[282]Editorischer Bericht
Zur Entstehung
Im Dezember 1893 verhandelte der Reichstag über die Handelsverträge mit Spanien, Serbien und Rumänien. Mit Rumänien sollte das erste exportkräftige Agrarland in das Handelsvertragssystem Caprivis einbezogen werden, das den Partnerländern auf bilateraler Basis jeweils die Meistbegünstigung und eine Herabsetzung der Schutzzölle für Getreide von 5 auf 3,50 Mark pro Doppelzentner als Gegenleistung für die Erleichterung deutscher Importe einräumte.
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Anläßlich dieser Beratungen erreichten die politischen Auseinandersetzungen über die Handelsvertragspolitik der Regierung Caprivi, die konsequent auf die Entwicklung des Deutschen Reiches zu einem exportorientierten Industriestaat setzte, ihren Höhepunkt. Angesichts der rapide steigenden Getreideimporte aus Übersee, insbesondere Nord- und Südamerika, zeichnete sich eine schwere Agrarkrise ab; der Preisverfall für Getreide auf dem Weltmarkt, der durch die Schutzzölle nur in begrenztem Umfang aufgefangen werden konnte, traf die deutsche Landwirtschaft insgesamt, besonders aber die einseitig auf Getreideproduktion ausgerichtete Großgüterwirtschaft im ostelbischen Preußen. Umgekehrt stand die bislang vom Deutschen Reich praktizierte Schutzzollpolitik einer Ausweitung des deutschen Industrieexports an die überwiegend noch agrarisch ausgerichteten Länder in Ost- und Südosteuropa, aber auch nach Übersee, in immer stärkerem Maße im Wege. Eine besondere Rolle spielte dabei Argentinien, welches eines der wichtigsten Länder in Südamerika war, in der die deutsche Exportwirtschaft festen Fuß gefaßt hatte. Andererseits steigerte Argentinien seine Agrarproduktion seit Anfang der 1890er Jahre mit einer für die deutschen Agrarproduzenten beängstigenden Geschwindigkeit. Dabei spielte eine Rolle, daß der argentinische Peso während der Finanzkrise von 1889/90 stark abgewertet werden mußte und Argentinien demgemäß seine Getreideproduktion zeitweilig zu vergleichsweise äußerst niedrigen Preisen auf den Weltmarkt warf. Es avancierte 1893/94 zu einem der größten Weizenexportländer der Welt und stieg neben Rußland, Österreich-Ungarn, [283]den Vereinigten Staaten und Rumänien zum größten Weizenlieferanten des Deutschen Reiches auf.[282]Vgl. Weitowitz, Rolf, Deutsche Politik und Handelspolitik unter Reichkanzler Leo von Caprivi 1890–1894. – Düsseldorf: Droste 1978.
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Darüber hinaus wurden die ungewöhnlich starken Schwankungen der Weltmarktpreise für Getreide in jenen Jahren vielfach auf die Rolle Argentiniens zurückgeführt, dessen schuldenüberladene Währung immer wieder dramatische Kursschwankungen durchmachte. [283]Juraschek, Franz von, Getreidehandel. III. Statistik des Getreidehandels in der neuesten Zeit, in: HdStW 43, 1909, S. 792f.
Obwohl Argentinien seit dem Abschluß eines Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages vom 19. September 1857 zu einem bedeutenden Handelspartner des Deutschen Reichs geworden war, und zwar als Lieferant von Rohstoffen für die deutsche Industrie, insbesondere Baumwolle und Produkte für die Lederherstellung, und seinerseits in beachtlichem Umfang deutsche Waren und Investitionsgüter einführte, geriet es zunehmend in das Kreuzfeuer der agrarischen Kritik, der sich Ende 1894 auch ein Teil der Nationalliberalen Partei anschließen sollte.
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Die Kritik an Argentinien kulminierte im Dezember 1894 in einem von nationalliberaler Seite eingebrachten Antrag, den Handelsvertrag mit Argentinien zu kündigen (Sten. Ber. Band 141, S. 241), und einer im März 1895 im Reichstag leidenschaftlich geführten Debatte zwischen Agrariern und den Anhängern einer freihändlerisch orientierten Handelsvertragspolitik. Eines der von agrarischer Seite vorgebrachten Argumente war, daß die deutsche Landwirtschaft niemals mit den in Argentinien üblichen Produktionsmethoden konkurrieren könne, die in großem Umfang auf Raubbau an jungfräulichen Böden beruhten, ein weiteres, daß Argentinien angesichts der dort bestehenden Währungsverhältnisse auch bei extrem niedrigen Getreidepreisen immer noch rentabel zu produzieren in der Lage sei. Wichtig sei es daher, das „für uns gefährlichste Land des Sommerweizens außer Konkurrenz“ zu setzen. Sten. Ber. Band 139, S. 1443ff. und 1467ff. (Das Zitat: S. 1464).
Vor dem Hintergrund dieser sich bereits Anfang 1894 abzeichnenden Entwicklung verfaßte Max Weber die beiden nachstehenden Artikel. Max Weber war, obschon ein erbitterter Gegner der Agrarier, dennoch empfänglich für deren Argument, daß das Kulturniveau der deutschen Landwirtschaft angesichts solcher Billigkonkurrenz gegebenenfalls mit staatlichen Mitteln verteidigt werden müsse. Insoweit lehnte er die dogmatischen Positionen der Freihandelslehre durchaus ab. Der Fall der argentinischen Agrarwirtschaft hatte ihn schon seit einiger Zeit beschäftigt; bereits in der zweiten Folge seiner Artikelserie über „Die Erhebung des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der Landarbeiter“ vom 15. Januar 1893 hatte er diesen, wenn auch nur knapp, behandelt.
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Er faszinierte ihn besonders insofern, als hier eine Reihe von ganz unterschiedlichen Faktoren zusammenkamen: Einerseits die Jungfräulichkeit des Bodens und die klimatischen Bedingungen dieses Landes, die der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion zumindest kurzfristig besonders günstige Möglichkeiten boten. Zum zweiten die Stellung Argentiniens innerhalb des Weltwährungssystems, die es [284]den großen Kolonisationsgesellschaften im Lande ermöglichte, angesichts der Entwertung der argentinischen Währung und deren großen Schwankungen gegenüber dem Goldkurs, der damals als Maßstab der Währungskurse diente, enorme Gewinne auf Kosten der einheimischen Volkswirtschaft zu erzielen. Vermutlich war der letztere Gesichtspunkt auch der Grund, weshalb Weber, obwohl kein Anhänger des Bimetallismus, seinen Artikel in einer Zeitschrift veröffentlichte, deren Herausgeber Otto Arendt in zahlreichen Publikationen für die Einführung einer auf internationalen Verträgen beruhenden Doppelwährung, d. h. Gold- und Silberwährung, plädierte. In konservativen Kreisen besaß die Auffassung, daß die Lage der Landwirtschaft durch die Aufgabe des Goldstandards und die Rückkehr zu einem bimetallistischen internationalen Währungssystem nachhaltig verbessert werden könne, damals großen Anhang. Arendt gehörte als Freikonservativer seit 1885 dem preußischen Abgeordnetenhaus an.Siehe oben, S. 128f.
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Das Deutsche Wochenblatt diente führenden Mitgliedern der Reichs- und freikonservativen Partei als Sprachrohr.[284]Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. – Stuttgart: W. Kohlhammer 19822, S. 39f.
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Lexikon zur Parteiengeschichte, hg. von Dieter Fricke u. a., Band 3. – Köln: Pahl-Rugenstein 1985, S. 746.
Max Weber verfügte in diesem Fall über Informationen aus erster Hand; er schilderte die Produktionsmethoden und die Ertragslage einer argentinischen Hazienda nach den Berichten eines deutschen Kolonisten, mit dem er unmittelbar bekannt gewesen sein dürfte, wie sich aus seiner Bemerkung schließen läßt, daß er „authentisch und eingehend informirt“ sei.
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Um wen es sich dabei gehandelt hat, ist uns freilich nicht bekannt. Es steht zu vermuten, daß Weber seinen Gewährsmann durch Vermittlung eines Dozenten der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin – hier kommt in erster Linie Karl Kaerger in Frage – kennengelernt hat.Siehe unten, S. 286.
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Karl Kaerger bereiste Mitte der 80er Jahre sowohl Südamerika als auch Ostafrika und befaßte sich mit kolonisatorischen Fragen und tropischer Landwirtschaft. Dabei qualifizierte er sich für seine späteren Aufgaben: Seit 1895 war er landwirtschaftlicher Sachverständiger bei den Kaiserlichen Gesandtschaften in Buenos Aires und Mexiko. Seine in den Jahren 1895–1900 an das Auswärtige Amt erstatteten Berichte veröffentlichte er 1901 unter dem Titel: Kaerger, Karl, Landwirtschaft und Kolonisation im Spanischen Amerika, 2 Bände. – Leipzig: Duncker & Humblot 1901.
[285]Zur Überlieferung und Edition
Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Abdruck folgt dem Text, der in zwei Folgen jeweils unter der Überschrift „Argentinische Kolonistenwirthschaften“, in: Deutsches Wochenblatt, hg. von Otto Arendt, Berlin, Nr. 2 vom 11. Januar 1894, S. 20–22, und Nr. 5 vom 1. Februar 1894, S. 57–59, erschienen ist (A). Beim zweiten Artikel folgt nach der Überschrift der Zusatz: „(Schluß)“. Beide Artikel sind jeweils mit „Berlin. Max Weber.“ gezeichnet.
Besonderheiten bei der Schreibung spanischer Begriffe und Ortsnamen – wie „Laplata“ statt „La Plata“, „capatás“ (katalanisch) statt „capataz“, „Puncho“ statt „Poncho“ oder „Galietas“ statt „Galletas“ – wurden beibehalten. Webers eigene Anmerkungen binden in A mit Sternchen an. Diese wurden durch die Indizierung mit in offene Klammern gesetzte Ziffern ersetzt.