[606]Editorischer Bericht
Zur Entstehung
Am 28. und 29. Mai 1896 fand in Stuttgart der siebente Evangelisch-soziale Kongreß statt. Der Kongreß befand sich zu dieser Zeit in einer schweren Krise:
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eine Reihe konservativer Mitglieder, allen voran Adolf Stoecker, waren ausgetreten; damit war der Charakter des Kongresses als eines alle kirchenpolitischen Richtungen umfassenden Forums zur Erörterung der sozialen Fragen in Zweifel gestellt worden. Für umso notwendiger hielt Max Weber es daher, daß die noch verbleibenden Mitglieder an den Verhandlungen in Stuttgart möglichst zahlreich teilnahmen. Am 22. April 1896 schrieb er an Friedrich Naumann: „Gestern hörte ich […] das Gerücht […], daß von Ihnen und Ihren Freunden beabsichtigt werde, nicht zum Ev[angelisch]– Soz[ialen] Congresse zu kommen? Das ist doch hoffentlich nicht richtig? Es wäre ja unter allen Umständen ein unverzeihlicher Fehler. Hoffentlich fordern Sie doch in der ,Hilfe‘ noch ausdrücklich zum Kommen auf!“[606]Siehe hierzu: Pollmann, Klaus Erich, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage. – Berlin: de Gruyter 1973, S. 266 ff.
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Brief an Friedrich Naumann vom 22. April 1896, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106. Zahlreiche Tageszeitungen veröffentlichten Einladungen des Evangelisch-sozialen Kongresses für das bevorstehende Treffen, so z. B. die Freiburger Zeitung, Nr. 93 vom 24. April 1896, 2. Blatt, S. 3. Wie üblich wurden unter diesen Einladungen auch die Namen der Mitglieder des Ausschusses aufgeführt, darunter auch der Max Webers. Unter der Einladung des den Kongreß organisierenden Stuttgarter Lokalkomitees wurden darüber hinaus herausragende Mitglieder der Landesorganisationen des Evangelisch-sozialen Kongresses genannt, unter anderem auch Max Weber als Mitglied des Ausschusses der Evangelisch-sozialen Vereinigung Badens. (Text der Einladung in: Die Hilfe, Nr. 20 vom 17. Mai 1896, S. 7.)
Auf dem Programm des Kongresses standen am ersten Verhandlungstag Referate über die soziale Arbeit der Geistlichen
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und über die „soziale [607]Bedeutung des Handels“.Bericht über die Verhandlungen des Siebenten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Stuttgart am 28. und 29. Mai 1896. – Berlin: Karl Georg Wiegandt 1896, S. 15–56.
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Den zweiten Verhandlungstag eröffnete der Historiker Hans Delbrück, der Mitglied des Aktionskomitees des Kongresses war, mit einem Referat über „die Arbeitslosigkeit und das Recht auf Arbeit“.[607]Ebd., S. 73–89.
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Ebd., S. 105–119.
Delbrück, der die Zahl der Arbeitslosen im Deutschen Reich auf 200 000 schätzte,
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sah die Arbeitslosigkeit durch zwei sich überschneidende Faktoren bedingt: durch sektorale konjunkturelle Schwankungen einerseits und durch eine mit der fortschreitenden Arbeitsteilung verbundenen Saisonalisierung des Arbeitsanfalls andererseits.Ebd., S. 106.
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Eine weitere Ursache für die Arbeitslosigkeit lag für ihn in dem „Nichtwissen der Arbeitsgelegenheit“,Ebd., S. 110.
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d. h. im Fehlen von Arbeitsvermittlungsstellen. Die Befürchtung, es könne durch die volle Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotentials zu einer Überproduktion kommen, wies er zurück. Das Problem sei vielmehr in einem Mangel an kaufkräftigen Schichten begründet. Nicht um „Überproduktion“, sondern um „Unterkonsumtion“ handele es sich.Ebd.
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In der im Anschluß an den Vortrag stattfindenden Diskussion ergriff Max Weber nach einer Wortmeldung des Stuttgarter Oberbürgermeisters Rümelin als zweiter Redner das Wort. Das Problem der Arbeitslosigkeit, so Weber, könne nur durch die Ausdehnung des ökonomischen und damit des politischen Machtbereichs Deutschlands gelöst werden. Weber bekannte sich damit zu einer bestimmten Gruppe deutscher Nationalökonomen, deren hervorragendster Vertreter sein Fakultätskollege Gerhart von Schulze-Gaevernitz war. Diese Gruppe sah in einer Ausweitung der Exportmöglichkeiten Deutschlands, die gegebenenfalls mit machtpolitischen Mitteln sichergestellt werden müsse, die einzige Chance, die materielle Situation der Arbeiterschaft dauerhaft zu verbessern. Im Anschluß an Webers Diskussionsbeitrag vermerkt das Protokoll: „Lebhafter Beifall.“ Ebd., S. 116.
[608]Zur Überlieferung und Edition
Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck erfolgt nach den stenographischen Protokollen: Bericht über die Verhandlungen des Siebenten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Stuttgart am 28. und 29. Mai 1896. – Berlin: Karl Georg Wiegandt 1896, S. 122 f. (A). Webers Diskussionsbeitrag wird eingeleitet: „Professor Dr. Max Weber – Freiburg“. Die Protokolle erschienen am 21. Juli 1896 gedruckt.
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Es kann als sicher gelten, daß Max Weber die stenographischen Mitschriften vor der Drucklegung durchgesehen und autorisiert hat.[608]Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel und die verwandten Geschäftszweige, Nr. 167 vom 21. Juli 1896, S. 4382.
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Zum Verfahren im Evangelisch-sozialen Kongreß siehe oben, S. 311 f.