preußen. Im Auftrage des Kgl. Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. – Berlin: Paul Parey 1899–1910. Hoffentlich läßt sich auch noch eine Vernehmung der Betheiligten selbst, etwa der Kreistagsabgeordneten der Landgemeinden, ermöglichen. Von den jetzt befragten Instanzen haben die Landräthe die Erbregulirung nicht in der Hand, und die Richter, die sie in der Hand haben, interessiren sich nur zu einem – wohl nicht eben großen – Theil hinlänglich für die wirthschaftlichen Unterlagen der von ihnen bearbeiteten „Sachen“, wie durch nichts schlagender an den Tag gelegt wurde, als durch die massenhafte Ausfüllung der nach der Ursache der Subhastation fragenden Spalte des Fragebogens bei der Subhastationsstatistik mit der klassischen Bemerkung „Antrag des Gläubigers“.17Weber bezieht sich auf die, Mitte der 1880er Jahre, bei Landräten und Amtsrichtern in Preußen durchgeführte Erhebung über die Ursachen von Zwangsversteigerungen land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke. Die Ergebnisse dieser amtlichen Erhebung, auf die Weber später, unten, S. 648, explizit Bezug nimmt, wurden in der Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, 29. Jg., 1889, S. 139–S. 164, veröffentlicht. Zur Erhebungsmethode vgl. auch dass., 27. Jg., 1887, S. 205. |

Eine ziemlich feste Marschroute erhielt die Konferenz dadurch, daß den Mitgliedern mit der Einladung ein „Arbeits-“ und ein „Berathungsprogramm“ zugestellt wurden. Ersteres13[486] Abgedruckt in ebd., S. IXf. bietet in seiner notizenhaft-lapidaren Fassung, die etwa der Form eines Grundrisses zu einem Kolleghefte über Agrarpolitik entspricht,14Weber selbst hatte einen solchen Grundriß über Agrarpolitik im Herbst 1893 für den Evangelisch-sozialen Kursus in Berlin verfaßt. In diesem Band oben, S. 259–271. eine gedrängte Übersicht der als allseitig anerkannt vorausgesetzten Gründe der Nothlage und der möglichen Abhülfsmittel unter Ausschluß der Zoll- und Währungspolitik; das letztere15Agrarkonferenz, S. XVf. stellt konkrete Fragen über die möglichen Maaßregeln gegen die Überschuldung und zwar A) solche zur Bekämpfung der fortwirkenden Ursachen derselben, worunter sich 1. Die Änderung des bestehenden Erbrechts behufs Vermeidung der Belastung mit Erbtheilshypotheken, 2. die Einführung einer Verschuldungsgrenze und etwaige Mittel zur Herabdrückung der Güterpreise behufs Verhinderung der Überschuldung [487]durch Kaufgelderreste und andere (unproduktive) Schulden finden, endlich B) solche zur Beseitigung der vorhandenen Überschuldung durch Änderung der Kreditorganisation und der Verschuldungsformen, sowie Schaffung einer Organisation zur planmäßigen Hypothekenabstoßung. Durch die Formulirung des „Arbeitsprogramms“, welches die Art der Grundbesitzvertheilung unter den möglichen Gründen für die Kalamität im Osten nicht erwähnt, wurde die Atmosphäre der Konferenz entsprechend ihrem Zweck temperirt, ohne daß ihren Theilnehmern eine gemeinsame Ansicht geradezu oktroyirt worden wäre.

Außer diesen offiziellen Unterlagen wurde der Konferenz im Eingang der Berathungen ein konkret ausgestaltetes Projekt von Professor Sering in Gestalt eines mündlichen Vortrages dargeboten,18[487] Agrarkonferenz, S. 5–20. derart, daß als wesentlicher Inhalt der Verhandlungen die Kenntnißnahme dieser Vorschläge und die Stellungnahme dazu sich von selbst ergab.

Das Sering’sche Referat nun geht von dem Leitsatz aus, daß „der Arbeitslohn des selbständigen und selbst arbeitenden Grundbesitzers nach richtiger ökonomischer Auffassung den standesgemäßen, vernünftig bemessenen Unterhalt für ihn und seine Familie“ umschließe,19Ebd., S. 15: „Der Arbeitslohn des selbständigen Landmanns aber umfaßt einen vernünftig bemessenen Unterhalt seiner selbst und seiner Familie.“ ein entsprechender Bruchtheil des Ertragswerths des Guts deshalb nach bekannter Analogie von Verpfändung und Zwangsvollstreckung – unter den später zu erörternden Modalitäten – grundsätzlich auszuschließen sei. – Der Satz bedarf zunächst der terminologischen Interpretation. Abgesehen davon, daß eine Beschränkung der Verpfändbarkeit bei Vorliegen der gleichen Voraussetzung auch den nicht „selbst arbeitenden“, sondern verpachtenden und denjenigen Landwirth träfe, dessen Arbeit objektiv unzulänglich oder unzweckmäßig erscheinen würde, einen Arbeitslohn also ökonomisch nicht verdiente, – pflegt man sonst das landwirthschaftliche Einkommen in: Grundrente, eventuell daneben Kapitalzins und Unternehmergewinn zu zerlegen, nicht aber als „Arbeitslohn“ zu qualifiziren. Auch existirt ein ökonomisches Postulat des „standesgemäßen“ Unterhalts nicht. Dieser Begriff ist vielmehr ein politischer. Das Gehalt der Beamten hat – freilich überwiegend nur theoretisch – [488]diesen Charakter und ist eben deshalb, wie wohl am besten Laband20[488] Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1. – Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 18882, S. 477f. erwiesen hat, nicht „Arbeitslohn“, sondern ein aus politischen Gründen behufs angemessener Sustentation gewährter fester Einkommenszuschuß. Mithin ist der Sinn des obigen – in seiner jetzigen Fassung m. E. äußerst mißzuverstehenden – Satzes der: „es ist aus politischen Gründen nothwendig, daß die Grundbesitzer aus dem landwirtschaftlichen Betriebe ein Einkommen beziehen, welches ihnen die Aufrechterhaltung ihrer traditionellen politischen und gesellschaftlichen Stellung gewährleistet.“ Alsdann ist aber eine noch weitere Begrenzung erforderlich. Was nämlich die Kleinbauern anlangt, so trifft auf sie der Begriff eines „standesgemäßen“ Einkommens auch in diesem Sinne nicht zu. Mit Recht heben die Großgrundbesitzer regelmäßig hervor, daß ein Theil des Proletariats – z. B. auch die höchste Schicht der in Naturalien gelohnten Instleute, materiell und in Bezug auf die Sicherheit ihres Unterhalts besser stehen als ein erheblicher Theil der Kleinbauern. Hier träfe der Begriff also mit dem des „Existenzminimums“ praktisch durchaus zusammen und wird ohne Grund anders bezeichnet –, die Konferenz hat die Festlegung eines solchen in weiterem Umfang als bisher und derart, daß auch die Hofstätte in irgend einem Umfange der Zwangsvollstreckung entzogen werde, zwar offenbar für wünschenswerth erachtet, sich aber auf nähere Erörterungen darüber nicht eingelassen. Der Gegenstand gehört freilich auch der Reichsgesetzgebung an. Sie interessirte sich vielmehr für Maaßregeln, welche Schichten zu Gute kommen sollen, die sozial so hoch stehen, daß von „standesgemäßem“ Einkommen die Rede sein kann. – Andererseits scheidet aber auch die höchste Schicht aus: die Fideikommiß- und Latifundienbesitzer, da für sie die Möglichkeit „standesgemäßer“ Existenz außer Zweifel steht. Aber auch der verbleibende Rest ist in seiner traditionellen Position in sehr verschiedenem Maaße gefährdet. Am wenigsten die größeren Rittergüter. Bei diesen ist eine Einschränkung der Lebenshaltung als Folge der verminderten Rentabilität erforderlich und, soweit sie vollzogen wird, die Fortexistenz möglich. Weit ernstlicher bedroht sind in einzelnen Gegenden die Großbauern, bei denen der zu Markt gebrachte Bruchtheil des Produkts [489]ein erheblicher ist, und welche regelmäßig fremder Arbeitskräfte bedürfen. Unhaltbar ist endlich die Lage der kleineren Rittergüter, und diese sind offenbar der eigentliche Sitz des von der Agrarkonferenz ins Auge gefaßten Übels. Welche Besitzgrößen man als von der Kalamität in erster Linie betroffen anzusehen hat, ist nach der Bodenqualität und den Verkehrsgelegenheiten selbstverständlich verschieden. In der Provinz Sachsen bringen Domänen von 500 ha mehrfach Pachten von 80 000 Μ. und mehr. Im Osten auf schlechtem Boden würden Güter von doppeltem Umfang oft kaum den zehnten Theil derselben erbringen: man wird auf dem weitverbreiteten mittleren Sandboden bei nicht überdurchschnittlicher Gunst der sonstigen Verhältnisse Güter bis zu 2000 und 3000 Morgen, bei schlechtem Boden auch solche noch wesentlich höheren Umfangs dahin zu rechnen haben, m.a. W. gerade die typischen, von einem Centrum aus entweder ohne technische [A 535]Beihülfe oder nur mit einem jüngeren Inspektor bewirthschafteten „Junkerbetriebe“ des Ostens. Die Rittergutsbesitzer dieser Art sind keineswegs ein ländlicher „Mittelstand“ – wenn man nicht diesem Begriffe zum Zwecke einer captatio benevolentiae für sie einen ungewöhnlichen Sinn giebt, sondern historisch und politisch Repräsentanten einer „herrschenden Klasse“ κατ’ εξοχήν, und die typischen sozialen Lasten einer solchen in der heutigen Gesellschaftsordnung, insbesondere die Erziehung der Kinder zu den „liberalen“ Berufen oder für das Heer, fallen ihnen neben den zahlreichen sonstigen Standespflichten zur Last. Die finanzielle Tragweite dieser letzteren wird nun vermöge einer optischen Täuschung oft unterschätzt, in der Meinung, das Gut könne den überwiegenden Theil seiner Ausgaben im Gegensatz zum städtischen Haushalt naturalwirthschaftlich decken. Thatsächlich findet man bei entsprechender Durchrechnung des eigenen Etats, daß derjenige Bruchtheil der persönlichen laufenden Ausgaben, welchen ein Gut bei weitherzigster Rechnung in natura wenigstens zum Theil bestreiten kann: Wohnung, Heizung, Nahrung im weiteren Sinn, Dienstbotenlohn, Fuhrbedarf, selbst in einem jungen städtischen bürgerlichen Haushalt ohne Kindererziehungsausgaben (wie z. B. dem meinigen) kaum mehr als ein Drittel der Gesammtausgaben ausmacht. Der Rest sind Ausgaben, welche auf „Standesgewohnheiten“ und traditionellen sozialen Pflichtverhältnissen beruhen, diese sind es, welche den Begriff des „Standesmäßigen“ ausmachen, sie sind es ferner, welche der Bauer nicht, wohl aber der Rittergutsbesit[490]zer kennt und deren Leistung die Konferenz sichergestellt sehen möchte.3)[490][A 535] Die Blätter, welche die Interessen des Proletariats vertreten, thäten gut, dem Pharisäismus eines Theils der bürgerlichen Presse mehr als bisher zu mißtrauen, welche diejenigen Ausgaben, die mit dem vielberufenen „Sekt“ stigmatisirt zu werden pflegen, als den Nagel zum Sarge der Landwirthschaft hinstellen. Die „Sektströme“ münden – von persönlichen Extravaganzen, für die keine Klasse aufkommt, abgesehen – im großen Durchschnitt in ganz andere Kehlen, als in diejenigen der Kategorie von Landwirthen, um die es sich hier handelt. – Es stehen ganz andere Ausgaben in Frage, die gleichen, welche es veranlassen, daß trotz Verbilligung der meisten Massenartikel die Lebenshaltung sich, wie jeder weiß, fortgesetzt vertheuert hat.

Die Gründe, auf welchen die Unmöglichkeit[,] sie zu leisten[,] und der derzeitige landwirthschaftliche Nothstand überhaupt beruht, wurden von den Konferenztheilnehmern nicht ganz gleichmäßig beurtheilt. Die agrarischen Praktiker legten, abgesehen von anderen Punkten, die ich übergehe, das Schwergewicht auf die gesunkenen Produktionspreise, Graf Zedlitz in sehr bemerkenswerther Ausführung darauf, daß einerseits im Osten ein großes Areal unter den Pflug genommen sei, welches die landwirthschaftliche Nutzung nicht lohne, andererseits die Grundbesitzvertheilung – das Überwiegen des Großbesitzes – den gegebenen Verhältnissen nicht entspreche.21[490] Agrarkonferenz, S. 61f. Sering stellte im Anschluß an Rodbertus22Der Nationalökonom Johann Karl Rodbertus sah in der „Verschuldungsform des Grundbesitzes nach Capitalwerth“, d. h. nach Verkehrswert, eine der Hauptursachen für die hohe Verschuldung des Grundbesitzes. Der Boden, der einen weitgehend fixen Ertrag bringe, solle nicht in Kapital, sondern nur in festen, unveränderlichen Rentenbeträgen abgelöst werden, die keinen Zinsschwankungen unterlägen. Vgl. Rodbertus-Jagetzow, Johann Karl, Zur Erklärung und Abhülfe der heutigen Creditnoth des Grundbesitzes. 2 Bände. – Berlin: Hermann Bahr [1868], passim, Zitat: Band 1, S. 141; siehe auch: Conrad, Johannes, Rentenprinzip, in: HdStW 51, 1893, S. 427–430. das naturgesetzliche Anschwellen der unproduktiven Verschuldung durch Erbantheils- und Restkaufgeld-Hypotheken – Besitzkredit im Gegensatz zum Meliorations- und Betriebskredit – in den Vordergrund.23Agrarkonferenz, S. 6. Unbedingt „unproduktiv“ sind ja in der That die Erbschulden, welche eine Belastung zu Gunsten von Personen, die zu dem Gut in keiner wirthschaftlichen Beziehung mehr stehen, bedeuten, ohne daß dem Betriebe dadurch Kapital zu Gute käme. Nur bedingt trifft das gleiche auf Kaufschulden zu, denn ein Bruchtheil derselben bedeutet die ökonomisch nothwendige Einbehaltung von Kapitalbeträgen seitens [491]des Erwerbers als Betriebskapital, welches er sich sonst anderweit beschaffen müßte. Das Entscheidende liegt also in dieser Beziehung zunächst in dem Erscheinen auch weniger kapitalkräftiger Käufer auf dem Gütermarkt, welches durch unsere Hypothekengesetzgebung unzweifelhaft mehr erleichtert wird als in irgend einem Lande Europas.24[491] Vgl. dazu Webers Ausführungen, unten, S. 528–531. Gemeinschaftlich ist dagegen – wie Sering nach Rodbertus mit Recht hervorhob – den Erbabfindungen und Kaufschillingen, daß ihre Höhe notorisch außer allem Verhältniß zum möglichen Ertrage des Gutes zu stehen pflegt4)[491] Die Thatsache selbst, deren fundamentale Bedeutung für die Bodenverschuldung Sering und Andere mit Recht betonten, wurde in der Konferenz nur vereinzelt von agrarischer Seite in Abrede gestellt. Geh.-Rath Gamp führte aus persönlicher Erfahrung einige gezahlte und verlangte Kaufpreise von östlichen Gütern an, welche den Versicherungswerth der Gebäude, des Inventars und der Ernte nur wenig überstiegen, und schloß daraus, daß die Meliorationen der Grund des Steigens der Güterpreise im letzten Menschenalter gewesen seien.26Ebd., S. 93. Mit welchem Recht bei dieser Rechnung die Abschreibungen gerade auf den Bodenwerth angenommen werden, ist nicht ersichtlich; die gegebenen Zahlen – S. 92, 93 der Protokolle – lassen vielmehr vermuthen, daß das in den Gebäuden steckende Kapital objektiv zum guten Theil unwirthschaftlich aufgewendet war. Jedenfalls beweisen die Fälle nicht – worauf es allein ankommt –, daß auch der so normirte Kaufpreis nicht dennoch zu hoch im Verhältniß zum Rein-Ertrage war. Das war anscheinend der Fall, da der Erzähler die beweiskräftigste Kaufofferte, trotzdem er nach seiner Rechnung „8000 Morgen des schönsten Bodens für 20 000 Μ.“ erhalten hätte,27Es heißt ebd.: „Die Preisforderung betrug für das Gut 1 050 000 Μ., die Versicherungssumme für Gebäude, Inventar und Ernte zusammen 1 028 000 Μ., sodaß also der Käufer, wenn er das Glück gehabt hätte, unmittelbar nach dem Kaufe abzubrennen, 8000 Morgen schönen Bodens für wenig mehr als 20 000 Μ. erlangt hätte.“ Gamp lehnte diese Offerte ab. abgelehnt hat. |, weil der „Verkehrswerth“ des Bodens den „Ertragswerth“ dauernd beträchtlich übersteigt.25Agrarkonferenz, S. 6f. Den Grund für diese bekannte Erscheinung suchte die Konferenz, soweit sie sich darüber äußerte, für den Kleinbesitz und Parzellenerwerb mit Recht in dem „Landhunger“ der kleinen Leute, einem Phänomen, welches ökonomisch dahin zu interpretiren ist, daß ein Theil des Ertrages der Arbeit des Erwerbers kapitalisirt und als Entgelt gezahlt wird für die rechtliche Unentziehbarkeit der Arbeitsgelegenheit (des gekauften oder ererbten Bodens). Was die größeren Güter anlangt, so verwies Sering gewiß mit Recht darauf, daß das geltende Erbrecht und die derzeitige Hypothekengesetzgebung in Verbin[492]dung mit dem freien Güterverkehr dazu führe, bei jeder steigenden Konjunktur steigende Theile der Grundrente als Erbschulden und Restkaufgelder kapitalisirt in die Hand des beweglichen Besitzes zu spielen und so die Zeiten schlechterer Konjunktur mit unerschwinglichen Tributpflichten der landwirthschaftlichen Betriebe zu belasten.28[492] Agrarkonferenz, S. 7. Ein Moment aber fand keine Erwähnung, obwohl es zwar gewiß nicht allein entscheidend ist, aber doch bei der sehr weitgehenden Loslösung der Bodenpreise vom Ertrage in erster Reihe mitspielt: der Umstand, daß an den Grundbesitz sich bei uns thatsächlich eine spezifische soziale und politische Position im Staatsleben und in der Gesellschaft knüpft. Wer ein Rittergut kauft, zahlt einen Theil des Preises als Entgelt für den Eintritt in den Stand der Rittergutsbesitzer. Diese „Eintrittsgebühr“ belastet ihn mit Tributpflichten an den mobilen Besitz, und dies wieder ist eine Folge der Diskrepanz der politischen und der wirthschaftlichen Machtverhältnisse. Wollte man karrikiren, so würde man sagen: der Hypothekengläubiger – d. h. natürlich nicht der einzelne, sondern die Gesammtheit derselben – läßt sich diesen Theil des Zinstributes dafür zahlen, daß der ökonomisch schwächere Gutsbesitzer als solcher der politisch und sozial relativ hoch bewerthete Vertrauensmann des Staates, er dagegen trotz seiner ökonomischen Überlegenheit der von der politischen Macht ausgeschlossene, auch sozial und gesellschaftlich wesentlich niedriger eingeschätzte Berliner Fortschrittsmann29Anspielung auf die überwiegend in den linksliberalen Parteien vertretene Kaufmannschaft. ist. – Auch die Art der Bewegung der Bodenpreise erklärt sich mit – nicht: allein – hieraus; sie folgen den sinkenden Erträgen zunächst fast gar nicht, bis ein plötzlicher Zusammenbruch erfolgt: bei der Bewerthung spielen eben ökonomisch irrationale Momente mit, reichen diese einmal nicht aus, das Niveau zu halten, so fehlt jeder Maaßstab, und Preise und Pachten sind in Gefahr, in’s Bodenlose zu [A 536]sinken. – Gerade die mittleren Rittergüter sind nun, soweit unsere Kenntniß reicht, am Bodenumsatz mit am stärksten betheiligt. Je mehr sich der Umfang den Latifundien nähert, desto stabiler wird der Besitz. Ebenso ist die Beweglichkeit bei den Bauerngütern eine geringere, sie bleiben im allgemeinen weit mehr in derselben Familie, und erst in der untersten Schicht beginnt die Beweglichkeit wieder, um in [493]einzelnen Theilen von Schlesien und noch mehr im Westen unter dem Druck des „Landhungers“ das Maximum im Parzellenumtrieb zu erreichen. Deshalb nimmt auch, so viel die bisherigen Erhebungen erkennen lassen, wenn man Besitzgrößenklassen zusammenstellt, im großen Durchschnitt die relative Höhe der Verschuldung bei uns im Osten von unten nach oben, im Westen und Südwesten, wo die Rittergüter sozial und politisch keine Rolle spielen, von oben nach unten zu.

Kommen wir nun zu den in der Konferenz erörterten Wegen zur Abhülfe, so soll die Besprechung des Anerbenrechts und der Verschuldungsgrenze einem besonderen Artikel vorbehalten bleiben.30[493] Siehe Webers Artikel: „Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz.“ Unten, S. 502–511. Beide Mittel kommen – namentlich das letztere – offenbar nur in Betracht zur Verhinderung weiterer künftiger Verschuldung von Besitzern, welche noch nicht zu den überschuldeten gehören. Billigerweise fragen wir aber zunächst: was schlägt die Konferenz vor zur Sanirung eben dieser von ihren Schulden Erdrückten. Das Ergebniß der Berathungen formulirt auch Sering in dem soeben erscheinenden Aufsatz in Schmollers Jahrbuch dahin, daß sie in dieser Beziehung resultatlos verlaufen ist.31Sering, Die preußische Agrarkonferenz, S. 967. Dies ist sicherlich nicht Schuld der Konferenz, aber es ist in der That der Fall.

In dem Arbeitsprogramm findet sich die Andeutung eines durch die Gesetzgebung herbeizuführenden „Liquidationsverfahrens“.32Agrarkonferenz, S. X. Es ist ferner darin auf den bekannten Vorschlag hingewiesen, durch Ausgabe unverzinslicher Bodenscheine seitens zu bildender Genossenschaften, welche zum Theil durch absolut sichere Hypotheken zu decken seien, die Mittel zur Amortisation der nachstehenden Hypotheken zu gewinnen.33Ebd., S. XIII. Als Professor Schmoller diesen Plan als „Utopie“ bezeichnete,34Ebd., S. 263. stieß er auf gereizten Widerspruch bei Herrn v. Plötz,35Ebd., S. 289–291. Berthold von Ploetz war von 1893 bis 1898 erster Vorsitzender des Bundes der Landwirte, der als Interessenvertretung des Großgrundbesitzes gegründet worden war. – jetzt scheint der „Bund der Landwirthe“ selbst von diesem unter den heutigen Verhältnissen banktechnisch unmögli[494]chen Gedanken abgekommen zu sein.36[494] Der Sachverhalt konnte nicht nachgewiesen werden. Das Eintreten der Gesammtheit – des Staates –, welches Geh. Rath Gamp forderte,37Agrarkonferenz, S. 96f. sei es durch unverzinsliche Vorschüsse (Graf Stosch unter Hinweis auf die schlesische Provinzialhülfskasse,38Ebd., S. 157. v. Gustedte[494]A: Gutstedt: 20–30 Millionen unverzinslicher Vorschuß an jede Provinz zur Gründung von Darlehnskassen und Ausgabe von Grundnoten durch die Landschaften),39Ebd., S. 165. Mit dem Begriff „Grundnoten“ sind Pfandbriefe gemeint. sei es durch seinen Kredit, wurde außer von Anderen von Adolf Wagner als politisch unmöglich zurückgewiesen.40Ebd., S. 311f. Die Durchführung einer Amortisation der Nachhypotheken ohne eine unmöglich zu erschwingende Steigerung der jetzigen Lasten des Besitzers durch Zuschläge zum Zins wurde andererseits als nur in Verbindung mit der Gewährung eines wie immer gearteten „Geschenkes“ des Staates denkbar bezeichnet. Es konnte also nur eine korporative Zusammenfassung der Grundbesitzer zum Zwecke der Durchführung der Hypothekenabstoßung, unter Engagement mit ihrem Kredit, eventuell auch mit Baarmitteln, in Frage kommen. Sering hatte im Anschluß an den bekannten österreichischen Gesetzentwurf41Gemeint ist der 1890 von der österreichischen Regierung Eduard Graf Taaffe eingebrachte Gesetzentwurf zur Bildung von Zwangsberufsgenossenschaften der Landwirte, die vor allem durch die Verpflichtung, bei Zwangsversteigerungen zugunsten des Besitzers zu intervenieren, die Verschuldung des Grundbesitzes aufhalten sollten. Sering, Max, Die Entwürfe für eine neue Agrargesetzgebung in Österreich, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 18. Jg., 1894, S. 388–390; Ogris, Werner, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien 1848–1918, in: Die Habsburger Monarchie 1848–1918, hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, 2. Band: Verwaltung und Rechtswesen. – Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1975, S. 628f. sich den Hergang so gedacht,42Agrarkonferenz, S. 12f. daß Grundbesitzer-Organisationen – etwa die Landwirthschaftskammern – bei Subhastationen behufs Verhinderung der Verschleuderung bis zu einer angemessenen Taxe mitbieten und nach erhaltenem Zuschlag den bisherigen Besitzer oder einen Verwandten oder, wenn beides nicht möglich, einen Dritten in der ungefähren Lage eines Rentengutsbesitzers wieder in den Besitz einsetzten, – daß diese Organisationen aber auch außerhalb von Subhastationsfällen die Liquidation der Verhältnisse über[495]schuldeter Besitzer und die Ablösung der letzten Hypotheken durch Verhandlung mit den Gläubigern unter Kreditgewährung in die Hand nehmen sollten, wenn der Besitzer sich für die Zukunft den gleichen Schranken unterwürfe. Was zunächst den letzteren Gedanken anlangt, so setzt eine solche delikate Sanirungsprozedur quantitativ und qualitativ das Vorhandensein von geeigneten Organen der betreffenden Instanzen in einem Maaße und Umfange voraus, der leicht unterschätzt werden möchte.5)[495][A 536] Man braucht nur mit den gleichartigen Verhandlungen gewerbsmäßiger Güterparzellanten vertraut zu sein, um die Unwahrscheinlichkeit, daß diese Organe hier ausreichen würden, zu würdigen. | Und auch über den Erfolg des mit oder ohne Subhastation erzielten Retablissements des überschuldeten Besitzers wird man die Bedenken, welche sich wie ich glaube, auch Sering nicht verhehlte, doch noch pessimistischer beurtheilen. Das überschuldete Gut ist in einem großen Bruchtheil der Fälle devastirt, es genügt nicht, daß der Besitzer entschuldet wird, er müßte mit Betriebsfonds ausgestattet werden, und er ist nach Vornahme der Kur, die doch einer wirthschaftlichen capitis deminutio gleicht, schwerlich noch das, was man mit Recht in ihm zu finden wünscht, sondern er steht im Kreise seiner Standesgenossen ähnlich, wie ein Kaufmann nach einer „guten Pleite“ oder – wenn das zu schroff erscheint – doch nach einem Zwangsvergleich oder einer außerkonkurslichen „Sanirung“ unter Seinesgleichen dasteht. – Vor allem aber versagten sich die „Standesgenossen“ auf das Unzweideutigste der ihnen zugeschobenen Aufgabe, ihren eigenen Kredit für den ihrer bedrängten Genossen zu engagiren, dies trotz des eindringlichen Appelles von Professor Schmoller an die Opferwilligkeit im Interesse des Standes.43[495] Gerade Gustav Schmoller hatte mit Nachdruck die Gründung einer Korporation der Grundbesitzer gefordert. Ebd., S. 264–266. – Von entschieden agrarischer Seite (von Knebel-Döberitz) wurde offen gesagt, es werde im Lauf des nächsten Jahrzehnts ein erheblicher Bruchtheil derselben „über die Klinge springen“ müssen.44„[…], es springt Ihnen in den nächsten Jahren doch ein größerer Prozentsatz besonders des mittleren Besitzstandes über die Klinge“. Ebd., S. 134. Soweit hinter den landschaftlichen Beleihungsanstalten erhebliche Hypotheken ständen, würden die Besitzer thatsächlich von den Gläubigern gehalten, da es für diese einen billigeren Verwalter des ihnen verfallenen Gutes nicht gebe. Ge[496]heimrath Thiel führte aus, daß diesem Zustand gegenüber es erwünschter wäre, statt derartiger nur formaler Eigenthümer säßen Pächter,45[496] Ebd., S. 46. und unwillkürlich erinnert diese Äußerung an die unter englischen Eindrücken entstandenen Gedankengänge des weiland Oberpräsidenten v. Schön.46Theodor von Schön hatte als Oberpräsident der Provinz Preußen (1824 bis 1842) günstige Kredite aus einem drei Millionen-Taler-Fonds, der ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden war, an den Großgrundbesitz vergeben. Er verfolgte dabei das politische Ziel, den alten preußischen Adel als staatstragende Schicht lebensfähig zu erhalten und vor dem „Ausverkauf“ zu bewahren. Vgl.: Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön. 2. Theil, 3. Band. – Berlin: Franz Duncker 1876, S. 77–80. Ist sie zutreffend, so kommt es darauf an, wer als Verpächter zu denken wäre. Will man den Pächtern die wirthschaftlichen Vorzüge des vielgerühmten englischen „joint business“ zuführen, bei welchem die Kreditinstanz des Pächters ein kapitalstarker Grundherr war, welcher Meliorationskredit gegen Pachtrentenzuschlag ertheilte,47Der Begriff „joint business“ wird in der zeitgenössischen Literatur erläutert als Gesellschaftsverhältnis zwischen Pächter und Verpächter, bei dem der Grundeigentümer sich nicht nur auf die Verpachtung des Landes und das Einziehen des Pachtzinses beschränkt, sondern in der Regel auch die Kosten aller größeren Bauten und Meliorationen trägt. Vgl. Reitzenstein, Friedrich Frhr. von, und Nasse, Erwin, Agrarische Zustände in Frankreich und England (Schriften des Vereins für Socialpolitik 27). – Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 138. während der Staat seit 1846 den Grundherrn ihrerseits den Improvement fund zur Verfügung stellte,48Weber spricht hier die Vergabe billiger staatlicher Kredite an, die nach Aufhebung der Kornzölle 1846 als Kompensation für den Wegfall des landwirtschaftlichen Schutzes gedacht waren. Die Verwaltung der Gelder unterstand den seit 1845 tätigen „Inclosure Commissioners“. Die staatlichen Kommissare wurden in ihrer Arbeit unterstützt durch verschiedene „Improvement Companies“, die zusammen mit den staatlichen Stellen im Zeitraum von 1846 bis 1912 über 18 Millionen Pfund an Krediten auszahlten. Siehe Orwin, Christabel, und Wetham, Edith, History of British Agriculture 1846–1914. – Newton Abbot Devon: David & Charles 19712, S. 194–200. so muß man auch Verpächter vom Umfange der englischen Landlords voraussetzen, und auch dann wird, wenn man an private Grundherren denkt, stets die Tendenz zur Kürzung der Pachtperiode und Aneignung der durch den Pächter erzielten Wertherhöhung drohen. Anders wäre es freilich, wenn die Domänenverwaltung im Wege systematischen allmäligen Aufkaufs den Domänenbestand in größtem Maaßstabe auf Kosten der leistungsunfähigen Rittergutsbetriebe vergrößerte und unter organisirter Fürsorge für Meliorationskredit verpachtete. Sie könnte hier, mit anfänglichen Opfern, die [497]sich später voll bezahlt machen, ein Kulturwerk in die Hand nehmen, wie es ohne die Möglichkeit einer gleichen Schadloshaltung die einsichtige Arbeit der Ansiedlungskommission49[497] Die Ansiedlungskommission war zur Durchführung des preußischen Ansiedlungsgesetzes vom 26. April 1886 gegründet worden. Sie sollte in Westpreußen und Posen polnischen Grundbesitz aufkaufen, parzellieren und mit deutschstämmigen Bauern aufsiedeln. vollbringt. – Und andererseits predigt nichts eindringlicher als jenes negative Resultat der Agrarkonferenz die Nothwendigkeit einer Änderung der Grundbesitzvertheilung im Osten. Wer die unsach[A 537]liche Erregung am eigenen Leib erfahren hat,50Anspielung auf die Pressekampagne gegen Max Weber und Paul Göhre im Anschluß an den fünften Evangelisch-sozialen Kongreß. Siehe oben, S. 463–479. welche diese Forderung, unzweideutig ausgesprochen, auf der agrarischen Seite zu veranlassen pflegt,6)[497][A 537] Den Grund dafür hat sehr zutreffend der Präsident der Generalkommission52Die Generalkommissionen waren mit der Durchführung der Rentengutsgesetze vom 27. Juni 1890 und 7. Juli 1891 betraut. Ihre Arbeit bezog sich auf ganz Preußen. Im Unterschied zur Ansiedlungskommission waren sie an keinen nationalpolitischen Auftrag gebunden. in Frankfurt, welcher den passiven Widerstand des Großgrundbesitzes gegen die Rentengutsbildung zu empfinden Gelegenheit hat, hervorgehoben; es sind allein die politischen Machtinteressen des Standes, die Bedeutung der „Geschlossenheit der Phalanx in den Kreistagen“, wie er sich ausdrückte, welche hier maaßgebend sind, entgegen dem wirthschaftlichen Interesse der Landwirthschaft.53Der Präsident der Generalkommission in Frankfurt a. O., Hermann Metz, hatte folgendes ausgeführt: „Ich glaube, es liegt doch wohl der Gedanke zu Grunde, daß durch die Vergrößerung der Anzahl der kleineren und mittleren Besitzer die politische Bedeutung, die der Großgrundbesitz bisher immer noch hat, einigermaßen abgeschwächt werden könnte. Denn das ist wohl nicht ganz zu leugnen: die feste Phalanx, die der Großgrundbesitz im Kreistag, bei den Wahlen u.s.w. bis jetzt noch bildet, wird im Laufe der Zeit vielleicht etwas durchbrochen werden.“ Agrarkonferenz, S. 129. wird es taktisch erklärlich finden, wenn der Verfasser einer be- und anerkannten Schrift über „die innere Kolonisation im östlichen Deutschland“51Gemeint ist Max Sering, der Verfasser der Schrift: Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik 56). – Leipzig: Duncker & Humblot 1893. bei einer Gelegenheit, wo mit den Vertretern des Großgrundbesitzes zu verhandeln war, diesen Gesichtspunkt nicht dahin stellte, wohin er an sich sachlich gehörte: an die Spitze der Generaldiskussion, sondern ihn sich aus der Mitte der Konferenz heraus im Lauf der Erörterung gewissermaaßen aufdrängen ließ. – Mit Recht hob Graf Zedlitz hervor, daß hier eine „stärkere Hand“ eingreifen [498]müsse.54[498] Agrarkonferenz, S. 61: „[…] und wir werden uns die Frage vorlegen müssen, ob es nicht zweckmäßig wäre, an diesem Punkte mit stärkeren Mitteln einzusetzen.“ Dies trifft schon deshalb zu, weil der relativ schnelle Fortgang der Rentengutsbesiedlung – es sind bereits ca. 5500 Rentengüter und Familien allein im Bezirk der Generalkommission zu Bromberg angesiedelt auf 9 Quadratmeilen Land55Die Zahl der von der Generalkommission in Bromberg in Ost- und Westpreußen und Posen begründeten Stellen betrug Ende 1894 5148 und umfaßte 55 696 ha Land. Sering, Max, Innere Kolonisation, in: HdStW, 1. Suppl.-Band, 1895, S. 584 c. Die von Max Weber angegebenen neun Quadratmeilen entsprechen ca. 51 000 ha. – an der Schattenseite krankt, in großem Maaßstabe im Gegensatz zur Ansiedlungskommission Zwergbauernbetriebe mit entsprechend niedrigem Standard of life schaffen zu müssen und für die unentbehrliche Ausstattung mit Gemeinde-Allmenden regelmäßig nicht sorgen zu können, – und weil ferner die normale Form der Rentengutsansiedlung die Abzweigung von Außenschlägen unwirthschaftlich großer Güter ist, eine solche aber nicht die herrschende Form der Bauernbesiedlung bleiben darf. Es ist nicht einzusehen, welche andere Maaßregel hier in Frage kommen kann, als eine staatlich kontrollirte Domänenkolonisation größten Umfangs, welche also auf der einen Seite den Domänenbestand allmählich in ähnlichem Umfange verkleinern würde, wie ihn der Güteraufkauf auf der anderen erweiterte. Merkwürdigerweise gehen die Erörterungen über die Güterparzellirung meist von der Annahme aus, daß selbstverständlich die aufgekauften Güter alsbald zur Kolonisation zu verwenden seien. Nichts wäre verkehrter, denn ein überschuldet gewesenes Gut ist regelmäßig das dazu am wenigsten geeignete Objekt. Die Ansiedlungskommission krankt an der Nothwendigkeit, das gekaufte Areal regelmäßig möglichst bald zu kolonisiren und zu diesem Behuf mit großem Verlust durch „zwischenzeitliche Verwaltung“ vorbereiten zu müssen.7)[498] Ebenso wie daran, daß sie nach vollendeter Kolonisation zahllose Stundungsgesuche der Ansiedler zu erledigen, dieselben überhaupt gewissermaßen in Nachbehandlung hat. Beides ist anders bei der Rentengutsansiedlung durch die Generalkommissionen.56Im Gegensatz zur Ansiedlungskommission waren die Generalkommissionen auf die Beratung verkaufswilliger Gutsbesitzer und die technische Durchführung von Parzellierungen und die Schaffung von Rentengütern beschränkt, die finanztechnische Abwicklung oblag gemäß der Rentengutsgesetzgebung von 1890/91 den Rentenbanken. Die kolonisirende Behörde sollte thunlichst auf den Akt der Durchführung der Kolonisation beschränkt sein. Die aufgekauften Güter machen in sehr vielen Fällen besser zunächst eine lange [499]dauernde Meliorationskur in den Händen von kapitalkräftigen Domänenpächtern durch, denen Meliorationskredite bei kontrollirter Verwendung zur Verfügung zu stellen wären. Ich habe diesen Gesichtspunkt hervorgehoben, weil er mir nothwendiger Weise die positive Seite des negativen Ergebnisses der Entschuldungs-Berathungen in der Agrarkonferenz zu sein scheint, und weil er mir, wie ich nicht leugnen kann, praktisch weit erheblicher erscheint, zwar nicht als die Frage des Anerbenrechts, wohl aber als diejenige einer papiernen Verschuldungsgrenze. Der regionale Zusammenhang der Bodenvertheilung mit der Höhe der Verschuldung wurde im Übrigen auch in der Konferenz mehrfach und von Niemand klarer dargelegt, als von dem Finanzminister Dr. Miquel57[499] Miquel hatte darauf hingewiesen, daß in den östlichen Provinzen Preußens, wo der Großgrundbesitz vorherrsche, die Verschuldung am höchsten sei. Agrarkonferenz, S. 55f. und, wie erwähnt, vom Grafen Zedlitz.58Dieser hatte auf Grund der hohen Verschuldung im Osten für eine „Mischung von großem, mittlerem und kleinem Besitz“ in den östlichen Provinzen plädiert. Ebd., S. 61. Auch Sering bezweifelt ihn wohl nicht. Daraus aber sind denn die Konsequenzen zu ziehen, und ich glaube keineswegs, daß in Bezug auf diese zwischen der Auffassung Sering’s und dem Gedankengang, den ich vorstehend anzudeuten versuchte, eine grundsätzliche Differenz sich ergeben würde.