MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

„Privatenquêten“ über die Lage der Landarbeiter. 1892
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[74][A 3]„Privatenquêten“ über die Lage der Landarbeiter.

1.

Die Anregung, die in diesen Blättern zur allmäligen Inangriffnahme von Privat-Enquêten durch die Geistlichen innerhalb des Bereichs ihrer Erfahrungsmöglichkeit gegeben wurde, hat seitens eines Teils der politischen Presse einen Widerspruch erfahren, welcher ersichtlich weniger der Ausdruck sachlicher Bedenken, als der Besorgnis für die Gefährdung politischer und wirtschaftlicher Machtinteressen war.1[74]Kritik an der Anregung Paul Göhres (siehe oben, S. 71, Anm. 2) wurde vor allem geübt in der Conservativen Correspondenz, Nr. 20 vom 17. Febr. 1892, unter der Überschrift „Privatenquêten“. Dieser Artikel wurde von der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, Nr. 83 vom 19. Febr. 1892, Mo.Bl., nachgedruckt. Paul Göhre druckte ihn dann mit einem kritischen Kommentar versehen in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 3 vom 1. März 1892, S. 2–4, erneut ab. Man kann nur dringend wünschen, daß die gegebene Anregung trotzdem auf fruchtbaren Boden fallen möge, und für kaum ein Gebiet lassen sich in dem Maße positive und dauernd wertvolle Ergebnisse von Versuchen dieser Art erwarten, wie für die Entwickelung der Lage der Landarbeiter. In Kürze mögen beispielsweise einige ganz konkretea[74]A: zentrale ; Vgl. unten, S. 90, Webers Anm. 2. Andeutungen über die Gesichtspunkte, welche hier in Frage kommen, gestattet sein.

Der klassische Boden der „ländlichen Arbeiterfrage“ ist der deutsche Osten. Hier zeigen sich gleichartige, als Massenerscheinungen wirkende Veränderungen, welche in ungleich höherem Maße als anderwärts dem Grundbesitz ebenso wie der Staatsgewalt ernste Probleme von verhängnisvoller Tragweite stellen. Der Grund aller Schwierigkeiten liegt in der Art, wie sich für die Landwirtschaft, speziell für den hier vorwiegenden Großgrundbesitz der Bedarf an Arbeitskräften auf die einzelnen Jahresabschnitte verteilt. Er ist jahraus jahrein zur Zeit der Ernte ein sehr viel größerer als während des gesamten übrigen Jahres, schon da, wo der Getreidebau noch den Schwerpunkt der Wirtschaft bildet, mehr noch bei vorwiegen[75]dem oder wenigstens starkem Kartoffelbau, am stärksten da, wo die intensivste Bodennutzung durch Anbau von Zuckerrüben stattfindet. Die Folge ist, daß die Landwirtschaft neben einem Stamm fester, das ganze Jahr hindurch zur Verfügung stehender Arbeiter für den Sommer und speziell die Zeit der Ernte anderweitiger Arbeitskräfte bedarf, und damit ist die Scheidung der Arbeiter in zwei Hauptkategorien gegeben. Die einen sind die zeitweise und hauptsächlich gegen Geldlohn beschäftigten, aus den benachbarten Dörfern oder der Fremde herbeigezogenen „freien“ Arbeiter. Von diesen soll in der nächsten Nummer die Rede sein. Die andere Kategorie, der feste Stamm dauernd derselben Wirtschaft eingefügter Gutsarbeiter, wird im Osten regelmäßig gebildet teils durch Gesinde, teils durch Leute, welche kleine Kathenhäuser, die ihnen der Gutsherr stellt und zu dem meist ein kleiner Garten gehört, auf dem Gute bewohnen. Die Verhältnisse der letzteren Kategorie geben dem ganzen Osten auf dem Lande sein eigenartiges Gepräge, sie bilden den weitaus interessantesten Bestandteil der Landarbeiter, und es soll deshalb hier gerade von ihnen die Rede sein.

Die historisch überkommene Gestaltung des Verhältnisses ist die: Neben Wohnung und Garten erhalten die „Instleute“ eine bestimmte Fläche Ackerlands zu Getreide-, Kartoffel- und Leinbau, je nach Güte des Bodens 2–6 Morgen, angewiesen, welche der Gutsherr düngt und bestellt. Sie dürfen eine Kuh, zuweilen deren mehrere frei weiden lassen und erhalten für den Winter Futter, daneben meist auch freie Weide für Geflügel und häufig für noch anderes Vieh. Ferner haben sie freies Brennwerk, freie Fuhren, freie Krankenpflege zu beanspruchen. Ihr Lohn ist in sehr eigenartiger Weise so gestellt, daß sie für die Zeit des Getreidedreschens im Winter durch einen Anteil an dem Erdrusch, beim Dreschen mit dem Flegel meist mit dem 15.–16. Scheffel, gelohnt werden, in der übrigen Zeit des Jahres aber entweder für den Arbeitstag einen – natürlich niedrigen – Tagelohn (z. B. 30–40 Pfg., neuerdings mehr) oder einen festen Satz für das ganze Jahr beziehen. Sie sind kontraktlich verpflichtet, sich selbst und meist 1, zuweilen 2 andere Personen, die sogen. „Scharwerker“[,] das ganze Jahr über dem Gutsherrn zur Arbeit und zur Verfügung zu stellen; der Gutsherr seinerseits hat sie das ganze Jahr über zu beschäftigen. Die Scharwerker werden, wenn der Arbeiter arbeitsfähige erwachsene Kinder hat, aus diesen, sonst aus Dienstboten, die er mietet, gestellt. Das Budget eines solchen „Instmanns“ [76]stellt sich also, wenn das Verhältnis so gestaltet ist, wie es als Idealbild sich denken läßt und stellenweise vorkommt, dahin: er hat für Wohnung und Feuerung nichts zu verausgaben, der Bedarf an Kleidungsstücken wird zum großen Teil aus dem selbst gebauten, versponnenen und verwebten Flachse hergestellt, der Bedarf an Gemüse und Kartoffeln ganz aus dem Ertrag des Landes, der Brotbedarf ganz aus dem Landertrag verbunden mit dem Dreschertrag gedeckt, der Bedarf an Milch und Butter, sowie Eier ganz durch die Kuh und das frei gehaltene Geflügel geliefert; von dem auch in unterdurchschnittlichen Jahrenb[76]A: Jahre verbleibenden Überschuß der Kartoffeln und des Dreschertrages futtert er 1–2 Schweine, die er schlachtet, und deckt daraus und aus der Nachzucht des sonstigen weidefreien Viehes einen Teil des Fleischbedarfs, nehmen wir an ein Drittel. Der verbleibende Rest materieller Bedürfnisse, nämlich: der ungedeckte Teil des Bedarfs an Fleisch, dann Colonialwaaren, ein Teil der Kleidung, Schuhe, der notwendige Ersatz des Mobiliars und der Gerätschaften, ist durch Ankauf zu beschaffen, und es wird dazu ein Teil, nehmen wir an die Hälfte des Baareinkommens aus der Löhnung, die der Tagelöhner selbst und die Scharwerker für ihn verdienen, verwendet. Den Rest des baaren Einkommens muß der Tagelöhner, so lange er eigne Kinder nicht hat, zur Löhnung der Dienstboten, die er stellt, verwenden, bis auf einen nicht bedeutenden Betrag, der ihm für die Befriedigung nicht materieller Bedürfnisse verbleibt. So weit geht also sein Budget auf; in normalen und noch mehr in guten Jahren aber erzielt er aus dem reichlichen Ertrag des eignen Landes und des Dreschens des Gutsgetreides bedeutende Überschüsse, die teils durch Verkauf des Getreides, teils durch Mastung von Schweinen zum Verkauf verwendet werden und reine zum Sparen verwendbare Baareinkünfte ergeben.

Der Landarbeiter hat bei diesem Verhältnis ein entschiedenes Interesse an günstigen Getreide- und Viehpreisen, weil er selbst ein kleiner Unternehmer ist; es besteht überhaupt eine Interessengemeinschaft zwischen ihm und dem Gutsherrn, welche ihm täglich unmittelbar vor Augen steht; von der Gutsrente hängt die Gestaltung seines eigenen Budgets ab; Sonne und Wind, Regen, Frost- und Hagelschlag, Viehseuchen und Preisdruck durch wirtschaftliche Kri[77]sen und fremde Konkurrenz entscheiden über seine wirtschaftliche Lage in gleichem Sinne wie über die des Gutsherrn.

Die Frauen und Kinder arbeiten nur in der Ernte einige Wochen mit, sie sind sonst in der eigenen Wirtschaft mit der Wartung des eigenen Viehs, der Bestellung des Gartenlandes, mit Herstellung der Gespinste und Gewebe in einer Weise beschäftigt, welche die denkbar beste Vorbildung für die künftige [A 4]eigene Führung eines Hausstandes und eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes bietet.

Die Lage des Arbeiters verbessert sich – das ist eine der wesentlichsten Seiten der Sache – mit seinen zunehmenden Jahren. Er fängt an als Knecht, das Mädchen als Magd; von den neben vollständig freier Station gegebenen, schon seit Jahren recht hohen Baarlöhnen legen sie zurück, bis die Ersparnis zur Anschaffung einer Kuh und der unentbehrlichen Utensilien zureicht; dann wird geheiratet und eine Inststelle angenommen. Die ersten 1½ Jahrzehnte sind für den jungen Haushalt eine schwierige Zeit; wenn aber erst eigene arbeitsfähige Kinder vorhanden sind, welche, als Scharwerker gestellt, die Haltung eines Dienstboten ersparen und zeitweise auswärts tagelöhnern, beginnt eine zunehmende Verbesserung und die Möglichkeit, zurückzulegen und den Kindern Ersparnisse zu hinterlassen.

Dies das Idealbild des Verhältnisses. Es ist nicht abzuleugnen, daß es in einer diesem Bilde nahe kommenden Gestaltung vorkommt. Aber neuerdings tritt leider die Wirklichkeit, wie es scheint, im allgemeinen in steigendem Maße in Gegensatz dazu, und hier beginnt eine Aufgabe, die nach meiner Auffassung zunächst nur durch die Vorarbeit von Privatenquêten einer Lösung näher geführt werden kann.

Es handelt sich zunächst darum, zu ermitteln, nach welcher Richtung die Lage derjenigen, sozialpolitisch wichtigsten Kategorie der östlichen Landarbeiter, von welcher wir hier sprechen, von vorstehender Schilderung schon jetzt abweicht. Diese Abweichungen können nach den verschiedensten Richtungen hin liegen: es kann das Einkommen an Korn und Kartoffeln unzureichend sein, oder Gelegenheit zur Verwertung der Naturalien durch Verkauf fehlen, oder es können die Preise ungünstig liegen, oder die Leute zu träge zur ordentlichen Wirtschaftsführung sein, oder es kann endlich ihr Gesamteinkommen so knapp bemessen sein, daß es nur in mittleren Jahren notdürftig ausreicht. Immer aber ist die Frage, ob eine solche Abweichung vorhanden ist, und wo sie liegt, der Beantwortung [78]durch die Statistik vollkommen entzogen. Denn es handelt sich nicht um zahlenmäßig nach einer gleichartigen Schablone zu ermittelnde Dinge. Es kommt vielmehr lediglich darauf an, welche Bedürfnisse der Arbeiter durch Ankauf sich beschaffen muß und thatsächlich beschafft, und ob und welche Naturaleinkünfte er andrerseits ganz oder teilweise durch Verkauf verwertet. Diese beiden Fragen stehen absolut im Mittelpunkt, denn aus ihrer Beantwortung ergiebt sich, wohin die wirtschaftlichen Interessen des Arbeiters gravitieren. Es ist dringend erwünscht, so viel irgend möglich, lokale Beobachtungen über die Gestaltung des Arbeiterbudgets in dieser Beziehung zu erhalten. Man hat jetzt eine Enquête über die Lage der Landarbeiter durch Anfrage bei 3000 Gutsbesitzern veranstaltet2[78]Gemeint ist die vom Verein für Socialpolitik 1891/92 veranstaltete Enquete zur Lage der Landarbeiter, für die Weber die Bearbeitung des Materials für das ostelbische Deutschland übernommen hatte. Vgl. Weber, Landarbeiter. ; diese giebt eine große Menge völlig zuverlässiger Zahlenangaben über die einzelnen Bezüge der Arbeiter in fast allen Gegenden des Reichs, allein naturgemäß läßt sie uns in der gedachten wichtigsten Beziehung in 30 von 100 Fällen im Stich. Außerdem aber giebt sie nur die Anschauung wieder, welche tüchtige und zweifellos wohlwollende ländliche Arbeitgeber von der Lage ihrer Arbeiter haben. Die Arbeiter selbst zu fragen, ist, abgesehen von den sehr bedeutenden dazu erforderlichen und nicht vorhandenen Geldmitteln, mit Rücksicht auf die eigenartigen Mißdeutungen und das Mißtrauen, dem dieser Versuch bei den Verhältnissen des platten Landes begegnen würde, zur Zeit leider noch unmöglich. Dagegen sind Geistliche, die das Vertrauen ihrer Gemeinde genießen, durchaus in der Lage, die Auffassung der Landarbeiter über ihre Lage und die Art, wie sie ihr Budget zweckmäßigerweise gestalten können, zu ermitteln. Gerade auf diese subjektive Ansicht der Arbeiter kommt es an. Nicht nur aber für die Frage, wie es den Arbeitern zur Zeit objektiv und subjektiv geht, sondern für die wichtigere, welche Entwickelungstendenzen für die Gestaltung des geschilderten Verhältnisses maßgebend sind, können solche Beobachtungen wertvolle Dienste leisten. Es scheint nämlich, daß die skizzierte Art der Arbeitsverfassung in einer starken Umbildung, teilweise bereits geradezu in einer vollständigen Desorganisation begriffen ist. Allgemein wirtschaftliche Gründe dafür lassen sich mehrere angeben.

[79]Steigt nemlich bei intensiver Wirtschaft der Getreidebau von seiner beherrschenden Stellung herunter und wird bei Einführung des Dampfmaschinendrusches infolge der dabei natürlich eintretenden Herabsetzung des Anteils, den die Arbeiter vom Erdrusch erhalten, der Ertrag für den Drescher ein erheblich geringerer, muß infolgedessen der Mann Brotkorn schon in mittleren Jahren zukaufen, so ist die Interessengemeinschaft in dieser Hinsicht erschüttert und, da der Arbeiter dann an billigen Preisen ein Interesse hat, teilweise in ihr Gegenteil verkehrt.

Hat ferner bei steigender Intensität der Kultur der Landwirt ein steigendes Interesse daran, selbst sein Areal in rationeller Weise zu bewirtschaften, so giebt er dem Arbeiter statt des Landes, auf dem dieser Getreide und – hauptsächlich – Kartoffeln baute, lieber ein festes „Deputat“ an Kartoffeln und Getreide, wie es das verheiratete Gesinde schon immer statt der Beköstigung erhielt. Aus dem „Drescher“ wird ein „Deputant“, der an der Höhe der Gutsernte und, da er selten zum Verkauf etwas übrig behält, an den Getreidepreisen kein Interesse hat. Und wo der Gutsherr nicht darauf hinwirkt, da verlangt der Arbeiter selbst bei sinkendem Ertrage des Dreschens und stark schwankenden Getreidepreisen auch statt des historischen Anteils am Erdrusch ein festes, für seinen Bedarf eben ausreichendes Getreidedeputat und statt des Ausfalls an Korn und Land Erhöhung des Geldlohnes. Weiter bei sinkenden Schweinepreisen verzichtet er auf die unrentable Mastungc[79]A: Mastung, und auf den über seinen eigenen Nahrungsbedarf hinausgehendendA: hinausgehende Betrag der Deputate, die er bis dahin verfuttert hatte, und verlangt dagegen abermals Erhöhung des Geldlohnes. Dann giebt die Zuteilung des Deputats zu Mißhelligkeiten Anlaß: die Leute sind unzufrieden mit der Qualität, auch wechselt der Bedarf – und beide Teile halten es für vorteilhafter, daß der Arbeiter nur nach Bedarf und Wahl sein Brotkorn vom Gut zum Marktpreise oder zu einem festen Preise bezieht, oder auch einfach sein Brot kauft, woher er will und kann, und das Äquivalent ist abermalige bedeutende Erhöhung des Geldlohnes. Die Kuh des Arbeiters, die bis dahin in dessen Stalle stand, für die er freie Weide und ein Futterdeputat bezog, nimmt bei Einführung der Stallfütterung der Gutsherr in seinen Stall. Allmählich wird überhaupt die Kuhhaltung dem Arbeiter lästig: die Kuh kann sterben, sie wird im [80]herrschaftlichen Stall nicht so gefuttert, wie das herrschaftliche Vieh, – oder es scheint ihm doch so –, der Milchertrag wechselt, für die Herrschaft sind die „Leutekühe“ gleichfalls ein Gegenstand geringer Freude: beide Teile ziehen ein festes Milchdeputat oder wiederum eine Erhöhung des Baarlohnes unter Abschaffung der Kuhhaltung vor. Damit ist dann die alte Interessengemeinschaft zerstört und der Gutstagelöhner seines Charakters als Kleinunternehmer völlig entkleidet; er bildet nur noch eine Abart der fremden, gegen Geldlohn beschäftigten Arbeiter.

In zahlreichen Übergangsformen, vielfach gekreuzt durch entgegenwirkende Tendenzen, findet sich diese Entwickelung im ganzen Osten. Fast überall wird der Landgeistliche Gelegenheit haben, mehrere dieser Übergangsformen nebeneinander, von den „Dreschern“ durch die „Deputanten“ hindurch bis zu den „Geldleuten“ zu beobachten.

Nun entstehen mehrere Fragen, die nur auf Grund lokaler Beobachtung zu beantworten sind:

1. Wie stellt sich das Budget dieser verschiedenen Kategorien zu einander? Es scheint im allgemeinen, daß die oben geschilderte Entwickelung von den Arbeitern als eine successive Erleichterung [A 5]empfunden wird. Das ist auch in gewissem Sinne richtig: die schwere Sorgenlast des Kleinunternehmertums wird von ihren Schultern genommen, der Himmel und der Weltmarkt haben einen wesentlich geringeren Einfluß auf die Höhe ihres Bruttoeinkommens. Es ist eine überaus lohnende Aufgabe, die psychologischen Konsequenzen dieser Wandlung zu untersuchen; vorweg aber muß ermittelt werden, wie sich die thatsächliche materielle Lebenshaltung dabei gestaltet und ob nicht etwa die Empfindung, besser gestellt zu werden, zum Teil auf Illusion beruht.

2. Welche Wirkungen haben jene Differenzen nach Seite der Gestaltung des Familienlebens? Dabei ist zu erwägen, daß durch die Entziehung des Landes und der Viehhaltung die Frauen aus ihrer für die Gestaltung des Haushalts maßgebenden Position verdrängt, andererseits ihre Arbeitskraft für den Lohnerwerb frei wird. Wie steht es ferner mit den Wirkungen des Kinderreichtums? Es scheinen hier Differenzen zwischen den einzelnen oben bezeichneten Kategorien zu bestehen, namentlich scheint eine große Kinderzahl für Arbeiter, die wesentlich durch Landgewährung entlohnt werden, gefährlicher zu sein als für andere. Auch hier verschieben im übrigen die moder[81]nen Verhältnisse die alten Grundlagen der Arbeiterwirtschaft: die Kinder, welche früher mit den Jahren dem Haushalt Lohn einbrachten und die Haltung von Dienstboten als Scharwerker ersparten, ziehen jetzt in die Städte; die Verpflichtung zur Stellung von Scharwerkern ist deshalb vielfach geradezu unerfüllbar.

3. Die Hauptfrage ist aber: wie stellen sich die Arbeiter zu den erwähnten verschiedenen Arten der Löhnung? Seitens der Landwirte wird behauptet, daß gerade sie es seien, welche die geschilderte Wandlung wünschten und erzwängen. Ist dies der Fall, so ist von entscheidender Bedeutung, ob das auf der Meinung, daß die Landgewährung oder der Dreschanteil unzulänglich sei, oder auf Abneigung gegen die Interessengemeinschaft mit dem Gutsherrn und die daraus folgende relative Gebundenheit oder endlich auf Abneigung gegen die Unbequemlichkeit und das Risiko der eigenen Wirtschaftsführung beruht. Und das ist wiederum nur lokal und weit weniger durch Feststellung objektiver Thatsachen, als durch Erkundigung subjektiver Meinungen zu ermitteln; und wenig Persönlichkeiten sind in dem Maße in der Lage zu solchen Ermittelungen als die Landgeistlichen.

Es sind anscheinend sehr kleine Momente von nicht zentraler Natur, die damit berührt sind, aber wenn diese Wandlungen bei Hunderttausenden eintreten und die Interessen der Gutsherrn und ihrer Gutsarbeiter, wie es scheint, sich mehr und mehr zu scheiden beginnen, so ist die Erscheinung als Ganzes ein Moment von sozialpolitisch gewaltiger Bedeutung.

Haben wir bisher von Verhältnissen gesprochen, welche historisch überkommen, jetzt in der Auflösung begriffen sind, so wird sich die weitere Betrachtung denjenigen Neubildungen zuzuwenden haben, welche auf dem Gebiet des ländlichen Arbeitsverhältnisses im Osten zu konstatieren sind. |

[A 3]2.

Die ländlichen Arbeiter, welche man im Gegensatz zu den im vorigen Artikel behandelten, als „freie“ zu bezeichnen pflegt, [A 4]diejenigen also, welche nicht auf festen Jahreskontrakt angenommen werden, demgemäß auch regelmäßig keine Wohnung auf dem Gute erhalten und in der Hauptsache (nicht ausschließlich) in barem Gel[82]de abgelohnt werden, nehmen eine von den „Instleuten“ wirtschaftlich und sozial sehr abweichende Stellung ein. Es ist zwar selbstverständlich, daß, im großen Zusammenhang betrachtet, auch ihr Schicksal mit dem Wohl und Wehe der Landwirtschaft eng verknüpft ist: eine Depression, welche die letztere zu einer Einschränkung der verwendeten Arbeitskräfte zwänge, würde innerhalb einiger Jahre einen nach vielen Hunderttausenden zählenden Bruchteil brodlos als „industrielle Reservearmee“ in die Städte werfen und beispielsweise die Besserung der Lebenslage, welche die Industriearbeiterschaft sich von der Aufhebung der Getreidezölle verspricht, in kurzer Zeit zu nichte machen. Allein während die Interessengemeinschaft mit dem Arbeitgeber dem Drescher täglich unmittelbar vor Augen geführt wird und die nächstliegenden Interessen jedes einzelnen, sein tägliches Brod, bei dem Ausfall der Ernte, dem Schwanken der Getreide- und Viehpreise in Frage steht, liegen die unmittelbaren Interessen des „freien“ Arbeiters, welcher seinen Nahrungsbedarf zum weit überwiegenden Teil durch Kauf zu beschaffen hat, nach der entgegengesetzten Seite, und es ist nicht mehr als selbstverständlich, daß in dem Konflikt der unmittelbaren „Messer- und Gabelfrage“3[82]Der Chartistenführer Joseph Rayner Stephens erklärte 1838 auf einer Versammlung bei Manchester, daß der Chartismus eine „Messer- und Gabel-Frage“ sei, daß die Charte „gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit“ bedeute. Erstmalig in deutscher Übersetzung zitiert in: Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. – Leipzig: Otto Wigand 1845, S. 277. des einzelnen mit den Interessen der Gesamtheit der Standesgenossen die letzteren nicht zum Bewußtsein und jedenfalls seitens des einzelnen nicht zur Berücksichtigung gelangen können. Die Landwirte sind nun fast einstimmig der Ansicht, daß die materielle Lage dieser sogenannten freien Arbeiter meist eine wesentlich ungünstigere ist als diejenige der im vorigen Artikel geschilderten Instleute.4Oben, S. 74–81. Zweifellos ist, daß sie meist für den Landwirt billiger zu stehen kommen, wenn man nämlich die Naturaliengewährungen an die Instleute in Geld umrechnet. Das ist nun allerdings, da die Gewährung von Barlöhnen bei der Natur des Betriebes für den Landwirt spezifisch schwieriger ist, unrichtig, nichts destoweniger aber steht fest, daß der Instmann an Naturalien und unmittelbaren Lebensbedürfnissen im allgemeinen weitaus mehr bezieht, als der freie Arbei[83]ter durch Ankauf aus seinem Barlohn sich beschaffen könnte. Der Feststellung bedürfen aber die Fragen:

1) Inwieweit der vorhandene Interessengegensatz zwischen den kontraktlich gebundenen und den freien Arbeitern diesen subjektiv zum Bewußtsein gelangt, ob namentlich allgemein – wie es zweifellos stellenweise der Fall ist – die freien Arbeiter bereits erfüllt sind von dem in großartiger Entwickelung begriffenen gemeinsamen Klassenbewußtsein des modernen Proletariats, welches Stadt und Land zu umfassen strebt, oder ob doch dessen Vorstufe, der spezifische Selbständigkeitsdrang des modernen Arbeiters, entwickelt ist, und ob also

2) es auf diesem mehr ideellen Momente beruht, daß ein großer Teil der Arbeiterschaft die Position des freien Arbeiters mit seiner Geldlöhnung derjenigen des Instmannes vorzieht, oder auf dem Glauben, materiell besser gestellt zu sein (und worauf eventuell dieser Glaube beruht), oder endlich auf der rein äußerlichen Abneigung, eine Verpflichtung zur ununterbrochenen Arbeit während des ganzen Jahres zu übernehmen. Wo beide Kategorien nebeneinander bestehen, muß ferner ermittelt werden, ob sich Unterschiede im Küchenzettel der freien Arbeiter gegenüber den Instleuten bemerkbar machen, namentlich hinsichtlich der Fleischnahrung, vor allen Dingen aber, wie sich das Familienleben beider Kategorien zu einander verhält. In bezug auf den Umfang der Frauenarbeit differieren beide Kategorien häufig erheblich und zwar in sehr verschiedenem Sinn; es muß ermittelt werden, worauf dies beruht und welche Folgen es hat, besonders also, welche Stellung im Hause die Frau des Instmanns, die einem landwirtschaftlichen Kleinbetriebe vorzustehen hat, namentlich verglichen mit den Frauen solcher freien Arbeiter einnimmt, welche einen nennenswerten eigenen Wirtschaftsbetrieb, insbesondere eigenen Grund- und Pachtbesitz nicht haben.

Diese besitzlosen Arbeiter bilden im Osten, abgesehen von Mecklenburg und einigen nicht umfangreichen Distrikten, bekanntlich den weitaus überwiegenden Teil der freien Arbeiter. Es ist nun bekannt, daß neuerdings eine energische, überwiegend (nicht durchweg) auf idealistischen Gesichtspunkten und einem warmen Interesse an der Zukunft der Landarbeiter beruhende Agitation zu gunsten der sogenannten Seßhaftmachung der letzteren sich geltend macht.5[83]Gemeint ist die Debatte über die sogenannte „innere Kolonisation“ sowie die seit 1890 [84]verstärkt im deutschen Bereich einsetzende Agitation zur Einführung eines Heimstättenrechts nach amerikanischem Vorbild. Der Begriff „innere Kolonisation“ umfaßt alle gesetzgeberischen Maßnahmen, die unter dem Eindruck der Abwanderung der Landarbeiter in die Industriebezirke teils aus nationalpolitischen, teils aus arbeitsmarktpolitischen Motiven in vielen europäischen Ländern ergriffen wurden. Ziel war die Vermehrung des bäuerlichen Mittelstandes und die Seßhaftmachung der Landarbeiter. Zur Kolonisationsgesetzgebung gehörten in Preußen das Ansiedlungsgesetz für Posen und Westpreußen vom 26. April 1886 und die Rentengutsgesetze (für ganz Preußen) vom 27. Juni 1890 und 7. Juli 1891. – Die Heimstättenbewegung erstrebte die Errichtung kleiner und mittlerer Bauernstellen, die vor Verschuldung und Zwangsvollstreckung durch Festsetzung eines Besitzminimums geschützt werden sollten. [84]Von ganz eminenteme[84]A: eminenten Interesse für die Erörterung dieser Frage wäre es, wenn die jeder statistischen Feststellung und überhaupt jeder nicht auf lokaler Erkundigung beruhenden Ermittelungsweise unzugängliche thatsächliche Lage der jetzt schon vorhandenen grundbesitzenden Arbeiter einigermaßen festgestellt werden könne. Das Urteil unbefangener Landwirte hierüber geht in denjenigen Gegenden, wo der Großgrundbesitz stark vorherrscht, sehr häufig dahin, daß diese Kategorie von Leuten die ungünstigst gestellte sei. Ist die Wirtschaft nicht ganz geringfügig, so hat der Arbeiter naturgemäß die Tendenz, nur eigenes, nicht fremdes Brod zu essen[,] und hungert sich durch, bezw. wird zum Feld- und Forstdiebe;fA: Forstdiebe, muß er notgedrungen auf Arbeit gehen, so ist die Scholle, an der er klebt, für ihn hinderlich in der Auswahl der Arbeitsstellen;gA: Arbeitsstellen, er steht dem Lohnangebote des Arbeitgebers relativ am machtlosesten gegenüber, und es besteht stellenweise die Gefahr, daß sich das schrecklichste der Schrecken entwickelt: ein Proletariat von Grundbesitzern, Menschen, denen der ererbte Besitz der heimatlichen Scholle zum Fluch geworden ist. Das scheint wenigstens stellenweise anders in Gegenden zu liegen, wo ein günstiges Mischungsverhältnis zwischen großem und mittlerem Besitz obwaltet. Es kann das seinen Grund nicht darin haben, daß die materielle Lage der Arbeiter beim mittleren Grundbesitz im allgemeinen etwa eine bessere wäre. Das Gegenteil ist der Fall: die Bezahlung und eventuell die Beköstigung durch die Bauern stehen zur Zeit, ganz überwiegend wenigstens, nach Höhe bezw. Qualität hinter den entsprechenden Leistungen des Großgrundbesitzes erheblich zurück und sind bei ausschließlichemhA: ausschließlichen Vorkommen bäuerlichen Besitzes, im Osten wenigstens, oft geradezu klägliche. Nichtsdestoweniger scheint die allgemeine Lage [85]der grundbesitzenden Arbeiter, stellenweise auch der Arbeiter überhaupt, in subjektiver Beziehung beim bäuerlichen Besitz, besonders aber da, wo bäuerlicher und Großgrundbesitz in der Nachfrage nach Arbeitern konkurrieren, eine relativ zufriedenstellende zu sein. Die Gründe für dieses auch hier im Vordergrunde des Interesses stehende subjektive Moment sind für das am Tisch des Bauern mitessende Gesind bekannt und naheliegend, für die übrigen Kategorien von Arbeitern dagegen der Ermittelung bedürftig. Sie liegen – das ist kaum zweifelhaft – nicht auf rein materiellem Gebiete, sondern sind mindestens teilweise der ideelle Reflex der sozialen Schichtungsverhältnisse auf den Einzelnen: der tief entmutigende Gedanke, daß es für ewige Zeiten nur „Herren und Knechte“ auf Erden gebe, lastet nicht auf demi[85]A: den Landarbeiter, welcher den schweren Existenzkampf des bäuerlichen Besitzers, der physisch arbeitet wie er selbst, vor Augen hat, während der Arbeiter des Großgrundbesitzers nicht zu übersehen vermag, wie es um das ökonomische Fundament des Betriebes, in dem er ein untergeordnetes Glied bildet, bestellt ist; bedarf es doch auch für das Auge des Nationalökonomen und Technikers sehr scharfen Zusehens, um aus dem Totaleindruck des allgemeinen Klagens über die steigende Not die entscheidenden Züge herauszufinden und darnach die Prognose zu stellen: daß die Lage des Mittel- und Kleinbetriebes auf dem Lande, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, trotz alledem eine sehr viel günstigere ist, als diejenige des Großbetriebes, der zum TeilkA: teil einer trüben Zukunft entgegengeht. Die Ermittelung, wie es um die Lage der Landarbeiter in jenen Distrikten gemischten Besitzstandes bestellt ist, [A 5]und der Vergleich mit andern ist aber deshalb wichtig, weil sie für die praktische Beantwortung der Frage von wesentlicher Bedeutung ist: ob nicht die vielbesprochene „Seßhaftmachung“ der Landarbeiter überall da nur ein (nicht einmal schöner) Traum ist, wo nicht durch kolonisatorische Schöpfung bäuerlicher Stellen das einseitige Vorwiegen des Großbesitzes im Osten bereits vorher erheblich modifiziert worden ist.

Die Entwicklung der „freien“ Landarbeiterschaft des Ostens nimmt aber auch ganz überwiegend einen Verlauf, welcher der Tendenz der Verknüpfung der Landbevölkerung mit dem heimatlichen Boden entgegengesetzt ist. Den energischen Widerstand der Arbei[86]ter allmählig überwindend, haben die Besitzer in steigendem Maße die Einführung des Akkordsystems mindestens für die Erntearbeiten, teilweise schon für den überwiegenden Teil aller Feldarbeiten, durchgesetzt. Die Abneigung der Arbeiter gegen diese Löhnungsform schreiben die Besitzer meist lediglich deren Trägheit zur Last. Es muß untersucht werden, in wie weit mit Recht, namentlich also, welche Konsequenzen für den Haushalt es hat, und ob nicht etwa die Planmäßigkeit der Wirtschaftsführung durch die ceteris paribus stets geringere Berechenbarkeit der Akkordlohneinnahme gegenüber dem festen Tagelohn beeinträchtigt wird, und wie dies subjektiv wirkt. Eine andere Konsequenz des Akkordlohnsystems läßt sich klarer erkennen: die stärkere Mobilisierung der Arbeiterschaft. Die Akkordsätze fordern, da sie meist je nach dem Saatenstand von Jahr zu Jahr verschieden angesetzt werden, am meisten zur Anstellung von Vergleichen mit den Sätzen anderer Gegenden, vor allen Dingen mit den Sätzen der Industrie, auf und legen den Gedanken des Berufswechsels an sich nahe; denn sie beseitigen wieder das Moment der (scheinbaren) Stabilität in den Löhnen, welches gerade den einzigen wesentlichen Vorzug der fest in Geld abgelohnten Arbeiter gegenüber den Dreschern bildete. Wie sie auf die Höhe des verdienten Lohnes wirken, ist überaus schwer zu erfahren und teilweise, aus nicht hinlänglich ermittelten Gründen, außerordentlich verschieden: in Schlesien haben sie anscheinend den außerordentlich niedrigen Stand der Tagelohnsätze gerade in den bestsituierten Gegenden mit verschuldet, anderwärts das Lohnniveau erheblich gehoben, so teilweise in Mecklenburg. Immer aber ist von wesentlichstem Interesse nicht die Thatsache der Lohnhöhe an sich, sondern die Frage, ob mit dem betreffenden Lohnsystem eine angemessene, geordnete Wirtschaftsführung möglich ist, ob sie thatsächlich stattfindet, und ob sich die Leute dabei wohl fühlen, oder weshalb dies – nach deren subjektiver Auffassung – etwa nicht der Fall ist.

Steht also auch hier wesentlich die Feststellung subjektiver Momente im Vordergrunde, so ist eine andere Erscheinung auch nach Seite des objektiven Thatbestandes noch in Beobachtung zu ziehn: die Verhältnisse der Wanderarbeiter. Durch eine eingehende Bearbeitung1)[86]In Dr. Kärgers besonders für die Herren Geistlichen des Ostens sehr zu empfehlenden Schrift: „Die Sachsengängerei“. Berlin, Parey, 1890. sind wir über die Lage der sogenannten „Sachsengänger“, [87]d. h. der (im Wesentlichen) nach den Rübengegenden Sachsens alljährlich für die Sommermonate abwandernden östlichen Bevölkerung in der Hauptsache in dankenswerter Weise aufgeklärt worden. Mag man nun über die Erscheinung denken wie man will – man darf sich hier durch die Ansichten der östlichen Grundbesitzer, welche naturgemäß die Schmälerung der ohnehin knappen Arbeitskräfte gerade in der arbeitsreichen Zeit nicht eben mit freundlichem Auge ansehen, nicht allzu ausschließlich beeinflussen lassen –, soviel ist sicher, daß sie in ihrer Vereinzelung nichts unmittelbar Bedrohliches und manche günstige Seiten haben würde. Allein es scheint, daß sie nur ein einzelnes Glied einer im Fluß befindlichen Bewegung ist, welche die gesamte Arbeitsverfassung des Ostens ergriffen hat. In wachsendem Maße, in den letzten Jahren anscheinend rapide steigend, macht sich, von Oberschlesien, den unteren Warthe-Gegenden und innerhalb der einzelnen Provinzen von zahlreichen lokalen Zentren ausgehend, eine Wellenbewegung der ländlichen Arbeiterschaft bemerkbar. Keineswegs nur dahin, wo Rüben und Hackfrucht gebautl[87]A: gebraucht werden und wo eine teilweise Zuhilfenahme zuwandernder Arbeitskräfte in der Ernte ein zur Zeit unabweisliches wirtschaftliches Bedürfnis ist, sondern auch zur Getreideernte und teilweise zu allen Sommerarbeiten überhaupt wandern alljährlich Scharen von Arbeitern aus einem Kreise in den benachbarten, aus diesem wieder die dort heimischen Arbeiter in den nächsten und so fort, und es ist auffällig, daß mehrfach gerade in Gegenden, von welchen die stärkste Abwanderung stattfindet, auch die stärkste Zuwanderung zu beobachten ist, ja daß teilweise allsommerlich zwischen benachbarten Kreisen ein Austausch von Arbeitskräften stattfindet. Gekreuzt wird diese Bewegung einerseits durch den in geradezu bedrohlichem Umfang stattfindenden Abzug vom Lande in die großen Städte, andererseits durch die fast überall beginnende und jährlich sich steigernde Überflutung des Ostens mit russisch-polnischen, im Sommer periodisch herantransportierten Wanderarbeitern beiderlei Geschlechts.

Die Verhältnisse dieser Wanderarbeiter sind nun bisher keineswegs hinlänglich festzustellen. Nicht selten befinden sich beide Teile, nachdem einige unangenehme Erfahrungen überwunden sind, subjektiv ganz wohl dabei. Die Ersetzung der einheimischen Arbeits[88]kräfte durch fremde involviert häufig (natürlich keineswegs in der Regel) für den Gutsbesitzer eine Ersparnis. Die fremden Arbeiter werden, wo das Verhältnis größere Dimensionen annimmt, in verschiedener Art untergebracht, teilweise in wenig menschenwürdiger Weise, teilweise – wo das Verhältnis bereits genügend entwickelt ist – in rationell errichteten, eine Gefährdung der Sittlichkeit thunlichst ausschließenden Kasernen, fast immer aber selbstverständlich in Wohnungen interimistischen Charakters. Sie werden meist beköstigt, bezw. es werden ihnen Materialien zur Beköstigung verabfolgt, die meist weit hinter dem, was das Gesinde an Kost erhält, zurückbleiben, und sie erhalten daneben Barlohn, der nur stellenweise höher ist als der den einheimischen Arbeitern gebotene, und häufig auch nicht einen höheren Wert repräsentiert als das, was die Wanderarbeiter in ihrer Heimat alles in allem gerechnet an Lohn verdienen können. Vielmehr beruht auf Seiten der letzteren der Drang zur Wanderarbeit augenscheinlich zum Teil auf einer Illusion, welche durch die relativ hohen Barbeträge erregt wird, die der Arbeiter am Schlusse des Arbeitsverhältnisses mit nach Hause nimmt. Diese Barbeträge sind aber erspart durch das niedrige materielle und namentlich sozialethische Niveau der Lebenshaltung, welche die Kasernenexistenz des Arbeiters den Sommer über mit sich brachte, eine Lebenshaltung, zu welcher er in der Heimat in seiner eigenen Familie sich niemals bequemen würde, – mit Ausnahme der Russen und oberschlesischen Polen, die das niedrige Kulturniveau ihrer Heimat in die Arbeitsdistrikte mit hineintragen. Da nun ein Teil (nicht die Mehrzahl) das so erraffte kleine Kapital in der Heimat zur Innehaltung einiger Monate „Ferien“ im Winter nach der oft sehr angespannten Erntearbeit benutzen, so ergiebt sich als Bilanz des Verhältnisses: für den Sommer eine Herabdrückung der Lebenshaltung des Arbeiters, welche ihn veranlaßt, im Winter seine Arbeitskraft teilweise brach liegen zu lassen.

Es ist nun von Wichtigkeit[,] zu wissen, inwieweit dies freilich nur lokal zutreffende Bild in dem einen oder dem anderen Zuge allgemeiner anwendbar ist[,] und die sittlichen Konsequenzen des Wanderarbeitertums für das Familienleben sowie das Empfinden des einzelnen Arbeiters und die zu Grunde liegenden, teilweise nicht materiellen Ursachen der Erscheinung durch eingehende [A 6]Lokalbetrachtungen weiter erkundet zu sehen, vor allem aber, die Stellungnahme der einheimischen Arbeiterschaft gegenüber den importier[89]ten fremden Arbeitskräften kennen zu lernen. Daß die vielfach zweifellos vorhandene Mißstimmung der ersterenm[89]A: letzteren nicht in energischerer Weise zum Ausdruck kommt, liegt zum Teil an dem Fehlen jeglicher Organisation der Landarbeiterschaft. Es ist aber ferner zweifelhaft und höchst wissenswert, wie diese Mißstimmung, soweit sie vorhanden ist, psychologisch zum Ausdruck gelangt, ob namentlich der Einführung ausländischer Arbeitskräfte mit niedriger Lebenshaltung gegenüber ein Klassenbewußtsein, sei es auf nationaler Grundlage, sei es auf grund der Kulturdifferenz, bei den einheimischen Arbeitern sich geltend macht, oder sich lediglich stumpfe Indolenz zeigt. Das letztere wäre, mag man im übrigen vom Standpunkt der Landwirtschaft die Zuziehung der fremden Arbeiter zur Zeit für unentbehrlich halten, keinenfalls normal und erfreulich. Welche von beiden Möglichkeiten aber vorliegt, ist wiederum nur auf grund lokaler Ermittelungen festzustellen.

Das bisher skizzierte Gesamtbild der Entwickelung zeigt also manchen zweifellos unfreundlichen Zug. Wir sehen einen Zerfall der Interessengemeinschaft zwischen Grundbesitzer und Arbeiter durch Übergang zur reinen Geldwirtschaft, Loslösung der Interessen der Arbeiter von der Wirtschaft der Gutsherren, Zusammenschrumpfen des selbstbewirtschafteten Landes und teilweisen Wegfall der materiellen Grundlagen des Arbeiterhaushalts an Viehhaltung und Naturalien, Zunahme des schwankenden Faktors im Budget durch vermehrte Anwendung des Akkordlohnsystems, teilweisen Ersatz der heimischen Arbeitskräfte durch eine fluktuierende Bevölkerung von Wanderarbeitern und durch Import fremder Arbeiter und ein ungesundes Anschwellen des Zuzugs in die Städte. Mit einem Wort: wir sehen, wenn die allgemeinen Tendenzen der Entwickelung vorstehend wenigstens im allgemeinen richtig wiedergegeben sind, – und es ist wohl zu beachten, daß die Farben zu diesem Bilde den Angaben der Arbeitgeber entnommen sind – ein Bild fortschreitender Zersetzung der historisch überkommenen Arbeitsverfassung in den landwirtschaftlichen Großbetrieben.

Die materiellen und wirtschaftlichen Gründe dieser Entwickelung sind uns zum überwiegenden Teile bekannt; dagegen wird es die Aufgabe lokaler Privatenquêten sein müssen, die psychologischen [90]Momente, welche teils als mitwirkende Ursachen, teils als Begleiterscheinungen und Folgen dieser Umgestaltung hervortreten, zu ermitteln. Dazu sind nur lokale Erkundungen imstande, und ihre Aufgabe ist um so wichtiger, als dieser subjektive Thatbestand in erster Linie für die weitere Entwickelungstendenz entscheidend ist, für die Frage also: welche Entwickelung der Arbeitsverfassung für die Zukunft wahrscheinlich, erwünscht und möglich ist. Keime einer Neubildung zeigen sich mehrfach, und es soll in einem Schlußartikel2)[90]Im ersten Artikel über dieses Thema, in Nr. 4 d[ieses] Bl[attes] findet sich neben einigen andern geringem Druckfehlern auch eine größere Verwechslung. Es muß dort in Zeile 13 „konkrete“ statt „zentrale“ heißen. darauf noch kurz eingegangen werden. |

[A 1]3.

Der bisher geschilderten Tendenz zu immer weitergehender Loslösung des Landarbeiters vom Grund und Boden stehen, bisher nur vereinzelt, Spuren einer andersartigen Entwickelung gegenüber. In fast allen östlichen Provinzen, am meisten aber da, wo die Umbildung der Arbeitsverfassung zur rein geldwirtschaftlichen relativ weit fortgeschritten, oder wo die Konzentration des Bodens in wenigen Händen und der Gegensatz gegen die völlige Besitzlosigkeit der Landarbeiter am schroffsten ist, – so (ersteres) in Teilen von Pommern (Kr[eis] Lauenburg) und (letzteres) in Oberschlesien (Kr[eis] Pleß) – finden sich die teilweise schon älteren Ansätze zur Bildung eines tagelöhnernden Pächterstandes. Dem Manne wird zu relativ niedrigem Preissatz eine kleine Wirtschaft, Haus, Stallung und mehrere, bis zu zehn, Morgen fest abgegrenztes Land und daneben auskömmliche Viehweide oder sonstige Gelegenheit zur Beschaffung des Viehfutters, als des unentbehrlichsten Erfordernisses jeder selbständigen Arbeiterwirtschaft, verpachtet, die Gespanne des Gutsherrn zur Bestellung zur Verfügung gestellt, in der Ernte sein Korn im ganzen mit heruntergemäht, für beides eine Entschädigung berechnet, und von ihm und dem Herrn die Verpflichtung übernommen, gegen den Durchschnittstagelohn der freien Arbeiter auf dem Gute zu arbeiten, bezw. Arbeit zu geben. Oder – ein im Osten bisher [91]nur vereinzeltes, im Nordwesten Deutschlands bereits einheimisches Verhältnis – es wird ihm, bei größerem Umfang des verpachteten Areals, nur die Verpflichtung zur Erntearbeit gegen die Verpflichtung des Gutsherrn, sein Gespann zur Bestellung des Pachtlandes herzugeben, auferlegt, oder es wird einfach den im übrigen unter den bisherigen Bedingungen arbeitenden eigenen oder fremden Tagelöhnern die Möglichkeit gewährt, Land vom Gute zu einem niedrigen Satze zu erpachten. Die Gestaltung kann sehr verschieden sein, sofern nur das Moment des Pachtverhältnisses eine wesentliche Bedeutung hat. Die vom Arbeiter geschuldete Pacht und ein Teil des ihm geschuldeten Geldlohns rechnen sich dann gegeneinander, so daß äußerlich der Unterschied gegen das Verhältnis eines mit Land reichlich bedachten und dafür im Deputat verkürzten Instmannes nicht erheblich erscheint, und man jedenfalls einen prinzipiellen Gegensatz dieser Erscheinung zu dem bestehenden Zustand in Abrede zu stellen geneigt sein wird. Und doch ist er vorhanden. Der Parzellenpächter ist abgegliedert vom Haushalt des Gutes, seine Wirtschaft ist nicht wie die des Instmannes in allen ihren Beziehungen hineinverflochten in die Wirtschaft des Herrn, oder wie die des Deputanten nur die eines alimentierten Knechtes, – beide, Instmann und Deputant[,] unterstehen im Osten meist, immer aber die Deputanten, der Gesinde-Ordnung6[91]Anders als bei den Deputanten war die rechtliche Stellung der Instleute im Königreich Preußen nicht einheitlich geregelt: Nach den Maßstäben der preußischen Gesindeordnung von 1810 gehörten sie nicht zum Gesinde. In Ost- und Westpreußen wurden sie 1837 durch Kabinettsorder ausdrücklich den Bestimmungen der Gesindeordnung von 1810 in bezug auf die Zwangsrückführung unterstellt. Auch galten für sie die Vorschriften des preußischen Kontraktbruchgesetzes von 1854. GS 1810, S. 101–120; GS 1854, S. 214–216; Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung, Band 50, 99. Heft, 1837, S. 82f. (Kabinettsorder); vgl. auch Vormbaum, Thomas, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert. – Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 30f. und die Löhnung ist geldwirtschaftlich gestaltet: der Pächter fühlt sich als „freier“ Tagelöhner und doch zugleich als Kleinwirt. Damit ist gegeben, daß das Verhältnis ebensowohl die Licht- als die Schattenseiten beider zeigen kann, und letzteres ist teilweise jetzt auch der Fall. Allein es fragt sich lediglich, wohin die Zukunft seiner Entwickelung geht, ob – vom Arbeiterstandpunkt aus – abwärts zu einem Mittel der Ausbeutung, oder aufwärts zu einer Form der weiteren Emanzipation der Arbeiterschaft, – ob es nur die ephemere Gestaltung einer im Verfall begriffe[92]nen Organisation des Arbeitsverhältnisses oder die Form darstellt, in welcher die Großwirtschaften in Zukunft ihre ständigen Arbeiter sich beschaffen werden. Ich halte – mögen in noch so vielen Einzelfällen die besonderen Verhältnisse andere Formen erheischen – in beiden Beziehungen das Letztere für das wahrscheinlichere. Es kommt alles darauf an, ob das Vorhandensein des Pachtverhältnisses auf die Dauer den Arbeitern dem Besitzer gegenüber eine selbständigere Stellung geben wird als jetzt, oder umgekehrt – beides wäre an sich denkbar. Die Landwirte betrachten die Landverpachtung von ihrem Standpunkt aus im wesentlichen als „Bindemittel“ zur Verhütung des Kontraktbruchs; der Arbeiter, welcher eine Ernte auf eigenem Acker stehen hat, läuft nicht davon. Es ist vom Standpunkt des Arbeitgebers nur berechtigt, daß ihm dieser Gesichtspunkt wesentlich erscheint. Allein ein anderes, von den Landwirten selten oder ungern zugegebenes Moment spielt mit. Einem recht erheblichen Bruchteil der Großgrundbesitzer des Ostens liegt der Gedanke nahe, überhaupt Teile ihres Besitzes – zunächst womöglich einige Außenschläge, deren eigene Bewirtschaftung unbequem ist, wenn aber diese keine Liebhaber finden, auch anderes Land – im Wege der Verpachtung oder sonst aus der Hand zu geben. Die steigende Arbeitsnot – jetzt (noch!) gemildert durch die Möglichkeit, billige ausländische Arbeitskräfte heranzuziehen – verbunden mit der Gefährdung der Dauer der Getreidezölle7[92]Am 1. Februar 1892 waren die Handelsverträge des Deutschen Reichs mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien und der Schweiz in Kraft getreten. Die Handelsvertragspolitik zielte darauf ab, durch Reduzierung der Agrarzölle den Handelsaustausch mit den europäischen Nachbarstaaten und die eigenen Industrieexporte zu steigern. Tendenziell erforderte dies die Öffnung der deutschen Grenzen für die Agrarexporte der Nachbarstaaten. und dem trotz dieser schweren Konkurrenzdruck des billigen fremden Kornes, bringt in steigendem Maße den Besitzern die Notwendigkeit zum Bewußtsein, einen Teil des Areals aus der Hand zu geben, damit ihnen nicht das Ganze entgleite. Das Bestehen dieser Notwendigkeit in großen Teilen des Ostens zu bestreiten, ist in einem Moment nicht möglich, wo auf den ersten Anstoß hin von den Großgrundbesitzern dreier Provinzen weit über eine halbe Million Morgen Land den Rentenbanken zur Zerstückelung angeboten sind,8Mit der preußischen Rentengutsgesetzgebung (vgl. oben, Anm. 5) wurden Rentenbanken eingerichtet. Die privaten Verkäufer von Gütern boten den Generalkommissionen, d. h. den für die Ansiedlung zuständigen Behörden, und Rentenbanken ihre Güter zur Vermittlung von Parzellierungen an. Die Rentenbanken schossen den Anbietern den Kaufpreis für die neu zu schaffenden Stellen in sofort einlösbaren Staatsschuldscheinen [93]vor und wurden ihrerseits Gläubiger der neuen Siedler. Bereits im ersten Jahr nach Erlaß des Rentengutsgesetzes vom 7. Juli 1891 wurden 140 000–150 000 ha, also zwischen ca. 549 000 und ca. 588 000 Morgen, Grundbesitz zur Parzellierung bei den Generalkommissionen angemeldet. Sering, Max, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik 56). – Leipzig: Duncker & Humblot 1893, S. 93. – und daß sie in wachsendem Maße [93]sich geltend machen wird, sobald die Staatsregierung ihre jetzige dem Import fremder Arbeiter relativ günstige Stellungnahme ändert,9Unter Leo von Caprivi waren 1890 die seit 1885 für polnische Arbeiter geschlossenen Grenzen wieder geöffnet worden. unterliegt nicht dem mindesten Zweifel. Teils Vorläufer, teils Begleiterscheinung dieser Situation [A 2]sind und werden in vielleicht langsam, aber sicher steigendem Maße die Versuche sein, durch Abgabe von Land auf Grundlage eines Pachtverhältnisses einen eigenen stabilen Arbeiterstand wieder zu schaffen.

Dies Schauspiel einer beginnenden Abbröckelung der landwirtschaftlichen Großbetriebe ist für den Historiker keineswegs ein gänzlich neues, es vollzieht sich seit zwei Jahrtausenden beim Vorliegen analoger wirtschaftlicher Bedingungen nicht zum ersten Male.

Der Schwerpunkt der Entwicklung liegt nun unzweifelhaft in der Frage, wie sich der mittlere und der große landwirtschaftliche Betrieb in Zukunft zu einander verhalten werden. Es scheint, daß, wollen wir nicht eine Entvölkerung des deutschen Ostensn[93]A: Ostens, in den Kauf nehmen, die Ersetzung eines erheblichen Bruchteils der Großbetriebe durch kleinbäuerliche erforderlich, weiter aber auch, daß sie wirtschaftlich möglich ist. Das ist selbstverständlich nicht überall der Fall. Es giebt umfangreiche Distrikte im Osten, welche bis auf weiteres schlechterdings nicht anders kultiviert werden können, als bei extensiver Bewirtschaftung einer sehr großen Fläche mit wenig Kapital und Arbeitskraft, also von einem Großbesitzer, der mit einer im Verhältnis zum Umfang der Wirtschaft sehr kleinen Rente vorlieb nehmen kann; es giebt andere, wo die Möglichkeit einer sehr intensiven Kultur bei starker Verwendung von Kapital die hier notwendig irrationellere Bewirtschaftung durch Bauern als eine volkswirtschaftliche Verschwendung erscheinen ließe, und wo auch der Großbetrieb durch Anbau von Handelsgewächsen wirtschaftlich dauernd mit Vorteil möglich ist. Aber ein Areal von gewaltigem Umfang im Osten giebt es, wo unter den Umständen, wie sie jetzt liegen und im nächsten Menschenalter liegen werden, der kleinbäuerliche Betrieb zwei wesentliche und gerade jetzt entscheidende Momente vor dem [94]Großbetrieb voraus hat: einmal die relativ große Bedeutung der eigenen Arbeitskraft, des Mitarbeitens des Besitzers und seiner Familie in der Wirtschaft und die daraus folgende verhältnismäßig geringere Abhängigkeit von der Möglichkeit, fremde Arbeitskräfte zu verwenden, – dann aber die gleichfalls verhältnismäßig geringere Abhängigkeit von den Preiskonjunkturen des Weltmarkts, welche ihm deshalb eignet, weil die Bedeutung des Verkaufs von Produkten für das Budget des Bauern eine relativ geringere ist, kurz gesagt, weil er verhältnismäßig mehr von dem, was er baut, selbst aufißt.

Es ist ganz gleichgültig, in wie viel einzelnen Fällen diese Momente zur Zeit durch andere, demo[94]A: den Bauernbetrieb ungünstigere Einflüsse gekreuzt und überwogen werden, sie sind jedenfalls vorhanden, und ihre Bedeutung ist nicht in Abnahme, sondern in teilweise rapidem Ansteigen begriffen. Dies widerstreitet zwar den Vorstellungen, welche sowohl extrem manchesterliche als extrem sozialistische Richtungen von dem Einfluß des Weltmarktes und der Zukunft des vermeintlich zur Alleinherrschaft berufenen Großbetriebes haben. Allein beiden Richtungen ist charakteristisch die gleiche Ahnungslosigkeit von der absoluten Unvergleichbarkeit industrieller und landwirtschaftlicher Verhältnisse. Ihnen beiden, besonders allerdings der naiven Selbstgewißheit des reinen Sozialismus, liegt die Einsicht fern, daß sie selbst Produkte sind nicht etwa nur, wie der Sozialismus eventuell geneigt ist zuzugeben, gewisser gesellschaftlicher Zustände, sondern weiter auch einer bestimmten psychologischen Einwirkung, welche die Eigentümlichkeiten gerade der städtischen Existenz hervorbringen, – einer Verkümmerung gewisser Seiten des normalen menschlichen Geistes- und Seelenlebens, welche in dieser Art nur die Stadt kennt. Dies weiter zu erörtern, führte hier zu weit; aber für Sozialhistoriker besteht ein Zweifel daran nicht, daß der Beginn ernsthaft sozialistischer Experimente im gewerblichen Leben, – des Versuches einer Organisation auf Grundlage einer Arbeitsteilung, die den Einzelnen bewußt als Glied in dem großen Ganzen der Volkswirtschaft verwerten wollte, – daß der Beginn einer solchen Gestaltung zugleich der Beginn eines geistigen Rückschlages sein würde, der in derpA: die Masse der Menschen mit steigender und unwiderstehlicher Gewalt das Sehnen nach der eigenen Scholle, nach einer noch so kümmerlichen individualistischen Existenz außerhalb der [95]gewerblichen Arbeitsteilung erwecken würde. Komplizierter sind die Einflüsse derjenigen Karrikatur des Sozialismus, welche wir in der internationalen Arbeits- und Produktionsteilung, soweit sie vereinzelt in ihren letzten Konsequenzen zu existieren begonnen hat, vor uns haben. Aber indem sie die geschäftliche Rentabilität des landwirtschaftlichen Betriebes bei uns untergräbt, zeigt sie die Tendenz, die landwirtschaftlichen Produkte in erhöhtem Maße wieder ihrer früher in erster Linie stehenden Bestimmung zuzuführen: der unmittelbaren Ernährung derer zu dienen, welche sie erzeugen. Alles in Allem: es scheint, daß wir uns im Beginn einer „Bauern-Konjunktur“ befinden, und es fragt sich, welches die Stellung der Landarbeiter zu dieser Thatsache ist und sein wird.

Dreimal in diesem Jahrhundert haben die Interessen der Bauern die Wirtschaftspolitik des Staates beherrscht: in den Jahren vor den Freiheitskriegen, als man den grundherrlichen Bauern die Freiheit und den größeren „spannfähigen“ unter ihnen dauernden Besitz an einem Teil ihres Landes gab;10[95]Im „Edikt über die Bauernbefreiung“ vom 9. Oktober 1807 wurde die Erbuntertänigkeit in Preußen aufgehoben. Ergänzt wurde diese Verleihung der persönlichen Freiheit durch die Ermöglichung der Allodifikation eines Teils des von den Bauern genutzten Landes. Zugleich wurde die Ablösung der noch bestehenden privatrechtlichen Abgaben- und Dienstpflichten mittels Landabtretungen oder Rentenzahlungen durch folgende Gesetze ermöglicht: das Regulierungsedikt vom 14. September 1811, die Deklaration vom 29. Mai 1816 und die Ablösungsordnung vom 7. Juni 1821. Das Regulierungsedikt von 1811 bezog sich auf Bauern mit schlechten Besitzrechten (Laß- und Pachtbauern), die Deklaration von 1816 begrenzte die Regulierungsmöglichkeit auf spannfähige Bauernstellen. Die Ablösungsordnung von 1821 ermöglichte den spannfähigen Bauern mit guten Besitzrechten (Eigentümer, Erbzinsleute, Erbpächter) die Ablösung ihrer Dienste und sonstigen Leistungen. GS 1806–10, S. 170–173; 1811, S. 281–299; 1816, S. 154–180; 1821, S. 77–83; Knapp, Bauern-Befreiung, Band 1, S. 126ff., 161ff., 184ff. und 201ff. dann, als man in den zwanziger Jahren begann, durch Aufteilung der Dorfgemeinheiten und Zusammenlegung der zerstreut in der Flur liegenden Parzellen der einzelnen Besitzer ihre wirtschaftliche Selbständigkeit zu begründen;11Weber bezieht sich hier auf die preußische Gemeinheitsteilungsordnung vom 7. Juni 1821 und die damit zusammenhängenden Verkoppelungen und Separationen. Mit der Gemeinheitsteilungsordnung wurde die Aufteilung der Allmende an die Mitglieder der Nutzungsgemeinschaft eingeleitet. Darüber hinaus wurde im Sinne einer Flurbereinigung die Möglichkeit geschaffen, alte und neu entstandene Parzellen zu größeren und effektiver zu bewirtschaftenden Flächen um- und zusammenzulegen. Dadurch verloren die Dorfgemeinschaften ihren genossenschaftlichen Charakter und hörte der Flurzwang auf. GS 1821, S. 53–77; Meitzen, August, Der Boden und die landwirthschaftlichen Verhältnisse des Preußischen Staates nach dem Gebietsumfange vor 1866, Band 1. – Berlin: Wiegandt & Hempel 1868, S. 409f. [96]endlich, indem man nach 1848 den Rest der alten Agrar- und Arbeitsverfassung an Frohnden, Diensten und Lasten beseitigte.12[96]Dies geschah in Preußen vor allem im „Gesetz, betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse“ vom 2. März 1850. GS 1850, S. 77–111. Zu den preußischen Gesetzen während und unmittelbar nach der Revolution sowie zu den ergänzenden Gesetzen in den 1850er Jahren vgl. Meitzen, a. a. O., S. 423–425. In allen diesen Fällen gingen die Landarbeiter wirtschaftlich im wesentlichen leer aus. 1807 gab man ihnen die für sie wirtschaftlich nicht unbedenkliche „Freiheit“ und gab gleichzeitig dem Gutsherrn das Recht, sich der kleinen „spannlosen“ Besitzer zu entledigen und sie in besitzlose Arbeiter zu verwandeln;13Mit dem preußischen Befreiungsedikt von 1807 fiel, parallel zur Gewährung der persönlichen Freiheit, der Bauernschutz fort, was, in bestimmten Grenzen, die Einbeziehung nichtrentablen, nicht-spannfähigen gutszugehörigen Bauernlandes in die Gutswirtschaft ermöglichte und so die Umwandlung des Kleinbauerntums in eine freie Landarbeiterschaft begünstigte. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830. – Stuttgart: W. Kohlhammer 19752, S. 189f. die Separationen und Gemeinheitsteilungen der späteren Jahre aber nahmen den grundbesitzenden Arbeitern die Weide auf den Dorfangern für ihr Vieh, die wichtigste Unterlage ihrer Wirtschaft, und gaben ihnen dafür oft nichts, günstigstenfalls aber eine kleine Entschädigung an Land, welches sie ohne stärkere Viehhaltung nicht düngen konnten.

Die entscheidende Frage ist, ob wir diesmal, falls der Staat ernst macht und die Kolonisation des Ostens im großen Stil in Angriff nimmt, auch den Landarbeitern Anteil an dem Boden der Heimat geben können. Dazu gäbe es einen scheinbar sehr einfachen, direkten Weg: Schaffung kleiner Arbeiterstellen von 6–8 Morgen bei der Parzellierung und Vergebung gegen feste jährliche Rente, die der Mann herauszuwirtschaften hätte und deswegen auch Einnahmen durch Tagelohnverdienst suchen müßte. Das hätte seine schweren Bedenken. Es braucht sich nur ein einziges Jahr zu ereignen, daß der Inhaber einer solchen Stelle in der Nähe keine lohnende Arbeit findet, und der grundbesitzende Proletarier schlimmster Sorte ist fertig. Gestaltet man die Stelle etwas größer, so daß der Besitzer nur etwa ¼ Jahr Arbeitslohn zur Ergänzung seiner Einnahmen braucht, so steht nach der bisherigen Erfahrung in 9 von 10 Fällen zu erwarten, daß der Mann lieber auf das kümmerlichste lebt, als fremdes [97]Brot neben dem eigenen ißt. Gerade die Kleineigentümerstellen ferner sind der Herd der Sachsengängerei, der jährlichen Wanderbewegung nach dem Westen. Überdies wird auch die Familie, welche von dem selbstgebauten Getreide nicht leben kann und wesentlich Geldtagelohn verdient, die Brotnahrung einzuschränken und überwiegend die dem Boden quantitativ reichlicher abzugewinnenden Kartoffeln zu konsumieren gezwungen sein. Endlich ist nicht nur für die Frage der Fleischnahrung, sondern für das [A 3]Schicksal der Kleinwirtschaft überhaupt meist absolut entscheidend, ob in irgend einer Weise dafür gesorgt werden kann, daß der Kleingrundbesitzer, ohne allzuviel Futter kaufen zu müssen, genügend Vieh – jedenfalls ein bis zwei Kühe und mehrere Schweine und Gänse – halten kann, und das ist keineswegs etwa in der Mehrzahl der Fälle möglich. Kurz, es ist sehr zweifelhaft, ob dieser direkte Weg gangbar ist und ob wir nicht uns werden bescheiden müssen, nur solche Grundeigentümer zu schaffen, welchen das Eigentum an einem Stück Land nicht nur eine, wirtschaftlich oft als Hemmnis empfundene Beigabe, sondern die alleinige Grundlage ihrer Existenz sein kann, – ob wir also nicht die Entwickelung, soweit sie die Landarbeiter angeht, einen indirekten Weg laufen lassen müssen.

Dieser indirekte Weg aber besteht in folgendem:

Es ist im ersten Artikel davon die Rede gewesen, daß innerhalb der Gutswirtschaften ein gesundes Aszensionsverhältnis vom unverheirateten Knecht zum Instmann stattgefunden habe, unter besonderen Verhältnissen auch zum Wirtschaftsbeamten mit hohem Deputat.14[97]Vgl. oben, S. 77. Damit war nach dem bestehenden Zustande die Grenze erreicht, ein höheres Aufsteigen innerhalb der Heimat regelmäßig nicht möglich, resp. nur so möglich, daß der Arbeiter etwas als Aufsteigen ansieht, was in Wahrheit nicht dies, sondern – wirtschaftlich oder sozial – ein Herabsinken ist. Vielfach wird nämlich berichtet,15Weber bezieht sich auf die ihm zur Auswertung der Erhebung des Vereins für Socialpolitik vorliegenden Berichte der ostelbischen Gutsbesitzer. Sie sind verschollen. einerseits daß Instleute mit kleinem ersparten Kapital sich mit Vorliebe kleine Eigentümerstellen kaufen, und andererseits daß andere das Instverhältnis aufgeben und als „Losleute“, „Einlieger“ sich bei Bauern einmieten, die Wohnungsmiete abarbeiten und im [98]übrigen tagelöhnern: in beiden Fällen soll materiell meist eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lage eintreten. Ist das wirklich der Fall, so zeigt es nur um so deutlicher, daß unter den jetzigen Umständen das Instverhältnis nicht haltbar ist, und daß es nicht materielle Gründe sindq[98]Fehlt in A; sind sinngemäß ergänzt. , sondern wesentlich die Abneigung, zeitlebens sich unselbständig in die Schranken der Gutswirtschaft gebannt zu sehen, sein muß, welche jene Erscheinung veranlaßt; denn die ausschließliche Motivierung mit der Trägheit der Arbeiter wird man wohl für einen Teil, aber nicht für den überwiegenden, gelten lassen.

Wir werden gerade diese Schranke beseitigen und nach oben Luft schaffen müssen, indem wir den Gutsarbeitern die Möglichkeit geben, aus ihrer unselbständigen Situation zu einer selbständigen kleinbäuerlichen Position, zur Stellung, um mich eines durch Sombart wieder zu Ehren gekommenen Ausdrucks zu bedienen, eines „Kuhbauern“ aufzusteigen.16[98]Anton Ludwig Sombart, genannt Sombart-Ermsleben, hatte sich insbesondere durch seine Förderung der „inneren Kolonisation“ in Deutschland einen Namen gemacht. Den Begriff „Kuhbauern“ verwandte er in seiner Schrift: Die Fehler im Parzellirungs-Verfahren der Preußischen Staatsdomänen. – Berlin: Wiegandt, Hempel und Parey 1876, S. 30. Das ist die eine Seite der Sache. Die andere hängt damit direkt zusammen. Zur Übernahme einer solchen kleinbäuerlichen Stelle gehört, auch wenn die Vergebung gegen Rente erfolgt, ein kleines Kapital, vor allen Dingen aber die Fähigkeit des Arbeiters bezw. namentlich der Frau, eine Wirtschaft zu führen. Beides findet sich bei den Landarbeitern heutzutage selten, am häufigsten aber bei denjenigen Instleuten, welche eine Bodenanweisung von nicht allzu geringem Umfange und die Möglichkeit eigener Viehwirtschaft haben, welche also schon in unselbständiger Position Kleinwirte gewesen sind. Da nun das Instverhältnis in seiner alten Gestalt der Auflösung entgegengeht, so ist für uns die Frage, ob das obenerwähnte Pachtverhältnis allgemein entwickelungsfähig und als Ersatz des Instverhältnisses in Aussicht zu nehmen ist, von wesentlicher Bedeutung. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dies noch zur Zeit nur stellenweise zutrifft, und daß die Arbeitgeber noch wenig geneigt sind, besonders günstige Pachtbedingungen zu gewähren.

Allein zweierlei unterliegt keinem Zweifel: daß mit den Arbeitskräften einheimischer freier Tagelöhner allein die Fortführung der [99]Gutswirtschaft je länger je mehr unmöglich wird, und daß wir eine Steigerung des Imports fremder Arbeiter auf die Dauer nicht zu dulden in der Lage sind. In den Grenzprovinzen ist zum Teil trotz des Imports von Russen17[99]Gemeint sind wohl Polen russischer Staatsangehörigkeit. die Erlangung der unentbehrlichsten ständigen Arbeitskräfte ohne die Gewährung besonders guten Bodens und guter Viehweide nicht möglich. Diese Umstände in Kombination mit den oben angedeuteten Entwickelungsmomenten und dem unaufhaltsamen Eindringen der Geldwirtschaft bedingen aber den Übergang zum System der Arbeiter-Parzellen-Pacht in einer so erheblichen Zahl von Fällen, daß wir diesem System sehr wohl die führende Rolle in der ländlichen Arbeitsverfassung prognostizieren können. Dafür aber, daß die Pachtbedingungen auf die Dauer nicht ungünstige sein werden, wird der Arbeitermangel sorgen; und wenn es heute in Masuren und sonst den Instleuten möglich ist, Eigenkäthnerstellen aus ihren Ersparnissen zu bezahlen, so hoffen wir, daß es in Zukunft demjenigen Prozentsatz der Kleinpächter, welcher überhaupt dazu geneigt und qualifiziert ist, möglich sein wird, die Übernahme einer kleinbäuerlichen Rentengutsstelle als Lebensziel vor Augen zu haben und das Arbeit-Pachtverhältnis als Durchgangsstadium zu benutzen. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß in besonderen Fällen, namentlich wo neben großen Gütern auch zahlreicher bäuerlicher Besitz und gute Viehweide vorhanden ist, auch der Versuch gemacht wird, Arbeiterstellen zu vollem Eigentum auszulegen: immer aber nur da, wo die Möglichkeit, Grundbesitz zu kaufen und zu verkaufen oder zuzupachten, regelmäßig vorliegt. Denn einen schwereren Fluch, als ein kleines, zum Unterhalt nicht genügendes und unverkäufliches Grundeigentum in einer Gegend, wo lohnender Verdienst nicht völlig sicher ist, kann man den Landarbeitern nicht mit auf den Lebensweg geben.

Nun ist uns aber vor allem Anderen zunächst eins zu wissen nötig, was wir im allgemeinen nicht wissen, sondern nur vermuten: wie sich denn die Arbeiterschaft zu dem Gedanken, eine eigene, sei es Pacht-, sei es Eigentümerstelle, überhaupt eine relativ selbständige eigene Wirtschaft zu übernehmen, verhält oder verhalten würde? Das heißt: nicht wie sich die Masse, sondern wie sich die wirtschaftlich Tüchtigsten dazu verhalten, denn es handelt sich lediglich dar[100]um, ob diesen tüchtigsten Elementen, denjenigen, die vorwärts wollen, innerhalb der deutschen Heimat und innerhalb ihres landwirtschaftlichen Berufes die Möglichkeit, empor zu kommen, geboten werden kann. Nicht auf das Quantum kommt es an, sondern auf die Qualität derjenigen, welche geneigt wären, als Parzellenpächter in ein Kontraktverhältnis zu treten oder von einer eigenen Scholle aus Arbeit zu suchen, und welche auf die dereinstige Möglichkeit, in eigener Wirtschaft eine sorgenschwere aber selbständige Existenz zu begründen, Wert legen würden. Daß sich solche Arbeiter fast überall finden, wissen wir; allein wie gesagt: auch wenn die Masse der Arbeiter dazu geneigt wäre, aber gerade die wirtschaftlich leistungsfähigsten Elemente nicht, so wäre die Entwickelung aussichtsloser, als wenn ein noch so geringer Prozentsatz gerade der bestqualifizierten Leute von der Aussicht auf Anteil an dem Boden, den sie bebauen, und von dem Aufsteigen in den Bauernstand eine bessere Zukunft erhofft. Wir müssen aber dann allerdings auch wissen, wie sich gerade die Masse der Arbeiter die denkbar günstigste Gestaltung ihrer Zukunft vorstellt, in welchem Punkte ihre jetzige Existenz ihnen verbesserungsbedürftig und -fähig erscheint – ganz gleichgiltig, ob sie damit objektiv recht hat, – denn nur darnach können wir ermessen, ob die Aussicht auf die Zurückführung der Landarbeiterschaft im Ganzen zu stabilen Verhältnissen überhaupt vorhanden ist. Es kommt darauf an, ob die Leute die Selbstbewirtschaftung von Pachtland bei dauerndem Arbeitsverhältnis dann wünschen würden, wenn diejenigen Momente, welche dem Instverhältnis seinen Charakter als halbes Gesindeverhältnis geben, dabei vermieden würden. Keine statistische Zahl kann uns das leisten, nur lokale Erkundigung, und wiederum sehen wir uns auf die Herren Geistlichen auf dem Lande als diejenigen hingewiesen, welche uns hierüber Material verschaffen könnten. –

[A 4]Falls sich der Evangelisch-soziale Kongreß, bezw. dessen Aktionskomitee entschließen sollte, seinerseits diesen Dingen näher zu treten und durch eine systematische Umfrage den Herren Geistlichen unmittelbare Anregung zu einer Äußerung zu geben,18[100]Ein derartiger Beschluß wurde auf der Sitzung des Aktionskomitees des Evangelisch-sozialen Kongresses am 22. Juni 1892 gefaßt. Vgl. „Aus der letzten Sitzung des Aktionskomitees“, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 6 vom 1. Juli 1892, S. 6. so glaube ich, [101]ist vorstehend der Nachweis, auf den es zunächst ankam, erbracht, daß es der Fragen genug giebt, welche zu stellen, und welche gerade an die Herren Geistlichen zu stellen, teilweise geradezu nur durch sie zu beantworten wären. Eine schriftliche Befragung der Landarbeiter selbst wird kein Verständiger für thunlich halten, vermittelst einer solchen könnte man vielleicht zu Parteizwecken Dinge in die Leute hinein-, nicht aber etwas aus ihnen herausfragen und überdies bei dem Naturell der Landbevölkerung eine ungeheuere Konfusion in den Köpfen anrichten. Es liegt auf der Hand, daß die gleiche Klippe für diejenigen Herren Geistlichen besteht, welche sich entschließen, auf eine solche Anfrage hin denjenigen oben berührten Verhältnissen der Arbeiter, welche ihnen nicht ohnehin bekannt sind, im Wege der Unterhaltung mit den Leuten näher zu treten, und daß es ein hohes Maß von Diskretion und Erfahrung voraussetzt, um die Gefahr zu vermeiden, daß der Geistliche, welcher die wirtschaftliche Lage seiner Gemeindeglieder vorurteilslos bei seelsorgerischer Berührung mit ihnen erörtert, das Bewußtsein der Klassengegensätze schärft. Wir wissen ferner, daß ein solches Vorgehen auch andere, besonders delikate Schwierigkeiten haben kann, daß nicht jeder Laienpatron auf dem Lande die richtige Vorstellung von der Aufgabe und Stellung des von ihm präsentierten Geistlichen haben wird,19[101]In den östlichen Gebieten Deutschlands besaßen die Gutsherren in ihrer Eigenschaft als Patronatsherren, d. h. als Stifter von Grund und Boden für die Kirche und als Erbauer und Erhalter von kirchlichen Gebäuden, vielfach das Präsentationsrecht bei Wiederbesetzung einer freigewordenen Pfarrstelle. Erst nach der Revolution von 1918/19 wurden von den Landeskirchen Schritte zum allmählichen Abbau des Patronats eingeleitet. – so wenig wie dies bei anderen Machthabern dieser Erde, wie die Menschen nun einmal sind, durchweg der Fall zu sein pflegt, – daß also hier Konflikte, Mißdeutungen und Störungen gesellschaftlicher Beziehungen sehr wohl möglich sind. Und endlich kann man uns die oft gehörte Behauptung entgegenhalten: das sei nicht des geistlichen Amts, es ziehe die Seelsorge herab in den Widerstreit der materiellen Interessen und verschleiere den Blick für das allein Wesentliche durch die Sorge um Äußerlichkeiten des Tages. Nun, es wäre gewiß ein gewagtes Unterfangen, vom Standpunkt des dem theologischen Leben fernerstehenden Laien aus, Gedanken über die Grenzen der Seelsorge deren berufenen Vertretern entwickeln zu wollen, wel[102]chen es ohnehin bekannt ist, daß nach der Auffassung weiter Kreise die Seelsorge nicht notwendig im geistlichen Gewande auftreten muß, oft gar nicht kann, und welche tagtäglich ihre Stellungnahme zu dieser wichtigen Lebensfrage der kirchlichen Praxis nach Pflicht und Gewissen erwägen müssen, – wir glauben nun einmal, daß eine „reinliche Scheidung“ beider Gebiete praktisch undurchführbar ist. Eine allzu peinliche Zurückhaltung der Geistlichen hat lediglich die Folge, daß ihnen auf dem weiten Gebiete des menschlichen Lebens, wo ethische und materielle Interessen untrennbar ineinandergeschlungen sind, von den Pflegern der physischen Wohlfahrt, den Ärzten, Terrain an sozialpolitischer Bedeutung für die Masse des Volkes abgewonnen wird. – Aber all das kann hier außer Erörterung bleiben, denn es handelt sich lediglich darum, ob wir mit denjenigen Fragen, welche wir eventuell an die Herren Geistlichen zu richten haben, uns an die „zuständige“ Instanz wenden, und das, glaube ich, muß entschieden bejaht werden. Immer wieder kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Probleme, um welche es sich handelt, zwar an äußere, materielle Verhältnisse anknüpfen, aber subjektiver Natur sind und in der Brust der Menschen liegen, um welche es sich handelt. Die – oft bei objektiv ganz gleicher Situation gänzlich verschiedene und gleich unberechtigte – Vorstellung der Beteiligten von ihrer Lage ist uns wichtiger als diese Lage selbst, sie ist auch für den weitern Gang der Entwickelung das wichtigere Moment. Nicht von Brot allein lebt der Landarbeiter und nicht nach seinem materiellen Interesse allein gestaltet sich sein Dasein, sondern zum guten Teil nach – Illusionen, wie man vom materiell-wirtschaftlichen Standpunkt aus sagen könnte, oder vielmehr nach Momenten, deren psychologische Unterlage uns zum Teil problematisch, meist aber der rein wirtschaftlichen Betrachtung unzugänglich ist.

Verquickt mit zahllosen Absonderlichkeiten der Volkssitte und der persönlichen Eigentümlichkeiten, mit allen möglichen kleinlichen und unerfreulichen Momenten menschlicher Schwäche von jeglicher Art, liegen hier unzweifelhaft auch, oft kaum kenntlich in ihrer plumpen Erscheinungsform, ethisch-ideelle Beweggründe, mit welchen wir nicht nur rechnen müssen, weil sie nun einmal da sind, sondern die auch respektiert zu werden verlangen können. Diesen Beweggründen nachzugehen ist unumgänglich nötig und, da wir mit unserer wirtschaftlichen Weisheit hier an mehr als einem Punkte zu Ende sind, so liegt der Gedanke nahe und entspräche es dem Prinzip [103]der Arbeitsteilung, wenn wir uns um Auskunft an die berufenen Hüter der sittlichen Kräfte im Volksleben wenden würden.

Es handelt sich – selbstverständlich – nicht nur um die oben zufällig herausgegriffenen Probleme. Zahllose gleichartige schließen sich an. Wir müssen wissen, welchen Einfluß der Grundbesitz auf das Familienleben des Landarbeiters ausübt. Welche Stellung nimmt die Frau im Haushalt eines Kleinbauern, in dem eines grundbesitzenden Arbeiters und in dem eines völlig besitzlosen „Einliegers“ ein? Hebt es ihre Stellung im Hause und dem Mann gegenüber, wenn sie die verantwortungsvolle Stellung an der Spitze einer eigenen Land- und Viehwirtschaft einnimmt, oder betrachtet er sie dann nur um so mehr als das ihm von der Vorsehung bei- bezw. untergeordnete Arbeitstier? Lassen sich hier Vergleiche mit Industriearbeitern ziehen? Wie steht es mit dem Verhältnis zu den Kindern, sind sie Gegenstand der Ausbeutung zum Lohnerwerb seitens der Eltern oder entziehen sie sich mit dem Moment, wo sie selbst verdienen, der elterlichen Zucht? Der Konfirmationsunterricht sowohl als die mannigfachsten kirchlichen Anlässe und die Seelsorge müssen Gelegenheit zu Beobachtungen darüber geben, ob die verschiedenen Kategorieen von Arbeitern – grundbesitzende, Instleute, Einlieger etc. – im Vergleich mit einander und mit den Bauern sich zum kirchlichen Leben verschieden verhalten und auch darüber, welche von ihnen die wirtschaftlich und ethisch bestentwickelte und tüchtigste ist. Unzweifelhaft kommt es gerade in diesem letzteren Punkte auf gänzliche Unbefangenheit des Urteils an. Sie ist nicht leicht zu üben. In Zeiten der Präponderanz materieller Interessen sind es – das braucht keinem Seelsorger gesagt zu werden – nicht immer die wirtschaftlich und ihrer ethischen Veranlagung nach schlechtesten Elemente, welche sich in trotziger Selbstgenügsamkeit dem kirchlichen Leben fern halten, in denen das religiöse Bewußtsein nicht zur Entwickelung gelangt oder unter den Strebungen des äußern Lebens erstickt wird. Um endlich nur noch eins zu erwähnen: das psychologische Verhältnis der Arbeiter der Bauern zu ihrem Arbeitgeber ist ungleich leichter zu erkunden als dasjenige des Arbeiters des Großgrundbesitzers zu seinem Herrn, dem er oft mit einem ziemlich unklaren Gefühl gegenübersteht und über den sich zu äußern er gerade, wenn das Verhältnis ein gutes nicht ist, eine natürliche und wohl zu respektierende Scheu besitzt. Dagegen ist für die ganze Frage der Kolonisation im Osten wesentlich, ob die Beziehungen der zu schaffenden [104]mittleren Grundbesitzer zu ihren Arbeitern normalerweise innerlich gesund sein können.

Genug des Fragens und der schon allzu langen Erörterung. Für den Fall, daß seitens des Kongresses oder seitens sonst Berufener eine Enquete über die Lage und Stimmung der Landarbeiter ins Werk gesetzt würde, zweifle ich nicht, daß ein äußerst schätzbares Material zu erlangen ist, und daß für beide Teile, die Herren Landgeistlichen und die nationalökonomische Fachwissenschaft, im weiteren Verlauf auch für diejenigen, welche mit der Lösung der Agrarfrage des Ostens praktisch befaßt sind, aus [A 5]der gemeinsamen Arbeit schlechterdings nur Vorteil erwachsen kann. Je konkreter die Antworten, welche bei einer solchen Enquête die Befragten geben würden, ausfallen, je mehr sie nicht allgemeine Bemerkungen oder Klagen, sondern Thatsachen geben, und je mehr in den Berichten die Stimme der Arbeiter, über deren Auffassungen berichtet wird, erkennbar neben der des Berichterstatters durchklingt, ein um so brauchbareres Material bilden sie von unsermr[104]A: unsern Standpunkt aus. Denn um es noch einmal zu wiederholen: innere psychologische Momente sind es, auf welche es ankommt, nicht äußere Thatsachen allein, und noch weniger ein Urteil über „Schuld“ und „Unschuld“ des einen oder andern Teils in den bestehenden, teilweise nicht befriedigenden Verhältnissen. Es ist unmöglich, ein solches Urteil vom Standpunkte der lokalen Beobachtung, überhaupt bei Beobachtung nur der jetzigen und der unmittelbar vorangegangenen Zustände zu fällen, ja es ist ein solches Urteil überhaupt regelmäßig unzulässig, weil die Wucht der wirtschaftlichen Veränderung zur Zeit eine derartige ist, daß sie die Verantwortlichkeit des Einzelnen auch für die psychologischen Konsequenzen, die diese Veränderung mit sich führt, regelmäßig ausschließt.

Niemand, der nicht verbohrter Parteimann ist, wird die lastende Schwere der gegenwärtigen Situation für die Landwirtschaft des Ostens verkennensA: erkennen können. Es gereicht den vielgeschmähten preußischen „Junkern“ zu hoher Ehre, daß sie nicht ein seine Rente verzehrender Stand von in der Stadt lebenden und den Landaufenthalt als Sommerfrische benutzenden Magnaten geworden sind, sondern die verantwortungsvolle Stellung als Eigenwirte festgehalten [105]und sich damit in den schweren Kampf der wirtschaftlichen Interessengegensätze begeben haben. Aber sie werden auch ihrerseits nicht vergessen, daß nicht hohe Bodenpreise und Reinerträge es gewesen sind, welche der großen historischen Machtstellung des Großgrundbesitzers im Staat zur Grundlage dienten, sondern die Interessengemeinschaft mit ihren Arbeitern.