MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres. 1893
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[233][A 766]Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres

Einem bereits früher gehegten Plan gemäß hat der Evangelisch-soziale Kongreß für die Zeit vom 10. bis 20. Oktober eine Serie „Evangelisch-sozialer Kurse“ in Berlin eingerichtet und durch Bekanntmachung in den Zeitungen zur Teilnahme daran aufgefordert. Die Vorbesprechungen, die vorher zwischen Mitgliedern des Ausschusses und den in Berlin wohnenden und daran beteiligten Dozenten gepflogen wurden, ergaben in den wesentlichen Punkten Übereinstimmung über das zu erstrebende Ziel.1[233]Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 230f.

Darnach unterscheiden sich diese Kurse von den von katholischer Seite in München-Gladbach und von den evangelischerseits in Elberfeld im Laufe des letzten Jahres veranstalteten ähnlich gearteten Unternehmungen zunächst durch ihren akademischen Charakter. Nicht nur sind die Dozenten überwiegend akademische Lehrer, sondern auch in der Form wird dieser Charakter gewahrt. Es soll, unter Zugrundelegung eines gedruckten Grundrisses,2Siehe Anm. 14, oben, S. 231f. über die betreffenden Themata je ein allerdings auf den denkbar geringsten Zeitabschnitt komprimirtes förmliches Kolleg gelesen werden, und es wird von diesem Grundton nur abgewichen werden, soweit eben gerade der Umstand, daß nur wenige Stunden zur Verfügung stehen, dies mit sich bringt. In M[ünchen]-Gladbach wie in Elberfeld hatten die Zusammenkünfte den Charakter von Versammlungen sozial gleichstrebender Männer, die gehaltenen Vorträge den von Reden, die die gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck zu bringen suchten und demgemäß laut Protokollen mit „lebhaftem Beifall“ u.s.w. gelohnt wurden. In Elberfeld waren die gehaltenen Vorträge im wesentlichen nur das Vorspiel zu den darauf folgenden Programmerörterungen, die es, nach Naumanns zutreffendem Ausdruck, ermöglichen sollten, die evangelischen Arbeitervereine auf bestimmte öko[234]nomische Programmpunkte „einzudrillen.“3[234]In seinem Abschlußreferat über die „Grundlinien für ein christlich-soziales Reformprogramm“ vom 24. Januar 1893 forderte Friedrich Naumann auf dem Elberfelder Kursus einen stärkeren Zusammenschluß der Mitglieder der evangelischen Arbeitervereine sowie eine bessere Schulung hinsichtlich des Verständnisses „für die großen sozialen Probleme der Gegenwart“: „Die Mitglieder der evangelischen Arbeitervereine müssen auf ein bestimmtes Programm gedrillt werden.“ Verhandlungen des evangelisch-sozialen Kursus in Elberfeld am 22., 23. und 24. Januar 1893. Nach den Manuskripten der Vorträge und Zeitungsberichten zusammengestellt. – Hattingen (Ruhr): C. Hundt o. J. [1893], S. 53. In M[ünchen]-Gladbach wurde zwar davon ausgegangen, daß die Universitäten in ihren Lehrplänen die „katholischen Anschauungen“ nicht genügend berücksichtigten,4Im Artikel „Der praktisch-soziale Kursus in München-Gladbach vom 20. bis 30. September 1892“, in: Der Volksverein. Stimmen aus dem Volksverein für das katholische Deutschland, Jg. 1892, S. 105, heißt es: „Doch bald darauf wurden durch den Kirchensturm die Lehrsäle unserer Priesterseminarien auf ein Jahrzehnt verödet, während die staatlichen Hochschulen bis heute ihre Lehrpläne einer den praktischen Bedürfnissen des Klerus wie überhaupt den katholischen Anschauungen entsprechenden Behandlung der sozialen Frage verschlossen hielten.“ und also eine Art Konkurrenzinstitut angestrebt, – allein schon daraus folgte, daß diese Einrichtung in erster Linie einen apologetischen Zweck haben und das Rüstzeug zur „Verteidigung unsrer christlichen Wirtschaftsordnung“ bieten sollte. In beiden Fällen war der polemische Zweck gegen die Sozialdemokratie die Hauptsache: man suchte – nicht durchweg mit Erfolg – nach einer theoretischen Formulirung, die unter Anerkennung des sozialen Reformbedürfnisses doch nicht nur in der Methode, sondern auch in den Zielen eine deutliche Scheidelinie gegen die Sozialdemokratie erkennen lasse. Das wird sich bei den Berliner Kursen wesentlich anders gestalten. Die Stellungnahme der einzelnen Dozenten zum Sozialismus ist eine keineswegs gleichartige, und die meisten von ihnen würden es jedenfalls ablehnen, sich auf positive Programmpunkte, z. B. etwa bodenbesitzreformerischer oder produktivgenossenschaftlicher Tendenz, „festnageln“ zu lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß mancheaA: mancher Teilnehmer das Gefühl der Enttäuschung über die ziemlich kühle Skepsis, mit der die Dozenten oder einige von ihnen der Lösbarkeit gerade mancher unmittelbar interessirenden Probleme auf Grund ihrer wissenschaft[A 767]lichen Ansicht gegenüberstehen müssen, nicht ganz verlieren werden. Das aber liegt im Wesen wissenschaftlicher Erörterung über diese Gegenstände be[235]gründet und kann nicht vermieden werden, – ja, noch mehr, selbst wenn es vermieden werden könnte, sollte es nicht vermieden werden. Darauf möchten wir mit einigen Worten näher eingehen.

Der Vorwurf, der gegen den Evangelisch-sozialen Kongreß und alles, was mit ihm zusammenhängt, von Anfang an erhoben worden ist und den meisten Anklang fand, ist der: er oder seine Bestrebungen beförderten den sozialpolitischen Dilettantismus unter den Geistlichen zum Schaden ihrer eigentlichen Pflichten und im Widerspruch mit der eigentlichen Natur ihres Einflusses auf das Volksleben. Es ist nun leicht erkennbar, daß dieses Bedenken am lautesten von Seiten geltend gemacht wurde, die sich einem „Einfluß“ der Geistlichen, möge er gestaltet sein wie immer, überhaupt für ihre Person thunlichst zu entziehen geneigt sind. Und es steht ferner dies Bedenken in wunderlichem Widerspruch mit dem Umstande, daß nach unsrer politischen Verfassung über die Lebensfragen der Nation als Volksvertretung ein überwiegend und zunehmend aus reinen Dilettanten zusammengesetzter Personenkreis entscheidend mitzuwirken berufen ist5[235]Weber bezieht sich hier auf die Tatsache, daß in den modernen Parlamenten nicht Fachleute, sondern Politiker, die in rein fachlicher Beziehung als Dilettanten zu gelten haben, über alle wesentlichen Fragen entscheiden. und nach Ansicht eben dieser Kreise berufen sein soll. Es unterliegt endlich keinem Zweifel, daß, wenn unter den heutigen sozialen Spannungsverhältnissen ein Geistlicher sozialpolitisch „dilettirt“, er dies nicht aus Neigung zum Dilettantismus, sondern dem Zwange der Not gehorchend thut, weil es schon jetzt und in zunehmendem Maß unmöglich wird, den Einfluß der materiellen Interessenkonflikte auf die sittlichen Grundlagen des Volkslebens zu ignoriren oder eine „reinliche Scheidung“ durchzuführen. Wir haben einfach mit der Thatsache zu rechnen, daß die Entwicklung unsers öffentlichen Lebens ausnahmslos jeden, dem ein Beruf im Dienst irgend einer Lebensgemeinschaft anvertraut ist, auf Schritt und Tritt zur Stellungnahme gegenüber Fragen zwingt, deren Tragweite er nur unvollkommen zu übersehen vermag. Es ist und wird immer mehr unmöglich, daß ein Geistlicher in irgendeiner Form geistige Gemeinschaft mit der Masse seiner Gemeindeglieder pflegt, wenn er ihren elementaren Lebensverhältnissen, den Quellen ihrer schwersten Sorgen und Kämpfe um die Grundlagen einer gesunden und gesitteten Existenz wie ein unerfahrnes Kind gegenübersteht. Das Zeitalter [236]der sozialen Resignation der Massen liegt hinter uns, sie ist eine psychologische Unmöglichkeit gerade für die sittlich tüchtigeren Elemente und wird es für Menschenalter bleiben. Das sind allbekannte Wahrheiten, und sie ergeben, daß nicht irgendwelche Veranstaltungen, sondern die Natur der Dinge selbst die Geistlichen wie uns alle in die sozialpolitische Mitarbeit hineinzwingt. Aber eben deshalb ist vielleicht keine Eigenschaft zur Zeit den Geistlichen mehr vonnöten, als die volle Nüchternheit des Urteils, wie sie nur die Erkenntnis der wirtschaftlichen Voraussetzungen einer sozialen Erscheinung und der Schwierigkeiten, die sich der sozialpolitisch erwünscht scheinenden Lösung entgegenstellen, mit sich bringt. Die Beförderung dieser Einsicht in die realen Machtfaktoren und nicht der fruchtlose Versuch einer Unterdrückung des Strebens nach sozialer Bethätigung ist zugleich das schlechterdings einzige Mittel, von wirklich bedenklichem Dilettantismus, d. h. dem aus der Unkenntnis der wirtschaftlichen Ursachen einer Krankheitserscheinung hervorgehenden Versuch, an ihren Symptomen herumzuquacksalbern, abzuhalten.

Diesem und keinem andern Zweck sollen die veranstalteten Kurse dienen. Sie wollen nicht Propaganda machen in den Kreisen der Geistlichen, die bisher sich von praktischer Beschäftigung mit den Fragen der Sozialpolitik ferngehalten haben – das überlassen sie andern Veranstaltungen –, sondern an der wirtschaftlichen Schulung der bereits in einer solchen Thätigkeit begriffnen Kräfte arbeiten. Sie werden deshalb nicht das Hauptgewicht darauf legen, Mittel und Wege zur Lösung der großen Probleme der Zeit aufzuzeigen, sondern – und die Innehaltung dieser Schranke erfordert eine gewisse Resignation – im geraden Gegenteil den vollen Umfang der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Anschauung zu bringen und darauf hinzuwirken suchen, daß die Probleme überhaupt in ihrer Tragweite richtig erkannt und die praktischen Fragen richtig [A 768]gestellt werden. Darauf beruht auch die Formulirung der Themata und der mehrfach auffällig bemerkte Umstand, daß sie in keiner Weise die „evangelische Beleuchtung“ des Stoffes andeuten oder versprechen. Eine solche „Beleuchtung“ z. B. der „Landwirtschaft“ vom evangelischen Standpunkt würde der betreffende Referent zweifellos abgelehnt haben zu versuchen. Es konnte nur die allerdings bescheidnere, aber wichtigere Aufgabe übernommen werden, die gegebnen technischen Eigentümlichkeiten und Bedürfnisse des Betriebes und ihre Folgen [237]zu erörtern. Nicht glänzende Reden, sondern nüchtern sachliche Darlegungen hat der Teilnehmer an den Vorlesungen zu erwarten. Gerade deshalb aber darf gesagt werden: nicht die Beförderung des Dilettantismus, sondern der Kampf gegen ihn ist Zweck und Inhalt der Kurse.

Es ist bei der kärglich bemessenen Zeit selbstverständlich, daß nichts einer erschöpfendenb[237]A: erschöpfende Erörterung auch nur Ähnliches geboten werden kann, sondern lediglich eine Information, die genügt, das eigne Studium zu ermöglichen oder zu erleichtern, und zugleich die Mittel und Wege zu methodischer Beschäftigung damit angiebt. – Gelegenheit zur Aussprache über die schwebenden Tagesfragen werden die Abenddiskussionen bieten.

Den Dozenten aber hat sich wohl selten eine lohnendere Aufgabe geboten. Sie werden sich gegenwärtig zu halten haben, daß selten ein so aufnahmefähiger und qualifizirter Hörerkreis sich um sie versammelt hat. Die Enquete über die Landarbeiter6[237]Gemeint ist die 1892/93 vom Evangelisch-sozialen Kongreß durchgeführte Erhebung über die Lage der Landarbeiter. und ihr Ergebnis hat den Glauben an die Unfähigkeit der Geistlichen zu praktischer Auffassung wirtschaftlicher Zustände für immer zerstört. Hoffen wir, daß durch den zahlreichen Besuch der Kurse auch der Zweifel an der Ernstlichkeit ihres Interesses, wo er etwa noch bestehen sollte, endgiltig beseitigt wird.