MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter. 1893
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[272]Editorischer Bericht

Zur Entstehung

Im Winter 1892/93 hatte der Evangelisch-soziale Kongreß auf Vorschlag Max Webers eine Enquete über die Lage der Landarbeiter in Deutschland in Angriff genommen, die die Enquete des Vereins für Socialpolitik vom Jahre 1891/92 ergänzen sollte; die entsprechenden Fragebögen waren im Januar 1893 an die evangelischen Geistlichen in Deutschland gesandt worden, hoffte man doch, daß die Landpfarrer ein objektiveres Bild von der Lage der Arbeiterschaft zeichnen würden als die Arbeitgeber. Maßgeblich beteiligt an der Erhebung war Paul Göhre, mit dem Weber eng befreundet war.1[272]Zur Geschichte der Erhebung siehe in diesem Band auch folgende Artikel einschließlich der Editorischen Berichte: „,Privatenquêten‘ über die Lage der Landarbeiter“ (S. 71–105), „Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands“ (S. 208–219), „Die deutschen Landarbeiter“ (S. 308–345) und die Vorbemerkung Webers zu „Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands“ (S. 687–711). Im Rahmen dieser Vorbemerkung ist auch der Fragebogen abgedruckt.

Unter den zahlreichen eingegangenen Berichten befand sich ein besonders ausführlicher, noch im selben Jahr als eigenständige Broschüre veröffentlichter Bericht des ostpreußischen Pfarrers Carl Ludwig Fischer.2Fischer, Carl Ludwig, Beitrag zur Orientierung über die Lage der ländlichen Arbeiter in Ostpreußen als Beantwortung des vom Aktionskomitee des Evangelisch-sozialen Kongresses ausgegangenen Fragebogens über die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reiche. – Königsberg: Gräfe & Unzer o. J. [1893]. Der Verfasser, von dem nicht mehr bekannt ist, als daß er in der Pfarrei Quednau im Regierungsbezirk Königsberg tätig war, fühlte sich von dem von Weber und Göhre ausgearbeiteten Fragebogen außerordentlich beeindruckt und zu einer ausführlichen Untersuchung der Landarbeiterverhältnisse in Ostpreußen veranlaßt: „In dem Fragebogen des Aktionskomitees des Evangelisch-sozialen Kongresses steckt große, ernste Arbeit. Diese reizt zu einer zuverlässigen Auskunft, auch wenn dieselbe eben so viel Mühe kosten sollte als die gestellten Fragen selbst.“3Ebd., S. 3. Fischers Ziel war dabei, der Behauptung der Sozialdemokraten, die Lage der ländlichen Arbeiter in Ost[273]preußen sei eine schlechte, entschieden entgegenzutreten.4[273]Ebd. Obwohl seine Untersuchungsergebnisse demgemäß in ihrer Tendenz präjudiziert waren, erwiesen sie sich als so informativ und aufschlußreich für die Situation der Arbeiter auf dem Lande, daß Max Weber sie zusammen mit zwei weiteren Veröffentlichungen evangelischer Pastoren im Sozialpolitischen Centralblatt rezensierte. Die beiden letzteren Schriften5Quistorp, Wilhelm, Die soziale Not der ländlichen Arbeiter und ihre Abhilfe. – Leipzig: Fr. W. Grunow 1891; Wittenberg, Hans, Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen. – Leipzig: Reinhold Werther 1893. waren unabhängig von der Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses entstanden.

Die Untersuchung von Wilhelm Quistorp, Pastor in Schwerinsburg in Pommern, war 1891 in der von Otto Baumgarten herausgegebenen Reihe Evangelisch-soziale Zeitfragen erschienen und hatte einiges Aufsehen erregt. Quistorp gehörte zusammen mit Paul Göhre zu den ersten evangelischen Geistlichen, die sich mit der Lage der sozialen Unterschichten auseinandersetzten und ihre Beobachtungen und Erfahrungen in die Öffentlichkeit brachten.6Im gleichen Jahr hatte Göhre seine Schrift: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. – Leipzig: Fr. W. Grunow 1891, veröffentlicht. Von konservativer Seite wurden diese Bestrebungen zum Teil heftig angegriffen. Im Reichsboten entspann sich eine erregte Debatte über Quistorps Untersuchung;7Entsprechende Artikel erschienen in der Berliner Zeitung Der Reichsbote in folgenden Nummern: Nr. 118 vom 24. Mai 1891, Nr. 124 vom 31. Mai 1891, 1. Beilage, Nr. 131 vom 9. Juni 1891, 2. Beilage, und Nr. 134 vom 12. Juni 1891, 1. Beilage. die Conservative Correspondenz, Sprachrohr der Deutschkonservativen, attackierte Göhre und Quistorp in scharfer Form. In dem Artikel „Privatenqueten“8Conservative Correspondenz, Nr. 20 vom 17. Febr. 1892. wurde Quistorp vorgeworfen, der Sozialdemokratie Agitationsmaterial geliefert zu haben. Daraufhin kam Göhre Quistorp in den Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses zu Hilfe: dieser habe zwar „etwas zu schnell generelle Urteile“ abgegeben, doch sei seine Einschätzung der Tendenz nach deshalb noch nicht falsch.9Göhre, Paul, Dr. Borchardt und die Konservative Korrespondenz, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 3 vom 1. März 1892, S. 2f.

Im Gegensatz zu Quistorps Untersuchung, die in der Tat die Lage der Landarbeiter in pauschaler Form schilderte und auf die lokalen Besonderheiten in Pommern nicht einging,10In seinem Vorwort erklärte es Quistorp explizit zu seinem Ziel, „nicht einseitig von pommerschen Verhältnissen auszugehen“, sondern eine allgemeine Schilderung zu geben. bemühte sich der Verfasser der dritten von Weber rezensierten Schrift, Hans Wittenberg, Pastor in Swantow auf Rügen, um eine präzise Schilderung der sozialen Lage der ländlichen [274]Arbeiter in Neuvorpommern und auf Rügen. Seine Studie war die ausführlichste, sie hatte einen Umfang von 92 Seiten (Quistorps Untersuchung war 46, Fischers 40 Seiten lang). Wittenberg befaßte sich übrigens auch späterhin – seit 1894 war er Reiseprediger des Provinzialvereins für Innere Mission in Liegnitz – mit der sozialen Lage der ländlichen Arbeiterschaft.11[274]1894 erschien seine hier zitierte Schrift in zweiter Auflage. Außerdem erschienen in diesem Jahr von ihm: Was haben wir Geistlichen zu thun, damit die Arbeiterbevölkerung, soweit sie dem kirchlichen Leben entfremdet ist, für dasselbe wiedergewonnen werde? – Leipzig: Reinhold Werther 1894, sowie: Woran leidet der Landarbeiterstand in den östlichen Provinzen und wie ist ihm zu helfen? – Berlin: Trowitzsch und Sohn 1894. Siehe ferner: Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der evangelischen Landbewohner im Deutschen Reiche, dargestellt auf Grund der von der Allgemeinen Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine veranstalteten Umfrage, Band 1, bearbeitet von Pastor H. Wittenberg und Pastor E. Hückstädt. – Leipzig: Reinhold Werther 1895 (an der Bearbeitung des 1897 erschienenen zweiten Bandes war Wittenberg neben weiteren neun Spezialisten auch beteiligt), sowie ders., Was kann in sozialer Beziehung zur Hebung der Sittlichkeit auf dem Lande geschehen? – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1895. Wegen seiner engagierten publizistischen Tätigkeit und seiner Beteiligung an der Gründung der Christlich-sozialen Vereinigung in Schlesien wurde ihm 1896 vom Provinzialverein gekündigt; 1897 wurde er dann in ein Berliner Pfarramt berufen.12Pollmann, Klaus Erich, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. – Berlin: Walter de Gruyter 1973, S. 237f. Wann und ob Weber zu der Rezension der Schriften Quistorps, Wittenbergs und Fischers aufgefordert wurde oder ob er die Besprechung Heinrich Braun, dem Herausgeber des Sozialpolitischen Centralblatts, von sich aus angeboten hat, ist nicht bekannt.

Zur Überlieferung und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der unter der Überschrift „Monographien von Landgeistlichen über die Lage der Landarbeiter“ in der Rubrik „Soziale Zustände“ der Zeitschrift Sozialpolitisches Centralblatt, hg. von Heinrich Braun, Berlin, 3. Jg., Nr. 9 vom 27. November 1893, S. 101–103, erschienen ist (A). Der Text ist mit „Berlin. Max Weber.“ gezeichnet.