MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Agrarpolitik.. Vortragsreihe am 15., 22. und 29. Februar, 7. und 14. März 1896 in Frankfurt am Main
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[748]Agrarpolitik

[Erster Vortragsabend:] Agrargeschichte

[A(1) 1][Bericht des Frankfurter Journals]

Der heutige Vortrag, der vor recht schlecht besetzten Bänken stattfand, betitelte sich Agrargeschichte.

Prof. Weber sagt, er übertreibe in dem Folgenden einzelnes absichtlich, damit es besser in die Augen springe; er hoffe es aber so zu thun, daß kein Zerrbild entstände. Er lege auf die Form seines Vortrages keinen Wert; die Ausführlichkeit des Inhaltes sei ihm wichtiger. Wir sind zwar hierin nicht völlig einverstanden und sehen nicht recht ein, ob sich das eine nicht mit dem anderen verbinden ließe, haben jedoch an der Vortragsweise nichts auszusetzen gehabt. – Bei den alten Germanen lag die ganze Arbeit auf der Schulter der Frauen. Der Mann, zu Hause überflüssig, war Krieger und übte sich ständig in den Waffen. Die männlichen Germanen befanden sich in einem beständigen Mobilmachungszustande und hierdurch, durchaus nicht durch die Anzahl, zeigte sich der durch keine Arbeit abgenutzte Germane dem Römer überlegen. Die erste Form der Siedelung war nicht das einsame Gehöft, wie früher angenommen wurde, sondern das Dorf. In denselben herrschte eine ökonomische Gleichheit, die sich mit dem Zunftwesen des Mittelalters vergleichen läßt. Angenommen, es waren 12 Bauern im Dorfe, so gab es 12 gleich große Bauernhöfe. Hierauf folgte Gartenland, das in 12 gleiche, eingeheckte Stücke geteilt war. Darauf folgte Ackerland; dieses war auch in 12 Teile geteilt und durch eine eigentümliche Streifenstruktur so, daß Vorteile und Nachteile der Landwirtschaft (Sonne, Hagelschlag etc.) alle gleich betraf. Nach dem Ackerland kam die Weide. Hier herrschte vollkommene Freiheit; jeder Dorfgenosse hatte hier Recht auf Arbeit; hier durfte er Holz fällen und Land urbar machen, soweit die Mark reichte. Die zunehmende Bevölkerung mußte die Lage verändern. Wie später beim Zunftwesen trat das Stadium ein, wo man eine Zahl festsetzen mußte, über welche hinaus niemand aufgenommen werden konnte. Die Überzähligen heißen nicht mehr Bauern, sondern Gärtner und Häusler. Hierzu kam die Feudalisirung der Grundherrschaft, die einesteils durch das Beispiel [749]entstand, das in Gallien etc. schon lange herrschte,1[749] „Grundherrschaften“ waren in den römischen Provinzen wie Gallien bereits in der Kaiserzeit entstanden. Weber setzt sich mit dieser Frage ausführlich im Schlußkapitel seiner Habilitationsschrift auseinander. Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. – Stuttgart: Enke 1891, S. 220–278 (MWG I/2, S. 297–352). anderenteils durch die technische Überlegenheit der „Sklavenhalter“. Durch die Volksdichtigkeit wird der Mann zur Mitarbeit gezwungen; er hört auf[,] ständig im Kriege zu sein; er wird schollenfest. An die Stelle des Volksheersa[749]A(1): das Volksheer tritt das Feudalheer. Die verringerte Menge muß in bessere Ausrüstung treten; der Reiter, der Ritter ist Kriegsmann. Sein Hof wird in seiner Abwesenheit von den Bauern bestellt. Der Ritter beeinflußt den König, daß die Ämter nur an seine Kreise kommen; alles übrige wird politisch mundtot. Der Normalbauer ward abhängig; qualitativ war zwischen ihm und dem Bauer kein Unterschied, nur quantitativ. Der Ritter brauchte mehr Kleider, als der Bauer, aber keine besseren; ebenso alle anderen Bedürfnisse. Mit dem Aufblühen der Städte trat die bürgerliche Klasse in Konkurrenz mit dem Grundherrn; um es dem Qualitätsluxus der Bürger gleich zu thun, bedurfte man Geld. Zwei Wege gab es. In Süd- und Westdeutschland, wo kaufkräftige Märkte in der Nähe waren, setzte man den Bauer als Pächter ein und ließ sich Renten zahlen. Im Osten, wo keine Städte waren, wurde der Feudale selbst Landwirt, denn den Export konnte nur er, nicht der Bauer, bewerkstelligen. Im 15. Jahrhundert trat ein Söldnerheer an die Stelle des feudalen.bA(1): das feudale. Die Junker, die Landwirte wurden, suchten die Bauern fortzudrängen aus ihrem Besitze. Der merkantilistische Staat Friedrichs II. und Maria Theresias ging von dem Standpunkte aus, möglichst viel Geld und Soldaten zu erhalten; er trieb die Industrie künstlich in die Höhe und hemmte den Fortschritt auf dem platten Lande. Durch die französische Revolution und die Aufklärung erfolgte die Bauernbefreiung, weil man die erbärmlichen Leistungen der Frohnarbeit erkannt hatte. 1807 ward der Bauer „persönlich“ frei (in Preußen).2Mit dem Edikt vom 9. Oktober 1807 wurde in Preußen die Erbuntertänigkeit auf den privaten Gütern abgeschafft. Die Bauern waren fortan nicht mehr an die Scholle gebunden und nicht mehr zum Gesindedienst verpflichtet. GS 1806–10, S. 170–173. Er [750]bekam aber nicht das ganze Land, sondern mußte an den Großgrundbesitz abtreten.3[750] Das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 ermöglichte die Allodifikation gutszugehörigen Bauernlandes sowie die Ablösung der noch bestehenden privatrechtlichen Abgaben- und Dienstpflichten durch Landabtretungen und Rentenzahlungen der Bauern an den Gutsherrn. Erbliche Bauern mußten ein Drittel, nichterbliche Bauern die Hälfte ihres Landes abgeben. GS 1811, S. 281–299. Nach 1813 setzte der Adel es durch, daß die Reformen eingestellt wurden.4Im Frühjahr 1812 hatte die preußische Regierung einen Gesetzentwurf zur Weiterführung der Agrarreformen ausgearbeitet, der erhebliche Vorteile für die Bauern enthielt. Danach sollte die Eigentumsverleihung sofort eintreten, die Auseinandersetzung wegen der noch vorhandenen, zudem von staatlicher Seite reduzierten Verpflichtungen aber erst später erfolgen. Der Justizminister erklärte sich gegen diesen Entwurf. Er machte sich dabei die Argumentation der Gutsherren zu eigen, die am Regulierungsedikt von 1811 festhalten wollten. Knapp, Bauern-Befreiung, Band 1, S. 173–178, S. 287ff. 1816 wurde der spannfähige Bauer freigegeben, der kleine dem Großgrundbesitz geopfert.5Die Deklaration vom 29. Mai 1816 begrenzte die Regulierungsfähigkeit auf spannfähige, also größere Bauernstellen. GS 1816, S. 154–180. 1850 war’s zu spät,6Mit dem „Gesetz, betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse“ vom 2. März 1850 wurden die Reste der noch bestehenden Abgaben- und Dienstpflichten beseitigt. GS 1850, S. 77–111. die kleinen Bauern waren bis auf einen kleinen Teil aufgesogen, das übrige waren Taglöhner. Um es nochmals zu wiederholen, wir sprechen von Ostdeutschland; in Österreich lagen die Verhältnisse etwas günstiger. –

[751][A(2) 2][Bericht des Frankfurter Volksboten]

Samstag, den 15. Febr. begann Prof. Max Weber aus Freiburg i. B. seine 5 in Aussicht gestellten Vorträge über Agrarpolitik. Der erste behandelte in knapper, geistreicher Darstellung die Agrargeschichte.

Zur Zeit der Völkerwanderung war der deutsche Boden dünn besiedelt, die Frau verrichtete die meiste Landarbeit, während der Mann sich mehr dem Kriegsdienst widmen konnte und deshalb den übrigen Völkern im Kriege überlegen war. Die Form der alten germanischen Ansiedlungen ist nicht der westfälische Einzelhof, sondern das Dorf inmitten der Flur. Unter Zurückstellung der Zweckmäßigkeit war die ökonomische Gleichstellung, ähnlich wie bei den späteren Zünften, als Hauptgrundsatz dieser Flurgenossenschaften durchgeführt. An die Wohnstätten schlossen sich in einem ersten Ringe um das Dorf die gleichmäßig großen Gärten, an diese in einem zweiten Ringe das Ackerland, jedes der einzelnen Teile oder „Gewanne“ in gleich große Stücke nach [A(2) 3]dem Verhältnis der Höfe eingeteilt. Hier herrschte der Flurzwang, sämtliche Feldarbeiten wurden auf Geheiß des Schulzen gleichzeitig ausgeführt, günstige und ungünstige Witterung, Hagelschlag etc. von allen gleich empfunden. Rings um das Ackerland schloß sich als äußerste Zone die Allmende oder freie Mark ana[751] Fehlt in A(2); an sinngemäß ergänzt. , für jedermann zur Weide, zum Holzholen, zum Urbarmachen gleich frei. Die wachsende Bevölkerung im Mittelalter verursachte zuerst die Ungleichheit des Besitzes. Das freie Land für neue Ansiedlungen wurde immer weniger, die Zahl der Markgenossen, der freien Besitzer, wurde eingeschränkt. So entstand unterhalb dieser freien Besitzer eine andere soziale Schicht, deren Glieder sich in den Dörfern als Gärtner, Handwerker, Häusler niederließen und nicht mehr als „Nachbar“ bezeichnet wurden. Eine weitere Ursache der Ungleichheit wurde die Feudalisierung des Besitzes, der Grundherr erhebt sich über den Bauern. In den von den Germanen eroberten Ländern des deutschen Ostens wurden schon große Grundherrschaften vorgefunden. Die Ursachen des Emporkommens des Großgrundbesitzes lagen in der technischen Überlegenheit des Grundherrn, er verfügte über mehr Kräfte zur Rodung [752](Urbarmachung von Land) und war der einzige Träger der Arbeitsteilung. Auch konnte er seine Lebenshaltung über die der Bauern steigern und war daher in früheren Zeiten der Träger der Kultur. Hand in Hand mit der zunehmenden Schwierigkeit der Bodenbearbeitung ging die Arbeit von der Frau auf den Mann über, der freie deutsche Bauer wurde seßhafter und verlor seine mobile Wehrfähigkeit. An Stelle des alten Heerbannes, des Volksheeres, tritt nun das Feudalheer des Ritters mit seinen Leibeigenen, das sich immer mehr in zünftige Verbände abschließt und den Monarchen von der Lehenstreue des Adels abhängig macht. Der mit dem Ausscheiden aus dem Heerbann auch politisch tote Bauer gerät immer mehr in ökonomische Abhängigkeit vom Grundherrn. Diese Feudalisierung vollzog sich aber in Deutschland, ähnlich dem heutigen Kapitalisierungsprozeß, nur halb. Die Lage des Bauern war noch nicht so schlimm, der Grundherr mußte sich immerhin auf die Bauern verlassen, konnte auch für seinen eigenen Bedarf an Naturalien und Diensten nicht zuviel herauspressen. Mit der Entwicklung der Städte und des Bürgertums, mit Verkehr und Geldwirtschaft verändert sich die Stellung des Bauern. Der Handelsherr, der zuerst einen Qualitätsluxus statt des früheren Quantitätsluxus treibt, wird dem Feudalherrn politisch gefährlich, und der in seiner Stellung bedrohte Grundherr bedarf nun ebenfalls Geld zu Luxus, das durch die Arbeit des Bauern allein nicht zu beschaffen ist. Zwei Wege stehen ihm offen. Entweder seinen Betrieb völlig aufzulösen, die Bauern in Pächter zu verwandeln und an Stelle der Frohnden und Naturallieferungen Geldabgaben zu setzen, oder den Bauern das Land abzukaufen bezw. wegzunehmen, selbst Landwirt zu werden und die Bauern als Arbeitskräfte in seinem Betrieb zu verwenden. Der erstere Weg findet sich heute noch im Westen und Süden Deutschlands, der letztere im Osten. Maßgebend für die beiden Arten der Bewirtschaftung ist nicht die Betriebstechnik, sondern die Nähe des Absatzmarktes, d. h. der Umstand, ob das Gut in der Nähe kaufkräftiger Städte liegt. In diesem Fall ist die Pachtwirtschaft die beste, sie fand sich daher im Westen und Süden Deutschlands, wo frühzeitig viele Städte in der Nähe waren. Bei Ausfuhr nach fremden Märkten empfahl sich die Selbstbewirtschaftung. In dem durch das Feudalheer eroberten Osten waren viele Grundherren und wenig Städte, es herrschte agrarische Überproduktion. Schon im Mittelalter bestand hier Ausfuhr. Heute noch bildet die Elbe die ökonomische Grenze von West- und Osteuropa. [753]Ende des 15. Jahrhunderts macht das Feudalheer im Osten dem Söldnerheer Platz, der frühere Berufsritter wird Landwirt, und sucht mit der Ausdehnung seines Besitzes seine Bauern leibeigen zu machen. Im 17. Jahrhundert beginnt das „Bauernlegen“ im Großen, teils durch Güte, teils durch Zwang. In den merkantilistischen Staaten Friedrichs des Großen und der Kaiserin Maria Theresia wird das Bauernlegen aber verboten,1[753] Friedrich der Große führte 1749 in der Provinz Schlesien den sog. Bauernschutz ein; in Österreich wurde der Bauernschutz unter Maria Theresia 1769 eingeführt. Knapp, Die Bauernbefreiung in Österreich und in Preußen, S. 415. nicht aus humanen Gründen, sondern weil Geld und Soldaten gebraucht wurden. In der künstlich gezüchteten Großindustrie ist der Fabrikant unter Friedrich II. oft nicht minder gewaltsam im Lande zurückgehalten worden, wie der Soldat. Nur auf dem platten Lande wird die Großindustrie beschränkt, da der König die Bauern zu Rekruten braucht. Ende des 18. Jahrhunderts fällt die letzte Entscheidung über das Schicksal des deutschen Bauern im Osten. Die mit der Aufklärungszeit beginnende Bauernbefreiung geschieht sowohl aus politischen als technischen Gründen. Die Produktion wird durch Wegfall der Frohnarbeit gesteigert. In Österreich gelang die Befreiung nicht sogleich,2Der Nachfolger Josephs II. wurde von der Adelsopposition gezwungen, die mit der „Urbarialregulierung“ vom 10. Februar 1789 begonnene Bauernbefreiung wieder zurückzunehmen. Grünberg, Bauernbefreiung, Band 1, S. 322ff. und 350. was vielleicht ein Glück für die Bauern war, da sie im Jahre 1848 mit der völligen Freiheit ihr ganzes Land von der Grundherrschaft zurückerhielten.3Gemeint sind die Patente vom 7. September 1848 und vom 4. März 1849. Ebd., S. 390ff. In Preußen wurden zuerst die Bauern der königlichen Domänen mit all ihrem Lande frei,4Zwischen 1799 und 1805 wurden die spannfähigen Bauern der Staatsdomänen der alten preußischen Provinzen persönlich frei und erhielten ihr Land zum freien Eigentum. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830. – Stuttgart: W. Kohlhammer 19752, S. 185. die der Rittergüter zunächst nur persönlich.5Wie S. 749, Anm. 2. Erst durch die sogenannte Regulierung bekamen die Bauern ihr Land, mußten aber ein Drittel davon abgeben.6Wie S. 750, Anm. 3. Der preußische Adel verzichtete zwar auf die spannfähigen Bauern, nicht aber auf die ihm unentbehrlichen kleinen Besitzer, die Handdienste zu thun hatten. 1816 wurden die kleinen Bauern geopfert, ihre Grundstücke ihnen [754]genommen.7[754] Wie S. 750, Anm. 5. Als endlich nach der Gährung des Jahres 1848 unter der Landbevölkerung ein Gesetz für Regulierungsfähigkeit im Jahre 1850 erschien,8Wie S. 750, Anm. 6. kam dies für die Meisten zu spät. Der große Bauer wurde frei, der kleine versank in das Proletariat, aus dem die Landarbeiter des Ostens hervorgingen, die Reservearmee für die industriellen Bezirke. Auf dieser Entwicklung beruht die Scheidung des deutschen Ostens vom Westen und Süden.

[755][A(3) 2][Bericht der Frankfurter Zeitung]

In seiner ersten Vorlesung über Agrarpolitik gab Herr Professor Weber gestern einen Überblick über die deutsche Agrargeschichte.

Er schilderte, wie die ursprünglich extrem egalitäre und demokratische Form der Besiedelung und die dadurch entstehende Knappheit des Bodens schließlich zu einer Kontingentirung der Zahl der Hufenbesitzer führen mußte. Hierdurch wurde eine besitzlose Bevölkerungsklasse erzeugt. Etwas zu wenig trat in dem sonst glänzend disponirten Vortrag sodann hervor, daß dieser Bevölkerungsüberschuß vor allem zur Kolonisirung des Ostens führte. Aristokratische Elemente kamen in unserer Agrarverfassung erst zur Geltung, als der stets mobile Krieger der älteren Zeit infolge intensiverer Wirthschaft mehr an die Scholle geheftet wurde und die von den großen Lehnherrn equipirten Reiterheere entstanden. Damit erlangten die Magnaten natürlich auch allen politischen Einfluß. Im Westen, wo die großen Grundherrschaften dünner und die Absatzmärkte nahe waren, erhielt sich der Bauernstand sodann besser als in dem für den Export wirthschaftenden und von Anfang an mehr junkerlich besiedelten Osten. So kam es, daß die Elbe heute die ökonomische Grenze zwischen West- und Osteuropa bildet. Zum Schluß schilderte der Vortragende in großen Zügen den Niedergang des Bauernstandes im 17. Jahrhundert, die Ursachen seiner theilweisen Erhaltung durch den aufgeklärten Despotismus und schließlich die sogenannte Bauernbefreiung, welche freilich nur die großen spannfähigen Bauern wirthschaftlich selbstständig machte, während die kleinen den Junkern, welche in Ermangelung eines freien Arbeiterstandes sonst keine Arbeiter gefunden hätten, überlassen werden mußten. Aus ihnen ist dann das ländliche Proletariat und die industrielle Reservearmee der Gegenwart entstanden.

[756][Zweiter Vortragsabend:] Agrarverfassung

[A(1) 1][Bericht des Frankfurter Journals]

Der heutige Vortrag nennt sich „Agrarverfassung“. Ehe der Vortragende von der deutschen Agrarverfassung spricht, wirft er einen Blick auf diejenige Frankreichs und Englands.

Der französische Adel vor der großen Revolution hatte seinen Landbesitz verpachtet und lebte von seinen Renten als Hofadel in der Nähe des Königs. Als die Revolution diesen Rentenadel weggefegt hatte, hinterließ er in der Landwirtschaft keine Lücke. Das ist der Hauptunterschied zwischen ihm und dem deutschen Junker, der selbst in die agrarischen Verhältnisse verflochten ist. Es gibt jetzt in Frankreich fünf Millionen Grundbesitzer,1[756] In Frankreich wurden anläßlich der Erhebung von 1882 mehr als vier Millionen selbständige Landwirte gezählt. Conrad, Johannes, Agrarstatistik, in: HdStW 11, 1890, S. 67. da der code civila[756]A(1): civile eine Realteilung der Erbschaft begünstigt.2Am 4. August 1789 wurden in Frankreich alle Feudalrechte und persönlichen Lasten der Bauern abgeschafft; im Oktober 1792 wurde die Errichtung von Familienfideikommissen verboten und am 6. Januar 1794 wurde ein neues Erbrecht eingeführt, das die Zwangsteilung unter allen berechtigten Erben vorsah. Der Code Civil Napoleons I. bekräftigte diesen, durch das revolutionäre Erbrecht vorgeschriebenen „partage forcé“. Miaskowski, August von, Das Erbrecht und die Grundeigenthumsvertheilung im Deutschen Reiche (Schriften des Vereins für Socialpolitik 20). – Leipzig: Duncker & Humblot 1882, S. 225–227. Trotzdem herrscht nicht der Zwergbetrieb vor, sondern der Typus ist der wohlhabende, mittlere Bauer; die Gründe hierfür sind erstens das französische Zweikindersystem,bA(1): Zweikindersystem: zweitens die Mobilisirung des Grundbesitzes, welche immer die pachtweise oder hypothekarische Vergrößerung wieder ermöglicht. In England nahm die Agrarverfassung durch die Ritter Wilhelms des Eroberers eine feudale Entwickelung. Im 16. Jahrhundert wurden die Grundherren, um mit der WeltkonjunkturcA(1): Weltmanufaktur konkurriren zu können, selbst Landwirte; aber im Anfange unseres Jahrhunderts zogen sie sich wieder als von ihren Renten lebende Landlords zurück. Die Folge davon war, daß sie sich nach kapitalkräftigen Pächtern umsahen und die Bauern von der Scholle verdrängten. In England gibt es also drei Kategorien: l. der rentenverzehrende Landlord, der sich nur mit Politik und Sport beschäftigt; 2. der [757]bürgerliche Pächter; 3. der Arbeiter, als Rest des Bauerntums. Der Großgrundbesitz ist nicht mobil, wie in Frankreich, sondern durch das primogene Anerbenrecht3[757] Gemeint ist die ungeteilte Weitervererbung an den jeweils Erstgeborenen. und durch Fideikommisse festgelegt. – Wir kommen nach Deutschland. Die Zahl der Grundbesitzer ist ungefähr der französischen gleich.4Die mit der französischen Zählung von 1882 vergleichbare Berufszählung vom 5. Juni 1882 für das Deutsche Reich weist 2 288 033 Selbständige, die allein von der Landwirtschaft lebten, nach, sowie 3 193 655 Personen, die ihren selbständigen Landwirtschaftsbetrieb mit einem Nebenerwerb verbanden. Conrad, Agrarstatistik, S. 67. Zweidrittel wird durch den Eigentümer selbst bewirtschaftet.5Diese Relation ergibt sich aus der Zahl der Verpachtungen: Nach der Berufszählung von 1882 waren von der Gesamtzahl der im Deutschen Reich existierenden Betriebe 15,7 % reine Pachtungen und 20,7 % Mischpachtungen. Paasche, Hermann, Pacht, in: HdStW 51, 1893, S. 91. – Die Agrarverfassungen Deutschlands müssen regional betrachtet werden. Im Rheinthal, wo absatzfähige Lokalmärkte sind, herrscht der Klein- und Zwergbetrieb vor. Es besteht dort das französische Erbrecht. Wo Getreidebau herrscht, und wo mehr produzirt wird, als der Lokalmarkt verzehrt, geht die Tendenz auf geschlossene Vererbung des Besitzes, da der kleine Betrieb nicht exportiren kann. Hier herrscht der Großbauer, der mit Proletariat arbeitet. Eine große soziale Differenz besteht zwischen ihm und dem Arbeiter. Diese fehlt in den Gebieten der Gartenkultur, da hier auch mit ganz kleinem Kapital nach und nach etwas Land erworben werden kann. Der Besitz des Großbauers geht entweder durch gesetzliche Benachteiligung der anderen auf einen über oder es werden die anderen durch private Verträge aufs Altenteil gesetzt. Im Osten haben wir die feudale Gliederung; das Rittergut; der preußische Junker ist wie schon gesagt nicht Rentner, sondern Arbeitgeber. Der Boden liegt nicht fest in der Hand des Besitzers, sondern ist Spekulationsobjekt. Nur die allergrößten Güter sind Fideikommisse. Es ist in Preußen zur Gründung derselben eine sehr beträchtliche Minimalgröße festgesetzt.6In Preußen war ein jährlicher Mindestreinertrag von 7500 Mark Voraussetzung für die Errichtung eines Gutes als Fideikommiß. Gierke, Otto, Fideikommisse, in: HdStW 31, 1892, S. 417. Diese werden wie in England durch Pächter betrieben. – Die Landleute sind nicht mehr die bestgenährtesten. Das Wertvollste kommt auf den Markt und das am wenigsten Transportfähige dient zum eigenen Verbrauch; das Korn kommt in den Handel und die Kartoffeln werden selbst verzehrt. Im Osten ist der genügsamste Landwirt der Gewinnende; im [758]Westen der beste und Geschäftskundigste. Für die Dislokation der Bevölkerung gelten folgende Sätze: Je größer der Betrieb, desto weniger Leute bedarf es im Verhältniß. Je größer der Betrieb, desto größer die Volksdichtigkeit, da sie auf dem Hofe etc. zusammen wohnen. Je proletarischer die Bevölkerung, desto größer die Anzahl der Kinder. Zum Schlusse kommt Professor Weber auf das Heimatsgefühl, in seinen Beziehungen zur Boden-Besitzverteilung, zu sprechen. Er gelangt zu dem Satze: Je kleiner der Betrieb, desto seßhafter die Bewohner. Im Westen, in dem die Erwerbung des Bodens leicht ist, ist die Auswanderung gering; im Osten, wo der Grundbesitz festgelegt ist, dagegen groß.

[759][A(2) 1][Bericht des Frankfurter Volksboten]

Unter steigendem Besuch und Interesse folgte vergangenen Samstag die zweite agrarpolitische Vorlesung von Professor Max Weber über Agrarverfassung.

Redner schilderte zunächst die in ihrer Art einheitlichen Agrarverfassungen Frankreichs und Englands. Frankreich, das Land der Bodenzersplitterung mit 5½ Millionen ländlichen Betrieben und 5 Millionen Landbesitzern, wo die Hälfte der landwirtschaftlichen Bevölkerung selbständig,1[759] Wie S. 756, Anm. 1. Conrad gibt in seinem Artikel an, daß 58,5 % der von der Landwirtschaft lebenden und in der Landwirtschaft tätigen Personen Selbständige waren. Conrad, Agrarstatistik, S. 67. der Adel zum Renten- und Hofadel geworden ist. Trotz der Zersplitterung hat der mittlere, wohlhabende Bauer zum Betrieb mehr als die Hälfte des Bodens inne. In dem einstmals von einem Feudalheer eroberten England begann schon im 16. Jahrhundert das Bauernlegen und endete im vorigen.2Gemeint sind die Einhegungen (enclosures), die in England bereits im Mittelalter einsetzten und durch die ganze Landstriche entvölkert und ganze Dörfer ihrer Existenzbasis beraubt wurden. Hier findet sich neben dem von seiner Pachtrente lebenden Landlord noch der Pächter, meist ein bürgerlicher Kapitalist, und ein Taglöhnerproletariat. der riesigen Grundbesitze (in England ist des Bodens in den Händen von 21 Tausend,3Gemäß des Katasters von 1873, das alle Grundeigentümer, die Größe und den jährlichen Reinertrag ihres Grundbesitzes verzeichnete, waren 35,3 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche in England und Wales in der Hand von 37 116 Eigentümern von 100 bis 1000 Acres. 5408 Eigentümer mit einem Besitz von über 1000 Acres besaßen 64,7 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Eine diese amtliche Erhebung ergänzende wissenschaftliche Untersuchung von Reitzenstein kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Reitzenstein, Friedrich Frhr. von, und Nasse, Erwin, Agrarische Zustände in Frankreich und England (Schriften des Vereins für Socialpolitik 27). – Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 130–132. Zu der zitierten amtlichen Erhebung siehe ebd. die Hälfte Irlands in den Händen von 800,4Auf welche Angaben sich Weber hier stützt, konnte nicht ermittelt werden. von Schottland in denen von 600 Besitzern5Auf welche Angaben sich Weber hier stützt, konnte nicht ermittelt werden. ) sind unbewegliche Fideikommisse.6Auch Reitzenstein/Nasse, Agrarische Zustände, S. 194, schätzen, daß zwei Drittel des englischen Grund und Bodens fideikommissarisch gebunden waren. Die Zahl der Betriebe ist groß, es sind aber meist winzige Pachtbetriebe. In Deutsch[A(2) 2]land ist das Verhältnis von Besitz und Betrieb im ganzen ähnlich wie in Frankreich. des Bodens werden durch die Eigentümer bebaut,7Wie S. 757, Anm. 5. der mittlere Bauer [760]bildet die breite Masse, im ländlichen Klein- und Großbetrieb wird das Pachtsystem begünstigt. In Deutschland bestehen aber nach den einzelnen Gegenden 3 Typen der deutschen Agrarverfassung. In der Rheingegend mit alter städtischer Kultur ist durch die Nähe aufnahmefähiger Märkte der Zwergbetrieb mit Garten-, Wein- und Tabaksbau begünstigt. Die Erbteilung bietet Gelegenheit zum Landkauf, die Kleinheit des Betriebs ist ein ökonomischer Vorzug, indem er die Intensität der Ausnutzung steigert. In Südund Mitteldeutschland überwiegt der größere Flächen erfordernde Getreidebau, hier herrscht aus technischen Gründen das Bestreben zu geschlossenen Gütern. Je unfruchtbarer und abseits des Verkehrs die Gegend gelegen ist, wie im Schwarzwald, in manchen Gegenden Mitteldeutschlands und Oberbaierns, desto notwendiger wird der größere Einzelbesitz. Durch das in verschiedenen mitteldeutschen Staaten geltende Anerbenrecht8[760] Das Anerbenrecht galt in den Großherzogtümern Baden, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, dem Fürstentum Schaumburg-Lippe, dem Herzogtum Braunschweig, dem Landgebiet der Stadt Bremen sowie in den preußischen Provinzen Hannover, Westfalen, Brandenburg, Schlesien, Schleswig-Holstein einschließlich dem Kreis Herzogtum Lauenburg. Miaskowski, August von, Anerbenrecht, in: HdStW 11, 1890, S. 272. wird die Gelegenheit zu Landkauf weniger, der Gegensatz zwischen Hofbauer und Taglöhner größer. Östlich der Elbe überwiegt die Feudalgliederung, die Zahl der ritterlichen Gutsbezirke und der Gemeinden ist sich gleich. Im Gegensatz zum englischen Rentenaristokraten ist der preußische Junker Selbstbewirtschafter, Arbeitgeber, da die meisten Güter durch Verpachtung zu wenig Rente bringen würden; davon rührt, ähnlich wie beim Fabrikarbeiter, mit der Haß des Landarbeiters gegen seine Arbeitgeber her. Die zu Spekulationsgegenständen gewordenen großen Güter kommen immer mehr aus den Händen des Adels, nur die allergrößten sind, ähnlich wie die englischen, durch Fideikommisse festgelegt. Die Wirkung der Agrarverfassung in Deutschland zeigt zunächst in Bezug auf die Bevölkerungsverteilung bei steigendem Großbetrieb eine dünnere Bevölkerungsschicht und umgekehrt, da der Großbetrieb mit gleicher Arbeitsleistung bei gleicher Bodenfläche weniger Arbeitskräfte braucht, als der Kleinbetrieb. In Bezug auf die Lebenshaltung ist der Landbewohner nicht mehr der am besten genährte, wie zur Zeit der Naturalwirtschaft, besonders da, wo der Kleinbesit[761]zer gerade seine wertvollsten Erzeugnisse auf den Markt bringen muß; meist dient das minder Wertvolle dem eigenen Konsum, besonders die Kartoffeln. Bei Produktion für den Markt kommt der tüchtigste Besitzer am meisten vorwärts, wie am Rhein; bei Produktion für den eigenen Bedarf der genügsamste, im Osten der Pole. Die Wirkung auf die Wohnungsverhältnisse ist die, daß, je größer der Betrieb, desto zusammengedrängter die Leute wohnen. In Ostpreußen kommen in den Dörfern auf ein Haus 10, in den Städten 12, auf den Rittergütern 15 Köpfe, während am Rhein auf dem Land meist ein Haushalt in einem Gebäude ist.9[761] Auf Grund der Materialien der Gebäudesteuerrevision von 1878 kamen in Ostpreußen auf ein Wohngebäude im statistischen Durchschnitt 10,8 Einwohner, im Rheinland dagegen nur 7,2. Preußische Statistik. Heft 103. – Berlin: Verlag des Königlich Statistischen Bureaus 1889, S. LIX. Genauere Angaben zu den ostpreußischen Städten, Dörfern und Gütern macht das preußische Gemeindelexikon. Es ergeben sich hiernach, zum Teil abweichend von Webers Angaben, für die Städte 16,9, für die Güter 15,2 und für die Dörfer 8,1 Einwohner pro Wohnhaus (unbewohnte Wohnhäuser eingeschlossen). Die Zahlen basieren auf der Volkszählung von 1885. Gemeindelexikon, Band 1, S. 400f. Zu den rheinischen Landgemeinden vgl. auch unten, S. 788, Anm. 1. Die Wirkung der Agrarverfassung auf die Volksvermehrung, sowie der Zusammenhang des Elends mit letzterer ist ein noch ungelöstes Problem. Proletarische Lebenshaltung vermehrt die Kinderzahl auf dem Land wie in der Stadt, beim westfälischen Hofbauern steht dagegen die Kinderzahl mit der Ernährung in genauem Verhältnis. Abnehmende Bodengüte zeigt wachsende Kinderzahl beim rheinischen Parzellenbesitzer, wie beim ostelbischen Taglöhner. Tief einschneidend in alle Verhältnisse ist die Wirkung auf die Seßhaftigkeit. Allerdings löst der zunehmende Verkehr[,] in Verbindung mit der wachsenden Großindustrie, immer mehr Menschen vom Boden, aber die Art der Verteilung des Landes kommt noch hinzu. Je kleiner der Einzelbesitz, desto seßhafter ist die Bevölkerung und umgekehrt. In den rheinischen Landorten bleiben teilweis 910 am Ort Geborene in der Heimat,10In den Landgemeinden der rheinischen Regierungsbezirke betrug der prozentuale Anteil der Kreisgebürtigen an der ortsanwesenden Bevölkerung im Jahre 1885 88,7 (Koblenz), 75,2 (Düsseldorf), 85,0 (Köln), 86,6 (Trier) und 88,8 (Aachen). Gemeindelexikon, Band 12, S. 250. Vgl. auch die Zahlenangaben und Ausführungen Max Webers in seinem Gutachten über die Einführung eines Heimstättenrechts, oben, S. 661. in Ostpreußen 29–36 %;11Diese Angaben beziehen sich nicht auf die Kreisgebürtigkeit, sondern auf die Gebürtigkeit in der Heimatgemeinde. Vgl. die Ausführungen und die Zahlenangaben Webers ebenfalls oben, S. 666. die Heimatslosigkeit auf den Gütern des Ostens [762]ist größer als in den rheinischen Industriebezirken, denn der festgelegte Boden schafft nur Seßhaftigkeit für Besitzer, nicht beim Taglöhner des „patriarchalischen Systems“. Die Auswanderung aus den Land- nach den Industriebezirken zeigt in Deutschland große Unterschiede. In Baden wird teilweise die Auswanderung wegen zu großer Bevölkerungsdichtigkeit empfohlen, in Ostpreußen verschwinden dagegen in jedem Jahr mindestens 75 % des Geburtsüberschusses,12[762] Diese Angabe bezieht sich auf die Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Posen, Pommern, Schlesien und die Großherzogtümer Mecklenburg. Vgl. oben, S. 268, Anm. 55. um Asyle und Landstraßen als industrielle Reservearmee zu bevölkern. In Mecklenburg, wo die Zahl der durch Bauern bewirtschafteten Domänen und der freiherrlichen Rittergüter gleich ist, besteht die Auswanderung zu 910 aus Arbeitern der Rittergütera[762]A(2): Rittergütern. Aristokratische Gliederung des Landes entvölkert, demokratische bringt die Gefahr der Übervölkerung. Auffallend ist auch die geringe Zahl der Handwerker im Osten,bA(2): Osten; während sie im Westen noch große Macht besitzen. Der preußische Junker, der die Kultur des Ostens trägt, will für das Handwerk eintreten, bezieht aber seine Ware meist aus Berliner Bazaren und begünstigt auch hiermit das unnatürliche Anwachsen der Großstädte. Alle die geschilderten Zustände bringen es mit sich, daß jede Krise der Industrie bei uns mit viel größeren Schwierigkeiten zu rechnen hat als in England. Der Raummangel gestattet leider nicht, noch manche statistische Einzelheiten einzuflechten, die alle in gleich überzeugendem Maße die Gefahren des Großgrundbesitzes für unsere gesamten deutschen Verhältnisse in Stadt und Land beweisen würden.

[763][Dritter Vortragsabend:] Agrarkredit

[A(1) 1][Bericht des Frankfurter Journals]

Unser Bild der agrarischen Gliederung wäre unvollständig ohne dasjenige des Hypothekengläubigers. Man unterscheidet zweierlei Kredite, die der Landwirt in Anspruch nimmt. Erstens den Betriebs- oder Wirtschaftskredit (für die Beschaffung der Werkzeuge; die Bestreitung des Lohnes etc.); zweitens den Besitzkredit. Letzterer wird beim Kaufe des Gutes durch Errichtung einer Kaufhypothek oder zur Abfindung der Miterben, durch eine Erbhypothek in Anspruch genommen. Ist das Gut nicht gekauft, so tritt an den Hypothekenzins der Pachtzins. Die Pacht hat gewisse Vorzüge; eigentlich jedoch nur für denjenigen, der für den Markt produzirt; der naturalwirtschaftende kleine Bauer ist niemals Pächter. Wegen der langen Umschlagsfristen ist für den landwirtschaftlichen Betriebskredit die Form des Wechsels nicht geeignet. Der Kredit durch „Mobiliarpfandschuld“[,] d.i. Kredit auf in Lagerhäusern deponirte Produkte, steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Es bleibt der Immobiliarpfandkredit, die Hypothek. Die juristisch feine Ausbildung der Hypothek stammt aus dem preußischen Osten; ebenso die Einrichtung des „Grundbuches“, das erst jetzt auf das ganze Reich ausgedehnt wird.1[763] In Teilen Südwestdeutschlands und Süddeutschlands galt entweder das Trans- und Inskriptionssystem nach französischem Vorbild oder das Hypothekenbuchsystem. Im Gegensatz zu diesen Systemen wurde nach dem in Preußen seit 1872 gültigen Grundbuchsystem der gesamte dingliche Rechtszustand eines Grundstücks in das Grundbuch eingetragen, was für die Gläubiger eine höhere rechtliche Sicherheit bedeutete. Die generelle Einführung des Grundbuchsystems wurde erst im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 für das Deutsche Reich von 1900 an vorgesehen. GS 1872, S. 446–472; Schollmeyer, Hypotheken- und Grundbuchwesen, in: HdStW 42, 1900, S. 1268f. Es gilt nur diejenige Schuld, welche in das Grundbuch eingetragen ist; in Frankreich ist dies nicht der Fall und in England ist die Feststellung, welche Schuld auf einem gewissen Grundstück liegt, mit hohen Notariatskosten verknüpft. – Man hat bei uns die Hypothek derartig rechtlich gesichert, daß sie eine Kapitalsanlage für Private bildet. Die Versuche, die „Grundschuld“ an der Börse umsatzfähig zu machen, scheiterten an dem intellektuellen Charakter der Hypothek. Nach dem siebenjährigen Krieg wurde [764]eine Genossenschaft „Die Schlesische Landschaft“ gegründet.2[764] 1769/70 wurde die „Schlesische Landschaft“ als erstes einer ganzen Reihe von landwirtschaftlichen Bodenkreditinstituten gegründet. Diese Institute waren als Zwangskorporationen der Rittergutsbesitzer organisiert und verpflichtet, ihren Mitgliedern unter Beachtung des Prinzips der solidarischen Haftung, d. h. der Haftung aller für einen, Kredite zu geben. Preußen wollte durch die Gründung der „Schlesischen Landschaft“ die durch den Siebenjährigen Krieg um Schlesien (1756–1763) geschwächte Landwirtschaft stärken. Dieselbe war eine Gesamthaftung des Schlesischen Adels für die Schulden des einzelnen in gewissen Grenzen; dieser Gedanke erfuhr später weitere Ausdehnung durch die Gründung privater Hypothekenbanken. Die hypothekarische Verschuldung ist in England fast gar nicht vorhanden, da der Boden meistens fideikommissarisch festgelegt ist. In Frankreich und im westlichen Deutschland ist sie weit geringer, als im östlichen; denn in ersteren Ländern herrscht freie Realteilung, im Osten Anerbenrecht. Die Lebensdauer der Hypothek ist in Frankreich und dem Westen viel kürzer, als im Osten, wo siea[764]A(1): die dauernde „Tributlast“ ist. Früher wurden die Hypotheken bei Subhastationen fällig: seit dem Gesetze von 1883 bleiben die vorhergehenden Hypotheken unberührt.3Gemeint ist das „Gesetz, betreffend die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen“ vom 13. Juli 1883. Wie aus dem Bericht des Frankfurter Volksboten über den Vortrag Webers (unten, S. 767) deutlicher hervorgeht, spielt Weber hier auf die §§ 29 und 30 dieses Gesetzes an. Diesen Paragraphen zufolge gingen die im Grundbuch eingetragenen Realforderungen den Forderungen des Gläubigers voraus, der die Zwangsversteigerung einleitete, dessen Forderungen aber im Grundbuch nicht eingetragen waren. GS 1883, S. 139f. Die Hypotheken machen die Güter noch mehr unteilbar. Der Verkaufswert eines Gutes steht oft über dem Ertragswert, da der Boden nicht nur Produktionsmittel ist, sondern auch ein gesichertes Arbeitsfeld bietet. Bei großen Gütern wird noch der Rest des Feudalismus bewertet, da der Erwerber als Rittergutsbesitzer Mitglied einer feudalen Gesellschaftskaste wird. Professor Weber kommt nun auf den Kampf gegen die Verschuldung zu sprechen. Das charakteristischste Reformprojekt ist der Inkorporationsplan des Nationalökonomen Schäffle, der einen modernen Bauernschutz gegen die bürgerliche Klasse bilden soll.4Albert Schäffle entwickelte in seiner Schrift: Die Inkorporation des Hypothekarkredits. – Tübingen: H. Laupp 1883, den Gedanken einer genossenschaftlichen Organisation der Bauernschaft zur Bereitstellung von Krediten. Damit sollte die Bauernschaft von bürgerlichen Kreditgebern unabhängig werden. Die Korpo[765]ration soll den Kredit monopolisiren; die Privathypothek fällt weg. Besitzkredit gibt die Korporation gar keinen; nur zu Meliorationen oder Notständen. Die Ausführbarkeit des Projektes wollen wir undiskutirt lassen. Es wäre dies eine Bauernzunft, zu der nur der Geldbesitzende Zutritt hätte. Der Vortragende spricht hierauf über zwei Projekte, welche von demjenigen Schäffles abstammen, dem sogen. Österreichischen Entwurf5[765] 1890 legte die österreichische Regierung unter Eduard Graf Taaffe einen Gesetzentwurf zur Bildung von Zwangsgenossenschaften der Landwirte vor. Diese Korporationen sollten verpflichtet werden, bei Zwangsversteigerungen zugunsten der Schuldner zu intervenieren. Sering, Max, Die Entwürfe für eine neue Agrargesetzgebung in Österreich, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 18. Jg., 1894, S. 388–390; Ogris, Werner, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien 1848–1918, in: Die Habsburger Monarchie 1848–1918, hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, Band 2: Verwaltung und Rechtswesen. – Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1975, S. 628f. und dasjenige der Preußischen Agrarkonferenz.6Auf der preußischen Agrarkonferenz, die vom 28. Mai bis zum 2. Juni 1894 unter der Leitung des preußischen Landwirtschaftsministers stattfand, entwickelte der Agrarwissenschaftler Max Sering einen Plan, demzufolge sich die Grundbesitzer zusammenschließen sollten, um bei Subhastationen den jeweiligen Schuldner zu unterstützen. Dieser Plan stieß bei den Grundbesitzern auf Widerspruch. Vgl. dazu Max Webers Artikel „Die Verhandlungen der Preußischen Agrarkonferenz“, oben, S. 494f. Von letzterem wollen wir nur noch erwähnen, daß es auf die Ausdehnung des Anerbenrechtes hinausgeht;7Ergänzt wurde Max Serings Plan der Bildung von Korporationen der Grundbesitzer durch das Projekt, das Anerbenrecht, demzufolge der Grundbesitz ungeteilt weitervererbt wurde, wieder einzuführen. Vgl. Max Webers Artikel „Das Anerbenrecht auf der preußischen Agrarkonferenz“, oben, S. 502–511. wir haben jedoch im vorhergehenden Vortrage dessen Einfluß auf die Verminderung der Bevölkerung gesehen; im nächsten Vortrage werde festgestellt, wo dieses wünschenswert ist.

[766][A(2) 2][Bericht des Frankfurter Volksboten]

Die dritte der agrarpolitischen Vorlesungen von Professor Max Weber behandelte den Agrarkredit. Auch hier wußte der Vortragende den spröden Stoff lebendig und interessant zu gestalten.

Von der Person des in die Agrarverfassung noch hineingehörenden, oft tief in die Verhältnisse einschneidenden Hypothekengläubigers führte das Thema über auf die verschiedenen Arten des Kredits, insbesondere Betriebsund Besitzkredit. Ersterer wird nötig zum Zwecke der Bewirtschaftung, für Meliorationen (Verbesserungen), Daueranlagen (Meliorationskredit). Der Besitzkredit ergiebt sich aus der verschiedenen Beschaffung von Grund und Boden (Pacht, Kauf, Erben u.s.w.) als Pacht- und Hypothekenzins. Für den Eigentümer ist der meist höher stehende Pachtzins am günstigsten; auch werden durch ihn wirtschaftliche Krisen besser ertragen, indem der Rückgang der Preise u.s.w. sich auf Pächter und Verpächter verteilt. Letzterer ist ferner im Gegensatz zu dem nur für sein Kapital besorgten Hypothekengläubiger am Gedeihen seines Gutes mitinteressiert. Bäuerliche Naturalwirtschaft macht jedoch den, einen fortgesetzten Geldumsatz brauchenden Pachtzins nicht empfehlenswert. Die Pachtwirtschaft rentiert sich erst bei Großbetrieb und führt durch Ersparung von Arbeitskräften zur Verdünnung der Bevölkerung. Der Besitzkredit ist in Deutschland noch sehr verbesserungsfähig. Die langen Umschlagsfristen in der Landwirtschaft machen den rein persönlichen Kredit nicht leicht und die kaufmännische Form des Wechsels also ungeeignet. Dagegen kann die Form der Mobilienpfandschuld, da bewegliche Güter auf kurze Zeit hiefür sehr geeignet sind, durch Errichtung von Lagerhäusern und Ausgabe von Lagerscheinen auf Feldfrüchte trotz des Mißtrauens der Landwirtschaft gegen die Börse noch weiter ausgebildet werden. Der Immobilien-Realkredit, die Verpfändung des Bodens in rechtlicher Form, ist am höchsten im Osten Preußens entwickelt, besonders durch das seit den 70er Jahren eingeführte Grundbuch, eine Liste der Grundstücke mit allen darauf ruhenden Rechtsverhältnissen.1[766] Wie S. 763, Anm. 1. Im Gegensatz zu den rechtlich unsicheren Landverhältnissen Englands und den ebenfalls nicht gleiche Sicherheit bietenden Frankreichs, hier geht näm[767]lich eine Anzahl Pfandrechte dem Hypothekengläubiger vor, ermöglicht die preußische Hypothekenform den Boden als sichere Kapitalanlage auszunutzen. Der genossenschaftliche Zusammenschluß im Osten steigert noch die Umsatzfähigkeit der Hypotheken. In der zuerst durch „Die Schlesische Landschaft“ nach dem 7jährigen Kriege gegründeten Genossenschaft2[767] Wie S. 764, Anm. 2. haftete der gesamte schlesische Adel für die Schulden Einzelner innerhalb bestimmter Grenzen durch Ausgabe von Pfandbriefen. Später wurde dies auf die übrigen Provinzen durch Privathypothekenbanken ausgedehnt, in denen aber nun ein Bankunternehmer in den Vordergrund tritt. Die technische Überlegenheit der Rechtsformen gerade in den ökonomisch rückständigsten Gegenden des deutschen Ostens hängt mit der Agrarverfassung, mit der schnelleren Umsatzmöglichkeit der Grundstücke zusammen. In England ist die Grundrente meist Pachtrente: die Fideikommisse sind nicht belastbar;3Gemeint sind die den deutschen Fideikommissen vergleichbaren entails, d. h. Stiftungen, zumeist von Grundbesitz, die von Generation zu Generation erneuert wurden. Vgl. oben, S. 509, Anm. 19. in Frankreich ist ebenfalls geringere Verschuldung vorhanden, in Deutschland selbst ist sie verschieden. Die meisten Hypotheken entstehen durch Besitzkredite, Kauf oder Erbschulden. In Frankreich fällt mit der realen Teilung die Erbschuld weg, die Hypothek ist hier wie im westlichen Deutschland meist auch schneller zurückbezahlt. Beim wechselnden Kleinbesitz werden die Schulden vielfach auf Termin genommen, im Osten ist die Hypothek dagegen in ihrer Rechtsform eine dauernde durch die Gesetzgebung noch gesteigerte Tributlast. Seit 1883 ist eine Reinigung des Grundbuchs von Hypotheken, wenigstens bei Versteigerungen, nicht mehr möglich, da die Hypotheken jetzt dem die Versteigerung veranlassenden Gläubiger vorgehen.4Gemeint sind die §§ 29 und 30 des Gesetzes vom 13. Juli 1883 „betreffend die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen.“ GS 1883, S. 139f. Vgl. auch Anm. 3, S. 764. Die Person des Gläubigers ist im Westen nicht so scharf getrennt vom Lande, meist ein Sparkassengläubiger; im Osten dagegen ist es in der Person des bürgerlichen Gläubigers ein Zins des platten Landes an die Stadt. Hier wird die Hypothek noch gesteigert durch die Geschlossenheit der Güter, die nur durch kapitalkräftige Güterschlächter geteilt werden können. Wie einst zu Gunsten des Feudalherrn ist die Agrarver[768]fassung jetzt zu Gunsten des städtischen Tributherrn festgelegt. Mit der Agrarverfassung, der Entstehung der Bodenpreise, hängt auch die Höhe der Verschuldung zusammen. Der freie Verkehr steigert den Verkehrswert über den Ertragswert. Der Boden ist nicht allein Produktionsmittel, sondern sein Besitz ist eine sichere Arbeitsstätte. Dieser Umstand treibt besonders auch die kleinen Grundstücke in die Höhe. Die großen Güter sind aber außerdem noch die Träger einer sozialen Stellung. Der Rittergutsbesitzer bezahlt für die Aufrechterhaltung des Feudalismus dem fortschrittlichen Bürger noch einen Tribut in dem Hypothekenzins. – Der Kampf gegen die Verschuldung ist der Kampf des Landes gegen die Stadt, dessen Schwerpunkt im Osten liegt. Unter den verschiedenen Plänen in dieser Richtung ist besonders das Reformprojekt von Schäffle bemerkenswert,5[768] Wie S. 764, Anm. 4. der durch Inkorporation (Einverleibung) des Hypothekenkredits eine Art modernen Bauernschutz gegen das bürgerliche Kapital schaffen will, wobei aber die Rittergüter ausgeschlossen sind. Gleich der alten Zunft soll in diesen mit dem Kreditmonopol ausgestatteten Körperschaften das Ausleihen von Kapital außerhalb der Körperschaft, also das private Hypothekenrecht beseitigt werden, der Einkauf in die Zunft geschieht nur durch Barzahlung für den Boden. In der Praxis wird aber hier nur für den künftig, nicht für den schon jetzt verschuldeten Landwirt gesorgt. Auf diesen Grundgedanken fußte ein vor 2 Jahren in Österreich ausgearbeiteter, jetzt wieder aufgegebener Entwurf.6Wie S. 765, Anm. 5. Der Plan der preußischen Agrarkonferenz, die Gründung von Körperschaften aus Grundbesitzern, die die Liquidation ihrer verschuldeten Genossen selbst in die Hand nehmen, wurde von den Grundbesitzern selbst abgelehnt.7Wie S. 765, Anm. 6. Ein weiterer Plan8Wie S. 765, Anm. 7. auf Beseitigung des Erbgangs und des Kaufs führt durch Einführung des Anerbenrechts zur Steigerung der Verschuldung, und gewährt in dem Beseitigen der Kaufschuld durch Feststellung einer Schuldgrenze für jedes Grundstück einem Teil der Besitzer ein erträgliches Auskommen, zwingt aber zum Barkauf und führt zu dem tief eingreifenden sozialen Problem: „Wer bekommt Zutritt zum vaterländischen Boden?“ Die Schwäche dieses Planes, der an der [769]Unmöglichkeit der Bildung großer Körperschaften scheitern wird, ist, daß keine Scheidung nach Besitzgrößen vorhanden ist; das Anerbenrecht ist eine spezifisch bäuerliche Einrichtung. Das Intestatanerbenrecht, durch das der Anerbe, sofern nichts anderes bestimmt ist, zur Abfindung der übrigen Erben billigen Staatskredit bei freiwilliger Unterwerfung unter eine Verschuldungsgrenze erhält, schafft einen Bauernstand zweiten Ranges von gemindertem Kredit, und sucht gerade die schwächsten Existenzen zu halten. – Das Anerbenrecht hängt mit der aristokratischen Gliederung der ländlichen Gesellschaft, mit der fortwährenden Entvölkerung des Bodens, zusammen. Vielleicht ist es in einzelnen Gegenden notwendig; die Hauptsache ist aber hier, der Bevölkerung im deutschen Osten das Heimatsgefühl zu erhalten.

[770][Vierter Vortragsabend:] Die Landarbeiter

[A(1) 1][Bericht des Frankfurter Journals]

Der Bedarf an Arbeitskräften ist in der Landwirtschaft nicht das ganze Jahr gleichmäßig. Diesen Saisoncharakter suchten die Sklavenbetriebe des Altertums auszugleichen; das war aber nur so lange möglich, als die menschliche Arbeitskraft so sehr billig war. In Ländern mit jungfräulichem Boden steigert man den Saisoncharakter der Landwirtschaft. In Argentinien wickelt sich das ganze Agrargeschäft in dreizehn Wochen ab. Man zieht eine große Menge Indianer zur Arbeit heran, die man nach Ablauf der kurzen Frist wieder in die heimatlichen Wälder schickt. Im Mittelalter beschäftigten sich die Männer der freien Dörfer während der stillen Zeit gleich den Frauen mit Spinnen und Herstellung anderer Bedarfsmittel; auf den Frohnhöfen wurde alles zur Saison zur Arbeit herangezogen. – Prof. Weber erinnert noch einmal an die Bodenbesitzverhältnisse in England und Frankreich und geht dann ausführlich auf die deutschen Zustände über. Im Westen und Süden sind die Verhältnisse wie in Frankreich. Es herrscht kein schroffer Gegensatz zwischen Landbesitz und keinem. Die Mitwirkung an der Ernte etc. wird als nachbarliche Aushülfe betrachtet. Im Nordwesten herrscht das Großbauerntum, das durch sein Anerbenrecht die nichterbenden Familienmitglieder abstößt. Diese bleiben nicht wie früher als Bedienstete auf dem Gute des Bruders. Sie sind die westfälischen Heuerlinge, die gegen Belehnung mit Land allerdings sich auf freien Vertrag stützende Frohndienste thun. Wir kommen zum Osten. Ein Gutsherr in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts hatte drei Kategorien von Arbeitskräften. I. Das Gesinde. II. Die Dienstleute oder Taglöhner, das sind die Reste der eingezogenen kleinen Bauern. III. Die Einwohner der Dörfer, die zur Ernte herangezogen werden. I und III bietet nichts Bemerkenswertes. Die Situation der Taglöhner1[770] Gemeint sind die Dienst- oder Instleute. wollen wir jedoch näher ins Auge fassen. Sie bekamen vom Gutsherrn Wohnung; über die Güte derselben schweigt in den meisten Fällen des Sängers Höflichkeit. Sie bekommen Holz und Torf und Land[,] teils als [771]Garten zum Gemüsebau, teils alsa[771] Fehlt in A(1); als sinngemäß ergänzt. Feld, das für ihre Rechnung bestellt wird. Sie haben Anteil am Weideland, worauf sie ihre eine bis zwei Kühe führen. Man sieht, die Leute sind nicht völlig Proletarier; sie müssen etwas Vermögen haben. Nun kommen ihre Pflichten. Die ganze Familie ist zur Arbeit verpflichtet; sie müssen eine bis zwei Arbeitskräfte stellen. Soll die Frau zu Hause bleiben, wie es zum Betriebe der kleinen Wirtschaft nicht anders geht, so muß der Dienstmann einen Dienstboten nehmen und dem Herrn zur Verfügung stellen. Geld erhält er gar keines, höchstens ein unbedeutendes Taschengeld; er bekommt alles in Naturallieferung. Er hat einen bestimmten Anteil an der Ernte und am Gedroschenen. Er hat aber auch das Monopol des Dreschens. Der Herr darf nicht von anderen Leuten dreschen lassen und ihn so um seinen Anteil bringen. So ist er mit seinem Herrn gewinnbeteiligt; natürlich beim Verluste ebenso. Er verkauft, was er etwa an Naturalien übrig hat und den Nachwuchs seines Viehes. Er untersteht der Gesindeordnung und der Strafbarkeit2[771] Wie das Gesinde, so konnten auch die Instleute in West- und Ostpreußen bei Verlassen ihrer Wohn- und Arbeitsstelle mit Hilfe der Polizei zwangsrückgeführt werden. Die diesbezüglichen Bestimmungen der preußischen Gesindeordnung von 1810 waren 1837 auf die Instleute in West- und Ostpreußen übertragen worden. Vgl. oben, S. 186, Anm. 43. und besitzt kein Koalitionsrecht.3Zum Koalitionsverbot für Landarbeiter in Preußen siehe oben, S. 188, Anm. 49. Seine Stellung ist ein ResiduumbA(1): Residium des Feudalismus. Materiell kann sie brillant sein oder schlecht; es hängt ganz von den landwirtschaftlichen Fähigkeiten des Herrn ab. Auch regional ist es verschieden. Die Anteile an den Erträgnissen sind nicht überall gleich. In der neuesten Zeit haben die Verhältnisse sich geändert. Grund und Boden wurden kostbarer. Das Weideland wurde Feld. Der Dienstmann durch Geld entschädigt. Die Dreschmaschinen kamen auf; man entschädigte durch Geld für den Anteil. Die Winterarbeit wurde z. B. durch Zuckerrübenbau geringer. Das schuf die Wanderarbeiter. Vom Osten gingen sie nach Sachsen, das landwirtschaftlich bevorzugteste Land Deutschlands,4Gemeint ist die preußische Provinz Sachsen. und der Osten schickte wiederum seine Agenten zur Beschaffung von Arbeitskräften über die Grenze nach Polen. Der Dienstmann [772]wird zum Geldarbeiter. Die Klasse proletarisirt immer mehr. Er geht auch in der Ernährung zurück. Solange der Gutsherr die Naturalien lieferte, war es festgestellt, was auf den Tisch des Tagelöhners kam. Jetzt herrscht das billigste, die Kartoffel. Dieselbe ist als Nahrungsmittel, wenn nicht ein gewisses Quantum Fett dazu kommt, ungenügend; sie führt zum Branntweingenuß. Der Vortragende führt zum Schlusse aus, daß die Zustände den Landarbeiter zur Sozialdemokratie führten, wenn auch der individualistische Landmann dem Kollektivismusc[772]A(1): Kollektionismus dieser Partei kein überzeugter Anhänger würde. Der Massenstreik der Auswanderung werde nicht aufhören, ehe, nach Brechung des Feudalismus, das Aufsteigen dem östlichen Landmanne ermöglicht ist.

[773][A(2) 2][Bericht des Frankfurter Volksboten]

Der vierte Abend der agrarpolitischen Vorlesungen von Prof. Dr. Max Weber behandelte die Landarbeiter.

Der Bedarf an ländlicher Arbeit ist zu den verschiedenen Jahreszeiten sehr verschieden. Die beiden äußersten Gegensätze sind: einerseits künstliche Beseitigung des Saisoncharakters durch Verteilung der Arbeit über das ganze Jahr, wie schon im römischen Sklavenbetrieb des Altertums, andrerseits künstliche Steigerung des Saisoncharakters durch Zusammendrängen der Arbeit auf möglichst kurze Zeiträume, wie in Argentinien mit höchstens 13 Wochen im Jahr beschäftigten Indianern. Der Landarbeiter des Mittelalters, die Hilfskraft des Bauern, war der auf der freien Mark sitzende Häusler, dem Gutsherrn leistete der Kleinbauer Hand-, der Großbauer Spanndienste; in der Ernte wurden auch die Gutshandwerker herangezogen. Der freie Bauer war in eine feste hierarchisch-soziale Organisation eingefügt, der diese Organisation entbehrende unfreie Bauer dagegen war ökonomisch in schlechterer Lage als der Gutstaglöhner. Die Sprengung der mittelalterlichen Agrarverfassung führte in Frankreich mit der rechtlichen Befreiung der Bauern zur Beseitigung der Gutsherrn und zur Mobilisierung des Bodens;1[773] Wie S. 756, Anm. 2. eine isolierte Landarbeiterklasse hat sich hier nicht gebildet. In England bezogen die Pächter ihren Bedarf an Arbeitskräften aus dem durch das massenhafte Bauernlegen besitzlosen Proletariat, aber meist nur während der Saison; daher die mit der englischen Agrarverfassung verbundene chronische Massenarbeitslosigkeit. Die abseits der Gutsbezirke angesiedelten Wanderarbeiter werden, teils durch Agenten, teils durch die Armenpflege des Kirchspiels, an die Pächter vermietet, in letzterem Fall wird bei ungenügendem Lohn zur Lebenshaltung noch hinzubezahlt. Neuerdings erschöpft sich dies Reservoir ländlicher Arbeitskräfte allmählich. In Deutschland besteht im den und Westen wie in Frankreich keine soziale Scheidung, der Kleinbesitzer hilft zur Erntezeit meist nachbarlich aus. Im Nordwesten hat sich mit dem Anerbenrecht eine aristokratische Familiengliederung entwickelt, die jüngeren Geschwister, die früher als Hilfskräfte auf den elterlichen Gütern blieben, bilden immer noch den größten Teil der Landarbeiter in Westfalen, „Heuerlinge“ genannt, [774]die Land gegen Pachtzins erhalten. In Mittel- und Ostdeutschland liegt der Schwerpunkt des Problems der Landarbeiterfrage. Seit der durch eine liberal-demokratische Gesetzgebung herbeigeführten Bauernbefreiung ist die Produktion gesteigert, aber auch der soziale Gegensatz verschärft worden. Die für die aufgeteilten Allmendena[774]A(2): Alimente mit Geld abgefundenen Kleinbesitzer werden zu besitzlosen Proletariern gegenüber dem ökonomisch gestärkten Großbauer.2[774] Im Zuge der Gemeinheitsteilungen, die in Preußen mit dem Gesetz vom 7. Juni 1821 eingeleitet wurden, erhielten die Kleinbesitzer Abfindungen in Geld, während die Bauern durch Um- und Zusammenlegungen ihren Landbesitz weiterhin vergrößern konnten. Auf den Gütern bilden sich durch Wegfall des Spanndienstes 3 Arten von Landarbeitern:3Die Regulierungsgesetzgebung von 1811, 1816 und 1821 sah neben der Allodifikation des bäuerlichen Eigentums die Ablösung der noch bestehenden privatrechtlichen Abgaben- und Dienstpflichten vor, u. a. des sog. Spanndienstes. das weniger beachtenswerte Gesinde für das Vieh, die als Gutstaglöhner ansässigen Instleute, und endlich die durch freien Vertrag von den benachbarten Dörfern geholten Aushilfsarbeitskräfte. Die Instleute sind die ehemaligen freien Kleinbauern. Sie erhalten zunächst freie Wohnung, deren Beschaffenheit je weiter nach dem Osten desto bedenklicher ist, freies Holz und Land; letzteres teils als Gartenland, teils als 2–4 Morgen großes, auf Rechnung des Gutsherrn für den Instmann bestelltes Feld, außerdem noch Weide für 1–2 Kühe. Dafür steht die ganze Familie (in neuerer Zeit 2–3 Arbeitskräfte derselben) ständig zur Verfügung des Gutsherrn; im Notfall muß vom Instmann noch ein „Scharwerker“ gemietet werden. Der Lohn ist ursprünglich Naturallohn, der vom Instmann eingebrachten Ernte, Dreschanteil, Futter für das Vieh, Flachs zum Spinnen und Weben. Der Instmann ist gewissermaßen beteiligter Genosse einer geschlossenen Interessengruppe, die aber der Gesindeordnung und dem Verbot der Koalition4Wie S. 186 und 188, Anm. 43 und 49. untersteht. Die Lage der einzelnen Familien ist je nach Bodenqualität und ökonomischer Tüchtigkeit des Gutsherrn verschieden. Um die Mitte des Jahrhunderts vollzieht sich mit der zunehmenden Bevölkerung eine Veränderung in der Lage des Instmannes. Zunächst wird ihm Weide und Getreideland genommen, dann erhält er statt der Kuh nur eine [775]bestimmte Menge Milch geliefert, was schließlich, gleich der Getreidelieferung, durch Geld abgelöst wird. Neu eingeführte Maschinen verringern den Dreschanteil, so daß schließlich lieber Geld genommen wird. Der Getreidebau weicht vielfach dem Hackfruchtbau (Zuckerrüben), der die Saisonarbeit steigert; in der Provinz Sachsen treten die ersten Wanderarbeiter auf als „Sachsengänger“, von denen heute 100–120 Tausend jährlich vom Osten herüber kommen.5[775] Für das Jahr 1893 wurden weit über 100 000 Wanderarbeiter aus den Gebieten östlich der Oder geschätzt. Kaerger, Karl, Sachsengängerei, in: HdStW 51, 1893, S. 474. Der entvölkerte Osten greift für seinen Arbeiterbedarf über die Grenze nach Polen, die Landarbeiter werden beweglich. An Zahl wie an Bedeutung tritt der Instmann zurück und verwandelt sich durch Geldlohn in einen freien, seine Bedürfnisse kaufenden Arbeiter. Die frühere Interessengemeinschaft mit dem Gutsherrn hat im selben Maße aufgehört, als der Instmann statt der früheren Naturallöhnung mit Geld abgelohnt wird. Er geht jetzt von der früher vom Gut gelieferten kräftigen Körnernahrung immer mehr zur Kartoffelnahrung über und verbessert diese Nahrung durch Branntweinkonsum. Der an niedrigere Lebenshaltung gewöhnte Slave verdrängt als billigere Arbeitskraft den Deutschen. Gegenüber dieser riesigen Proletarisierung des gesammten Untergrundes der sozialen Verhältnisse im Osten wollen die herrschenden Klassen an Gesindeordnung und Koalitionsverbot festhalten, aber der Streik äußert sich nur auf andere, viel verhängnisvollere Weise: durch überseeische Auswanderung oder durch Massenabzüge in die Industriegegenden. Vorschläge, die dem gegenüber zur Beschränkung der Freizügigkeit gemacht worden sind, haben nur bei amtlicher Festsetzung eines auskömmlichen Lohns und der Gebühren, wie in Mecklenburg nach 48,6Am 15. Mai 1848 wurde in Mecklenburg eine Verordnung erlassen, die die „Einsetzung von Schieds-Commissionen zur Feststellung streitiger Verhältnisse der Hoftagelöhner“ vorsah. Die Kommissionen wurden von einem von der Regierung eingesetzten Kommissarius und zwei ortsansässigen Landwirten gebildet. Gesetzsammlung für die Mecklenburg-Schwerin’schen Lande. Zweite Folge, hg. von H. F. W. Raabe, Band 5. – Wismar: Hinstorff’sche Hofbuchhandlung 1857, S. 380–382. einige Berechtigung. Seßhaftmachung der Landarbeiter durch Ermöglichung des Ankaufs von Grund und Boden ist innerhalb der Gutsbezirke bei der jetzigen Agrarverfassung unmöglich, da der hierdurch schollenfest gemachte Landarbeiter dann von den nächsten Gütern erst recht abhängt. Nur bei vollständiger Umgestaltung der Agrar[776]verhältnisse des Ostens, durch Beseitigung der dem Aufsteigen der breiten Massen sich entgegenstellenden Schranken ist dies möglich. Bei weiterer Proletarisierung wird der Landarbeiter auch politischen Anschluß an das städtische Proletariat suchen, wie die letzten Wahlen in Mecklenburg beweisen.7[776] Gegenüber den Reichstagswahlen von 1890 erreichten die Sozialdemokraten in den Wahlen von 1893 ein Mehr von 360 000 Stimmen. Erfolgreich waren sie vor allem in Mecklenburg, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Bayern und Pommern sowie in den mitteldeutschen Kleinstaaten. Lehmann, Hans Georg, Die Agrarfrage in der Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1970, S. 58 und 279f. Der Landarbeiter ist aber im Grunde kein überzeugter Sozialist; gegenüber der beim Industriearbeiter verständlichen Forderung der Überführung aller Produktionsmittel in Gemeinbesitz ist das Ideal des Landarbeiters gerade der Einzelbesitz. Der Fabrikarbeiter will selbstverständlich gerne, daß die Maschinen, Fabriken etc. zum Eigentum aller werden, der Landarbeiter mit seinem Landhunger will dagegen, daß die Scholle, die er bebaut, auch ihm allein gehöre. Die Lösung des Landarbeiterproblems liegt also in der Beseitigung des Feudalcharakters der Agrarverfassung des deutschen Ostens, damit, wie im Westen, ein Aufsteigen von unten nach oben ermöglicht wird. Dann wird auch der Proletarier des Ostens wieder seßhaft werden.

[777][Fünfter Vortragsabend:] Agrarschutz und positive Agrarpolitik

[A(1) 1][Bericht des Frankfurter Journals]

In dem heutigen Schlußvortrage behandelte Professor Weber die Ziele der deutschen Agrarpolitik.

Das westliche Deutschland gehört landwirtschaftlich zu Westeuropa; der Osten zu Rußland. Die Elbe scheidet die beiden so verschiedenen Teile des Reiches. Der Osten ist nicht mehr exportfähig; außerdem fehlen ihm die den Exportabsatz ersetzenden Lokalmärkte und die Industrie. Das naturgemäße Absatzgebiet ist durch die russischen Zölle verschlossen. Der Bau der Zuckerrübe hat zur Zeit noch Zukunft; sie gedeiht aber nicht auf Sandboden, wie ihn der Osten so viel aufweist. Außerdem die Kartoffel und der daraus gewonnene Schnaps. Zur Einrichtung von Viehwirtschaft nach englischem Muster fehlt das Kapital; auch die klimatischen Verhältnisse sind nicht geeignet. – Die Fideikommißbildung nimmt zu, dagegen ist ein Verfall unter den nie in erheblicher Zahl vorhanden gewesenen großen Bauern zu konstatiren. Es bildet sich immer mehr Bauernproletariat. Von letzterem siegt stets die kulturniedrigste, bedürfnißloseste Schicht, die slavische. – Die Position der kleinen Rittergüter ist unhaltbar; nur die Klammern der Hypothekenschulden lassen sie nicht dem Siechtum erliegen. Die sinkende ökonomische Lage hat die Verminderung der Bevölkerung zur Folge; ferner die Denationalisirung; gerade bei den Gütern, die am besten prosperiren, nimmt die deutsche Arbeiterschaft ab zu Gunsten der polnischen. In den Bauerndörfern in den ungünstigsten Distrikten nimmt die Bevölkerung zu; gerade das Gegenteil von dem, was man annehmen zu müssen glaubt. Die Behauptung des Ostens für Deutschland ist die wichtigste Frage der Agrarpolitik. – Die Agrargesetzgebung der 60er Jahre war freihändlerisch.1[777] Gemeint ist der Ausbau des Freihandelssystems in den 1860er Jahren durch Preußen bzw. den Norddeutschen Bund. Handelsverträge wurden geschlossen mit Frankreich, Belgien, Großbritannien, Italien, Österreich, Spanien und der Schweiz. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. – Stuttgart: W. Kohlhammer 19822, S. 980. Nicht das Bürgertum war es, durch dessen Einfluß die Gesetzgebung wirtschaftlich liberal war, wie Minister [778]Miquel sagt,2[778] Möglicherweise bezieht sich Max Weber auf die Auseinandersetzungen zwischen dem Führer der Freisinnigen Volkspartei Eugen Richter und dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel am 21. Januar 1896 im preußischen Abgeordnetenhaus. Dem Vorwurf Richters, Miquel unterstütze in erster Linie die Interessen der Agrarier, hielt letzterer entgegen, daß das bürgerliche Prinzip des laisser faire überholt sei und der Staat nunmehr gezielt zugunsten der bisher benachteiligten ländlichen Grundbesitzer eingreifen müsse. Johannes von Miquels Reden, hg. von Walther Schulze und Friedrich Thimme, Band 4. – Halle: Buchhandlung des Waisenhauses 1914, S. 190f., 196f. sondern die Großgrundbesitzer waren Freihändler, um gegen den wachsenden Industriestaat zu kämpfen. Als die Interessen der Großgrundbesitzer Schutzzölle haben wollten, ward die Gesetzgebung schutzzöllnerisch.3Eine der Hauptursachen des Übergangs zum Schutzzollsystem 1879 war die zunehmende Konkurrenz durch vergleichsweise billige Getreideexporte aus Übersee. Hierauf erörterte der Vortragende die Zolltarife und kam später auf den Antrag Kanitz4Am 7. April 1894 brachte der deutschkonservative Abgeordnete Hans Wilhelm Alexander Graf Kanitz im Reichstag erstmalig einen Antrag auf Errichtung eines Reichsgetreidehandelsmonopols ein. Das Reich sollte den An- und Verkauf von billigem, ausländischem Getreide für das Inland zentral regeln und auf diese Weise die Preise gleichmäßig auf einer bestimmten Höhe halten. zu sprechen. Dieser Plan sei von einem Stubengelehrten ausgeheckt und es sei gut, wenn er recht bald vergessen wäre. – Die Austilgung der feudalen Gliederung des Ostens wäre das einzige Mittel, die Zustände zu verbessern. Prof. Weber rät zum staatlichen Ankauf von Gütern zu Kolonisationszwecken und zuraA(1): die Ansiedelung von Bauern auf dem Domänenareal des Staates. –

[779][A(2) 2][Bericht des Frankfurter Volksboten]

Der letzte Vortrag von Professor Dr. Max Weber: „Agrarschutz und positive Agrarpolitik“ zeigte in überzeugender Weise, wie das Wohl des gesamten Vaterlandes für die Zukunft von einer richtig geführten Agrarpolitik abhängt.

Die Schwierigkeit der deutschen Agrarpolitik liegt vor allem in ihrem Grundproblem, in der Zusammenkoppelung ökonomisch und politisch zurückgebliebener Gebiete mit fortgeschrittenen. Der deutsche Osten ist auf den Export angewiesen, dessen Höhepunkt um die Mitte des Jahrhunderts nach Fallen der englischen Kornzölle erreicht war.1[779] Die englischen Kornzölle wurden 1846 unter der Regierung Sir Robert Peels aufgehoben. Seitdem ist der Export durch russische und überseeische Konkurrenz eingeschränkt, während der Lokalmarkt fehlt. In vielen Gebieten werden nun an Stelle des unrentabel gewordenen Getreides Handelsgewächse gebaut, die eine völlige Umwälzung des Konsums voraussetzen. Die Zuckerrübe hat, abgesehen von der Unsicherheit des Weltmarkts noch eine Zukunft, bei weniger Besteuerung des Zuckers auch für den Konsum im Innern; allerdings braucht sie hauptsächlich Sandboden. Die Kartoffel ist nur als Schnaps und Sprit transportfähig, als Hauptfrucht verschlechtert sie vollends den Konsum. Die anstatt des Feldfruchtbaues aufkommende Viehwirtschaft hat zwei Formen des Übergangs. Durch starke Steigerung der Kapitalintensität führt sie, wie in England, zur rationellen Viehwirtschaft, die aber neben Kapital auch gewisse klimatische, im Osten nicht immer vorhandene Bedingungen erfordert; in den übrigen Strichen führt sie zur extensiven Viehzucht, zur Milchwirtschaft, und mit Beseitigen der Arbeitskräfte zur Entvölkerung. Beim Großbetrieb zeigt sich dadurch folgendes: das überkommene Rittergut, das kein Latifundium ist, ist ökonomisch betrachtet zu klein, es trägt bei weniger Rentabilität keinen Feudalherrn mehr, nur noch einen Landwirt; dagegen ist es technisch für rationell intensiven Betrieb durch Inanspruchnahme starken Kapitalaufwandes zu groß. Aus dieser eigentümlichen Lage entspringt das Schicksal des in seinen breiten Schichten ökonomisch dem Untergang geweihten deutschen Junkertums. Etwas mehr Stabilität zeigt der Bauer des Ostens. Bei dem schwachen Lokalabsatz ist der Export nur bei rationellem Betrieb möglich und dadurch ist die Naturalwirtschaft [780]begünstigt, der Verzehrer seiner eigenen Produkte. Aus diesen Umständen ergeben sich mannigfach verwickelte Erscheinungen im Osten. Zunächst starker Fortschritt der Fideikommißbildung, Hand in Hand mit dem Aufsaugen von bäuerlichem Grundbesitz, was erst in der letzten Zeit etwas zum Stehen gebracht ist. Während früher die Bauern zur Vergrößerung des Betriebes ausgekauft wurden, geschieht dies jetzt aus ökonomischen Gründen zur Bildung eines Rentenfonds. Bei den obersten aristokratischen Schichten zeigen sich auf ihrem festgelegten Boden bereits englische Erscheinungen, Pachtwirtschaft zur Beschaffung des Betriebskapitals. Weiter tritt an Stelle der im Laufe des Jahrhunderts zerfallenen großen Bauernhöfe ein Bauernproletariat, das weder fremdes Kapital noch fremde Arbeitskraft braucht; eine bedürfnislose, kulturniedrigste Schicht schiebt sich langsam von unten in den Bauernstand ein. Die kleinen Rittergüter, die breiten Schichten des östlichen Junkertums, früher bei guten Preisen ein beliebter Spekulationsgegenstand, sind dadurch heute stark mit Hypotheken belastet und bei heruntergehenden Preisen ökonomisch unhaltbar. Einerseits können sie kein neues Kapital aufnehmen, andrerseits aber doch nicht verschwinden, da sie durch die Hypotheken wie mit goldenen Klammern festgehalten werden. In diesen Zuständen liegt das chronische Siechtum der östlichen Agrarverfasssung, das Niederhalten der städtischen Entwicklung beim Fehlen des Lokalabsatzes; auch ist eine Anpassung der Agrarverfassung an die jetzigen Bedürfnisse des Landes bei sinkender Lage nicht mehr möglich. Die Folgen dieser Erscheinungen im Osten sind: starke Entvölkerungstendenz mit Fideikommiß und Junkerbetrieb, Entnationalisierung und Zunahme des Polentums, besonders in Posen und Westpreußen unter den Arbeiterschichten der rationeilst bewirtschafteten Güter sowohl, wie in den Bauerndörfern unfruchtbarer Gebiete. – Was ist nun vom Standpunkte des deutschen Staates zu thun? Er soll den Osten für die deutsche Kultur behaupten und wieder erobern, damit diese Gebiete nicht an Nationen ausgeliefert werden, denen ihre heutige ökonomische Gliederung entspricht. Ein Blick auf die agrarpolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß die Träger des wirtschaftlichen Liberalismus in Deutschland anfangs nicht die Bürger sondern die Junker waren, die als Exporteure von Getreide zuerst freihändlerische Handelsverträge machten gegen die in den 60er Jahren noch [781]schutzzöllnerisch gesinnten Industriellen.2[781] Wie S. 777, Anm. 1. Im Jahre 1877 bestand nach dem Fallen der Eisenzölle in Deutschland beinahe vollständig Freihandel.3Am 1. Januar 1877 wurden die letzten noch bestehenden Zölle auf Eisen- und Eisenprodukte aufgehoben. Bald aber verbündeten sich die Agrarier mit den Großindustriellen gegen das Bürgertum für Getreide- und andere Zölle.4Wie S. 778, Anm. 3. Dies dauerte jedoch nicht lange. Das Getreide des Ostens ist für den deutschen Westen nicht das brauchbarste, auch kommt noch die Fracht hinzu; das Interesse des Junkers bestand jedoch ausschließlich im Getreidezoll, der nun allmählich auf 5 Mk. hinaufging. Die Handelsverträge Caprivis mit dem Heruntersetzen des Zolls auf 3½ Mk.,5Unter der Kanzlerschaft Leo Graf von Caprivis schloß das Deutsche Reich Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, der Schweiz, Serbien, Rumänien und Rußland ab. Im Rahmen der damit verbundenen Senkung der Einfuhrzölle seitens der Vertragspartner setzte das Deutsche Reich seine Agrarzölle von fünf auf dreieinhalb Mark pro Doppelzentner Getreide herab. die jetzt für die Agrarier eine Versicherung gegen weiteres Heruntersetzen bedeuten, brachen vollends das Bündnis. Dadurch erklärt sich nun das Auftauchen des in den letzten Jahren viel erörterten Projektes eines Stubengelehrten, der Antrag Kanitz,6Wie S. 778, Anm. 4. der mit der Festsetzung eines Mindestpreises, unter dem nicht vom Ausland Getreide eingekauft werden darf, Deutschland zu einer Insel innerhalb der Preisbildung des Weltmarktes machen will. Verschiedene Politiker sind noch einseitiger vorgegangen. Die Beseitigung der Grundsteuer ist eine Vermögensverschiebung zu Gunsten der stärker verschuldeten Großgrundbesitzer.7Kern der 1893 von dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel durchgeführten Kommunalsteuerreform war die Aufhebung der Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer als Staatssteuern und ihre direkte Überweisung an die Gemeinden. Dies bedeutete für die selbständigen Gutsbezirke in den sieben östlichen Provinzen Preußens de facto den Erlaß der Grundsteuer. Herzfeld, Hans, Johannes von Miquel, Band 2. – Detmold: 1938, S. 269f. Durch die Landgemeindeordnung8Die Landgemeindeordnung für die sieben preußischen Ostprovinzen vom 3. Juli 1891 ließ neben den Landgemeinden die selbständigen Gutsbezirke weiterhin als Verwaltungseinheiten bestehen. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4, S. 362. wird die obrigkeitliche Stellung des Grundherrn viel zu weit ausgedehnt, unbrauchbare Arbeitskräfte kann er einfach an die Gemeinden abschieben, und deren Schul- und Armenpflege ausnützen; zugezogenen Arbeitern kann er vor dem Erwerb des Unterstüt[782]zungswohnsitzes einfach kündigen. Ähnlich steht es mit der Rentengesetzgebung, bei der der Staat die Rente übernimmt,9[782] Im Zuge der Rentengutsgesetzgebung vom 27. Juni 1890 und vom 7. Juli 1891 wurden Generalkommissionen mit der Bildung von Rentengütern in ganz Preußen betraut. Im Gegensatz zu der 1886 gegründeten Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen verfügten die Generalkommissionen über keinen Fonds zum Ankauf von Gütern, sie waren vielmehr auf die Beaufsichtigung von privaten Parzellierungsverfahren beschränkt. Die Rentengutsgesetze ermöglichten die Übertragung der von den angesiedelten Bauern an den Rentengutsgeber zu zahlenden Rente auf die staatliche Rentenbank, die ihrerseits den Rentengutsgeber in sofort einlösbaren Rentenbriefen entschädigte. Waldhecker, Paul, Ansiedelungskommission und Generalkommission. Ein Beitrag zur inneren Kolonisation des Ostens, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 21. Jg., 1897, S. 215. wodurch unbrauchbare Gebiete wie beim Güterschlächter abgestoßen werden können und in letzter Linie nur das Polentum begünstigt wird.10Im Unterschied zur Ansiedlungsgesetzgebung von 1886 für Westpreußen und Posen folgte die Rentengutsgesetzgebung von 1890/91 rein ökonomischen Gesichtspunkten. Die privaten Rentengutsgeber nutzten die Gesetze in den meisten Fällen dazu, unrentable Außenschläge abzustoßen. Da die mit der Durchführung der Rentengutsgesetze betrauten Generalkommissionen keinen nationalpolitischen Auftrag hatten, war auch die Ansiedlung von Polen preußischer Staatsangehörigkeit möglich. Dagegen ist die Rentengutsbildung bei den nur gut zu heißenden Ansiedlungen in Posen und Westpreußen zweckmäßig. Ein weiteres ungerechtes agrarisches Verlangen ist die Erleichterung der Fideikommißbildung auch für geringere Junker durch Herabsetzen der Maximalgrenze und Fallen des schon jetzt nicht immer erhobenen Fideikommißstempels.11Weber hat, wie sich aus dem Sachzusammenhang ergibt, vom „Herabsetzen der Minimalgröße“ gesprochen. Voraussetzung für die Bildung eines Fideikommißgutes war ein jährlicher Reinertrag von mindestens 7500 Mark; gemäß verschiedenen preußischen Provinzialgesetzen war jedoch bereits ein niedrigerer Ertrag ausreichend, wenn es sich um die Auflösung eines Lehnsverbandes und seine Umwandlung in ein Fideikommiß handelte. In diesem Fall wurde auch auf den ansonsten erhobenen hohen Fideikommißstempel verzichtet. Gierke, Fideikommisse, S. 417. Zwei Wege stehen für die Zukunft offen. Zunächst einfaches Geschehenlassen der gegenwärtigen Entwicklung mit ihren Folgen der Entvölkerung und Entnationalisierung durch fideikommissarische Festlegung des Bodens, die durch weitere Erleichterungen allmählicha[782]A(2): allmälich zu englischen Zuständen mit Pachtbetrieb führt. Für den Einzelnen wäre diese Entwicklung nicht ungünstig, der Fideikommißbesitzer kann auch ohne Getreidezölle wirtschaften, es kostet weiter nichts als Menschen. Daneben kann infolge weiterer Rentengesetzgebung eine Demokratisierung der Gesell[783]schaft mit französischer Erbteilung einhergehen, die zu weiterer Entnationalisierung führt. Gegen den Zerfall der Bauernhöfe würden Gütergeschlossenheit und Anerbenrecht, die sich bei Gefahr der Übervölkerung und Heruntersinken in Hausindustrie, wie in Sachsen, empfehlen, hier zu weiterer Entvölkerung führen. Eine solche Aristokratisierung des Ostens wäre das Billigste für den Staat. Der deutsche Osten muß aber selbst Interesse an Erhaltung und Erhöhung der Volksdichtigkeit haben, die nur durch Demokratisierung der Agrarverfassung eintritt. Hier aber, im freien Verkehr[,] würde voraussichtlich das Slaventum noch mehr eindringen. Daher empfiehlt sich dieser Weg auf keine Weise. Immer mehr zeigt es sich: „Ohne Zubuße der gesamten deutschen Volkswirtschaft ist eine richtige Agrarpolitik im deutschen Osten überhaupt nicht möglich“. Unter den verschiedensten Arten einer solchen Zubuße ist die überkommene Form der Getreidezoll. Eine Steigerung desselben bedeutet aber Konservierung des Feudalismus. Sein Maximum wäre der Antrag Kanitz, der jährlich eine halbe Milliarde aus den Taschen der Brotkonsumenten herausholt,12[783] Der freisinnige Abgeordnete Theodor Barth legte während der erneuten Beratung des Antrags Kanitz im Reichstag eine Berechnung vor, derzufolge die Einführung eines staatlichen Getreidehandelsmonopols einer Belastung der Bevölkerung von 400 Millionen Mark jährlich gleichkäme. Sten. Ber. Band 140, S. 1802. mit welcher Summe eine ganze Provinz Großgrundbesitzer ausgekauft werden kann. Trotzdem würde sich diese Form des Halbsozialismus rechtfertigen, wenn durch sie allein das Nationale im deutschen Osten behauptet werden könnte. Getreidezölle sind aber als Notbehelf nur zu dulden, wenn Deutschland seinen Getreidebedarf dauernd aus eigenen Mitteln decken müßte und könnte. Statt dessen empfiehlt sich daher mit Notwendigkeit eine Umbildung der Agrarverfassung des Ostens, das Austilgen der Feudalgliederung; freilich nur, so schnell sich der Osten veränderten Verhältnissen anpassen kann. Systematischer staatlicher Bodenankauf zu Kolonisationszwecken ist die einzige positive Maßregel im Interesse der Gesamtheit. Allerdings erfordert sie eine gewaltige Zubuße, kostet aber weniger als alles, was dem Antrag Kanitz ähnlich ist, und verinteressiert sich, die nun geschaffenen Steuerzahler können später zurückbezahlen. Die gewaltigen Domänen des preußischen Staates im Osten sind zu einem großen Bruchteil zu Ansiedelungszwecken verwendbar, daneben empfiehlt sich Aufkauf der Exi[784]stenz unfähiger Besitzer. Die Schwäche der jetzigen Ansiedlungskommission liegt darin, daß sie die gekauften Flächen ohne vorherige rationelle Verbesserung parzellieren muß. Bei der neuen Art der Kolonisation müssen die Güter vor der Abgabe an einzelne Käufer verbessert (melioriert) werden. Ohne diese Umbildung ist keine Abhilfe gegen die agrarische Not im Osten vorhanden. Freilich wäre mit dieser Umbildung der Agrarverfassung noch kein Absatz für die Produkte geschaffen, aber die Schranke beseitigt, die durch Zusammenhalten der Feudalverfassung die städtische Entwicklung hemmt. Wie stellt sich nun das städtische Bürgertum, das in unerbittlichem Kampf mit dem Feudalismus lebt, zu dieser staatlichen Maßregel? Mit dem Zerfall der großen Güter rückt das politische Zentrum, der Einfluß im Staat[,] nach der Stadt. Daher der Kampf der Agrarier gegen den ökonomisch vorteilhafteren, aber den Einfluß vermindernden Verkauf des Bodens. Noch ist bei uns das Bürgertum in seinen breiten Schichten von der Herrschaft ausgeschlossen durch den Feudalismus, der Minister und Fabrikanten beherrscht und zur Annahme von Adelstiteln zwingt, der die Arbeiterfrage durch Aufrechthaltung des „patriarchalischen Systems“ verbittert und die Fabrikanten im Standesinteresse zur Stellung gegen die Verbandsfreiheit der Arbeiter zwingen will. Der herrschende Feudalismus sieht in der Größe des Staates nur seine eigene Größe. Das Schlußergebnis des Kampfes wird der Sieg des Bürgertums, der Zusammenbruch des Feudalismus und das Beseitigen der Getreidezölle sein, wenn das Bürgertum den Staat nicht als seinen Staat betrachtet. Die gegenwärtige bürgerliche Agrarpolitik hat nur Interesse an der Niederwerfung des Feudalismus, aber bedauerlich wäre es, wenn nicht das Positive hinzu kommen sollte, die Eroberung des deutschen Ostens für das Deutschtum. Die Ablehnung solcher Forderungen des Staates durch das Bürgertum ist gegenwärtig verständlich; entscheidend aber für die Stellung der abseits des Interessenkampfes liegenden Schichten ist es, ob beim ökonomischen Sieg des Bürgertums eintritt, was eintreten [A(2) 3]soll, daß auch in seinen Händen ebenso wie früher beim Feudalismus gewahrt bleibe: „Die Macht und Größe des Vaterlandes!“

[785][A(3) 2][Bericht der Frankfurter Zeitung]

In seiner gestrigen Schlußvorlesung über Agrarpolitik erörterte Herr Professor Weber die Mittel, welche gegenüber der agrarischen Krisis der Gegenwart bisher vorgeschlagen sind und diejenigen, welche nach seiner Ansicht allein angewendet werden sollten.

Was zuerst die Schutzzölle betrifft, welche freilich niemals etwas anderes als ein negatives Hilfsmittel sein könnten, so unterscheide sich der Protektionismus in der Landwirthschaft von dem in der Industrie sehr wesentlich darin, daß man in der letzteren gegen hochentwickelte Kulturstaaten aufzukommen bestrebt sei, während man in der Landwirthschaft sich gegen die Konkurrenz niederer Kulturen und jungfräulichen Bodens wehren müsse. Ein Übergang vom vorwiegenden Getreidebau zu anderen Kulturen, zu Handelsgewächsen, zu Rüben- und Kartoffelbau, zu intensiver Viehzucht nach englischem Muster oder zu extensiver Weidewirthschaft sei des ferneren vorgeschlagen und vielfach auch beschritten worden. Man verkenne dabei aber vollkommen die materiellen und klimatischen Hindernisse, welche diese Mittel nur in sehr beschränktem Maße anwendbar machten. Die Lage, wie sie heute ist, hätte es bewirkt, daß die durchschnittlichen ostelbischen Rittergüter zu klein wären, um jetzt noch einen sich den staatlichen Funktionen oder einen sich dem standesherrlichen Leben widmenden Besitzer tragen zu können, andererseits aber zu groß wären, um einen rationell-intensiven Betrieb zu ermöglichen. Nicht also etwa, wie in früherer Zeit, um seinen Betrieb technisch rentabler zu machen, sondern um einen entsprechend großen Rentenfonds zu besitzen, kaufe heute der Rittergutsbesitzer den Bauern aus. Die Fideikommisgrün-dung greife seit einer Generation sehr stark um sich. Selbst bei „vorsichtigster“ Heirathspolitik müsse nach mehrfacher Vererbung das Fideikommiswesen aber schließlich zu Pachtverhältnissen in englischer Weise führen. Ein todter Punkt in der Entwickelung wären die kleinen Rittergüter, welche ökonomisch unhaltbar, infolge unseres heutigen Hypothekenrechts eine Parzellirung unendlich erschwerten. Die Folge dieser Zustände ist einmal die Entvölkerung des Ostens und sodann die Polonisirung, welche auf den großen Gütern im Arbeiterstande sich vollzieht und in den schlechter gelegenen Bauerndörfern den deutschen[,] für den weiteren Absatz wirthschaftenden Bauern durch die kartoffelessenden[,] natural[786]wirthschaftlichen Polen ersetze. Übrigens wollte es uns speziell bei dieser Frage erscheinen, als ob der Herr Vortragende seine Erfahrungen in den ehemals polnischen Provinzen zu sehr auf das ganze ostelbische Gebiet übertrüge.1[786]Weber hatte seine militärischen Übungen im Sommer 1888 und im Frühjahr 1894 in Posen absolviert Dabei hatte er auch Gelegenheit gehabt, die Güter der Ansiedlungskommission zu besuchen. Siehe oben, S. 12, Anm. 26. Als das Ziel der deutschen Agrarpolitik formulirte Herr Professor Weber sodann sehr schön die Behauptung und Eroberung des deutschen Ostens für die westeuropäische Kultur. Indem er nun die bisher nach dieser Richtung gemachten Schritte bespricht, weist er sehr richtig darauf hin, daß grade im Gegensatz zu der bekannten Behauptung Miquel’s2Wie S. 778, Anm. 2. bis vor Kurzem unsere Handelspolitik immer im Interesse der großen Besitzer geleitet wurde. Deutschland war freihändlerisch solange die Agrarier es waren. Als Deutschland aus einem Getreide ausführenden Lande dann definitiv zur Getreideeinfuhr und zur zunehmend industriellen Entwicklung überging und die Agrarier Schutzzöllner wurden, da machte auch Bismarck die berühmte Schwenkung.3Wie S. 778, Anm. 3. Noch 1871 hatte sich Bismarck demonstrativ zum Freihandel bekannt. Poschinger, Heinrich von, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Band 2. – Breslau: Eduard Trewendt 1895, S. 216. Das damals entstehende Bündniß zwischen Großgrundbesitzern und Industriellen führte zum Siege des Feudalismus und zur Sprengung des Bürgerthums. Eines der Verdienste der Caprivischen Handelsverträge4Wie S.781, Anm. 5. wäre die Lösung dieses reaktionären Bündnisses. Nun erst konnte sich auch Graf Kanitz mit seinem industriefeindlichen und nach Stubengelehrsamkeit duftenden Antrage herauswagen.5Wie S.778, Anm. 4. Auch die Aufhebung der Grundsteuer, die feudalen Überreste in der Landgemeindeordnung, die Rentengütergesetzgebung wie sie heute ist, und die Erleichterung der Fideikommisbildung wären Folgen einer junkerfreundlichen Politik.6Wie S. 781f, Anm. 7 bis 11. Aber keine weitere Aristokratisirung, sondern eine Demokratisirung der Organisation der ostelbischen Grundbesitzverhältnisse wäre anzustreben. Im freien Verkehr sei dies Ziel jedoch nicht zu erreichen, und deshalb müsse der Staat seine Verwirklichung in die Hand nehmen. Er sollte einerseits den [787]verschuldeten Grundbesitz aufkaufen, melioriren und vorläufig einmal domanial verpachten, während er gleichzeitig, und dieser Vorschlag erscheint uns sehr erwägungswerth, das heutige Domanium einer Kolonisation im Rentengutswege unterwirft.

Nach vielen Richtungen hin ergänzend waren sodann noch die Ausführungen, welche Herr Professor Weber auf Einwürfe der Herren Spier, Hecht und Dr. Zuns bei der Zusammenkunft der volkswirtschaftlichen Sektion des Hochstifts in der Alemannia machte.7[787]Näheres über die Diskussionsteilnehmer Spier, Hecht und Zuns ist nicht bekannt. – Nach Ausweis der Lehrgänge (oben, S. 743, Anm.2), S. 3, fanden die Vorträge im „Dr. Hochischen Konservatorium“ statt. Anscheinend wurde dieser Vortrag oder die anschließende Diskussion in das Haus der Burschenschaft Alemannia verlegt.

Als die Ursache für das endlich beginnende Sinken der Güterpreise bezeichnete er die neuerdings eingetretene Abstinenz der tüchtigen Inspektoren beim Gutskauf, welche vor Abschließung der Handelsverträger[,] im Vertrauen auf bessere Zeiten und bessere Bewirthschaftung, die herunter gewirthschafteten Güter gern übernommen haben. Die innere Kolonisation läge im Interesse der westlichen Arbeiterschaft, weil jeder einzelne, dem in Ostelbien eine Existenz verschafft würde, die Konkurrenz der industriellen Reservearmee vermindere. Für die Zukunft Deutschlands aber wäre schließlich entscheidend, ob nach dem naturnothwendigen Untergang des Übergewichts der feudalen Klassen, da nach seiner Überzeugung die Arbeiter noch lange nicht reif wären, das Heft zu ergreifen, die bürgerlichen Klassen sich fähig erweisen werden, das dann eintretende Vacuum auszufüllen. Freilich fehlten ihm die großen Traditionen des englischen Bürgerthums, freilich hätte es bisher bei uns noch niemals an der Spitze gestanden und 25 Jahre Bismarckschen Cäsarismus hätte es zu überstehen gehabt. Wer aber nicht an die Zukunft des Bürgerthums glaube, müsse entweder zum Feudalismus zurückkehren oder an der Zukunft Deutschlands verzweifeln.

[788][A(4) 1][Bericht Friedrich Naumanns über die ersten drei Vortragsabende]

Es giebt in Deutschland drei Arten ländlicher Besitzverteilung, die gleiche Erbteilung aller Kinder, das Anerbenrecht eines Kindes im Vorzug vor den übrigen, die Verdrängung des Bauerntums durch erblichen, unteilbaren Großgrundbesitz. Im Westen herrscht die volle Erbteilung vor, in der Mitte das erbliche Bauerntum, im Osten der Großgrundbesitz. Diese Dreiteilung ist aus der deutschen Geschichte zu erklären und hängt teilweise mit der Bodenbeschaffenheit zusammen. Wie wirkt nun aber die Verschiedenheit der Bodenverteilung auf die Bevölkerung?

In Hinsicht auf Ernährung liegt der Unterschied darin, daß in der Zwergwirtschaft (z. B. in Baden) im allgemeinen der am weitesten kommt, der am besten handeln und den Bodenima[788]A(4): in Gartenbau ausnutzen kann, und daß man weniger darauf angewiesen ist, mit gering bezahlten Lohnarbeitern zu schaffen, während im Bauernland es sehr wesentlich ist, wieviel an Natural- und Geldlohn an die Arbeitskräfte ausgegeben wird, da der Bauer meist keinen Einfluß auf den Marktpreis seiner Ware ausüben kann, während wiederum im Großgrundbesitz die Neigung vorherrschen wird, die Ernährung der Taglöhner mit Nahrungsstoffen zu besorgen, die nicht wertvoll genug sind für weiteren Transport, also mehr mit Kartoffeln und weniger mit Brot. Wo Geldwirtschaft ist, siegt die größere Intelligenz, und wo Naturalwirtschaft ist, die größere Bedürfnislosigkeit.

In Hinsicht auf Bevölkerungsdichtigkeit ist es selbstverständlich, daß im Bereich des Großgrundbesitzes die wenigsten Menschen wohnen können, aber sehr merkwürdig ist, daß im dünnbevölkerten Osten dennoch die Menschen in weniger Wohnhäuser zusammengepreßt sind. Auf dünn bevölkerter Fläche stehen die vollsten Gebäude. Während im Rheinland auf ein Haus 1,07 bis 1,13 Haushaltungen kommen,1[788]In den Landgemeinden der Regierungsbezirke Koblenz, Düsseldorf, Köln, Trier und Aachen kamen jeweils (in der genannten Reihenfolge) auf ein Haus 1,13, 1,37, 1,07, 1,13 und 1,07 Haushalte. Errechnet nach: Gemeindelexikon, Band 12, S. 248 f. kommen im Kreis Filehne auf l Haus 2,6 Haushaltun[789]gen.2[789]Im Kreis Filehne, Regierungsbezirk Bromberg, Posen, kamen in den Landgemeinden 1,73 und in den Gutsbezirken 1,92 Haushaltungen jeweils auf ein Haus. Errechnet nach: Gemeindelexikon, Band 5, S. 290 f. Je gespaltener der Boden ist, desto mehr Familien haben ihr eigenes Heim.

In Hinsicht auf Kinderzahl ist im allgemeinen die Steigerung im Gebiet des Großgrundbesitzes am größten. Auf den Gütern sind mehr Kinder unter 14 Jahren als auf den Dörfern. Das würde gar kein Unglück sein, wenn die Kinderzahl dann auch in dem Land bleiben könnte, wo sie geboren wird. Das ist aber nicht der Fall. Der Großgrundbesitz vermehrt die Volkszahl, ohne Platz zu schaffen.

Darum ist die Heimatlosigkeit im Osten viel größer als im Westen. Je mehr der Boden verteilt ist, desto mehr hält er die Bevölkerung fest. Die größte Seßhaftigkeit in Deutschland ist am Rhein, während in dem Regierungsbezirk Düsseldorf 71 % bis 78 % der Bevölkerung in dem Bezirk selbst geboren sind,3In den Landgemeinden im Regierungsbezirk Düsseldorf machte der prozentuale Anteil der Kreisgebürtigen an der ortsanwesenden Bevölkerung 75,2 aus. Gemeindelexikon, Band 12, S. 250. Vgl. auch Webers Ausführungen oben, S. 661. sind es in Westpreußen nur 45 % bis 60 % .4Vgl. Max Webers Ausführungen über die Kreisgebürtigkeit in den Landgemeinden und Gutsbezirken in Westpreußen oben, S. 663 f. Selbst die westfälischen Industriebezirke haben keine so unruhige Bevölkerungsbewegung, wie die mit Großgrundbesitz gesegneten Provinzen des Ostens. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Er zeigt, wo eigentlich die ruhigen, beharrenden Volkskräfte liegen. Im Westen wechselt der Boden seinen Herrn, das Volk aber bleibt in seiner Heimat, im Osten behält der Boden den Herrn, das Volk aber muß je länger desto mehr die Plätze wechseln.

Die Auswanderung aus Deutschland ist infolge dieser Verhältnisse da am geringsten, wo große Bodenverteilung herrscht, und da am größten, wo Fideikommisse und sonstige große Güter sind. In Mecklenburg wird nicht aus den Dörfern ausgewandert, sondern aus den Gutsbezirken. Auswanderung von Deutschen und Einwanderung von Polen kennzeichnet die Güter im Osten.

Das Gebiet des Großgrundbesitzes ist der eigentliche Nährboden für das Anwachsen der Riesenstädte. Die Statistik von Berlin zeigt, wie es den Geburtenüberschuß des Ostens aufsaugt, soweit er nicht auswandert. Gerade da, wo man die Einflüsse der Großstädte am [790]meisten beklagt, thut man das meiste für ihr unnatürliches Wachstum.

Sehr merkwürdig ist das Verhältnis des Großgrundbesitzers zum Handwerker. Er unterstützt den Handwerker politisch, weil er ihn als Feind des Liberalismus gut gebrauchen kann, aber in Wirklichkeit gedeiht das Handwerk nur da, wo kein Großgrundbesitz ist, denn der Taglöhner kann keinen kräftigen Handwerkerstand ernähren, und der Gutsherr läßt sich vom Handwerker nur gelegentlich etwas machen. Daher kommt das Darniederliegen aller Gewerbe in den kleinen Landstädten des Ostens. Für den Handwerker ist eine dichtere Besetzung des Landes mit Bauern viel vorteilhafter.

Auch die industrielle Arbeiterschaft hat schweren Schaden durch die Landverteilung des Ostens. Bei uns wird die Reserve-Armee der ungelernten Arbeiter nicht aussterben, sie wird alle Gewerkschaften und anderen Organisationen zu nichte machen oder wenigstens schwer hindern, solange der Osten seine Kinder nicht in dem Lande behält, wo sie geboren werden. Das kann er aber nur, wenn er ein Land für Kleinbauern wird.