MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Zur Rechtfertigung Göhres. 1892
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[106]Editorischer Bericht

Zur Entstehung

Im Juni 1891 erschien die Schrift des Kandidaten der Theologie und späteren Generalsekretärs des Evangelisch-sozialen Kongresses Paul Göhre „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“.1[106]Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. – Leipzig: Fr.W. Grunow 1891. Drei Monate lang hatte Göhre als Fabrikarbeiter gearbeitet, um die Situation der sächsischen Industriearbeiterschaft aus nächster Nähe zu studieren und sich über die „tatsächliche Lage derer, um derentwillen wir eine soziale, eine Arbeiterfrage haben“,2Ebd., S. 1. ein eigenes Bild zu machen. Nach einer Wanderung als Handwerksbursche von Dresden nach Chemnitz, dem Zentrum der sächsischen Industrie, wurde er in einer Maschinenfabrik im Chemnitzer Vorort Kappel als Arbeiter eingestellt.3Zur Planung und Durchführung seines Experiments sowie zur Rezeption seiner Studie vgl. den Kommentar von Joachim Brenning und Christian Gremmels in: Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Mit einem Vorwort und einem Kommentar neu hg. von J. Brenning und C. Gremmels. – Gütersloh: Verlagshaus Mohn 1978, S. 117–157. Göhres Schrift stieß sowohl auf Zustimmung als auch auf scharfe Ablehnung. Einer der Hauptkritiker war der einflußreiche Greifswalder Theologe Hermann Cremer, der seit 1886 als Konsistorialrat der pommerschen Kirchenleitung angehörte und als Haupt der orthodoxen „Greifswalder Schule“ galt.

In der Anfang 1892 erschienenen zweiten Auflage seiner Schrift „Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis“4Cremer, Hermann, Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis. – Berlin: Wiegandt und Grieben 18922. griff Cremer Göhres Forderung nach zeitgemäßen Formen der Vermittlung des Evangeliums scharf an. Gegen Göhres Forderung nach Anerkennung des Grundsatzes, „daß auch ein Sozialdemokrat ein Christ und ein Christ Sozialdemokrat sein kann“, legte er ebenfalls entschiedenen Widerspruch ein.5Ebd., S. 74f. und 86f. Cremer bestritt, daß es, wie Göhre dies nahegelegt hatte, einen ideellen Kern in der sozialdemokratischen Bewegung gebe. Diese Kritik [107]Cremers wiederum veranlaßte seinen Greifswalder Kollegen, den Rechtsgelehrten Ernst Rudolf Bierling, Göhre zu Hilfe zu kommen.6[107]Bierling, Ernst Rudolf, Die Predigtaufgabe unsrer Kirche gegenüber der Sozialdemokratie. Offnes Sendschreiben an meinen lieben Kollegen Herrn Konsistorialrat Professor D. Cremer, in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Nr. 11 vom 10. März 1892, Sp. 231–240.

Martin Rade, der Herausgeber der „Christlichen Welt“, der wie Göhre zu jenem Kreis jüngerer Theologen gehörte, der sich um eine christlich motivierte sozialpolitische Neuorientierung innerhalb der christlich-sozialen Bewegung bemühte, und dessen Redaktionshelfer Göhre von 1888 bis 1890 gewesen war,7Brenning, Joachim, Christentum und Sozialdemokratie. Paul Göhre: Fabrikarbeiter-Pfarrer-Sozialdemokrat. – Marburg 1980, S. V. gab daraufhin Cremer die Möglichkeit, in einem offenen Brief in der „Christlichen Welt“ zu den Vorwürfen Bierlings Stellung zu nehmen.8Cremer, Hermann, Die Predigtaufgabe unsrer Kirche gegenüber der Sozialdemokratie. Offne Antwort an meinen lieben Freund und Gegner, Herrn Geheimen Justizrat Professor D. Dr. Bierling, in: Die christliche Welt, Nr. 45 vom 3. Nov. 1892, Sp. 1035–1040.

Cremer nutzte diese Gelegenheit zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Göhres Schrift, wobei er diesem nicht nur „Frühreife und Unreife“ vorwarf, sondern auch einen grundsätzlichen Mangel an „rechter Sündenerkenntnis“.9Ebd., Sp. 1037 und 1040. Im übrigen hielt er Göhres Versuch, sich zeitweilig in die Arbeitswelt der Industriearbeiterschaft hineinzubegeben, überhaupt für überflüssig, da dieser für die Pfarrer, „die wirklich in und mit ihrer Gemeinde leben“, „nichts Neues gebracht“ habe.10Ebd., Sp. 1035.

Martin Rade forderte daraufhin Max Weber auf, zu der Kontroverse Stellung zu nehmen.11Dies teilt Weber am Anfang des Artikels mit. Ein entsprechendes Schreiben Rades ist nicht überliefert. Weber war Rade vermutlich durch Paul Göhre und Webers Vetter, den Theologen Otto Baumgarten, bekannt. Zudem arbeitete Weber eng mit Paul Göhre bei der Planung einer Landarbeiterenquete durch den Evangelisch-sozialen Kongreß zusammen.

Zur Überlieferung und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Zur Rechtfertigung Göhres“, in: Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Leipzig, Nr. 48 vom 24. November 1892, Sp. 1104–1109, erschienen ist (A). Der Artikel ist gezeichnet mit „Dr. jur. Max Weber".