MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Die bürgerliche Entwickelung Deutschlands und ihre Bedeutung für die Bevölkerungs-Bewegung.. Rede am 9. Januar 1897 in Saarbrücken
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[814]Die bürgerliche Entwickelung Deutschlands und ihre Bedeutung für die Bevölkerungs-Bewegung

[A(1) 2][Bericht der St. Johanner Zeitung]

Die bürgerliche Entwickelung Deutschlands und die Bewegungen und Veränderungen in den Bevölkerungsverhältnissen hängen, wie natürlich, eng zusammen mit der wirthschaftlichen Entwickelung. Im Mittelalter zerfällt das ganze Land in einzelne von einander ziemlich unabhängige wirthschaftliche Gebiete. Die Städte, in denen das Gewerbe seinen Sitz hat, beziehen ihren Bedarf an Lebensmitteln aus dem umliegenden Lande. Der Landbewohner umgekehrt deckt seinen Bedarf an Erzeugnissen des Gewerbefleißes in der ihm benachbarten Stadt. So ergänzen sich diese beiden Gebiete. Das Handwerk hat einen festen Kundenkreis und der Landmann einen sichern Markt. Der Handel mit fernen Gegenden tritt vorläufig noch zurück. Die einzelne Stadt mit ihrer ländlichen Umgebung bildet gleichsam eine wirthschaftliche Zelle. Allmählich verschieben sich diese Verhältnisse. Der Städter besonders lernt immer mehr Bedarfsgegenstände kennen und schätzen, die seine Heimath nicht hervorbringt. Der Import solcher Waren bedingt natürlich den Export der eigenen Erzeugnisse. So entwickelt sich der Exporthandel und mit ihm der Kaufmannsstand. Die Zunahme der Bevölkerung begünstigt diese Entwickelung. Nun tritt der Handwerker, der bisher nur direkt für den Kunden gearbeitet hatte, in enge Beziehung zum Kaufmann. Er kann den Bedarf eines auswärtigen Marktes nicht übersehen und ist auf einen festen Kundenkreis angewiesen. Also exportirt der Handwerker nicht selbstständig, sondern er arbeitet im Auftrage des exportirenden Kaufmanns. Dadurch entsteht für viele Zweige des Handwerks ein Abhängigkeitsverhältniß, das sich stellenweise bis zu dem Grade ausbildete, den wir heutzutage in der Hausindustrie beobachten.

Während nuna[814]A(1): um ; A(2): man im Westen, wo die städtische Kultur älter ist, der Kaufmannsstand den Hauptnutzen aus dieser Entwicklung zieht, ist es im Osten mit seiner geringen Städtebildung der Stand der Feudal[815]herren. Auch sie wollen an der verfeinerten Lebenshaltung, die sie beim Kaufmann beobachten, theilnehmen. So lange der Feudalherr auf die Abgaben und Frohndienste seiner Bauern angewiesen ist, kann er zwar für die reichlichsteb[815]In A(2) hervorgehoben. Deckung seines Bedarfs sorgen, aber er bleibt auf das angewiesen, was seine Umgebung hervorbringtcIn A(2) hervorgehoben.. Um den LuxusdIn A(2) hervorgehoben. zu genießen, der dem Kaufmann zu Gebote steht, muß er GeldeIn A(2) hervorgehoben. haben, und um sich dies zu verschaffen, beginnt er Getreide zu exportiren. Dadurch wird nun auch das bisherige Verhältniß zwischen Bauern und Feudalherrn stark beeinflußt. Der Grundherr sucht seinen Landbesitz auszudehnen, damit er mehr exportiren kann. Er verdrängt den Bauern von der Scholle. Das Zeitalter des „Bauernlegens“ beginnt. An die Stelle des Bauern tritt allmählich der besitzlose Landarbeiter. Im Westen jedoch hält sich der kleine bäuerliche Besitzer, u.A. weil er seine Produkte in den zahlreichen Städten absetzen kann.

Wir können die Entwickelung hier im Einzelnen nicht wiedergeben. Das durch die Verhältnisse des Landes und die geschichtliche Entwickelung hervorgerufene Ergebniß ist eine Zweitheilung Deutschlands in wirthschaftlicher Hinsicht. Wir haben ein industrielles Gebiet, das im Wesentlichen dem Westen angehört, und ein agrarisches im Osten. Unter diesen verschiedenen wirthschaftlichen Verhältnissen ist auch die Seßhaftigkeit und Dichtigkeit der Bevölkerung verschieden. Man wirft zuweilen der Großindustrie vor, daß sie durch Einführung von Maschinen Arbeiter überflüssig mache. Für die Industrie als Ganzes trifft das Gegentheil zu[,] wie der Augenschein lehrt. Sie gewährt gerade einer sehr dichten Bevölkerung den Lebensunterhalt. Der Satz, daß die Maschine den Arbeiter brotlos macht, gilt nur für den Großbetrieb in der Landwirthschaft. Der Großgrundbesitz entvölkert die GegendfIn A(2) hervorgehoben.. Auch ist entgegen der gewöhnlichen Annahme in den Industriestädten des Westens die Bevölkerung seßhafter als in den Städten des Ostens, wie die Volkszählungen, bei denen jeder Geburtsort angegeben wird, beweisen. Am allerwenigsten seßhaft ist der landwirthschaftliche Saisonarbeiter des Ostens. Auch die Auswanderung ist stärker aus den dünn bevölkerten Gegenden als aus den dichtbevölkerten.

[816]Die Frage, ob die Zukunft Deutschlands mehr auf der Industrie als auf der Landwirthschaft beruht, muß zu Gunsten der Industrie beantwortet werden. Die deutsche Landwirthschaft ist nicht mehr im Stande, uns ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Der Getreideexport aus dem Osten hat schon deßhalb keine Bedeutung mehr, weil das deutsche Getreide mit dem ausländischen nicht mehr konkurriren kann. Daran ändern auch die Schutzzölle nichts, für die Redner übrigens eintritt. Unsere Existenz beruht hauptsächlich darauf, daß unsere Industrie ihre Absatzgebiete erhalten und neue erschlossen werden; und das ist zum großen Theil eine Machtfrage, für welche auch unsere Arbeiterbevölkerung immer mehr Verständniß gewinnen muß. Dieser Gedanke bricht sich erfreulicher Weise mehr und mehr Bahn. Doch findet man daneben leider oft noch eine thörichte Bekämpfung des Großkapitals, das doch nur allein im Stande ist, in erfolgreicher Weise den Wettbewerb auf dem Weltmarkt aufzunehmen und damit auch zahlreichen Arbeiterschaaren Brod zu schaffen.

Die breite Schicht der Arbeitermassen muß in die bürgerliche Entwickelung Deutschlands eingefügt werden. Die deutschen Arbeiter müssen einsehen und würdigen lernen, daß die deutsche Industrie, die Grundlage ihrer eigenen Existenz, in ihrer Entwickelung gefährdet ist, wenn wir nicht nöthigenfalls auch durch eine starke Kriegsmacht für unsere wirthschaftlichen Interessen überall mit dem nöthigen Nachdruck eintreten können. Das wahrhaft Gefährliche an der Sozialdemokratie sind nicht ihre revolutionären Theorien – es müßten arge Fehler gemacht werden, wenn sie nach dieser Richtung hin gefährlich werden sollte –, sondern der kleinliche Geist, der Allem, was Deutschlands Macht und Größe betrifft, sich entgegenstellt. Andererseits muß aber auch das Verhältniß zwischen Unternehmer und Arbeiter auf der Anerkennung der Rechtsgleichheit beruhen. Für das patriarchalische System des Mittelalters ist die Zeit längst vorbei. Wenn man zu dessen Gunsten anführt, daß die östlicheng[816]A(1), A(2): örtlichen Landarbeiter nicht streiken können, weil sie kein Koalitionsrecht haben,1[816] Die restriktiven landesrechtlichen Bestimmungen, wie sie in Preußen seit 1854 bezüglich des Koalitionsverbots für Landarbeiter bestanden, wurden auch durch die Reichsgewerbeordnung von 1871 nicht aufgehoben. so übersieht man, daß sie zwar nicht der Form, aber [817]der Sache nach, einen ununterbrochenen Massenstreik führen, nämlich durch Abwanderung in die Städte und durch Auswanderung. Dieser Vorgang ist die schärfste Kritik gegen das patriarchalische System. Einzelne besonders dazu veranlagte und begabte Persönlichkeiten können dieses System wohl noch aufrecht erhalten, aber solche Gaben vererben sich nicht. Man wirft uns oft vor, wir nähmen es in unserm Professorensozialismus2[817] Anspielung auf die von konservativer Seite, vor allem von dem saarländischen Schwerindustriellen Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg erhobenen Vorwürfe gegen die im Verein für Socialpolitik und Evangelisch-sozialen Kongreß aktiven Gelehrten („Universitätssozialismus“). den Unternehmern übel, daß sie zu sehr Geschäftsleute seien. Im Gegentheil, wir wünschen gerade, daß sie das Arbeitsverhältniß geschäftlich auffassen. Jeder Geschäftsmann ist berechtigt, für seine Waaren den Preis zu verlangen, der ihm gut dünkt und den er glaubt erhalten zu können. Die Waare des Arbeiters ist seine Arbeitsleistung. Auch er hat das Recht, seine Waare so theuer wie möglich abzusetzen. Bei einem Unternehmer sagt man, wenn seine Forderungen zu hoch scheinen, das ist „eigentlich unrecht“, beim Arbeiter geräth man in Entrüstung und nennt es frivol, wenn er die Arbeit niederlegt, weil ihm die Bedingungen nicht passen. Da heißt es, wie jetzt beim Hamburger Streik: „Mit solchen Leuten verhandeln wir nichth[817] In A(2) hervorgehoben. .“3Der Arbeitgeberverband Hamburg-Altona lehnte während des Hamburger Hafenarbeiterstreiks 1896/97 kategorisch jegliche Verhandlungen mit den Streikenden vor Wiederaufnahme der Arbeit ab. Zu Ausbruch, Verlauf und Ende des Streiks siehe: Grüttner, Michael, Mobilität und Konfliktverhalten. Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97, in: Tenfelde, Klaus und Volkmann, Heinrich (Hg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung. – München: C. H. Beck 1981, S. 144–149. Man fühlt sich hier als Herr, ein Standpunkt, den Redner in diesem Verhältniß entschieden verurtheilt. Dabei tritt er aber konsequenter Weise auch für die Berechtigung der Unternehmerverbände ein. Das Rheinisch-Westfälische Kohlen-Syndikat4Die Ruhrzechen hatten sich 1893 zur Regulierung des Kohleabsatzes auf dem Binnenmarkt zum Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat zusammengeschlossen, das 1900 fast 90 % der Kohleproduktion im Ruhrbecken kontrollierte und von dem die Energieversorgung der Industrie im gesamten Deutschen Reich weitgehend abhing. Blaich, Fritz, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. – Düsseldorf: Droste 1973, S. 98. z. B. kann ja unter Umständen einmal die Macht [818]in den Händen haben, ganze Industriezweige lahm zu legen.5[818] Eine ähnliche Situation trat tatsächlich 1900–1902 ein. Trotz eines konjunkturellen Rückschlages hielt das Kohlensyndikat nämlich die Preise im Inland unverändert hoch, was erhebliche Nachteile für Teile der weiterverarbeitenden Industrie, des Handels und des Handwerks zur Folge hatte. Blaich, Fritz, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945. – Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1979, S. 41f. Aber wegen der Möglichkeit des Mißbrauchs darf man nicht die Sache selbst verurtheilen.