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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[872]Editorischer Bericht

Zur Entstehung

Zu Beginn des Jahres 1890 war das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, das sog. Sozialistengesetz, nicht mehr verlängert und damit außer Kraft gesetzt worden. Gleichzeitig war durch die am 4. Februar 1890 veröffentlichten sozialpolitischen Erlasse Wilhelms II. eine neue Ära fortschrittlicher Sozialpolitik in Aussicht gestellt worden. Doch nur wenige Jahre später schlug das Klima bei Hofe wieder um: Die Erfolge der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen ließen in hochkonservativen Kreisen den Gedanken reifen, erneut zu repressiven Maßnahmen gegen die „sozialdemokratische Gefahr“ zu greifen. Den äußeren Anlaß dazu bot eine Welle von anarchistischen Attentaten in Italien, Spanien und Frankreich, die am 24. Juni 1894 mit der Ermordung des französischen Staatspräsidenten Sadi Carnot einen spektakulären Höhepunkt erreichte. Die Forderung nach einem neuen „Umsturzgesetz“ gegen die Sozialdemokratie wurde am 26. Mai 1894 von dem preußischen Ministerpräsidenten Botho Eulenburg erhoben, offenbar vor allem in der Absicht, den Reichskanzler Leo von Caprivi, der für einen derartigen Konfliktkurs gegen den Reichstag nicht zu haben war, zum Rücktritt zu zwingen. Eulenburg war hingegen durchaus bereit, es wegen eines solchen Gesetzes zu einem offenen Konflikt mit dem Reichstag kommen zu lassen; der zu erwartende Widerstand der Reichstagsmehrheit sollte notfalls durch eine auf dem Wege des Staatsstreichs durchzusetzende Änderung des Reichstagswahlrechts gebrochen werden.
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[872] Zur Vorgeschichte: Röhl, John C. G., Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1890–1900. – Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins 1969, S. 107–109.
Es gelang Eulenburg, gegen den entschiedenen Widerstand des Reichskanzlers von Caprivi die Zustimmung Wilhelms II. zu diesem Plan zu erlangen. Am 6. September 1894 rief der Kaiser in einer Rede in Königsberg zum „Kampf für Religion, für Sitte und Ordnung gegen die Parteien des Umsturzes“ auf.
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Zitiert nach: Born, Karl Erich, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890–1914. – Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1957, S. 116.
Seitdem trug die beabsichtigte Vorlage in der Öffentlichkeit den Namen „Umsturzvorlage“.
[873]Der Reichskanzler von Caprivi vermochte sich dem Vorschlag eines erneuten gesetzlichen Vorgehens gegen die Sozialdemokratie nicht völlig zu verschließen. Aber um nicht von vornherein einen schweren Konflikt mit dem Reichstag zu riskieren, setzte er durch, daß dies nicht durch ein erneutes Ausnahmegesetz, sondern durch eine Verschärfung der einschlägigen Bestimmungen des ordentlichen Strafrechts erfolgen sollte. Angesichts des Regierungswechsels im Reich und Preußen im Oktober 1894 wurde eine entsprechende Vorlage, auf welcher der Kaiser hartnäckig bestand, jedoch erst unter Caprivis Nachfolger Fürst Chlodwig Hohenlohe-Schillingsfürst am 5. Dezember 1894 im Reichstag eingebracht.
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[873] Sten.Ber. Band 141 (Anlageband), S. 224–232.
Diese als „Entwurf eines Gesetzes, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militärstrafgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse“ bezeichnete Vorlage, die im preußischen Justizministerium ausgearbeitet worden war, stellte eine Reihe von Tatbeständen unter Strafandrohung bzw. verschärfte bereits bestehende Strafandrohungen in teilweise weitreichender Weise.
In § 111 und § 111a wurden die gegen die Anstiftung oder Anreizung zu strafbaren Handlungen gerichteten Bestimmungen des geltenden Strafrechts erheblich erweitert, unter anderem durch Ausdehnung der Strafandrohung auf denjenigen, der derartige Vergehen „anpreist“ bzw. „als erlaubt darstellt“. Damit sollte auch die Agitation zugunsten einer Änderung der bestehenden Verhältnisse der Strafverfolgung unterliegen. Die Neufassung des § 126, Absatz 1, bedrohte denjenigen, der „durch Androhung eines Verbrechens den öffentlichen Frieden“ störe, mit bis zu einem Jahr Gefängnis, während, gemäß Absatz 2, „auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staatsordnung“ gerichtete Bestrebungen mit bis zu 5 Jahren Zuchthausstrafe geahndet werden sollten. Ferner wurde § 130 des Strafgesetzbuches durch einen neuen Absatz 2 ergänzt, der alle jene mit Geld- oder Gefängnisstrafen bedrohte, die „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise die Religion, die Monarchie, die Ehe, die Familie oder das Eigenthum durch beschimpfende Äußerungen öffentlich“ angriffen. In § 131 kam es noch massiver; dieser sah eine Geldstrafe oder Gefängnis für denjenigen vor, der „erdichtete oder entstellte Thatsachen, von denen er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen“. Schließlich sah Artikel III der Vorlage eine Verschärfung des Gesetzes über die Presse vor, die eine Beschlagnahmung von Presseorganen auch ohne vorherige richterliche Anordnung ermöglichen sollte
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Alle Paragraphen referiert nach ebd., S. 224f.
Diese Vorlage hätte [874]es, sofern sie gesetzliche Geltung erlangt hätte, ermöglicht, mit ihren weitgefaßten Bestimmungen keineswegs nur die sozialdemokratische Agitation, sondern jegliche der Regierung oder dem Kaiser mißliebigen Bestrebungen nach Willkür strafrechtlich zu verfolgen.
Die Umsturzvorlage wurde vom 8. bis 12. Januar 1895 im Reichstag in erster Lesung beraten und vor allem von der Sozialdemokratie und den linksliberalen Parteien mit großer Entschiedenheit bekämpft. Der Widerstand der Reichstagsmehrheit gegen die Vorlage wurde noch weiter verschärft durch eine Rede des saarländischen Schwerindustriellen Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg am 9. Januar, der, wie allgemein bekannt war, Wilhelm II. nahestand. Stumm machte unmißverständlich klar, daß mit der „Umsturzvorlage“ nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch diejenigen getroffen werden sollten, die als Hochschullehrer, als sogenannte „Kathedersozialisten“, sozialpolitische Ideen verbreiteten, sowie ebenso alle jene Geistlichen, die für weitreichende Sozialreformen eintraten.
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[874] Sten. Ber. Band 138, S. 210f.
Auch der Zentrumsabgeordnete Gröber meinte, daß, sofern die Vorlage Gesetz würde, dieses auch auf die vom Staate bezahlten Professoren angewandt werden müsse.
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Ebd., S. 219f.
Die in den anschließenden Beratungen der Reichstagskommission eingebrachten Änderungsvorschläge des Zentrums, die auf eine Ausweitung und Präzisierung jener Bestimmungen hinausliefen, die sich gegen die Verächtlichmachung religiöser Überzeugungen und kirchlicher Lehren richteten, verstärkten die Irritation der liberalen Parteien und der bürgerlichen Schichten. In der Öffentlichkeit kam es zu einem Proteststurm gegen die „Umsturzvorlage“. An einer der zahlreichen Erklärungen
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Einen Überblick über die öffentlichen Protesterklärungen und Petitionen an den Reichstag, an denen sich zahlreiche Gelehrte und Geistliche beteiligten, gibt vom Bruch, Rüdiger, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914). – Husum: Matthiesen Verlag 1980, S. 142–145.
gegen sie beteiligte sich auch Max Weber.
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Zu Webers Haltung zur „Umsturzvorlage“ vgl. auch seinen Vortrag „Die nationalen Grundlagen der Volkswirtschaft“, oben, S. 722–728.
Bei der von Max Weber mitunterzeichneten Erklärung handelte es sich um die Neufassung eines Aufrufs, der von Karl von Mangoldt, Sohn des 1868 verstorbenen Nationalökonomen Hans von Mangoldt, ausgegangen war. Mangoldt gehörte dem Verein für Socialpolitik an und war Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Gemeinwohl. Zudem war er Gründungsvorsitzender der Berliner sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigung, die Stumm in seiner Reichstagsrede besonders scharf angegriffen hatte.
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Mangoldt verfaßte später u. a. als Generalsekretär des Deutschen Vereins für Wohnungsreform zahlreiche Schriften über die Boden- und Wohnungsfrage. Zur sozialwissenschaftlichen Studentenvereinigung siehe auch S. 512f. und 912f.
Man[875]goldt wandte sich Ende Januar/Anfang Februar 1895 an zahlreiche Nationalökonomen und Sozialpolitiker aus dem Umkreis des Vereins für Socialpolitik sowie an Friedrich Naumann nahestehende Geistliche aus der Christlich-sozialen Bewegung mit der Aufforderung, eine von ihm verfaßte Erklärung gegen die Umsturzvorlage zu unterstützen.
Mangoldts Erklärung,
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[875] Ein Druckexemplar, das offensichtlich zur Versendung an Nationalökonomen und Geistliche bestimmt war, befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz unter der Signatur: Slg. Darmst. 2k 1895 (5), Karl von Mangoldt. (Hinfort wird bei Signaturen der Sammlung Darmstaedter der Name des Verfassers des jeweiligen Autographen nur dann hinzugesetzt, wenn er nicht aus dem Kontext hervorgeht.)
die sich insbesondere gegen die §§ 111a, 126, 130, 131 und Artikel III der Regierungsvorlage richtete, trug den Charakter eines rein moralischen Appells an die „oberen Klassen“, die „Opfer“ zugunsten der „unteren Klassen“ bringen müßten. Auf Grund dieses moralischen Charakters stieß sie bei einer Reihe von Nationalökonomen auf Widerspruch, die nicht den karitativen, sondern den sozialpolitischen Aspekt stärker betont sehen wollten. Unabhängig voneinander übten die Münchener Nationalökonomen Lujo Brentano und Walther Lotz sowie die Freiburger Gerhart von Schulze-Gaevernitz und Max Weber Kritik in diesem Sinne, die zunächst zu einer Umformulierung des Entwurfs und schließlich zu einer gänzlichen Neufassung desselben führte.
Brentano und Lotz trugen ihre Formulierungsvorschläge in ein ihnen von Mangoldt zugesandtes Exemplar handschriftlich ein und leiteten dieses Exemplar am 1. Februar 1895 Heinrich Herkner und Schulze-Gaevernitz mit der Bitte um Zustimmung zu der redigierten Fassung zu.
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In einem Brief von Walther Lotz an Karl von Mangoldt vom 1. Febr. 1895 (SBPK, Slg. Darmst. 2g 1890 (7)) heißt es: „Ich schrieb mit Eilbrief bei Absendung dieser Zeilen unter Beifügung des anderen Druck-Exemplars an Schulze-Gaevernitz und Herkner, die Ihnen direkt mitteilen werden, ob sie die gleichen Änderungen wie wir fordern.“
Während der Karlsruher Nationalökonom Heinrich Herkner kommentarlos unterschrieb, strich Schulze-Gaevernitz den einleitenden Satz („Auf Grund ihrer eingehenden Beschäftigung mit der sozialen Frage sehen sich die Unterzeichneten veranlaßt, folgende Erklärung anzugeben:“)
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Diesen Änderungswunsch hatte er in einem Schreiben an Mangoldt am 31. Januar 1895 bereits angekündigt. SBPK, Slg. Darmst. 2g 1890 (7).
und unterzeichnete, nach Rücksprache mit einer Reihe Freiburger Kollegen, mit dem Zusatz: „(nur in obiger Fassung) u[nd] die übrigen mitgeteilten Freiburger“.
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Der Zusatz „u[nd] die übrigen mitgeteilten Freiburger“ bezieht sich vermutlich auf jene Freiburger, die sich später mit der Neufassung durch Schulze-Gaevernitz einverstanden erklärten. Siehe dazu in diesem Bericht weiter unten, S. 876.
Vermutlich am 2. Februar 1895 wandte sich Schulze-Gaevernitz an Max Weber. Auch in der von Brentano, Lotz und Schulze-Gaevernitz überarbeiteten Fassung fand der Mangoldtsche Entwurf keineswegs Webers uneingeschränkte Zustimmung. Er unterschrieb die umgearbeitete Erklärung mit [876]dem Zusatz: „(nur in obiger Fassung, und auch in dieser höchst ungern!)“.
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[876] Das von Brentano, Lotz und Schulze-Gaevernitz redigierte Exemplar mit den Unterschriften von Herkner, Schulze-Gaevernitz und Max Weber befindet sich in der SBPK, Slg. Darmst. 2g 1900 (8) Max Weber.
Offensichtlich fühlte er sich jedoch auch weiterhin von dem moralisierenden Duktus irritiert, welcher der Erklärung trotz der redaktionellen Überarbeitung durch Lotz, Brentano und Schulze-Gaevernitz noch immer anhaftete. Wahrscheinlich war dies der Grund dafür, daß er zusammen mit Walther Lotz nachträglich doch noch auf eine gänzliche Neufassung der Erklärung drang. Schulze-Gaevernitz übernahm diese Aufgabe gemeinsam mit dem späteren Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster
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Friedrich Wilhelm Foerster hatte 1893 in Freiburg promoviert. Er war zusammen mit seinem Vater Wilhelm Foerster, Georg von Gizycki und Ferdinand Tönnies Begründer der Gesellschaft für Ethische Kultur und leitete die Freiburger Abteilung. Schulze-Gaevernitz hielt dort im Februar und März 1895 eine Vortragsreihe. Foerster, Friedrich Wilhelm, Erlebte Weltgeschichte, 1869–1953. – Nürnberg: Glock und Lutz 1953, S. 89–91; siehe auch: Ethische Kultur, Nr. 18 vom 4. Mai 1895, S. 143.
und holte die Unterschriften der Freiburger Kollegen für die Neufassung ein. Noch am 2. Februar übersandte Schulze-Gaevernitz Mangoldt diese gänzlich neue, handschriftliche Fassung mit der Bemerkung: „Prof. Μ. Weber und Prof. Lotz bestanden auf Umredigirung der Erklärung, die ich – unter möglichster Schonung Ihres Textes – anliegend vornahm.“
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Gerhart von Schulze-Gaevernitz an Karl von Mangoldt vom 2. Febr. 1895, SBPK, Slg. Darmst. 2g 1890 (7). Die Neufassung ist Beilage dieses Briefes. Ein später als Beilage zu den Grenzboten vom 14. März 1895 abgedrucktes Exemplar dieses Aufrufs, das sich im Nachlaß Schulze-Gaevernitz (Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg, N 523/v17) befindet, trägt die eigenhändige Aufschrift von Schulze-Gaevernitz: „Dieser Aufruf wurde von [Friedrich Wilhelm] Foerster u[nd] mir aufgesetzt u[nd] die Unterschriften gesammelt.“
Unter der Neufassung waren die Namen derjenigen genannt, die sich mit dieser einverstanden erklärt hatten. Es waren dies außer Schulze-Gaevernitz, Max Weber und Walther Lotz, Aloys Riehl (Philosophieprofessor in Freiburg), Gustav Steinmann (Professor der Geologie und Paläontologie in Freiburg), Theobald Ziegler (Professor für Philosophie und Pädagogik in Straßburg), ferner Heinrich Herkner und Friedrich Wilhelm Foerster sowie Gustav Mez („Fabrikant“) und August Schuster („Privatier“).
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Riehl und Steinmann gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Freiburger Ethischen Gesellschaft. Foerster, Friedrich Wilhelm, Erlebte Weltgeschichte, S. 91.
Die Neufassung von der Hand Schulze-Gaevernitz’ lehnte sich in Aufbau und Tenor eng an den Entwurf Mangoldts an, jedoch waren nunmehr alle moralisierenden Passagen eliminiert. Sie war kürzer und präziser gehalten. Max Weber bezeichnete sie in einem Brief an seine Schwester Clara als „eine etwas strammere Erklärung“.
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Brief an Clara Weber vom 11. Febr. 1895, ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/3.
Wie weitgehend Max Weber die Neufassung beeinflußt hat, entzieht sich einer genaueren Bestimmung.
[877]Die Neufassung wurde von Mangoldt, der die weitere Unterschriftensammlung übernahm, geringfügig redigiert und in der Schreibweise modernisiert. Sie wurde, wie Schulze-Gaevernitz vorgeschlagen hatte,
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[877] Gerhart von Schulze-Gaevernitz an Karl von Mangoldt vom 5. Febr. 1895, SBPK, Slg. Darmst. 2g 1890 (7).
mit einem kurzen Vorspann am 3. März 1895 mit den Namen von 163 Unterzeichnern in der „Hilfe“ veröffentlicht;
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Die Hilfe, Nr. 9 vom 3. März 1895, S. 3f.
ein Nachdruck erschien am 14. März 1895 mit 178 Namen in den Grenzboten.
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Die Grenzboten, Beilage zu Heft 11 vom 14. März 1895.
Neben den Unterschriften von Max Weber, Walther Lotz, Lujo Brentano, Schulze-Gaevernitz und den übrigen genannten Freiburger und Straßburger Professoren trug die Erklärung u. a. auch jene von Otto Baumgarten, Theodor Mommsen und Ferdinand Tönnies.
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Unabhängig davon wurde auch die ursprüngliche, von Karl von Mangoldt verfaßte Erklärung veröffentlicht, und zwar in folgenden Zeitschriften und Zeitungen: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Litteratur und Kunst, Beilage zu Heft 6 vom 7. Febr. 1895. Nachdrucke erschienen im Berliner Tageblatt, Nr. 71 vom 8. Febr. 1895, Ab.BI., S. 1; Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, Nr. 7 vom 14. Febr. 1895, Sp. 167f.; Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen, Nr. 7 vom 16. Febr. 1895, S. 49f., und Die Hilfe, Nr. 9 vom 3. März 1895, S. 3.
Der Erklärung, die nur eine unter einer großen Zahl von Protesterklärungen gegen die „Umsturzvorlage“ gewesen ist, war insofern Erfolg beschieden, als die „Umsturzvorlage“ am 10. und 11. Mai 1895 vom Reichstag mit großer Mehrheit abgelehnt wurde.
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Sten. Ber. Band 140, S. 2216f., 2242–2244.

Zur Überlieferung und Edition

Insgesamt sind vier Fassungen der Erklärung gegen die Umsturzvorlage überliefert:
  1. Die von Mangoldt ursprünglich verfaßte Erklärung, die ihr Autor in gedruckter Form zur Unterschriftensammlung versandte. SBPK, Slg. Darmst. 2k 1895 (5) Karl von Mangoldt (A).
  2. Die von Walther Lotz, Lujo Brentano und Gerhart von Schulze-Gaevernitz handschriftlich redigierte Fassung des Mangoldtschen Entwurfs, SBPK, Slg. Darmst. 2g 1900 (8) Max Weber (B). Diese Fassung trägt die Unterschriften Heinrich Herkners, Gerhart von Schulze-Gaevernitz’ und Max Webers. Schulze-Gaevernitz fügte seiner Unterschrift die Bemerkung hinzu: „(nur in obiger Fassung) u[nd] die übrigen mitgeteilten Freiburger“. Max Weber gab seiner Unterschrift den Zusatz bei: „(nur in [878]obiger Fassung, und auch in dieser höchst ungern!)“. Vgl. das Faksimile, S. 880.
  3. Die eigenhändige Neufassung von Gerhart von Schulze-Gaevernitz, SBPK, Slg. Darmst. 2g 1890 (7) Gerhart von Schulze-Gaevernitz (Beilage zu dem Brief Schulze-Gaevernitz’ an Karl von Mangoldt vom 2. Februar 1895) (C). Dieser auf Drängen von Max Weber und Walther Lotz erstellten Neufassung der Erklärung fügte Schulze-Gaevernitz eigenhändig die Namen Max Weber, Heinrich Herkner, Walther Lotz u. a. (siehe oben, S. 876) als Unterzeichner hinzu.
  4. Der Abdruck der auf Gerhart von Schulze-Gaevernitz zurückgehenden Neufassung, in: Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Leipzig, Nr. 9 vom 3. März 1895, S. 3f. (D). Ein Nachdruck mit geringfügigen Veränderungen (z. B. „obern Klassen“ statt „oberen Klassen“), der in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Litteratur und Kunst, Leipzig, Beilage zu Heft 11 vom 14. März 1895, erschienen ist, kann hier vernachlässigt werden.
Diese vier Fassungen kommen im folgenden in zwei Textgruppen zum Abdruck. Der ersten Textgruppe wird die Fassung B, die Webers bedingte Unterstützung erhielt, zugrundegelegt. Im textkritischen Apparat werden die Veränderungen gegenüber der von Weber abgelehnten Fassung A nachgewiesen; ferner wird annotiert, auf welche Hand (Brentano, Lotz oder Schulze-Gaevernitz) diese jeweils zurückgehen. In der zweiten Textgruppe kommt der Text D zum Abdruck; die Abweichungen von C werden als Varianten annotiert mit Ausnahme der nur durch den Wechsel in der Orthographie von c/z und t/th konstituierten Unterschiede. Der Nachdruck von D in den Grenzboten bleibt unberücksichtigt, da nur geringfügige Abweichungen in der Schreibung vorliegen. Der Übersichtlichkeit halber wurde auf eine Annotation der Fassung B, die ja den Fassungen C und D zugrundeliegt, verzichtet. Die Fassungen A und B tragen keine Überschriften. Die Überschrift von Fassung C lautet: „Erklärung“, während die Fassung D zusammen mit weiteren Aufrufen unter der gemeinsamen Überschrift „Erklärungen gegen die Umsturzvorlage“ veröffentlicht ist.