[336][Beitrag zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik]
[Β 83]Die
 a
 nachfolgenden Bemerkungen beschränken sich ausdrücklich auf empirische Disziplinen, wie die uns fachlich interessierende Soziologie (einschließlich der „Politik“), Nationalökonomie (einschließlich der „Wirtschaftspolitik“), Geschichte (aller Arten, also ausdrücklich: einschließlich z. B. der Rechts-, Religions- und Kulturgeschichte) es sind. [336]In A geht voran: Max Weber. und ein Absatz.
I.
Nicht diskutieren möchte ich persönlich auch innerhalb dieses Rahmens bei der Ausschußverhandlung mit Andersgesinnten über folgende Punkte: 
 1. Ob im Verein für Sozialpolitik Fragen der „Weltanschauung“, genauer praktisch-politische „Wertungen“ ihre Stätte haben sollen? 
 Denn es scheint mir unter uns allen festzustehen, daß er vornehmlich zu diesem Zwecke geschaffen wurde, bestanden hat und weiter bestehen soll. Er soll dies ganz in dem richtig verstandenen Sinne weiter tun, den seine Diskussionen auch bisher hatten. Er hat ausdrücklich auf „Resolutionen“ und ähnliches verzichtet, hat damit den Typus des „Religionsgesprächs“, bei dem ein Teil Ketzer sein muß, von ihnen ferngehalten, hat absichtlich die Heranziehung verschiedener, möglichst entgegengesetzter Standpunkte für Referate zum Grundsatz gemacht, und er hat damit seinerseits alle diejenigen Postulate erfüllt, welche wir an eine Diskussion von praktischen Wertungen stellen, – deren wissenschaftliches Ziel sein kann: die entscheidenden, nicht weiter reduzierbaren Axiome, auf welchen die entgegengesetzten Standpunkte ruhen, bloßzulegen, – so daß man wählen könne. Das Seltsame ist bei dieser Lage nur, daß ein Teil seiner Mitglieder diesen Sachverhalt theoretisch nicht zutreffend versteht, obwohl sie praktisch meist ihm gemäß gehandelt haben. „Propaganda“ zu machen beabsichtigt der Verein seit [337]seiner Gründung ausschließlich für die nur sehr allgemein dahin zu formulierende Stellungnahme: daß man an Erscheinungen des Wirtschaftslebens, wenn man sie wertend betrachtet, auch andere Wertmaßstäbe anlegen dürfe, als [B 84]lediglich das geschäftliche Rentabilitätsinteresse der jeweiligen Erwerbsunternehmungen. Ich sehe sonst gar nichts, was wirklich „gemeinsam“ wäre. Daß von seinen Gründern und Mitgliedern ein jeder gehofft haben wird, daß seine (von anderen Mitgründern oft stark divergierenden) Wertungen am hinreißendsten wirken würden, versteht sich hier wie sonst von selbst. Der Verein für Sozialpolitik war und ist ein Gebilde, innerhalb dessen in erster Linie praktisch-politische Fragen diskutiert worden sind und diskutiert werden sollen, unter hervorragender Beteiligung von Leuten, welche für deren Diskussion eine spezifische Voraussetzung: gelehrte Fachkenntnis der Tatsachen, mitbringen. Aber es wäre ein sehr schwerer Irrtum, zu glauben, daß gerade gelehrte Fachkenntnis eine spezifische Vorzugsqualität für die praktisch wertende Stellungnahme verleihe. Seine anscheinend weite Verbreitung macht es in der Tat erwünscht, daß man sich über den „Sinn“ des im Verein üblichen Diskutierens klar werde. Damit befassen sich die späteren Erörterungen. 
 Nicht diskutieren möchte ich für meine Person ferner: 
 2. Ob man im akademischen Unterricht sich zu seinen ethischen, ästhetischen, weltanschauungsmäßigen oder anderen praktischen Wertungen „bekennen“ solle oder nicht. 
 Ich bedaure die Hineinziehung dieses Problems. Denn das ist selbst eine gänzlich von praktischen Wertungen abhängige Frage, die eben deshalb unaustragbar ist. Denkbar ist nämlich, um die Extreme zu zitieren, sowohl: 
 a) der Standpunkt, daß die logische Trennung rein logischer und rein empirischer Sachverhalte von den praktischen ethischen oder „weltanschauungsmäßigen“ Wertungen zu Recht bestehe, daß aber dennoch oder vielleicht sogar eben deshalb beide Kategorien von Problemen auf das Katheder gehören, – wie 
 b) der Standpunkt, daß, auch wenn die Trennung logisch nicht konsequent durchführbar sei, dennoch es sich empfehle, jene praktischen Wertfragen im Unterricht möglichst zurücktreten zu lassen. 
 Um nicht dem Vorwurf, mit der eignen Meinung zurückzuhalten, ausgesetzt zu sein, muß ich hier allerdings auf diese Fragen eingehen. 
 [338]Zunächst also: Der Standpunkt „b“ schiene mir (subjektiv) unakzeptabel. Insbesondere scheint mir die nicht selten gemachte Unterscheidung „praktischer“ Wertungen in solche „parteipolitischen“ und solche anderen Charakters schlechterdings undurchführbar und nur ge[B 85]eignet, die praktische Tragweite der den Hörern suggerierten Stellungnahme zu verhüllen. Die Ansicht vollends: daß dem Katheder die „Leidenschaftslosigkeit“ eignen müsse, folglich Dinge auszuscheiden seien, welche die Gefahr „temperamentvoller“ Erörterungen mit sich brächten, wäre, wenn man überhaupt einmal wertet, eine Bureaukratenmeinung, welche – nach meiner subjektiven Ansicht – jeder unabhängige Lehrer zurückweisen müßte. Von denjenigen Gelehrten, welche sich die „praktischen“ Wertungen bei empirischen Erörterungen nicht versagen zu sollen glaubten, sind gerade die leidenschaftlichsten – wie etwa Treitschke, in seiner Art auch Mommsen
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 – gerade vom Standpunkt der prinzipiellen Trennung beider Sphären am ehesten zu ertragen. Denn durch das Medium der unterschiedlichen Stärke der Affektbetontheit wird der Hörer wenigstens in die Lage versetzt, seinerseits relativ leicht die Scheidung der verquickten Probleme vorzunehmen, also die Subjektivität der Wertung des Lehrers in ihrem Einfluß auf die etwaige Trübung seiner empirischen Feststellung abzuschätzen und so für sich das zu tun, was dem Temperament des Lehrers versagt blieb. Dem echten Pathos bliebe so diejenige Wirkung auf die Seelen der Jugend gewahrt, welche – wie ich annehme – die Anhänger der praktischen Kathederwertungen ihnen gern sichern möchten, ohne daß der Hörer dabei zur Konfusion verschiedener Sphären miteinander verbildet würde, wie es geschehen muß, wenn die Feststellung reiner Faktizitäten und das Provozieren praktischer Stellungnahme zu großen Lebensproblemen beides in die gleiche Temperamentlosigkeit getaucht wird. [338] Weber hatte in Berlin als Student 1887 Vorlesungen von Heinrich von Treitschke gehört und kannte den Eindruck, den dessen einseitig politischer Vorlesungsstil und offen geäußerter Antisemitismus auf seine Mithörer machte; vgl. Gerhards, Thomas, Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert. – Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh 2013, S. 92–111, hier S. 110 f. Die Wirkung des politisch liberalen Mommsen erfuhr Weber als Hörer der staatsrechtlichen Vorlesung 1886/87 und während seines Rigorosums 1889, vgl. Deininger, Jürgen, Einleitung in: Weber, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, 1891, MWG I/2, S. 1–54, bes. S. 22, 43, 57. 
[339]Der Standpunkt „a“ scheint mir – vom eigenen subjektiven Standpunkt seiner etwaigen Anhänger aus – dann und nur dann akzeptabel, wenn der akademische Lehrer sich zur absoluten Pflicht setzt, in jedem einzelnen Falle, auch auf die Gefahr hin, seine Wertungen dadurch reizloser zu gestalten, seinen Hörern und, was die Hauptsache, sich selbst unerbittlich (eventuell „pedantisch“) klar zu machen: was von seinen jeweiligen Ausführungen empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit, wenn man einmal die logische Heterogenität zugibt, und also das absolute Minimum des zu Fordernden. – 
 Die Frage dagegen: ob man auf dem Katheder überhaupt (auch unter dieser Kautel) praktisch-politisch werten soll oder nicht, ist ihrerseits eine solche der praktischen Universitätspolitik und deshalb [B 86]letztlich nur vom Standpunkt der Aufgaben aus entscheidbar, welche der einzelne von seinen Wertungen aus den Universitäten zuweisen möchte. Wer für sie (und damit für sich selbst kraft seiner Qualifikation zum akademischen Lehrer) heute noch die universelle Rolle: Menschen zu prägen und politische Gesinnung zu propagieren, in Anspruch nimmt, wird zu ihr anders stehen, als derjenige, welcher die Tatsache (und ihre Konsequenzen) bejahen zu müssen glaubt: daß die Hochschulen heute ihre wertvollen Wirkungen durch fachmäßige Schulung seitens fachmäßig Qualifizierter entfalten. Man kann den ersten Standpunkt aus ebenso viel verschiedenen „letzten“ Positionen heraus vertreten wie den zweiten. Diesen letzteren insbesondere (den ich persönlich einnehme) sowohl aus einer höchst überschwänglichen wie gerade umgekehrt auch aus einer durchaus bescheidenen Einschätzung der Bedeutung der „Fach“bildung. Z. B. nicht aus dem Grunde, weil man etwa wünschte, daß alle Menschen, im innerlichen Sinne, zu möglichst reinen „Fachmenschen“ werden möchten. Sondern gerade umgekehrt, weil man die letzten höchst persönlichen Lebensentscheidungen, die ein Mensch aus sich heraus zu treffen hat, nicht mit Fachschulung – wie hoch deren Bedeutung für die allgemeine Denkschulung nicht nur, sondern etwa auch für die Selbstdisziplin und sittliche Einstellung des jungen Menschen gewertet werden möge – in denselben Topf geworfen und ihre Lösung dem Hörer durch eine unvermerkte Kathedersuggestion abgenommen zu sehen wünscht. 
 [340]Das günstige Vorurteil Professor v. Schmollers für die Kathederwertung ist mir persönlich als Nachhall einer großen Epoche, die er und seine Freunde mit schaffen halfen, durchaus verständlich.
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 Aber ich meine: es könne auch ihm doch kaum entgehen, daß die Verhältnisse sich für die jüngere Generation in einem wichtigen Punkt erheblich geändert haben. Es war vor 40 Jahren in den Kreisen unserer Gelehrtenwelt der Glaube weit verbreitet: daß auf dem Gebiet der praktisch-politischen Wertungen letztlich eine der möglichen Stellungnahmen die „ethisch“ allein richtige sein müsse. (Schmoller selbst hat freilich diesen Standpunkt stets nur sehr eingeschränkt vertreten.)[340] Der Verein für Sozialpolitik war im Oktober 1872 von einer Gruppe von Unternehmern, Sozialpolitikern, Wirtschaftswissenschaftlern und Nationalökonomen in der Überzeugung gegründet worden, daß die Arbeiterschaft am wirtschaftlichen Aufschwung des Industriezeitalters beteiligt werden müsse durch eine maßvolle, zwischen Industriellen und Arbeitern ausgleichende Sozialpolitik. Zu den Gründungsmitgliedern aus den Hochschulen gehörten neben Gustav Schmoller, die Nationalökonomen Lujo Brentano, Johannes Conrad, Bruno Hildebrand, Wilhelm Roscher und Adolph Wagner. Sie verstanden nationalökonomische Forschung als Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die die persönliche und soziale Lage des Wirtschaftenden, seiner Haus- und Erwerbsgemeinschaft und die Organisation des Marktes genauso zu beschreiben habe, wie die historische Entwicklung der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen des Wirtschaftens. Diese historische Wirtschaftsforschung wurde der sozialreformerischen Einstellung ihrer Vertreter wegen auch ethische Nationalökonomie genannt und hatte durchaus Bedeutung in der Sozialpolitik des Kaiserreiches der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. 
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 Dies nun ist heute gerade unter den Anhängern der Kathederwertungen, wie leicht festzustellen ist, nicht mehr der Fall. Nicht mehr die ethische Forderung, deren (relativ) schlichte Gerechtigkeitspostulate sowohl in der Art ihrer letzten Begründung wie in ihren Konsequenzen (relativ) einfach und vor allem (relativ) unpersönlich, weil unzweideutig spezifisch überpersönlich, geartet waren, sondern (kraft einer unvermeid[B 87]lichen Entwicklung) ein bunter Strauß von „Kulturwertungen“, in Wahrheit: [341]subjektiven Ansprüchen an die Kultur, oder ganz offen: das angebliche „Recht der Persönlichkeit“ des Lehrers[,] sind es, in deren Namen heute die Freiheit der Kathederwertung gefordert wird. Man mag sich nun über den Standpunkt entrüsten, aber man wird ihn – und zwar deshalb, weil auch er eben eine „praktische Wertung“ enthält – nicht „widerlegen“ können: daß von allen Arten der Prophetie die in diesem Sinne „persönlich“ gefärbte Professoren-Prophetie zahlreicher offiziell beglaubigter Propheten, die nicht auf den Gassen oder in den Kirchen oder sonst in der Öffentlichkeit, oder, wenn privatim, dann in persönlich ausgelesenen Glaubenskonventikeln, die sich als solche fühlen und bekennen, predigen, Der langjährige Vorsitzende des Vereins für Sozialpolitik Gustav Schmoller prägte wesentlich die Vereinsgeschicke. Er war der Überzeugung, daß die durch die historische Forschung zum Wirtschaftsleben angewachsene Materialsammlung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem sich allmählich verfestigenden Bestand gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Volkswirtschaft geführt habe. Aus ihrer umfassenden Kenntnis der Wirklichkeit habe die historische Nationalökonomie ein Verständnis für die gesellschaftlichen Prozesse entwickelt, so daß sie zu einer „moralisch-politischen Wissenschaft“ geworden sei, die zu den Fragen von Recht und Gerechtigkeit, von Einzel- und Gesamtinteresse sehr wohl auf empirisch gesicherter Grundlage Stellung nehmen und auch Maßnahmen für Reformen aussprechen könne. Vgl. Schmoller, Wechselnde Theorien (wie oben, S. 186, Anm. 2), bes. S. 338, 341. 
b
 sondern in der angeblich objektiven, unkontrollierbaren[,] diskussionslosen, vor allem Widerspruch sorgsam geschützten Stille des vom Staat privilegierten Hörsaals „im Namen der Wissenschaft“ Kathederentscheidungen von Weltanschauungsfragen zum besten geben, die einzige ganz und gar unerträgliche ist. Es ist ein alter, von Schmoller bei einer gegebenen Gelegenheit scharf vertretener Grundsatz: daß die Vorgänge in den Hörsälen der öffentlichen Erörterung entzogen bleiben sollen. Obwohl die Ansicht möglich ist, daß dies gelegentlich auch, auf empirisch-wissenschaftlichem Gebiet, gewisse Nachteile haben könne, nimmt man offenbar und nehme auch ich an: daß die „Vorlesung“ eben etwas anderes als ein „öffentlicher Vortrag“ oder ein „Essay“ sein solle, daß die unbefangene Strenge, Sachlichkeit, Nüchternheit der Kollegdarlegung unter dem Hineinreden der Öffentlichkeit, z. B. der Presse-Öffentlichkeit, zum Schaden des pädagogischen Zweckes leiden könne. Allein ein solches Privileg der Unkontrolliertheit scheint doch jedenfalls nur für den Bereich der rein fachlichen Qualifikation des Professors angemessen. Für persönliche Prophetien aber gibt es keine Fachqualifikation und darf es daher auch nicht das Privileg geben: die nun einmal bestehende Zwangslage des Studenten, um seines „Fortkommens“ im Leben willen bestimmte Lehranstalten aufsuchen zu müssen, dazu auszubeuten, um ihm neben dem, was er hierzu braucht: Weckung und Schulung seiner Auffassungsgabe und seines Denkens, und daneben: Kenntnisse, auch noch, vor jedem Widerspruch sicher, die eigene zuwei[342]len gewiß ganz interessante (oft aber auch recht irrelevante) sogenannte „Weltanschauung“ einzuflößen. [341] Fehlt in B; predigen, sinngemäß ergänzt.
Für deren Propaganda stehen dem Professor, wie jedermann, andere Gelegenheiten zu Gebot und wenn nicht, so kann er sie sich [B 88]in geeigneter Form leicht schaffen, wie bei jedem ehrlichen Versuch dazu die Erfahrung beweist. Aber der Professor muß nicht den Anspruch erheben, als Professor den Marschallstab des Staatsmanns (oder des Kulturreformers) im Tornister zu tragen, wie er tut, wenn er die Sturmfreiheit des Katheders für staatsmännische (oder kulturpolitische) Sentiments benutzt. In der Presse, in Versammlungen, Vereinen, Essays, in jeder jedem anderen Staatsbürger ebenfalls zugänglichen Form mag (und: soll) er tun, was sein Gott oder Dämon ihn tun heißt. Was aber heute der Student im Hörsaal doch vor allen Dingen von seinem Lehrer lernen sollte, ist: 1. die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden; – 2. Tatsachen, auch und gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von subjektiver Stellungnahme dazu zu scheiden; – 3. seine eigene Person hinter die „Sache“ zurückzustellen und vor allem das Bedürfnis zu unterdrücken: seine persönlichen Geschmacks- und sonstigen Empfindungen ungebeten und sozusagen „unkeusch“ zur Schau zu stellen. Es scheint mir, daß dies heute ganz ungleich dringlicher ist, als es etwa vor vierzig Jahren war, wo gerade dies Problem eigentlich gar nicht in dieser Form existierte. Es ist ja nicht wahr – wie man behauptet hat –, daß die „Persönlichkeit“ in dem Sinn eine „Einheit“ sei und sein „solle“, daß sie sozusagen in Verlust geraten müßte, wenn man ihrer nicht bei jeder Gelegenheit ansichtig wird. Bei jeder „beruflichen“ Aufgabe verlangt „die Sache“ als solche ihr Recht und will nach ihren eigenen Gesetzen erledigt sein. Bei jeder beruflichen Aufgabe hat der, welchem sie gestellt ist, sich zu beschränken und das auszuscheiden, was nicht streng „zur Sache“ gehört, am meisten aber eigene Liebe und Haß. Und es ist nicht wahr, daß eine „starke“ Persönlichkeit sich darin dokumentiere, daß sie (wie es die Folge sein würde) bei jeder Gelegenheit zuerst nach einer nur ihr eigenen ganz persönlichen „Note“ fragt. Sondern es ist zu wünschen, daß gerade die jetzt heranwachsende Generation sich vor allen Dingen wieder an den Gedanken gewöhne: daß eine „Persönlichkeit zu sein“ etwas ist, was man nicht absichtsvoll wollen kann und daß es nur einen ein[343]zigen Weg gibt, um es (vielleicht!) zu werden: die rückhaltlose Hingabe an eine „Sache“, möge diese und die von ihr ausgehende „Forderung des Tages“
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 nun im Einzelfall aussehen wie sie wolle. Es ist stilwidrig, in Facherörterungen „persönliche“ Angelegenheiten zu mischen. Und es heißt, den „Beruf“ seines einzigen heute wirklich noch bedeutsam gebliebenen Sinnes ent[B 89]kleiden, wenn man diejenige spezifische Art von Selbstbegrenzung, die er verlangt, nicht vollzieht. Ob aber der modische Persönlichkeitskult auf dem Thron, in der Amtsstube oder auf dem Katheder sich auszuleben trachtet[,] – er wirkt äußerlich fast immer effektvoll, im innerlichsten Sinn aber überall gleich kleinlich, und er schädigt überall die Sache. Nun hoffe ich[,] nach dem oben schon Bemerkten nicht noch besonders sagen zu müssen: daß mit dieser Art von Kultus des „Persönlichen“, nur weil es „persönlich“ ist, gerade die Herren, welche vermutlich innerhalb des Ausschusses andere Ansichten vertreten werden, und denen die nachfolgenden sachlichen Beratungen entgegentreten, ganz gewiß am allerwenigsten zu schaffen haben. Die Älteren halten an der bei der ganz anderen Situation vor 40 Jahren höchst verständlichen Praxis fest, die Jüngeren haben wohl inhaltlich andere Erziehungsideale, die ich als solche achten, aber nicht teilen muß. Aber nicht was sie wollen, sondern wie das, was sie mit ihrer Autorität legitimieren, auf eine Generation mit unvermeidlicher Prädisposition zum Sichwichtignehmen wirken muß, möchte ich bitten zu erwägen. [343] Zitat aus Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Band 42, Abt. II. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1907, S. 167; es findet sich auch in Weber, Wissenschaft als Beruf, in: MWG I/17, S. 71–111, hier S. 111 mit Hg.-Anm. 66. 
Schließlich: daß manche (nicht: alle) der außerhalb des Vereins für Sozialpolitik oder in Gegnerschaft zu ihm stehenden angeblichen Gegner der Kathederwertungen gewiß am allerwenigsten dazu legitimiert sind, sich, zur Diskreditierung der im Verein von jeher heimischen, ausdrücklich und offen praktisch-politischen Problematik gewidmeten, außerhalb der Hörsäle in voller Öffentlichkeit sich vollziehenden Erörterungen, auf den von ihnen noch dazu zum Teil arg mißverstandenen Grundsatz der Ausscheidung der „Werturteile“ zu berufen, bedarf innerhalb unseres Kreises wohl kaum der besonderen Feststellung. Gerade die meisten unter ihnen leben ganz und gar von der Vertretung ihrer eigenen Wer[344]tungen, die dabei den Vorzug haben, der heutigen Interessenkonstellation und Mode besser „angepaßt“ zu sein. 
 In der Existenz dieser pseudo-wertfreien, tendenziösen, dabei durch die zähe und zielbewußte Parteinahme starker Interessentenkreise getragenen Elemente kann m. E. eine wirklich entscheidende „Rechtfertigung“ dafür gefunden werden, daß auch die – im üblichen Sinne – „sozialpolitische“ Parteimeinungen vertretenden Gelehrten zurzeit bei der Kathederwertung beharren. Ich kann es sehr gut verstehen, daß in der Zeit der offenen oder verhüllten Interessenteneinflüsse gerade unabhängig gesonnene Gelehrte keine Neigung verspüren, jenes
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 so praktische Mimicry einer nur scheinbaren „Wertfreiheit“ mitzumachen. Persönlich glaube ich, daß trotzdem das (nach meiner Meinung) Richtige [B 90]geschehen sollte und daß das Gewicht der praktischen Wertungen eines Gelehrten dadurch, daß er ihre Vertretung auf die adäquaten Gelegenheiten außerhalb des Hörsaals beschränkt, eher wachsen würde, wenn man weiß, daß er die Strenge besitzt, innerhalb des Hörsaals nur das zu tun, was „seines Amtes“ ist. Indessen sind dies alles ja „praktische Wertungsfragen“ und unaustragbar. [344] Zu erwarten wäre: jene
Jedenfalls wäre aber die prinzipielle Inanspruchnahme des Rechtes der Kathederwertung m. E. nur dann konsequent, wenn zugleich Gewähr dafür geschaffen werde, daß alle Parteimeinungen Gelegenheit hätten, sich auf dem Katheder Geltung zu verschaffen. (Dafür genügt noch keineswegs das holländische Prinzip: Entbindung der theologischen Fakultät von allem Bekenntniszwang, aber Freiheit der Universitätsgründung im Falle der Sicherung der Geldmittel und der Innehaltung der Qualifikationsvorschriften für die Lehrstuhlbesetzung und privates Recht der Stiftung von Lehrstühlen mit Präsentationspatronat der Stifter.
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 Denn das prämiiert [345]nur den Geldbesitz und die autoritären Organisationen: die klerikalen Kreise haben bekanntlich davon Gebrauch gemacht). Bei uns pflegt aber mit der Vertretung der Kathederwertungsfreiheit geradezu das Gegenteil jenes Prinzips der gleichmäßigen Vertretung aller (auch der denkbar „extremsten“) Richtungen vertreten zu werden. Es war z. B. natürlich von Schmollers persönlichem Standpunkt aus konsequent, wenn er „Marxisten und Manchesterleute“ für disqualifiziert zur Innehabung von akademischen Lehrstühlen erklärte,[344] Dieses „holländische Prinzip“ hatte Weber bereits auf dem III. Deutschen Hochschullehrertag in Leipzig im Oktober 1909 angesprochen. In der Diskussion, ob die Zulassung zur Habilitation von religiösen oder politischen Voraussetzungen abhängig zu machen sei, verwies er auf holländische theologische Fakultäten, die kein Glaubensbekenntnis verlangten, sowie auf die dortige – vom Bischof von Utrecht tatsächlich auch in Anspruch genommene – Möglichkeit, mit Stiftungsmitteln eine Universität zu gründen, vgl. Weber, Max, [Die Auslese für den akademischen Beruf. Diskussionsbeiträge auf dem III. Deutschen Hochschullehrertag in Leipzig am 12. und 13. Oktober 1909], in: MWG I/13, S. 180–187, hier S. 182 f. 
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 obwohl er nie die Ungerechtigkeit besessen hat, die wissenschaftlichen Leistungen zu ignorieren, welche gerade diesen Kreisen entstammen. Allein eben hier liegen Punkte, in denen ich persönlich unserem verehrten Meister niemals folgen konnte. Einer unserer allerersten, politisch streng konservativ gesonnenen Juristen erklärte freilich auf einer Tagung des Hochschullehrertages (worin er sich gegen die Exklusion von Sozialisten von den Kathedern aussprach):[345] Schmollers Diktum lautete: „Weder strikte Smithianer noch strikte Marxianer können heute Anspruch darauf machen, für vollwertig gehalten zu werden.“ Schmoller, Wechselnde Theorien (wie oben, S. 186, Anm. 2), S. 341.
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 wenigstens einen „Anarchisten“ würde auch er als Rechtslehrer nicht [A, A₁ 5]akzeptieren können, da der ja die Geltung des Rechts als solchen Der Strafrechtler Adolf Wach hatte sich 1909 auf dem Hochschullehrertag in Leipzig dafür ausgesprochen, die Vergabe der venia legendi prinzipiell unabhängig von der religiösen oder politischen Überzeugung des Habilitanden zu machen, hatte sich aber gegen eine Zulassung von „Anarchisten“ als Rechtslehrer ausgesprochen; vgl. Wach, Adolf, Thesen, in: Verhandlungen des III. Deutschen Hochschullehrertages zu Leipzig am 12. und 13. Oktober 1909. Bericht erstattet vom engeren geschäftsführenden Ausschuß. – Leipzig: Verlag des Literarischen Zentralblattes für Deutschland (Eduard Avenarius) 1910, S. 3–12, hier S. 9, vgl. auch die Diskussionsbeiträge Max Webers, Die Auslese für den akademischen Beruf, MWG I/13, S. 182 und 184. 
d
 überhaupt negiere, – und hielt dies Argument offenbar für durchschlagend[345]A: solches
e
. Ich bin der gegenteiligen Ansicht. Der Anarchist kann sicherlich ein sehr guter „Jurist“ sein. Und ist er das, dann kann gerade jener sozusagen archimedischeA, A₁: Deutschland
f
 Punkt außerhalb der uns so selbstverständlichen KonventionenA, A₁: archinodische
g
 und Voraussetzungen, auf die ihn seine Überzeugung – wenn sie echt und praktisch bewährt ist – stellt, ihnA, A₁: Kompensionen
h
 befähigen, GrundanschauungenIn A, A1 folgt: recht wohl
i
 der üblichenA, A₁: Grundvoraussetzungen
k
 Rechtslehre als problematisch [B 91]zu erkennen, die denjenigen entgehen,Fehlt in A, A1
l
 welchen sie allzu selbstver[346]ständlich sind. Der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis. –A, A₁: entgehen.
m
[346] Gedankenstrich fehlt in A, A1. 
Gerade die verschiedensten und wichtigsten Wertfragen aber sind nun von den Kathedern staatlicher Universitäten durch die Natur der Verhältnisse ausgeschlossen. [A₁ [5a]]Wem die Interessen der Nation über ausnahmslos allen ihren konkreten Institutionen stehen, für den ist es eine zentral
 o
 wichtige Frage: ob z. B. die heute maßgebendeA₁: central
p
 Auffassung von der Stellung des Monarchen in Deutschland vereinbar ist mit ihrenA₁: heutige > heute maßgebende
q
 Machtinteressen und denjenigenA₁: den > ihren
r
 Mitteln: Krieg und Diplomatie, durch welcheA₁: den > denjenigen
s
 diese wahrgenommen werden. Es sind nicht immer die schlechtesten Patrioten und auch keineswegs Gegner der Monarchie, welche heute vielfach geneigt sind, diese Frage zu verneinen und an Erfolge auf jenen beiden Gebieten nicht zu glauben, solange hier nicht sehr tiefgreifende Änderungen eingetreten sind. Jedermann aber weiß, daß diese Lebensfragen der Nation auf deutschen Kathedern nicht in voller Freiheit unbefangen diskutiert werden könnten.A₁: welchen
t
A₁: können. In A1 folgt die eigenhändige Setzeranweisung: Absatz.
n
 [A, A₁ 5]Angesichts der Tatsache, daß gerade die praktisch-politischA: Wenn die Nation als solche und ihr Interesse höher steht als ausnahmslos alle ihre Institutionen, dann muß heute, nach den gemachten Erfahrungen, das Gebilde so stark der Kritik bedürftig erscheinen als der monarchische Charakter des deutschen Staatswesens. Wir können nach einer Meinung  keinem Krieg mit Ruhe entgegensehen, ihn also als politisches Mittel nicht in Aussicht  nehmen, weil ein militärischer Dilettant dann kraft seiner „Kommandogewalt“ die  Führung übernimmt, der gewachsen zu sein er nach seiner persönlichen Ansicht optima [A: optime] fide glaubt. Und wir können keine erfolgreiche auswärtige Politik treiben, weil ein staatsmännisch nun einmal nicht begabter politischer Dilettant, der optima [A: optime] fide seine Pflicht zu tun glaubt, deren Kreise fortwährend stört. Und wir stehen auch bei allen möglichen anderen Fragen jeden Augenblick auf rein dynastische, für „staatliche“ ausgegebene Interessen, welche einer Erledigung eines Problems im „nationalen“ Sinn sich in den Weg stellen. (So auf dem Gebiet der Agrarpolitik.) Glaubt aber jemand im Ernst, daß ein an der Hand dieser zum Teil offenkundigen Tatsachen grundsätzlich die jetzige Stellung der Deutschen zur Monarchie kritisierende Stellungnahme auf deutschen Kathedern dauernd und gleichberechtigt geduldet werde? Dagegen den heutigen Monarchismus zu verteidigen ist erlaubt! Passage in A1 eigenhändig gestrichen und mit der Randbemerkung versehen: cf. Beilage!
u
 entscheidenden Wertungsfragen der KathedererörterungFehlt in A; praktisch-politisch in A1 eigenhändig ergänzt.
a
 dauerndA, A₁: Kathederdiskussion
b
 entzogen sind, scheint es mir der Würde der Vertreter der Wissenschaft [347]am besten zu entsprechen: auch über die Wertprobleme, die manFehlt in A; dauernd in A1 eigenhändig ergänzt.
c
 ihnen zu behandeln „erlaubt“[347]A, A₁: von
d
, zu schweigen. – A, A₁: „vorläufig”
Auf keinen Fall darf aber
 e
 die Frage: ob man im Unterricht praktische Wertungen vertreten dürfe, solle, müsse, irgendwieA, A₁: Persönlich möchte ich bedauern, daß man
f
 mit der rein logischenA, A₁: überhaupt
g
 Erörterung der RolleA, A₁: Frage der logischen
h
, welche Wertungen für empirische Disziplinen spielen, verquickt werdenA, A₁: Stelle
i
. Jeder |A, A₁: hat
N
 weiß: daß in jener – unaustragbaren – praktischen Frage jeder Dozent die eigene, oft langjährige Praxis vertreten wird, und niemand kann davon eine ersprießliche Auseinandersetzung erwarten. Es gibt einfach eine Janitscharenmusik der de pacti puris feststehenden, weil bewährten „Standpunkte“. Darunter muß auch die Unbefangenheit an der Diskussion des eigentlichen logischen Sachverhaltes leiden, dessen Entscheidung an sich für jene Frage noch gar keine Anweisung gibt (außer der einen rein logisch geforderten: Klarheit und deutliche Trennung heterogener Probleme). Im Gegensatz zu anderen Geschmacksrichtungen scheint mir persönlich überhaupt eine nur kraft persönlicher Wertung zu entscheidende Frage uninteressant. – Der Seitentrennstrich markiert das Ende von Blatt A, A1 5.
3. Nicht diskutieren möchte ich ferner, ob die Scheidung von empirischer Arbeit und praktischer Wertung „schwierig“ sei. Sie ist es. Wir alle, der unterzeichnete Vertreter dieses Postulats ebenso wie [B 92]andere, verstoßen immer wieder einmal dagegen. Aber wenigstens die Anhänger der „ethischen“ Nationalökonomie könnten wissen: daß auch das „Sittengesetz“ unerfüllbar ist, dennoch aber als „aufgegeben“ gilt. Und eine Gewissenserforschung könnte vielleicht zeigen, daß die Erfüllung des Postulats vor allem deshalb schwierig ist, weil wir es uns ungern versagen, auch das so interessante Gebiet der Wertungen, zumal mit der so anregenden „persönlichen Note“[,] zu betreten. Jeder Dozent wird natürlich die Beobachtung machen, daß die Gesichter der Studenten sich aufhellen und ihre Mienen sich spannen, wenn er persönlich zu „bekennen“ anfängt, und ebenso, daß die Besuchsziffer seiner Vorlesungen durch die Erwartung, daß er dies tun werde, höchst vorteilhaft beeinflußt wird. Jeder weiß ferner, daß die Frequenzkonkurrenz der Universitäten einem noch so kleinen Propheten, der [348]die Hörsäle füllt, bei Vorschlägen gegenüber einem noch so erheblichen Gelehrten und sachlichen Lehrer die Vorhand gibt; – es sei denn, daß die Prophetie der politisch oder konventionell jeweils als „normal“ angesehenen Meinung allzu entlegen wäre. Nur der pseudowertfreie Prophet der materiellen Großinteressenten ist, kraft des Einflusses dieser auf die Regierungen, auch ihm an Chance überlegen. Ich halte dies alles für unerfreulich und möchte daher auch auf die Behauptung: daß die Forderung der Ausscheidung von praktischen Wertungen „parteiisch“ und „kleinlich“ sei, daß sie die Vorlesungen „langweilig“ machen würde, nicht eingehen. Denn ich finde sie nicht überzeugend, fürchte aber meinerseits, daß durch allzu „interessante“ persönliche Noten den Studenten auf die Dauer der Geschmack an schlichter, sachlicher Arbeit abgewöhnt werden würde. 
 4. Nicht diskutieren ferner, sondern ausdrücklich anerkennen möchte ich: daß man gerade unter dem Schein der Ausmerzung aller praktischen Wertungen ganz besonders stark, nach dem bekannten Schema: „die Tatsachen sprechen zu lassen“, suggestiv solche hervorrufen kann. Die bessere Qualität unserer parlamentarischen und Wahlberedsamkeit wirkt ja gerade mit diesem Mittel – und für ihre Zwecke ganz legitim. Darüber, daß dies auf dem Katheder gerade vom Standpunkt des Postulates jener Scheidung aus von allen Mißbräuchen der allerverwerflichste wäre, ist kein Wort zu verlieren. Daß aber ein illoyal erweckter Schein der Erfüllung eines Postulates sich für die Wirklichkeit ausgeben kann, bedeutet doch keine Kritik des Postulates selbst. Dieses aber geht gerade dahin: daß, wenn der Lehrer trotz aller Bedenken praktische „Wertungen“ sich nicht versagen zu sollen [B 93]glaubt, er diese als solche anderen und sich selbst absolut deutlich mache. 
 5. Steril wäre es, wenn sich Andersdenkende vielleicht an den Ausdruck „subjektiv“ (den ich gelegentlich von „Wertungen“ brauchte) klammern wollten. Was in der empirischen Sphäre als „subjektiv“ zu behandeln ist, kann in einer anderen, heterogenen, vielleicht normativ begründbar sein. Es steht aber fest, daß wir heute in der Wertungssphäre zum mindesten auch mit solchen Wertungen zu tun haben, die ihrerseits selbst „normative“ Begründbarkeit für sich gar nicht beanspruchen. Die Abgrenzung beider wäre eine Angelegenheit, welche jedenfalls nicht unsere Disziplin nebenher erledigen könnte. 
 [349]6. Was ich am allerentschiedensten bekämpfe, ist die nicht seltene Vorstellung: der Weg zur „Objektivität“ werde durch ein „Abwägen“ der verschiedenen Wertungen gegeneinander und ein „staatsmännisches“ Kompromiß zwischen ihnen betreten. Die jeweilige, aus dem Kräfteverhältnis und aus den höchst konkret bedingten Wertungen derjenigen, die die Macht haben, sich ergebende „mittlere Linie“ ist nicht nur empirisch genau ebenso wenig als geltensollend beweisbar, wie die „extremsten“ Wertungen beider Teile. Sondern auch in der Wertungssphäre wäre gerade sie normativ unter keinen Umständen eindeutig. Auf das Katheder gehört sie nicht, – sondern in die Bureaus. Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die verschiedenen möglichen „letzten“ Stellungnahmen zu diesem Problem denkbar; – 2. so und so liegen die Tatsachen, insbesondere die faktischen Konsequenzen und die Mittel, mit denen ihr bei eueren eigenen Stellungnahmen zu rechnen habt. 
 II.
In der Sache selbst muß ich mich auf das beziehen, was ich s. Zt. im „Archiv für Sozialwissenschaft“, Band XIX, ferner Band XXII, ΧΧIV,
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 gesagt habe (die, wie recht wohl möglich ist, zuweilen ungenügende Korrektheit der Einzelformulierungen dürfte keinen zur Sache wesentlichen Punkt betreffen) und möchte für die „Unaustragbarkeit“ gewisser letzter Wertungen auf einem wichtigen Problemgebiet u. a. namentlich auf G[ustav] Radbruchs „Einführung in die Rechtswissenschaft“ (2. Aufl. 1913)[349] Weber verweist auf seine Aufsätze, die im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen sind: Weber, Objektivität (19. Band, 1904), ders., Kritische Studien (22. Band, 1906) und ders., Stammlers Überwindung (24. Band, 1907). 
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 verwiesen haben. Ich weiche in einigen Punkten [B 94]von ihm ab. Aber für das hier erörterte Problem sind sie nicht von Bedeutung.  Radbruch, Einführung2. 
Unendliches Mißverständnis und vor allem terminologischer, daher gänzlich steriler, Streit hat sich nun an das Wort „Werturteil“ geknüpft, welches zur Sache offenbar gar nichts austrägt. Es ist [350]doch ganz unzweideutig, daß es sich bei diesen Erörterungen um praktische Wertungen sozialer Tatsachen als, unter ethischen oder unter Kulturgesichtspunkten, praktisch wünschenswert oder unerwünscht, handelt. Daß die Wissenschaft 1. „wertvolle“, d. h. logisch und sachlich „gewertet“, richtige und 2. „wertvolle“, d. h. im Sinne des wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine „Wertung“ enthält – solche Dinge (die wenigstens von mir schon in jenen Aufsätzen ausführlich erörtert waren) sind trotzdem allen Ernstes als „Einwände“ aufgetaucht. Nicht minder ist das fast unbegreiflich starke Mißverständnis: als ob die Wirtschaftswissenschaft (oder gar: alle empirische Wissenschaft) „subjektive“ Wertungen nicht als Objekt behandeln könne (während die ganze Grenznutzenlehre
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 doch auf der gegenteiligen Voraussetzung beruht)[,] ebenfalls wiederholt entstanden. Aber es handelt sich doch ausschließlich um die an sich höchst triviale Forderung: daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des „wertenden“ Verhaltens der von ihm untersuchten Menschen) und seine praktisch wertende, d. h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger zum Objekt einer Untersuchung gemachten „Wertungen“ von handelnden Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, Stellungnahme auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt. Ferner: in einer sonst wertvollen Abhandlung führt ein Schriftsteller aus: ein Forscher könne doch auch seine eigene Wertung als „Tatsache“ hinnehmen und nun daraus die Konsequenzen ziehen. Das hiermit Gemeinte ist ebenso unbestreitbar richtig wie der gewählte Ausdruck direkt irreführend. Man kann natürlich sich vor einer Diskussion darüber einigen, daß eine bestimmte[350] Die Grenznutzlehre geht davon aus, daß der Wirtschaftende den Erwerb eines Gutes von seiner Bedürfnislage und optimalem Mitteleinsatz abhängig macht, vgl. auch Weber, Grenznutzlehre, oben, S. 115–133, bes. S. 122–125. Die subjektive Wertlehre gehörte für Weber zur Grundlage der theoretischen Nationalökonomie, in seiner nationalökonomischen Hauptvorlesung definiert er wie folgt: „Werthschätzung bei begrenzten Gütern nach Grenznutzen, bei vermehrbaren Gütern nach Grenznutzen u. Grenzkosten”, Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S. 190–664, hier S. 253. 
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 praktische Maßregel: etwa die Deckung der Kosten einer Heeresvermehrung lediglich aus den Taschen [351]der Besitzenden, „Voraussetzung“ der Diskussion sei, und lediglich die Mittel, dies durchzuführen, zur Erörterung gestellt werden sollen. Das ist oft recht zweckmäßig. Aber eine solche gemeinsame vorausgesetzte praktische Absicht nennt man doch nicht eine „Tatsache“, sondern einen gemeinsam „a priori feststehenden Zweck“. Daß das auch sachlich [B 95]zweierlei ist, würde sich auch in der Diskussion der „Mittel“ zeigen, es sei denn, daß der undiskutabel „vorausgesetzte Zweck“ so konkret wäre, wie etwa der: sich jetzt eine Zigarre anzuzünden. Dann sind auch die Mittel der Diskussion nur selten bedürftig. In fast jedem Falle einer allgemeiner formulierten Ansicht, z. B. in dem vorhin als Beispiel gewählten, wird man dagegen die Erfahrung machen: daß bei der Diskussion der Mittel nicht nur sich zeigt: daß die Einzelnen unter jenem vermeintlich eindeutigen Zweck ganz verschiedenes verstanden haben, sondern insbesondere kann sich ergeben: daß der genau gleiche Zweck aus sehr verschiedenen letzten Gründen gewollt wird und dies auf die Diskussion der Mittel von Einfluß sei. Doch dies beiseite. Denn daß man von einem bestimmten Zweck als gemeinsam gewollt ausgehen und nur die Mittel, ihn zu erreichen, diskutieren kann und daß dies dann eine rein empirisch zu erledigende Diskussion ergeben kann, ist wohl noch nie jemandem[350]B: bestimmt
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 zu bestreiten eingefallen. Aber gerade um die Wahl der „Zwecke“ (und nicht der „Mittel“ bei fest gegebenem Zweck), gerade darum also, in welchem Sinn die Wertung, die der Einzelne zugrunde legt, eben nicht als „Tatsache“ hingenommen, sondern zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Kritik gemacht werden könne, dreht sich ja die ganze Erörterung. Wenn dies nicht festgehalten wird, so ist alles weitere Reden vergeblich. – [351]B: jemanden
Gar nicht zur Diskussion gestellt ist – wenigstens von meiner Seite – die Frage: inwieweit praktische Wertungen, insbesondere also: ethische, ihrerseits eine „normative“ Dignität beanspruchen dürfen, also anderen Charakter haben, als z. B. die Meinung: daß „Blondinen den Brünetten“ vorzuziehen seien[,]
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 oder als ähnli[352]che subjektive Geschmacksurteile. Indem ich nur beiläufig bemerke, daß ich jene Dignität zu bestreiten in der Tat sehr weit entfernt bin, möchte ich umso nachdrücklicher auf das hinweisen, worauf allein es ankommt: daß die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und die Wahrheitsgeltung einer empirischen[351] Bei der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik im Herbst 1909 in Wien bemerkte Werner Sombart am Ende seines Redebeitrages zu der Debatte über die Produktivität der Volkswirtschaft, daß man über Werturteile nicht diskutieren könne, „ehe nicht der wissenschaftliche Nachweis geführt ist, ob die Blondinen oder die Brü[352]netten hübscher sind“. Vgl. Sombart, Werner, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen VfSp 1909, S. 563–572, hier S. 572. 
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 Tatsachenfeststellung in gänzlich heterogenen Ebenen der Problematik liegen und der spezifischen Dignität jeder von beiden schwerer Abbruch getan wird, wenn man dies ignoriert. [352]B: empischen
Ziemlich stark mißverstanden fühle ich persönlich mich speziell durch Professor von Schmoller (in seinem Aufsatz über „Volkswirtschaftslehre“ im H[and]-W[örterbuch] d[er] St[aats]-W[issenschaften], neueste Auflage).
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 Gerade die wissenschaftliche und persönliche Verehrung für unseren Meister verbietet es mir, diese (im Grunde wenigen) Punkte, wo ich glaube, ihm nicht beipflichten zu dürfen, zu übergehen. Nur nebenbei möchte [B 96]ich mich dagegen wenden, daß die bloße Tatsache des historischen und individuellen Schwankens der wertenden Stellungnahme mir als entscheidender Beweis für deren stets nur „subjektiven“ Charakter gelte. Auch empirische Tatsachenfeststellungen sind ja oft sehr umstritten. Darüber, ob man jemanden für einen Schurken halten solle, kann oft eine wesentlich größere Übereinstimmung herrschen als (selbst und gerade bei den Fachleuten) etwa über die Frage der Deutung einer verstümmelten Inschrift. Die nach Schmollers Annahme zunehmende konventionelle Einmütigkeit aller Konfessionen und Menschen über die Hauptpunkte der praktischen Wertungen steht freilich in schroffem Gegensatz zu dem entgegengesetzten Eindruck anderer. Allein das alles scheint mir ohne Belang für die Sache. Denn was ich jedenfalls bestreiten würde, wäre: daß man sich bei irgend einer solchen durch Konvention geschaffenen faktischen Selbstverständlichkeit gewisser noch so weit verbreiteter praktischer Stellungnahmen wissenschaftlich beruhigen dürfe. Die spezifische Funktion der Wissenschaft scheint mir gerade umgekehrt: daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Problem [353]wird. Gerade dies haben Schmoller und seine Freunde s. Zt. getan. Daß man ferner die kausale Gemeint ist der 1911 in der 3. Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften erschienene Artikel: Schmoller, Volkswirtschaft3. 
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 Wirkung des faktischen Bestehens gewisser ethischer oder religiöser Überzeugungen auf das Wirtschaftsleben untersucht und hoch veranschlagt – wie ich es in einem Einzelfall getan habe[353]B: kausalen
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 –[,] hat doch nicht etwa die Folge: daß man jene kausal wirksam gewesenen Überzeugungen um deswillen auch zu teilen habe oder jenen Einfluß etwa für „segensreich“ halten müsse. Über diese Fragen habe ich gar nichts aussagen wollen, und sie würde der Einzelne sehr verschieden beurteilen müssen, je nach seinen eigenen religiösen und anderen praktischen Überzeugungen. Dagegen bestreite ich nach wie vor sehr nachdrücklich (und habe dabei Schmoller keineswegs mißverstanden – wie sein eigener Aufsatz zeigt): daß eine „realistische“ Wissenschaft vom Ethischen, d. h. die Aufzeigung der faktischen Einflüsse, welche die jeweiligen in einer Gruppe von Menschen vorwiegenden ethischen Überzeugungen durch deren sonstige Lebensbedingungen erfahren und umgekehrt wieder auf diese geübt haben, ihrerseits eine „Ethik“ sei, welche jemals über das Geltensollende etwas aussagen könne. So wenig wie eine „realistische“ Darstellung der astronomischen Vorstellungen der Chinesen, welche also aufzeigt, aus welchen praktischen Motiven und wie sie Astronomie betreiben, zu welchen Ergebnissen und warum sie zu diesen kamen, jemals die Richtigkeit der chinesischen „Astronomie“ zu erweisen zum [B 97]Ziele haben könnte. Und so wenig wie die Feststellung, daß zuweilen die römischen Agrimensoren oder die Florentiner Bankiers (die letzteren selbst bei Erbteilungen von ganz großen Vermögen) mit ihren Methoden zuweilen zu Resultaten kamen, welche mit der Trigonometrie oder dem Einmaleins unvereinbar sind, etwa deren Geltung zur Diskussion stellt. Was ich also bestimmt bestreite ist: daß man durch empirisch-psychologische und historische Untersuchung eines bestimmten Wertungsstandpunktes auf seine individuelle, soziale, historische Bedingtheit hin zu irgend etwas anderem gelange, als dazu: ihn verstehend zu erklären. Das ist nicht nur wegen des persönlichen (aber nicht wissenschaftli[354]chen) Nebenerfolgs: dem Gegner persönlich leichter „gerecht werden“ zu können, erwünscht, sondern es ist wissenschaftlich höchst wichtig 1. für den Zweck der empirischen Kausalbetrachtung, um die wirklichen letzten Motive kennen zu lernen, 2. für die Ermittlung der gegenseitigen Wertungsstandpunkte im Wege der Wertdiskussion: um das, was der Gegner (oder auch: man selbst) wirklich meint, d. h.: den Wert: auf den es ihm wirklich – nicht nur scheinbar – ankommt, zu erfassen und so zu diesem eine Stellungnahme zu ermöglichen. Aber weder bedeutet „alles verstehen“ auch „alles verzeihen“[353] Weber verweist hier auf: Weber, Max, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1904, S. 1–54, und Band 21, Heft 1, 1905, S. 1–110 (MWG I/9, S. 97–215 und S. 222–425).
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 noch führt überhaupt vom bloßen „Verstehen“ des fremden Standpunktes an sich ein Weg zu dessen Billigung, sondern mindestens ebenso leicht, ja mit weit höherer Wahrscheinlichkeit, zu der Erkenntnis: daß, warum und worüber, man sich nicht einigen könne. Diese Erkenntnis ist eine Wahrheitserkenntnis und ihr dienen „Wertungsdiskussionen“. Was man aber auf diesem Wege ganz gewiß nicht gewinnt – weil es in der gerade entgegengesetzten Richtung liegt –[,] ist irgend eine „normative“ Ethik oder überhaupt die Verbindlichkeit irgend eines „Imperativs“. Jedermann weiß doch, daß ein solches Ziel durch die, zum mindesten dem Anschein nach, „relativierende“ Wirkung solcher Diskussionen eher erschwert wird. Damit ist natürlich nun wieder nicht gesagt: daß man um deswillen sie vermeiden solle. Im geraden Gegenteil. Denn eine „ethische“ Überzeugung, welche durch psychologisches „Verstehen“ abweichender Wertungen sich aus dem Sattel heben läßt, ist nur ebensoviel wert gewesen wie religiöse Meinungen, welche durch wissenschaftliche Erkenntnis zerstört werden, wie dies ebenfalls typisch vorkommt. In welchem Sinn schließlich Schmoller mit Recht oder Unrecht annimmt, daß ich persönlich nur „formale“ ethische Wahrheiten (gemeint ist offenbar: im Sinn der Kritik der praktischen Vernunft) anerkenne,[354] Zitat einer Redewendung von Anne Louise Germaine de Staël: „Tout comprendre c’est tout pardonner“. 
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 möchte ich nicht erörtern, [B 98]weil es eine mehr persönliche, die Erörterung wenigstens des jetzt hier diskutierten Problems nicht direkt berührende Angelegenheit ist. Nur gegen die Identifikation von ethischen Imperativen mit „Kulturidealen“, auch den höchsten, [355]habe ich mich gewendet. Es kann einen Standpunkt geben, für den Kulturideale „aufgegeben“ sind, auch soweit sie mit jeglicher Ethik in unvermeidlichem, unaustragbarem Konflikt liegen. Jedenfalls ist beides nicht identisch. Nur nebenbei sei gesagt: daß ich es für ein sehr schweres (freilich weitverbreitetes) Mißverständnis halten würde, wenn geglaubt würde: „formale“ Sätze wie etwa die der Kantischen Ethik enthielten keine inhaltlichen Weisungen. – Die Möglichkeit einer normativen Ethik wird dadurch nicht in Frage gestellt, daß es 1. Probleme praktischer Art gibt, für welche sie aus sich selbst heraus keine eindeutigen Weisungen geben kann (und dahin gehören, wie ich glaube, in ganz spezifischer Art bestimmte institutionelle, daher gerade „sozialpolitische“ Probleme), daß ferner 2. die Ethik vielleicht nicht das Einzige ist, was auf der Welt normativ „gilt“, sondern daß neben ihr andere Wertsphären bestehen, deren Werte unter Umständen nur der realisieren kann, welcher ethische „Schuld“ auf sich nimmt. Auch dahin gehört speziell die Sphäre politischen Handelns. Es wäre m. E. schwächlich, die Spannungen gegen das Ethische, welche diese Sphäre enthält, nach Art eines allgemeinen Weltanschauungs-Bastiat Vgl. Schmoller, Volkswirtschaft3, S. 497; zu Webers Meinung über diesen Beitrag vgl. seinen Brief an Heinrich Rickert, [zweite Hälfte Oktober 1911], in: MWG II/7, S. 325. 
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 leugnen zu wollen. [355] Anspielung auf die Laissez-faire-Haltung von Frédéric Bastiat, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Schriften den Manchesterliberalismus vertrat.
Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören u. a. schon die Konsequenzen des Postulates der „Gerechtigkeit“. Ob man – wie dies wohl Schmollers seinerzeit geäußerten Anschauungen am ehesten entsprechen würde – dem, der viel leistet, auch viel schuldet, oder umgekehrt von dem, der viel leisten kann, auch viel fordert, ob man etwa weiter z. B. im Namen der Gerechtigkeit (denn andere Gesichtspunkte haben dann auszuscheiden) dem großen Talent auch große Chancen gönnen solle oder ob man umgekehrt (wie Babeuf)
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 die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen möge [356]– dies dürfte aus „ethischen“ Prämissen unaustragbar sein. Diesem Typus entspricht aber die ethische Problematik der meisten sozialpolitischen Fragen. –  François Noël Babeuf, führender Jakobiner in der Französischen Revolution, vertrat früh radikale sozialistische Ideen, 1797 wegen umstürzlerischer Bestrebungen gegen das Direktorium („Verschwörung der Gleichen“) nach einem Prozeß hingerichtet.
Ich kann mir aber nicht denken, daß eine Ausschußdebatte über Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer normativen Ethik, oder über [B 99]die Frage, ob sie nur „formale“ oder auch „inhaltliche“ Normen ergründen könne (und vor allem: über den Sinn dieses gar nicht so einfachen Unterschiedes) irgendwelche erfreuliche Resultate zeitigen würde. Und ich habe seinerzeit den Nachdruck auf den von diesen schwierigen Problemen gänzlich unabhängigen, unbezweifelbaren Sachverhalt gelegt:
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 daß auf dem Gebiet der praktisch-politischen (speziell also auch der wirtschafts- und sozialpolitischen) Wertungen, sobald daraus Direktiven für ein wertvolles Handeln abgeleitet werden sollen: 1. die unvermeidlichen Mittel und 2. die unvermeidlichen Nebenerfolge, 3. die dadurch bedingte Konkurrenz mehrerer möglicher Werte miteinander in ihrer praktischen Konsequenz das einzige sind, was eine empirische Disziplin mit ihren Mitteln aufzeigen kann. Sowohl die Frage, wie weit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: wie weit die nicht gewollten Nebenerfolge in den Kauf genommen werden sollen, wie die dritte, wie Konflikte gegenüber mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken[356] Weber verweist auf seinen Diskussionsbeitrag in der Debatte über die Produktivität der Volkswirtschaft, die der Verein für Sozialpolitik auf seiner Generalversammlung in Wien im September 1909 geführt hatte, vgl. Weber, Produktivität, oben, S. 206–220, hier S. 208–210. 
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 zu schlichten seien, ist Sache der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei wissenschaftliches Verfahren, welches hier eine Entscheidung geben könnte. Diese Wahl selbst kann nie unsere Wissenschaft dem Einzelnen zu ersparen sich anmaßen und soll daher auch nicht den Anschein erwecken, es zu können. – [356]B: Zwecke
In der „Streitfrage“ selbst muß ich abwarten, ob sich wirklich Leute finden, welche behaupten, daß die Fragen: ob eine konkrete Tatsache sich so oder anders verhält? warum der betreffende konkrete Sachverhalt so und nicht anders geworden ist? ob auf einen gegebenen Sachverhalt nach einer Regel des Geschehens ein anderer Sachverhalt, und mit welchem Grade von Eindeutigkeit, zu fol[357]gen pflegt? logisch nicht verschieden seien von den Fragen: was man in einer konkreten Situation praktisch tun solle? unter welchen Gesichtspunkten sie praktisch erfreulich oder unerfreulich erscheinen könne? ob es – wie immer geartete – allgemein formulierbare Sätze (Axiome) gebe, auf welche sich jene Gesichtspunkte reduzieren lassen? – ferner: daß einerseits die Frage: in welcher Richtung sich eine konkret gegebene tatsächliche Situation (oder generell: eine Situation eines bestimmten, irgendwie hinlänglich bestimmten Typus) mit Wahrscheinlichkeit, und mit wie großer Wahrscheinlichkeit sie in jener Richtung sich entwickeln werde (bzw. typisch zu entwickeln pflege)? also: die Frage des faktischen Bestehens von „Entwicklungstendenzen“,
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 und die andere Frage: ob man dazu beitragen solle, daß eine bestimmte Situation [B 100]sich in einer bestimmten Richtung – sei es der an sich wahrscheinlichen, sei es der gerade entgegengesetzten oder irgendeiner anderen – entwickelt? endlich, daß einerseits die Frage: welche Ansicht sich bestimmte Personen unter konkreten, oder eine unbestimmte Vielheit von Personen sich unter gleichen, Umständen über ein Problem welcher Art immer mit Wahrscheinlichkeit (oder selbst mit Sicherheit) bilden werden? und andererseits die Frage: ob diese mit Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit entstehende Ansicht richtig sei? – daß diese hier in je zwei Gegensatzproben aufgestellten Fragen miteinander logisch das Mindeste zu tun haben? daß sie wirklich, wie immer einmal wieder behauptet wird, „voneinander nicht zu trennen“ seien? daß diese letztere Behauptung nicht vielmehr mit den Anforderungen des wissenschaftlichen Denkens im Widerspruch steht? Ob dann jemand, der die absolute logische Heterogenität beider Arten von Fragen zugibt, dennoch für sich in Anspruch nimmt: in einem und demselben Buch, auf einer und derselben Seite, ja in einem Haupt- und Nebensatz einer und derselben syntaktischen Einheit sich einerseits über das eine und andererseits über das andere, heterogene Problem zu äußern, – das ist seine Sache. Was im Namen der Logik von ihm zu verlangen ist, [358]ist lediglich: daß er seine Leser über die absolute Heterogenität der Probleme nicht unabsichtlich oder aus absichtsvoller Pikanterie täusche.[357] Zu diesem in den damaligen Debatten sehr gebräuchlichen, aber auch wegen seiner normativen Konnotation und Verwendung sehr umstrittenen Begriff vgl. Weber, unten, S. 361 f., sowie Weber, Objektivität, S. 44, und Weber, Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, MWG I/4, S. 362–462, ferner Rickert, Grenzen2, S. 526, und Sombart, Der moderne Kapitalismus I, S. 485, 554, 559, 584 f. 
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 Persönlich bin ich der Ansicht, daß kein Mittel der Welt zu „pedantisch“ ist, um nicht zur Vermeidung von Konfusionen am Platze zu sein. [358] Ähnlich Hans Kelsen, der sich seinerseits auf die – allerdings weniger dezidierte – Argumentation in Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. 1. Band. – Berlin: Wilhelm Hertz 1892, S. 8 ff., stützt. Das Sein und das Sollen, sagt Kelsen, seien aus „formal-logische[n]“ Gründen prinzipiell geschieden und daraus folge eine „gegenseitige Unabhängigkeit des Sollens vom Sein“ derart, daß zwischen ihnen kein logisch zulässiger Übergang existiere: Kelsen, Hans, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode. Vortrag, gehalten in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 5 f. Die gegenüber dem Vortrag „etwas erweiterte“ Abhandlung, ist nach der Vorbemerkung „zum großen Teile“ Kelsens Buch, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, entnommen. 
Da ich im übrigen unmöglich hier schon oft literarisch Vertretenes nochmals wiederholen kann, beschränke ich mich auf einige wenige, in der Diskussion bisher gelegentlich mißverstandene Punkte. 
 1. Der Sinn von Diskussionen über praktische Wertungen der an der Diskussion Beteiligten selbst kann nur sein: 
 a) Die Herausarbeitung der letzten, innerlich „konsequenten“ Wertaxiome, von denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen. Nicht nur über die der Gegner, sondern auch über die eigenen täuscht man sich oft genug. Diese Prozedur ist dem Wesen nach eine rein logische, von der Einzelwertung und ihrer logischen Analyse ausgehende, immer höher zu immer allgemeineren wertenden Stellungnahmen aufsteigende Operation. Sie operiert nicht mit den Mitteln einer empirischen Disziplin und zeitigt keine Tatsachenerkenntnis. Sie „gilt“ kraft der Geltung der Logik. 
 b) Die Deduktion der „Konsequenzen“ für die wertende [B 101]Stellungnahme, welche aus bestimmten letzten Wertaxiomen folgen, wenn man sie, und nur sie, der praktischen Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legt. Sie ist rein logisch in bezug auf die Argumentation, dagegen an empirische Feststellungen gebunden für die möglichst erschöpfende Kasuistik derjenigen empirischen Sachverhalte, welche für eine praktische Bewertung überhaupt in Betracht kommen können. 
 c) Die Feststellung der faktischen Folgen, welche die praktische Durchführung einer bestimmten praktisch wertenden Stellung[359]nahme zu einem Problem haben müßte: 1. infolge der Gebundenheit an bestimmte unvermeidliche Mittel,– 2. infolge der Unvermeidlichkeit bestimmter, nicht direkt gewollter Nebenerfolge
 o
. Diese rein empirische Feststellung kann u. a. als Ergebnis haben: 1. die absolute Unmöglichkeit irgendeiner auch noch so entfernt annäherungsweisen Durchführung des Wertpostulates, weil keinerlei Wege seiner Durchführung zu ermitteln sind; – 2. die mehr oder minder große Unwahrscheinlichkeit seiner vollen oder auch nur annäherungsweisen Durchführung, entweder aus dem gleichen Grunde oder weil die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ungewollter Nebenerfolge besteht, welche direkt oder indirekt die Durchführung illusorisch zu machen geeignet sind; – 3. die Notwendigkeit, solche Mittel oder solche Nebenerfolge mit in Kauf zu nehmen, welche der Vertreter des betreffenden praktischen Postulats nicht in Betracht gezogen hatte, so, daß dessen – unvermeidlich nur von ihm selbst zu vollziehende – Wertentscheidung zwischen Zweck, Mittel und Nebenerfolg ihm selbst zu einem neuen Problem wird und an zwingender Gewalt auf andere einbüßt. – Endlich können dabei [359]A: Nebenverfolge
d) neue Wertaxiome und daraus zu folgernde Postulate vertreten werden, welche der Vertreter eines praktischen Postulats nicht beachtet und zu denen er infolgedessen nicht Stellung genommen hatte, obwohl die Durchführung seines eignen Postulats mit jenen anderen entweder 1. prinzipiell oder 2. infolge der praktischen Konsequenzen, also: logisch oder praktisch, kollidiert. Im Fall 1 handelt es sich bei der weiteren Erörterung um Probleme des Typus a, im Falle 2 des Typus c
 p
. B: b
Sehr weit entfernt davon also, „sinnlos“ zu sein, haben – was ich nicht im entferntesten bestritten habe – Wertungsdiskussionen dieses Typus, gerade wenn sie in ihren Zwecken richtig verstanden würden, und m. E. nur dann, ihren sehr erheblichen Sinn. Was [B 102]ich (z. B. in Wien) dagegen sehr entschieden bekämpft habe und bekämpfen muß, ist: daß für die Zwecke der empirischen Wissenschaft Begriffe geschaffen werden, die unvermeidlich eine Vermischung von Tatsachen mit (in diesem Fall durchaus subjektiven) Wertungen enthalten, wie einige von einem Teil der Mitdiskutie[360]renden akzeptierten Typen des „Produktivitätsbegriffes“.
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 Der Verein wollte und sollte – nach meiner (subjektiven) Auffassung, die vielleicht andere nicht geteilt haben – in diesem Falle gerade eine „theoretische“, d. h. von praktischen Wertungen der Diskutierenden freie Erörterung über die Art, wie gewisse empirische Sachverhalte begrifflich zu erfassen seien, pflegen. Daher war die Kernfrage gerade die: ob und in welchen Fällen dies bei einem „Produktivitäts“-Begriff der Fall sei. Diese ihrem Wesen nach rein logische Erörterung aber wurde gestört durch das stets erneute Hineintragen der gar nicht hineingehörigen Frage: ob man auf dem Katheder oder im Verein für Sozialpolitik überhaupt auch „praktisch werten“ dürfe und solle oder nicht, – was ich persönlich bei wirklichen „Wertungs“-Diskussionen doch selbst mit aller Deutlichkeit getan habe und tun werde. [360] Vgl. Weber, Produktivität, oben, S. 210, Anm. 10. 
2. Der Nutzen einer Diskussion praktischer Wertungen, an der richtigen Stelle und im richtigen Sinne – also z. B. in Vereinigungen wie der Verein für Sozialpolitik – ist mit den unter Nr. 1 skizzierten direkten „Ergebnissen“, die sie zeitigen kann, keineswegs erschöpft. Sie befruchtet vielmehr, wenn richtig geführt, die empirische Arbeit auf das Nachhaltigste, indem sie ihr die Fragestellungen für ihre Arbeit liefert. 
 Die Problemstellungen der empirischen Disziplinen sind ihrerseits „wertfrei“ zu beantworten. Sie sind keine „Wertprobleme“. Aber sie stehen im Bereich der „historischen Kulturwissenschaften“ unter dem Einfluß der Beziehung von Realitäten „auf“ Werte. Sowohl über die Bedeutung des Ausdruckes „Kulturwissenschaft“ wie für die Bedeutung des Ausdruckes „Wertbeziehung“ muß ich mich auf die zitierten früheren Äußerungen und vor allem auf die bekannten Arbeiten von H[einrich] Rickert
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 beziehen. Es wäre unmöglich, das hier nochmals vorzutragen, und ich möchte zweifeln, ob eine fruchtbare Diskussion rein logischer Fragen innerhalb des Ausschusses möglich wäre. Es sei daher nur daran erinnert, daß „Wertbeziehung“ lediglich die philosophische Deutung desjenigen [361]spezifisch wissenschaftlichen „Interesses“ besagen will, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung determiniert.  Weber bezieht sich im wesentlichen auf seinen Aufsatz: Weber, Objektivität, bes. S. 49 f., sowie auf Rickert, Heinrich, Der Gegenstand der Erkenntnis. – Freiburg i. B.: J.C.B. Mohr 1892, und ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1. Hälfte 1896, 2. Hälfte 1902. – Tübingen und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1896–1902, in der 2. Aufl. erschienen 1913 (Rickert, Grenzen2). 
[B 103]Innerhalb der empirischen Untersuchung werden durch den betreffenden logischen Sachverhalt jedenfalls keinerlei „praktische Wertungen“ legitimiert. Wohl aber ergibt jener logische Sachverhalt, ebenso wie übrigens die geschichtliche Erfahrung und schließlich die eigene Praxis des Vereins für Sozialpolitik und die unbezweifelbaren wissenschaftlichen Leistungen, die er angeregt hat, daß Kultur- und das heißt Wertinteressen es sind, welche auch der rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit die Pfade weisen. 
 Es ist klar, daß diese Wertinteressen um so intensiver und in um so reicherer Kasuistik sich entfalten, je mehr Wertdiskussionen stattfinden. Sie können dem wissenschaftlich, auch dem historisch arbeitenden Forscher die Aufgabe der „Wertinterpretation“, welche eine höchst wichtige Vorarbeit seiner eigentlich empirischen Arbeit darstellt, weitgehend abnehmen und erleichtern. Da die Unterscheidung nicht nur von Wertung und Wertbeziehung, sondern auch Wertung und Wertinterpretation (Entwicklung möglicher und in Betracht kommender sinnhafter Stellungnahmen gegenüber einer gegebenen Erscheinung) vielfach nicht klar vollzogen wird und namentlich für die Würdigung der Situation der Geschichte dadurch Unklarheiten entstehen, so verweise ich in dieser Hinsicht auf die Bemerkungen im Archiv für Sozialwissenschaft XXII, S. 168 f.,
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 ohne diese übrigens für irgendwie abschließend auszugeben. [361] Gemeint ist der 1906 in Band 22 des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienene Aufsatz: Weber, Kritische Studien. 
Statt einer nochmaligen Erörterung der logischen Grundprobleme möchte ich einige für unsere Disziplinen praktisch wichtige Einzelpunkte besprechen. 
 3. Zunächst im Anschluß an eine ausdrückliche Frage des Rundschreibens:
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 Zur Vorbereitung auf die geplante Diskussion zur Werturteilsfrage in der Nationalökonomie war bereits im November 1912 an die Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik ein Rundschreiben verschickt worden, das als zweite zu behandelnde Fragestellung „das Verhältnis der Entwicklungstendenzen zu praktischen Wertungen“ vorschlug, vgl. Rundschreiben 1912 (wie oben, S. 330, Anm. 9), hier S. 141. 
Aus noch so eindeutigen „Entwicklungstendenzen“ sind eindeutige Imperative des Handelns nur bezüglich der Mittel bei gegebener „letzter“ Stellungnahme, nicht aber bezüglich jener Stellung[362]nahme selbst ableitbar. Dabei ist der Begriff des „Mittels“ der denkbar weiteste. Wem etwa „nationale“ Machtinteressen ein „letztes“ Ziel wären, der müßte je nach der gegebenen Situation sowohl eine absolutistische wie eine radikal-demokratische Staatsverfassung für das (relativ) geeignetere „Mittel“ ansehen, und es wäre höchst lächerlich, einen Wechsel in der Bewertung dieser staatlichen Zweckapparate für einen Wechsel in der „letzten“ Stellungnahme eines Menschen anzusehen. Selbstverständlich ist es nun, wie unter Nr. 1 c schon gesagt,
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 für den Einzelnen auch ein stets erneut auftauchendes Problem: ob er seine Stellung[B 104]nahme ändern solle angesichts einer neuen (oder ihm neu bekannt werdenden) Situation, welche die Realisierung des von ihm erstrebten Wertes an die Bedingung der Verwendung neuer, eventuell ihm sittlich oder sonst bedenklich erscheinender Mittel oder an das Inkaufnehmen von ihm perhorreszierter Nebenerfolge knüpft, oder sie überhaupt zunehmend unwahrscheinlicher, seine Arbeit daran also, an Erfolg bewertet, zur Sterilität oder „Don Quixoterie“ verurteilt erscheinen läßt. Dorthin gehört auch die Erkenntnis mehr oder minder schwer abänderlicher „Entwicklungstendenzen“. Aber: sie nimmt schlechterdings keine Sonderstellung ein. Jede einzelne neue „Tatsache“ kann ebensogut die Konsequenz haben, daß der Ausgleich zwischen Zweck und unvermeidlichem Mittel, gewolltem Ziel und unvermeidlichem Nebenerfolg neu zu vollziehen ist. Allein ob und mit welchen Konsequenzen dies zu geschehen habe, ist sicherlich keine Frage der empirischen, ja m. E. überhaupt keiner wie immer gearteten Wissenschaft. Man mag z. B. dem überzeugten Syndikalisten noch so handgreiflich beweisen, daß sein Tun nicht nur sozial „nutzlos“ sei, d. h. daß es keinen Erfolg für die Änderung der äußeren Klassenlage des Proletariats verspreche, ja daß es diese durch Erzeugung „reaktionärer“ Stimmungen unweigerlich verschlechtere, so ist damit für ihn – wenn er sich wirklich zu den letzteren Konsequenzen seiner Ansicht bekennt – gar nichts „bewiesen“. Und zwar nicht, weil er ein Irrsinniger wäre, sondern weil er von seinem Standpunkt aus „recht“ haben kann – wie gleich zu erörtern. Im ganzen neigen die Menschen m. E. hinlänglich stark dazu, sich dem Erfolg oder dem jeweilig Erfolg Versprechenden innerlich „anzupassen“, nicht nur – was [363]selbstverständlich ist – in den Mitteln oder in dem Maße, in dem sie ihre letzten Ideale jeweils zu realisieren trachten, sondern in der Preisgabe dieser selbst. In Deutschland glaubt man dies mit dem Namen „Realpolitik“ schmücken zu dürfen. Es ist jedenfalls nicht einzusehen, warum gerade die Vertreter einer empirischen Wissenschaft das Bedürfnis fühlen sollten, dies noch zu unterstützen, indem sie sich als Beifallssalve der jeweiligen „Entwicklungstendenz“ konstituieren und die „Anpassung“ an diese aus einem letzten, nur vom Einzelnen im Einzelfall zu lösenden, also dem Einzelnen ins Gewissen zu schiebenden Wertungsproblem zu einem Prinzip zu machen. [362] Oben, S. 358 f. 
Es ist – richtig verstanden – zutreffend, daß eine erfolgreiche Politik stets die „Kunst des Möglichen“
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 ist. Nicht minder richtig aber ist, daß das „Mögliche“ sehr oft nur dadurch erreicht wurde, [B 105]daß man nach dem jenseits seiner liegenden „Unmöglichen“ griff. Es ist schließlich doch nicht die einzige wirklich konsequente Ethik der „Anpassung“ an das „Mögliche“: die Bureaukratenmoral des Konfucianismus,[363] Ein Otto von Bismarck zugeschriebener Ausspruch. 
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 gewesen, welche die vermutlich von uns allen trotz aller sonstigen Differenzen (subjektiv) mehr oder minder positiv geschätzten spezifischen Qualitäten gerade unserer Kultur geschaffen hat. Daß neben dem „Erfolgswert“ einer Handlung ihr „Gesinnungswert“ stehe, möchte wenigstens ich (subjektiv) der Jugend nicht gerade von den Universitäten systematisch aberzogen wissen. Das könnte sogar direkt logische Inkonsequenzen zur Folge haben. Um bei dem vorhin als Beispiel angezogenen „Syndikalisten“ Vgl. Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus, MWG I/19, S. 285–369, hier S. 331. 
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 zu bleiben: es ist auch logisch eine Sinnlosigkeit, ein Verhalten, welches – wenn konsequent – als Richtschnur den „Gesinnungswert“ nehmen muß, lediglich mit seinem „Erfolgswert“ zu konfrontieren. Der wirklich konsequente Syndikalist will lediglich eine bestimmte, ihm schlechthin wertvoll und heilig scheinende Gesinnung in sich selbst erhalten und, wenn möglich, in anderen wecken. Die äußeren, gerade die von vornherein zu noch so absoluter „Erfolglosigkeit“ verurteilten Handlungen haben letztlich den Zweck, ihm selbst vor seinem eignen Forum die Gewißheit zu geben, daß diese Gesinnung „echt“ ist, d. h. die Kraft hat, sich in [364]Handlungen zu „bewähren“, und nicht ein bloßes Bramarbasieren. Dafür gibt es (vielleicht) in der Tat nur das Mittel solcher Handlungen. Im übrigen ist – wenn er konsequent ist – sein Reich, wie das Reich jeder Gesinnungsethik, „nicht von dieser Welt“. Oben, S. 362. 
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 „Wissenschaftlich“ läßt sich – wenn dies alles, was hier ad hoc einmal unterstellt werden möge, zutrifft – lediglich mit den Mitteln der Logik einerseits, der Empirie andrerseits feststellen, daß diese Aufstellung seiner eigenen Ideale die einzig innerlich konsequente, durch äußere „Tatsachen“ nicht widerlegbare ist. Ich möchte – immer die Richtigkeit der hier gemachten Annahme vorausgesetzt – glauben, daß damit sowohl Anhängern wie Gegnern des Syndikalismus ein Dienst, und zwar gerade der geleistet wäre, den sie mit Recht von der Wissenschaft verlangen. Mit dem „einerseits – andrerseits“ von sieben Gründen „für“ und sechs Gründen „gegen“ eine bestimmte Erscheinung (etwa: den Generalstreik) und deren subjektiver „Abwägung“ gegeneinander nach Art der alten Kameralistik und etwa noch moderner chinesischer Denkschriften scheint mir dagegen im Sinn keiner wie immer gearteten Wissenschaft etwas gewonnen. Mit jener Reduktion des syndikalistischen Standpunkts auf seine mög[B 106]lichst rationale und innerlich konsequente Form und mit der Feststellung seiner empirischen Entstehungsbedingungen, Chancen und erfahrungsgemäßen praktischen Folgen ist vielmehr die Aufgabe jedenfalls der wertungsfreien „Wissenschaft“ ihm gegenüber erschöpft. Daß man ein Syndikalist sein „solle“ oder nicht sein solle, läßt sich ohne sehr bestimmte metaphysische Prämissen, welche nicht, und zwar in diesem Fall durch keine wie immer geartete Wissenschaft demonstrabel sind, niemals „beweisen“. So wenig sich etwa „beweisen“ läßt, ob man die Rolle Don Quixotes oder diejenige Sancho Pansas vorzuziehen hätte, wenn man einmal in die fatale Lage käme, nur die Wahl zwischen beiden zu haben, – und eine wenigstens ähnliche Situation kommt öfter vor als zuweilen geglaubt wird. Daß ein Offizier sich mit seiner Schanze lieber in die Luft sprengt, als sich zu ergeben, kann im Einzelfall recht gut in jeder Hinsicht absolut nutzlos sein. Nicht gleichgültig aber dürfte sein, ob die Gesinnung, die das, ohne nach dem Nutzen zu fragen, tut, überhaupt existiert oder nicht. „Sinnlos“ muß sie so wenig sein wie die des konsequenten Syndikalisten. [365]Wenn der Professor von der gemächlichen Höhe des Katheders herab einen solchen Catonismus[364] Johannes 18, 36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. 
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 empfehlen wollte, so würde sich das freilich nicht besonders stilgerecht ausnehmen. Aber es ist doch schließlich auch nicht geboten, daß er das Gegenteil preise und aus der Anpassung der Ideale an die gerade durch allgemeine „Entwicklungstendenzen“ gegebenen Chancen eine Pflicht mache. [365] Marcus Porcius Cato der Ältere (234–149 v. Chr.), der seine politischen Ziele mit besonderer Strenge und Beharrlichkeit verfolgte. 
Es ist hier soeben wiederholt der Ausdruck „Anpassung“ gebraucht worden, der im gegebenen Fall bei der gewählten Ausdrucksweise wohl auch hinlänglich unmißverständlich ist. Aber es zeigte sich, daß er an sich doppelsinnig ist: Anpassung der „Mittel“ einer „letzten“ Stellungnahme an gegebene Situationen („Realpolitik“ im engeren Sinn) oder: Anpassung der letzten Stellungnahme selbst an die jeweiligen Chancen (jene Art der „Realpolitik“, mit der wir es in der Welt seit 25 Jahren so herrlich weit gebracht haben).
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 Aber damit ist die Zahl seiner möglichen Bedeutungen bei weitem nicht erschöpft. Und darum wäre es bei jeder polemischen Diskussion unserer Probleme, sowohl von „Wertungs“- wie von anderen Fragen, meines Erachtens gut, diesen viel mißbrauchten Begriff lieber gänzlich auszuscheiden. Denn ganz und gar mißverständlich ist er als Ausdruck eines wissenschaftlichen Arguments, als welches er sowohl für die „Erklärung“ (etwa des empirischen Bestehens gewisser ethischer Anschauungen bei gewissen Menschengruppen zu bestimmten Zeiten) wie für die „Bewertung“ Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 3. verb. Aufl. – Tübingen: Mohr Siebeck 2004, bes. Kap. IV.2. „Deutsche Weltpolitik und der politische Reifezustand der Nation“, S. 90–96, sowie Kap. VI.2. „Das politische Führungsvakuum nach Bismarcks Sturz und die Herrschaft der Bürokratie“, S. 176–186. 
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 [B 107](z. B. jener faktisch bestehenden ethischen Anschauungen als objektiv „passend“ und daher objektiv „richtig“ und wertvoll) immer erneut auftaucht. In keiner dieser Hinsichten leistet er aber etwas, da er stets seinerseits erst der Interpretation bedarf. Der Begriff hat seine Heimat in der Biologie. Würde er wirklich im biologischen Sinn, also als durch die Umstände gegebene relativ bestimmbare Chance einer Menschengruppe, das eigene psychophysische Erbgut durch reichliche Fortpflanzung zu erhalten, gefaßt, dann wären [366]z.Β. die ökonomisch am reichlichsten ausgestatteten und ihr Leben am rationellsten regulierenden Volksschichten die „unangepaßtesten“. „Angepaßt“ an die Bedingungen der Umgebung des Salt Lake waren im biologischen Sinn – aber auch in jeder der zahlreichen sonst denkbaren wirklich rein empirischen Bedeutungen – die wenigen Indianer, die vor der Mormoneneinwanderung dort lebten, vermutlich genau so gut und schlecht wie die späteren volksreichen Mormonenansiedlungen. Wir „verstehen“ also vermöge dieses Begriffes nicht das geringste empirisch besser, bilden uns aber leicht ein, es zu tun. Und man kann – dies sei schon hier festgestellt – auch nur bei zwei in jeder Hinsicht absolut gleichartigen Organisationen sagen, daß ein konkreter Einzelunterschied eine empirisch „zweckmäßigere“, in diesem Sinn den gegebenen Bedingungen „angepaßtere“ Lage der einen von ihnen bedingt. Für die Bewertung aber kann jemand sowohl auf dem Standpunkt stehen, die größere Zahl und die materiellen und sonstigen Leistungen und Eigenschaften, welche die Mormonen dorthin brachten und dort entfalteten, für einen Beweis ihrer Überlegenheit über die Indianer in Anspruch zu nehmen, wie etwa ein anderer, der die Mittel und Nebenerfolge der Mormonenethik, welche für jene Leistungen mindestens mitverantwortlich ist, bedingungslos perhorresziert, die Steppe sogar ohne alle Indianer, und also vollends die romantische Existenz dieser letzteren darin, vorziehen kann, ohne daß irgendeine, wie immer geartete Wissenschaft der Welt prätendieren könnte, ihn zu bekehren. Denn schon hier handelt es sich um den unaustragbaren Ausgleich von „Zweck“ und „Mittel“. [365]B: „Bewertung“,
Und nur wo bei einem absolut eindeutig gegebenen „Zweck“ nach dem dafür geeigneten „Mittel“ gefragt wird, handelt es sich um eine wirklich empirisch entscheidbare Frage. Denn der Satz: x ist das „Mittel“ für y, ist in der Tat die bloße Umkehrung des Satzes: auf x folgt y. Der Begriff der „Angepaßtheit“ aber (und alle ihm verwandten) gibt – und das ist die Hauptsache – jedenfalls nicht die [B 108]geringste Auskunft über die in jedem von beiden und in allen ähnlichen Fällen zugrunde liegenden Wertungen, die er vielmehr – ebenso wie z. B. der m. E. grundkonfuse neuerdings beliebte Begriff der „Menschenökonomie“
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 – lediglich verhüllt. „Ange[367]paßt“ ist auf dem Gebiet der „Kultur“, je nachdem, wie man den Begriff meint, entweder alles oder: nichts. Denn nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der „Kampf“. Man kann seine Mittel, seinen Gegenstand, sogar seine Grundrichtung und seine Träger ändern, aber nicht ihn selbst beseitigen. Er kann aus einem äußeren Ringen von feindlichen Menschen um äußere Dinge ein inneres Ringen sich liebender Menschen um innere Güter und damit aus äußerem Zwang zu innerer Vergewaltigung (gerade auch in Form erotischer oder karitativer „Hingabe“) werden oder endlich von da zu innerem Ringen innerhalb der Seele des Einzelnen selbst mit sich selbst werden, – stets ist er da, und oft um so folgenreicher, je weniger er bemerkt wird, je mehr sein Verlauf die Form stumpfen oder bequemen Geschehenlassens oder illusionistischen Selbstbetrugs annimmt oder sich in der Form der „Auslese“ vollzieht. „Friede“ bedeutet Verschiebung der Kampfformen oder Kampfgegner oder der Kampfgegenstände oder der Auslesechancen, nichts anderes. Ob und wann solche Verschiebungen vor einem „ethischen“ oder einem anderen bewertenden Urteil die Probe bestehen, darüber läßt sich offenbar generell schlechthin nichts aussagen. Nur eines ergibt sich zweifellos: Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen ist letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden. Weder ist sonst die empirische Untersuchung wirklich erschöpfend, noch ist auch die nötige tatsächliche Basis für eine – sei es bewußt „subjektive“, sei es eine „objektive“ Geltung in Anspruch nehmende – Bewertung überhaupt vorhanden. In sicherlich vielfach unreifer Form wollte dies seinerzeit meine akademische Antrittsrede zum Ausdruck bringen,[366] Ein von Rudolf Goldscheid verwendeter Begriff; vgl. den Brief Max Webers an Robert Wilbrandt vom 2. April 1913, in: MWG II/8, S. 165 f., sowie den Editorischen Bericht zu Weber, Entwicklungswert und Menschenökonomie, unten, S. 519–522. 
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 mit der ich mich sonst in vielen wichtigen Punkten nicht mehr identifizieren kann. [367] Gemeint ist die 1895 in Freiburg gehaltene Antrittsvorlesung: Weber, Nationalstaat. 
Aber wenigstens denjenigen zahlreichen Kollegen sei jener Sachverhalt in Erinnerung gebracht, welche glauben, es ließe sich mit eindeutigen „Fortschritts“begriffen bei der Feststellung von rein organisatorischen Entwicklungen operieren. 
 4. Man kann natürlich den Begriff des „Fortschritts“ – immer aber mit der schweren Gefahr des Mißverständnisses – wertfrei [368][B 109]brauchen, wenn man ihn mit dem „Fortschreiten“ irgendeines konkreten, abstrahierend isoliert betrachteten Prozesses identifiziert. Um gleich diejenigen Fälle zu nehmen, wo die Verquickung mit Wertfragen am intimsten ist, so ist dies 
 a) auf dem Gebiet der irrationalen, gefühlsmäßigen, affektiven Inhalte unseres seelischen Verhaltens: die quantitative Zunahme und – was damit meist verbunden ist – qualitative Vermannigfaltigung der möglichen (im Gegensatz zum zweckrationellen Verhalten: „irrationalen“) Verhaltungsweisen durch (um den üblichen Ausdruck zu brauchen) seelische „Differenzierung“, also: Vermehrung der „Spannweite“, der „Kapazität“ einer konkreten „Seele“ oder – was schon eine nicht eindeutige Konstruktion ist – einer „Epoche“ in dieser Hinsicht (von Simmel in „Schopenhauer und Nietzsche“ mit bedingungslos positivem Wertvorzeichen versehen).
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[368] Vgl. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche; das Handexemplar Max Webers befindet sich in der Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München. 
Es ist gar kein Zweifel, daß es dieses „Fortschreiten“ gibt. Mit dem Vorbehalt, daß es nicht immer wirklich da vorhanden ist, wo man an sein Vorhandensein infolge des Umstandes glaubt, daß ein zunehmendes Beachten der Gefühlsnüancen, wie es auftreten kann[,] sowohl als Folge zunehmender Rationalisierung und Individualisierung aller Lebensgebiete wie als Folge zunehmender subjektiver Wichtigkeit, die der einzelne allen seinen eigenen, in den Augen anderer vielleicht oft äußerst gleichgültigen, Lebensäußerungen beimißt, sehr leicht zunehmenden „Reichtum“, zunehmende „Kompliziertheit“ usw. im Sinn von fortschreitender „Differenzierung“ vortäuscht. Ich gestehe, daß ich die faktische Tragweite dieser Täuschung für die Gegenwart sehr hoch veranschlagen möchte. Die Realität von Differenzierungsprozessen der erwähnten Art ist aber an sich eine historisch unbezweifelbare Tatsache. Ob nun jemand fortschreitende Differenzierung als „Fortschritt“ bezeichnet, ist terminologische Zweckmäßigkeitsfrage. Ob man sie aber als „Fortschritt“ bewerten soll, kann jedenfalls keine empirische Disziplin entscheiden. Die Frage, ob jeweils die neu sich entwickelnden Gefühlsmöglichkeiten mit unter Umständen neuen „Spannungen“ und „Problemen“ als „Werte“ anzuerkennen sind, geht sie nichts an. Wer aber die Tatsache der Differenzierung als [369]solche bewerten will – was gewiß keine empirische Disziplin jemandem
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 verbieten kann – und nach dem Standpunkt dafür sucht, dem werden naturgemäß manche Erscheinungen der Gegenwart u. a. auch die Frage nahelegen: um welchen Preis dieser Prozeß, soweit er zurzeit überhaupt mehr als eine intellektualistische Illusion ist, „erkauft“ wird. – [369]B: jemanden
[B 110]Nur beiläufig sei erwähnt: die Anwendbarkeit des „Fortschritts“-begriffes (im Sinn der Bewertung) auf dem Gebiet der Kunst wird zwar gelegentlich leidenschaftlich bestritten. Nüchterne Erwägung zeigt, daß es keine „wertende Kunstbetrachtung“ gegeben hat, die mit dem exklusiven Gegensatz von „Kunst“ und „Unkunst“ ausgekommen wäre[,] und nicht daneben noch den
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 Unterschied zwischen Versuch und Lösung, zwischen dem Wert verschiedener Lösungen, zwischen der vollen und der in irgendeinem Einzelpunkt, in mehreren solcher, in wichtigen Punkten gebrochenen, mißglückten, dennoch aber nicht schlechthin wertlosen Erfüllung verwendete, und zwar nicht nur für ein konkretes Formungswollen, sondern auch für ganze Problematiken. Nicht nur etwa ein Buch wie Wölfflins „Klassische Kunst“,B: dem
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 sondern die Mehrzahl der „wertvollen“ Leistungen der analytischen Ästhetik wäre sonst unmöglich. Nicht darin liegt der – hier nicht zu erörternde – grundstürzende Unterschied der Wertungsprobleme dieser Sphäre von der gleich näher zu besprechenden des „rationalen“ Fortschritts. Nur hat freilich Wertrealisierung in der Kunst weder mit diesem „rationalen“ Fortschritt noch mit dem „Fortschritt“ der Differenzierung der Gefühlssphäre das mindeste zu schaffen, und die Verquickung aller dieser Dinge miteinander ist auch hier das spezifisch Fatale. [369] Wölfflin, Klassische Kunst, vertritt die Auffassung, daß sich die moderne Kunstbetrachtung nicht mehr für Anekdoten zur Biographie des Künstlers und für die Zeitumstände interessiere, sondern nach „neuen Begriffen“ der Ästhetik zu Wesen und Wert des Kunstwerkes verlange. So umfasse sein Buch neben dem historischen ersten Teil einen zweiten, den systematischen, der den Stoff nach Begriffen ordne und das Phänomen der klassischen italienischen Kunst und ihre Entwicklung erkläre. Nur auf diesem Wege ließen sich angemessene Urteilsmaßstäbe gewinnen.
b) Die Verquickung von „Fortschritt“ im Sinne 1. des „Fortschreitens“ und im Sinne 2. der Wertsteigerung wiederholt sich auch innerhalb der Sphäre des Rationalen selbst. Zunächst ist [370]schon „rationales“ Sichverhalten nicht mit „richtigem“, d. h. die „objektiv“ richtigen Mittel verwendenden Handeln identisch, sondern bedeutet an sich nur: daß die subjektive Absicht auf die planvolle „Orientierung“ an für richtig gehaltenen Mitteln für einen gegebenen Zweck gehe. Eine fortschreitende „Rationalisierung“ des Handelns ist nicht notwendig auch ein „Fortschritt“ in der Richtung auf das rational „richtige“ (d. h. das objektiv richtige Mittel wählende) Handeln. Man hat die Magie ebenso systematisch „rationalisiert“ wie die Physik, und die erste „rationale“, „wissenschaftliche“ Therapie bedeutete fast überall ein Verschmähen des Kurierens der empirischen „Symptome“ mit empirisch erprobten Mitteln zugunsten der (vermeintlich) eigentlichen (magischen, dämonischen) „Ursache“ der Erkrankung, hat also formal ganz die gleiche rationalisiertere Struktur wie manche der wichtigsten „Fortschritte“ der modernen Therapie. Und anderseits ist durchaus nicht etwa jeder „Fortschritt“ in der Richtung des „richtigen“ Mittels erzielt durch ein „Fortschreiten“ im ersteren Sinne. Daß subjektiv fortschreitend rationaleres Handeln [B 111]zu objektiv „zweckmäßigem“ Handeln führt, ist eine von mehreren Möglichkeiten und ein mit (verschieden großer) „Wahrscheinlichkeit“ zu erwartender Vorgang. Man sagt dann: daß das „subjektive“ Verhalten dem „objektiven“ Tatbestand „entspreche“, weil es „technisch richtig“ sei. Ist in einem Einzelfall der Satz richtig: die Maßregel x ist das (wir wollen annehmen: einzige) Mittel für die Erreichung des Erfolges y – was eine empirische Frage ist, und zwar die einfache Umkehrung des Kausalsatzes: auf x folgt y – und wird nun dieser Satz – was ebenfalls empirisch feststellbar ist – von Menschen bewußt für die Orientierung ihres Handelns verwertet, so „entspricht“ ihr subjektives Verhalten den Tatsachen, und zwar weil es „technisch richtig“ ist. Wird menschliches Verhalten (welcher Art immer) in irgendeinem Einzelpunkt in diesem Sinne „richtiger“ orientiert, so liegt ein „empirisch-technischer Fortschritt“ vor. Ob dies der Fall ist, das ist – immer natürlich: die absolute Eindeutigkeit des feststehenden Zweckes vorausgesetzt – für eine empirische Disziplin in der Tat eine empirische Feststellung. 
 Es gibt also in diesem Sinne, bei eindeutig gegebenem Zweck, eindeutig feststellbare Begriffe von „technischer“ Richtigkeit und ebenso „technischem“ Fortschritt in den Mitteln (wobei hier „Technik“ in einem allerweitesten Sinne als rationales Sichverhal[371]ten
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 überhaupt, auf allen Gebieten, gemeint ist). Man kann insbesondere (um nur die uns naheliegenden Dinge zu berühren)[371]B: Sicherhalten
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 auf dem speziellen, gewöhnlich „Technik“ genannten Gebiet, ebenso auf dem der Handelstechnik, der Rechtstechnik (im Gegensatz zur Rechtspolitik) von einem „technischen Fortschritt“ annähernd eindeutig reden, wenn einmal ein bestimmter Status als Ausgangspunkt genommen wird. Annähernd: denn die einzelnen technisch rationalen Prinzipien geraten, wie jedermann weiß, in Konflikte miteinander, zwischen denen ein Ausgleich zwar vom jeweiligen Standpunkt konkreter Interessenten, niemals aber „objektiv“, zu finden ist. Und es gibt, bei gegebenen Bedürfnissen, bei Unterstellung, daß alle diese Bedürfnisse als solche und ihre subjektive Rangeinschätzung der Kritik entzogen sein sollen, bei fernerer Annahme einer fest gegebenen Art der Wirtschaftsordnung ferner – wiederum unter dem Vorbehalt, daß z. B. die Interessen an Dauer, Sicherheit und Ausgiebigkeit der Deckung dieser Bedürfnisse in Konflikt geraten können und geraten – auch „ökonomischen“ Fortschritt zu einem relativen Optimum der Deckung derselben bei gegebenen Möglichkeiten der Mittelbeschaffung. Aber nur unter diesen Voraussetzungen und Einschränkungen. B: berühren),
[B 112]5. Es ist versucht worden, daraus die Möglichkeit eindeutiger und rein ökonomischer Wertungen abzuleiten. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist der von Prof. Liefmann (zuerst in der Debatte in Wien) herangezogene Schulfall der absichtlichen Vernichtung von Konsumgütern im Rentabilitätsinteresse der Produzenten.
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 Abgesehen von sonstigen nicht demonstrabeln Wertungen nimmt diese und – worauf es hier ankommt – jede ähnliche Darlegung u. a. folgende Voraussetzungen als selbstverständlich an, [372]die es nicht sind: Daß das Interesse des einzelnen über seinen Tod nicht nur faktisch hinausreiche, sondern auch als hinausreichend angesehen werden solle. Ohne diese Übertragung aus dem „Sein“ in das „Sollen“ ist die betreffende angeblich rein ökonomische Wertung nicht eindeutig durchführbar. Denn sonst kann man z. B. nicht von den Interessen der „Produzenten“ und „Konsumenten“ als von Interessen perennierender Personen reden. Daß der einzelne die Interessen seiner Erben in Betracht zieht, ist keine rein ökonomische Begebenheit mehr. Es folgt zwar aus der Pragmatik dessen, der Kapital in einem „Betrieb“ profitbringend verwertet, für diesen, weil er als „Diener“ seines eigenen Betriebes fungiert und, soll dieser ökonomisch rational geführt werden, fungieren muß. Aber es folgt z. B. durchaus nicht aus der Pragmatik der Lage der Arbeiter, insbesondere nicht der kinderlosen. Nützliche theoretische Fiktionen dürfen nicht zur Grundlage von praktischen Wertungen gemacht werden. – Zweitens ignoriert sie die Tatsache der „Klassenlage“, welche unter der Herrschaft des Marktprinzips nicht nur trotz, sondern gerade infolge der – vom Rentabilitätsstandpunkt aus gewertet jeweils möglichen – „optimalen“ Verteilung von Kapital und Arbeit auf die Erwerbssparten die Güterversorgung gewisser Konsumentenschichten absolut verschlechtern kann (nicht: muß), weil ja jene „optimale“ Verteilung der Rentabilität, welche die Konstanz der Kapitalinvestition bedingt, ihrerseits von Machtkonstellationen zwischen den Klassen abhängig sein kann, deren Konsequenzen die Preiskampfposition jener Schichten im konkreten Fall schwächen können (nicht: müssen). – Drittens ignoriert sie die Möglichkeit dauernder unausgleichbarer Interessengegensätze zwischen Mitgliedern verschiedener politischer Einheiten und nimmt Partei für das „Freihandelsargument“[371] Robert Liefmann ging in diesem von Weber angesprochenen Diskussionsbeitrag in der Produktivitätsdebatte auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik 1909 in Wien auf die Frage ein, ob die Vernichtung großer Reismengen, um den Importeuren einen höheren Preis zu sichern, produktiv sei. Er stellte fest, die Produktion eines Gutes werde dann unrentabel, wenn das dafür eingesetzte Kapital in anderen Betrieben einen größeren Ertrag eingebracht hätte. „Das praktische Leben folgt dieser Tendenz der Ausgleichung der Erträge in den verschiedenen Unternehmungszweigen mit außerordentlicher Sicherheit.“ Vgl. Liefmann, Diskussionsbeitrag in der Debatte „Die Produktivität der Volkswirtschaft“, in: Verhandlungen VfSp 1909, S. 577–580, hier S. 579, sowie den Diskussionsbeitrag Max Webers, der im Anschluß an Liefmann sprach, vgl. Weber, Produktivität, oben, S. 206–220, bes. S. 207 f. mit Anm. 7.
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, welches sich aus einem wichtigen heuristischen Mittel alsbald in eine gar nicht selbstverständliche „Wertung“ verwandelt, sobald man an seiner Hand Postulate des Seinsollens aufstellt. Wenn sie aber etwa, um diesem Konflikt zu entgehen, die politische Einheit der Weltwirt[B 113]schaft unterstellt – was theoretisch absolut gestattet sein muß –, so verschiebt sich, wenn nunmehr ökonomisch „gewertet“ wird, die unausrottbare Möglichkeit der Kritik, welche die Vernichtung jener genußfähigen Güter im Interesse des – wie hier unterstellt [373]werden mag – unter den gegebenen Verhältnissen gegebenen dauernden Rentabilitätsoptimums (der Produzenten und Konsumenten) herausfordert, lediglich in ihrer Schlagweite. Die Kritik wendet sich dann nämlich gegen das gesamte Prinzip der Marktversorgung an der Hand solcher Direktiven, wie sie das in Geld ausdrückbare Rentabilitätsoptimum von tauschenden Einzelwirtschaften gibt, als solches. Eine nicht marktmäßige Organisation der Güterversorgung würde auf die gegebene Konstellation von Einzelwirtschaftsinteressen Rücksicht zu nehmen weniger Anlaß haben, daher nicht ebenso genötigt sein, jene einmal vorhandenen genußfähigen Güter dem Verbrauch zu entziehen. [372]B: „Freiheitsargument“
Nur dann, wenn 1. ausschließlich dauernde Rentabilitätsinteressen konstant gedachter Personen mit konstant gedachten Bedürfnissen als leitender Zweck, – 2. die ausschließliche Herrschaft privatkapitalistischer Bedarfsversorgung durch Markttausch und dabei eine uninteressierte Staatsmacht als bloße Rechtsgarantien als gegebene
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 Bedingungen vorausgesetzt werden, ist die Ansicht von Prof. Liefmann[373]B: gegebenen
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 selbst nach seinen eigenen, hier nicht zu erörternden Thesen richtig. Es bleibt dabei: daß auch die ökonomische Theorie absolut gar nichts andres aussagen kann als: daß für den „Zweck“ x die Maßregel y das allein oder das neben y1, y2 geeignete Mittel sei, daß zwischen y, y1, y2 die und die Unterschiede der Wirkungsweise und – wenn dies im Einzelfall zutreffen sollte –: der Rationalität bestehen, daß ihre Anwendung und die Erreichung des Zweckes x die und die „Nebenerfolge“ z, z1, z2 mit in den Kauf zu nehmen gebietet usw. Das alles sind einfache Umkehrungen von Kausalsätzen, und somit sich daran „Wertungen“ knüpfen lassen, sind sie solche des Rationalitätsgrades einer vorgestellten Handlung, welche dann und nur dann eindeutig sind, wenn der Zweck und die allgemeinen Bedingungen gegeben und nur zwischen mehreren Mitteln zu wählen ist und diese überdies in ausnahmslos jeder anderen Hinsicht als in bezug auf die Sicherheit, Schnelligkeit, quantitative Ergiebigkeit des Erfolges völlig identisch sind. Nur dann ist das eine Mittel wirklich bedingungslos als das „richtigste“ auch zu werten und nicht bloß als, unter Abstraktion von sonst möglichen Unterscheidungen, den (genau zu be[B 114]zeichnenden) Vor[374]aussetzungen nach in bestimmten einzelnen Beziehungen „rational richtiger“ zu bezeichnen. [373] Vgl. dazu oben, S. 371, Anm. 36. 
Aber auch damit wäre eine endgültige Eindeutigkeit der „Wertung“ natürlich bei weitem nicht erzielt. Vielmehr begänne jenseits dieser Erörterungen erst das Gewirr der unendlichen, nur durch konstruktive Rückführung auf letzte Axiome zu bewältigenden
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 Mannigfaltigkeit möglicher Wertungen. Denn hinter der „Handlung“ steht: der Mensch. Für ihn kann das Steigern der subjektiven Rationalität und technischen „Richtigkeit“ des Handelns als solches über eine gewisse Schwelle hinaus – ja, von gewissen Anschauungen aus: ganz generell – als eine Gefährdung wichtiger (z. B. ethisch oder religiös wichtiger) Güter gelten. Die buddhistische (Maximal-)Ethik z. B., die jede Zweckhandlung schon deshalb, weil sie Zweckhandlung ist, als von der Erlösung abführend verwirft, wird schwerlich jemand von uns teilen. Aber sie zu „widerlegen“, in dem Sinn wie ein falsches Rechenexempel oder eine irrige medizinische Diagnose, scheint mir schlechthin unmöglich. Auch ohne so radikale Beispiele heranzuziehen aber ist es ja gerade die einzige wirklich gemeinsam gewesene und gebliebene Überzeugung der im Verein für Sozialpolitik vereinigten Sozialpolitiker: daß noch so zweifellos „technisch richtige“ ökonomische Erscheinungen durch diese ihre Qualität allein noch nicht vor dem Forum der Bewertung legitimiert seien. Das gilt für ausnahmslos alle Rationalisierungen, einschließlich derjenigen etwa des Bankwesens, von denen in Wien auch die Rede war.[374]B: bewältigende
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 Diejenigen, welche ihnen opponieren, sind nicht notwendig Narren. Überall muß, wenn man einmal werten will, der Einfluß solcher Rationalisierungen auf Verschiebungen auch der Klassenlage u. dgl. mit in Betracht gezogen werden. Selbstverständlich ist auf der anderen Seite freilich auch – was oft vergessen wird – daß man, wenn man einmal „werten“ will, unter gegebenen Bedingungen auch entschieden für eine Poli[375]tik eintreten kann, welche im gegebenen Einzelfall scheinbar lediglich Rentabilitätsinteressen oder, allgemein gesprochen, die ökonomische ratio des Gütermarktes zur Richtschnur nimmt. Aus ganz anderen Gründen als weil man etwa keine anderen Maßstäbe der Bewertung kennte. Z. B. je nach den Umständen im politischen Machtinteresse der eigenen Nation. Unter allen jenen Phrasen z. B., denen die Deutschen je zum Opfer fielen, war die dreisteste das Gerede vom „Schutz der nationalen Arbeit“[374] Auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Wien vom 27. bis 29. September 1909 standen zwei Themen auf der Tagesordnung: „Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden“ und „Die Produktivität der Volkswirtschaft“. Das Bankwesen kam nur am Rande zur Sprache, vgl. Verhandlungen VfSp 1909, indessen wurde über das Volkssparkassenwesen ein schriftlicher Bericht auf einer Sitzung des Hauptausschusses, die im Laufe der Wiener Generalversammlung stattgefunden hatte, vorgelegt, vgl. Boese, Verein, S. 138. 
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 in Fällen, wo es sich um Schutz von Renteninteressen handelte und einer der Effekte der jener Phrase ent[B 115]sprechenden Handelspolitik die Bevölkerung Deutschlands mit weit mehr als einer Million von Ausländern gewesen ist. – [375] Mit den Zollgesetzen von 1879 wurde aufgrund des Eingreifens des Zentralverbandes deutscher Industrieller in Verbindung mit der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine protektionistische Zollpolitik für großagrarische Interessen verfolgt, insbesondere die Erhöhung der Getreidezölle sollte die Landwirtschaft vom weltwirtschaftlichen Freihandel abkoppeln und die Getreidepreise künstlich hochhalten. Diese antiliberale, patrimonial ausgerichtete Politik wurde damit begründet, daß die Maßnahmen zum „Schutz der nationalen Arbeit“ gegen ausländische Konkurrenz notwendig seien. Vgl. Flemming, Jens, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890–1925. – Bonn: Verlag Neue Gesellschaft 1978, S. 25–29. 
Ich halte die Verwendung des Ausdrucks „Fortschritt“ auch auf dem begrenzten Gebiet seiner empirisch unbedenklichen Bewertbarkeit: fortschreitende Differenzierung in der irrationalen Sphäre und fortschreitende Rationalisierung in der technisch-rationalen Sphäre, wegen der äußerst naheliegenden Mißverständnisse, für sehr inopportun. Aber Ausdrücke läßt sich niemand verbieten, und man kann schließlich ja die möglichen Mißverständnisse vermeiden. – 
 Es seien schließlich noch einige, die Frage der „praktischen“ Wertungen nicht mehr betreffende Bemerkungen über die Beziehungen des Empirischen zum normativ „Gültigen“ beigefügt. 
 6. Empirische Disziplinen bedürfen in bestimmten Fällen für ihre Zwecke anderer als nur „empirischer“ Feststellungen als Hilfsmittel. (Ich muß auch hier für alles Nähere auf die früher zitierten Aufsätze verweisen.)
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 Nicht immer und nicht in dem Sinne ist dies der Fall, wo und wie es zuweilen den Anschein hat. Beispielsweise: Wenn eine Statistik die Zahl der „Rechenfehler“ innerhalb einer bestimmten Sphäre, in welcher berufsmäßig gerech[376]net wird, feststellen wollte – was recht wohl wissenschaftlichen Sinn haben könnte –, so „gelten“ für sie die Grundsätze des Einmaleins in zweierlei gänzlich verschiedenem Sinn. Einmal ist ihre normative Gültigkeit absolute Voraussetzung ihrer eigenen rechnerischen Arbeit. Das andere Mal aber, wo der Grad der Anwendung des Einmaleins als Objekt der Untersuchung in Frage kommt, wird die Anwendung dieses letzteren als eine konventionell und durch Erziehung uns beigebrachte und gewohnt gewordene faktische Maxime des Sichverhaltens behandelt, deren tatsächliche statistische Häufigkeit festgestellt werden soll, ganz ebenso wie bestimmte Irrsinnserscheinungen das Objekt einer solchen Feststellung sein können. Daß das Einmaleins normativ „gelte“, d. h. „richtig“ sei, ist in diesem Fall, wo seine Anwendung „Objekt“ ist, im logischen Sinne gar kein Gegenstand der Erörterung. Nach dem Einmaleins zu rechnen wird vielmehr als eine rein konventionelle Gepflogenheit behandelt, welcher der hier vorausgesetzte Statistiker bei der statistischen Nachprüfung der „Rechnungen“ der Untersuchungsperson sich auch seinerseits natürlich „fügen“ muß – ebenso wie er ein normativ „falsches“ Rechenverfahren zeitweise anwenden müßte, falls etwa ein solches einmal historisch vertreten worden wäre und nun die Häufigkeit von dessen empirischer Anwendung statistisch unter[B 116]sucht werden sollte. Eine im Mittelalter gelegentlich vertretene Annahme über das Verhältnis des Papstes zum Kaiser (Sonne und Mond) Vgl. oben, S. 349, Anm. 8. 
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 beruht z. B. auf der Voraussetzung, daß 8 × 7 nicht wie wir heute annehmen = 56, sondern = 57 sei. Jede Wiedergabe des Trinitätsdogmas[376] Zur Beschreibung des Verhältnisses von weltlicher und religiöser Macht, Regnum und Sacerdotium, bediente man sich im Mittelalter des Gleichnisses von Sonne und Mond, der seinen Glanz von der Sonne erhalte. Mit diesem Gleichnis der zwei Himmelslichter kann sowohl der Vorrang der päpstlichen gegenüber der kaiserlichen Macht als auch umgekehrt die Stärke und Unabhängigkeit des Kaisers gegenüber der religiösen Macht abgeleitet werden. Auch läßt sich mit diesem Gleichnis das gleichberechtigte Zusammenwirken der religiösen und weltlichen Macht für das Wohl der Christenheit symbolisieren. 
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 muß eine – für unsere Annahme – rechnerische Absurdität hinnehmen und die „logischen“ Konsequenzen, welche daraus folgen, darlegen. Jede Darstellung der pythagoreischen Musiklehre muß die – für unser Rechnen – „falsche“ Rechnung zunächst einmal hinnehmen: daß 12 Quinten = 7 [377]Oktaven seien. In der christlichen Theologie wird unter Trinität die Einheit und Wesensgleichheit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist verstanden. Diese „Dreifaltigkeit“ war und ist ein Gegenstand grundsätzlicher Kontroversen und divergierender Deutungen. 
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 Jede Geschichte der Logik ebenso die historische Existenz von – für uns – logisch widerspruchsvollen oder direkt „absurden“ logischen Aufstellungen – und es ist menschlich begreiflich – gehören[377] Der aus Samos stammende Kosmologe und Mathematiker Pythagoras (geb. ca. 530 v. Chr.) entdeckte einer glaubwürdigen Überlieferung zufolge, daß die Tonhöhe der schwingenden Saite eines Monochords in einem gesetz- und zahlenmäßigen Verhältnis zu deren Länge steht. Dies vorausgesetzt, ist zu erwarten, daß der Zielton „his“ nach zwölf aufeinander geschichteten Quinten dem (sieben Mal) oktavierten Ausgangston „c“ entspricht. Tatsächlich aber liegt dieser Zielton um einen geringen, aber hör- und meßbaren Betrag (von ungefähr einem Achtelton) unter dem erwartbaren Wert. Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert versuchte man, dieses Problem der „Offenheit“ des pythagoreischen Systems durch Ausgleichsverfahren (Temperierung) zu lösen; als Endergebnis dieser Bemühungen setzte sich im 18. Jahrhundert ein vollkommen gleichstufiges System, die „wohltemperierte Stimmung“, durch. 
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 aber nicht mehr zur wissenschaftlichen Leistung, wenn man solche „Absurditäten“ mit solchen Explosionen des Zorns begleitet, wie ein ganz besonders verdienstlicher Historiker der mittelalterlichen Logik[377]B:  begreiflich, gehört
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 es getan hat. Der Tatsache nach werden aber in solchen Fällen empirische Feststellungen mit nicht rein empirischen Mitteln erreicht. Das führt nun weiter:  Weber bezieht sich möglicherweise auf den Philosophen Carl Prantl, Autor einer vierbändigen Geschichte der Logik. Für den letzten Band, die Scholastik betreffend, hat er nach eigener Auskunft „unnützen Wust“ durchforschen müssen: „Gewiss fühlt Jeder, dass wenigstens neun Zehntel von alle dem, was hier zur Darstellung kommt, lediglich auf einem werthlosen und sogar einfältigen Treiben beruhen; aber der geschichtlichen Forschung durfte es nicht erspart bleiben, auch eine derartige Periode genauer zu untersuchen und dabei zugleich dem berechtigten Verwerfungs-Urtheile, welches jeder Unbefangene über die mittelalterliche Scholastik fällen muss, durch eingehende Einzeln-Kenntniss eine kaum widersprechliche Begründung zu verleihen.“ Prantl, Carl, Geschichte der Logik im Abendlande. Vierter Band. – Leipzig: S. Hirzel 1870, Vorwort, S. III–IV.
Schon um eine „falsche“ Rechnung oder logische Feststellung zu „verstehen“ und ihren Einfluß in denjenigen faktischen Konsequenzen, welche sie gehabt hat, feststellen und darlegen zu können, wird man offenbar nicht nur selbstverständlich seinerseits sie „richtig“ rechnend bzw. logisch denkend nachprüfen, sondern auch denjenigen Punkt mit den Mitteln des „richtigen“ Rechnens bzw. der „richtigen“ Logik ausdrücklich bezeichnen, an welchem die untersuchte Rechnung oder logische Aufstellung von dem, was der darstellende Schriftsteller seinerseits als „richtig“ ansieht, abweicht. Nicht notwendig nur zu dem praktisch-pädagogischen Zweck, den z. B. Windelband in der Einleitung zu seiner Geschichte der Philo[378]sophie in den Vordergrund stellt („Warnungstafeln“ vor „Holzwegen“ aufzustellen),
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 der nur einen erwünschten Nebenerfolg bedeutet. Und auch nicht, weil jeder geschichtlichen Problematik, zu der objektiv die Logik (oder das Rechnen) gehörte, unvermeidlich nur der „Wahrheitswert“ – und also der „Fortschritt“ in der Richtung auf diesen – als einzig mögliche, für die Auslese maßgebende leitende Wertbeziehung zugrunde liegen müßte, – wobei übrigens trotzdem natürlich der gerade von Windelband, in anderer Formulierung, so oft festgestellte Sachverhalt zu beachten bliebe: daß der „Fortschritt“ in diesem Sinne sehr oft statt des direkten Weges den – ökonomisch ausgedrückt – „ergiebigen Produktionsumweg“ über „Irrtümer“ eingeschlagen hat. Sondern deshalb, weil (und deshalb [B 117]auch nur soweit, als) diejenigen Stellen, an welchen die dargestellte geistige Konzeption – um diesen möglichst farblosen Ausdruck zu gebrauchen, – von derjenigen abweicht, welche der Schriftsteller selbst für „richtig“ halten muß, regelmäßig zu den in seinen Augen ihr spezifisch „charakteristischen“, d. h. zu den, von ihm aus gesehen, entweder direkt „wertbezogenen“ oder kausal unter dem Gesichtspunkt andrer „wertbezogener“ Sachverhalte wichtigen gehören werde. Das wird normalerweise um so mehr der Fall sein, je mehr der „Wahrheitswert“ von Gedanken der leitende Wert einer historischen Darstellung ist, also namentlich bei einer Geschichte einer bestimmten „Wissenschaft“ (etwa der theoretischen Nationalökonomie). Aber es ist keineswegs notwendig nur dann der Fall. Es tritt ein wenigstens ähnlicher Sachverhalt auch da ein, wo „rationales“ Handeln überhaupt den Gegenstand einer Darstellung bildet, und wo also „Denk“- oder „Rechen-Fehler“ kausale Komponenten des Ablaufes des Handelns bilden können. Um z. B. die Führung des Krieges von 1866 zu „verstehen“, muß unvermeidlich – wenn auch nicht notwendig aus[379]drücklich oder in ausgeführter Form – ein „idealer“ Feldherr vorgestellt werden,[378] In der Einleitung zum genannten Buch Windelband, Geschichte der Philosophie4, S. 1–19, benutzt Windelband diese Formulierung „,Warnungstafel‘ vor ‚Holzwegen‘“ nicht. Sie findet sich aber in einem Festschriftbeitrag in der Wendung: „Nicht umsonst pflanzt die Geschichte neben den Irrtümern, von denen sie zu erzählen hat, ihre Warnungstafeln auf: ,Dies ist ein Holzweg‘“, vgl. Windelband, Wilhelm, Geschichte der Philosophie, in: ders. (Hg.), Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer. – Heidelberg: Winter 1905, S. 175–199, hier S. 179. – Weber selbst gebrauchte diese damals nicht unübliche Wendung im Sinne einer Warnung vor voreiligen Schlußfolgerungen in Erkenntnistheorie und Logik, vgl. Weber, Kritische Studien, S. 202, sowie Brief Max Webers an Alfred Weber vom 19. September 1908, in: MWG II/5, S. 661 f., hier S. 661. 
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 dem die Gesamtsituation und Dislokation der beiderseitigen militärischen Machtmittel und die sämtlichen daraus sich ergebenden Möglichkeiten, das in concreto, wenigstens rein militärisch betrachtet, eindeutige Ziel: Zertrümmerung der gegnerischen Militärmacht, zu erreichen, bekannt und stets gegenwärtig sind, und der irrtumslos und auch logisch „fehlerfrei“ handelt. Nur dann kann eindeutig festgestellt werden, welchen kausalen Einfluß der Umstand, daß der wirkliche Feldherr weder diese Kenntnis noch diese Irrtumlosigkeit besaß und überhaupt keine bloß rationale Denkmaschine war, auf den Gang der Dinge gehabt hat. Die rationale Konstruktion hat hier den Wert, als Mittel richtiger kausaler „Zurechnung“ zu fungieren. Ganz den gleichen Sinn haben diejenigen utopischen Konstruktionen streng und irrtumslos rationalen Handelns, welche die „reine“ ökonomische Theorie schafft. [379] Anspielung auf den preußisch-österreichischen Krieg und das Verhalten von Generalstabschef Helmuth Graf Moltke in der Schlacht bei Königgrätz. Vgl. dazu Weber, Rechtswissenschaft und Soziologie, oben, S. 289 mit Anm. 15. 
Zum Zweck der kausalen Zurechnung empirischer Vorgänge also bedürfen wir der Konstruktion rationaler, je nachdem
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 empirisch-technischer oder auch logischer „Utopien“, welche auf die Frage antworten: wie bei absoluter rationaler, empirischer und logischer „Richtigkeit“ und „Widerspruchslosigkeit“[379]B: jenachdem
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 ein Sachverhalt, möge er einen äußeren Zusammenhang des HandelnsB: „Widerspruchslosigkeit“,
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 oder etwa ein Gedankengebilde (z. B. ein philosophisches System) sein, aussehen (oder ausgesehen haben) würde. [B 118] Aber, logisch betrachtet, ist die Konstruktion einer rational „richtigen“ Utopie dabei nur eine der verschiedenen möglichen Gestaltungen eines „Idealtypus“, – wie ich (in einer mir für jeden anderen Ausdruck feilen Terminologie) solche Begriffsbildungen genannt habe.B: Handels
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 Es lassen sich Fälle denken, wo etwa als Idealtypus ein in charakteristischer Art logisch falsches Schlußverfahren oder ein bestimmtes typisch zweckwidriges Verhalten den gleichen oder selbst einen besseren Dienst tun könne, und es gibt vor allem ganze Sphären des Verhaltens (die Sphäre des „Irrationalen“), wo nicht das Maximum von [380]logischer Rationalität, sondern lediglich die durch isolierende Abstraktion gewonnene Eindeutigkeit jenen Dienst leisten kann. Faktisch also verwendet der Forscher überempirisch, insbesondere – in den gewählten Beispielen – normativ „richtig“ konstruierte „Idealtypen“. Logisch betrachtet aber ist gerade dies: die normative „Geltung“, kein Essentiale. Ebenso kann ein Forscher, um eine spezifische Art von Gesinnung (eine „Epoche“) zu charakterisieren, sowohl einen ihm persönlich ethisch „normgemäß“ und in diesem Sinn objektiv „richtig“, wie einen ihm ethisch normwidrig erscheinenden Typus von Gesinnung konstruieren und das Verhalten der Menschen (jener Epoche) damit vergleichen oder endlich einen Gesinnungstypus, für den er gar keine normative Dignität irgend einer Art in Anspruch nimmt. Das „Richtige“ hat da keinerlei Monopol. Welchen Inhalt überhaupt der rationale Idealtypus hat: ob er eine ethische, rechtsdogmatische, ästhetische oder religiöse Glaubensnorm oder eine technische oder ökonomische oder eine rechtspolitische oder sozialpolitische oder kulturpolitische Maxime oder eine in eine möglichst rationale Form gebrachte „Wertung“ welcher Art immer darstellt, stets hat seine Konstruktion innerhalb empirischer Untersuchungen nur den Zweck, die empirische Wirklichkeit mit ihm zu „vergleichen“, ihren Kontrast oder ihren Abstand von ihm oder ihre relative Annäherung an ihn festzustellen, um sie so mit möglichst eindeutigen Begriffen beschreiben und kausal erklären zu können. Diese Funktionen versieht die rationale rechtsdogmatische Begriffsbildung z. B. für die empirische Disziplin der Rechtsgeschichte (cf. Archiv f. Sozialwissensch[aft] Bd. XXIV S. 132 f.), Weber verweist auf seinen Aufsatz: Weber, Objektivität, bes. S. 69, 77. 
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 die rationale Kalkulationslehre für die Analyse des realen Verhaltens der Einzelwirtschaften in der Erwerbswirtschaft. Beide eben genannten Disziplinen haben nun natürlich außerdem noch als „Kunstlehren“ eminente normativ-praktische Zwecke. Und beide Disziplinen sind, als dogmatische Wissenschaften, ebensowenig empirische Disziplinen im hier erörterten [B 119]Sinn wie etwa Mathematik, Logik, normative Ethik, Ästhetik, von denen sie im übrigen aus anderen Gründen so völlig verschieden sind wie diese untereinander es auch sind. Die ökonomische Theorie ist eine „Dogmatik“ in einem logisch sehr anderen Sinn als die Rechtsdogmatik; sie gebiert keinerlei praktische „Kunstlehre“ [381]aus sich; ihre Begriffe verhalten sich zur ökonomischen Realität spezifisch anders als diejenigen der Rechtsdogmatik zur empirischen Rechtsgeschichte. Aber wie jene als „Idealtypen“ für die letztere verwertet werden können und müssen, so ist diese Art der Verwendung der geradezu ausschließliche Sinn der reinen ökonomischen „Theorie“. [380] Weber verweist auf seinen Aufsatz: Weber, Stammlers Überwindung, S. 132 f. 
Sie macht bestimmte, in der Realität kaum jemals rein erfüllte, aber in verschieden starker Annäherung in ihr angetroffene Voraussetzungen und fragt: wie sich das soziale Handeln von Menschen, wenn es strikt rational verliefe, unter diesen Voraussetzungen gestalten würde. Nicht nur die Nationalökonomie, sondern jede soziologische empirische Betrachtung bedarf solcher rationaler Konstruktionen, um der Mannigfaltigkeit des Empirischen überhaupt Herr zu werden. Ich verweise auf das früher (Archiv f. Sozialwissensch[aft] Bd. XIX S. 64 ff.) Gesagte
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 und füge nur hinzu: diejenige besondere Art des Betriebes der Soziologie („verstehende Soziologie“), als deren „Spezialfall“ (mit einigen Vorbehalten) die systematische Nationalökonomie betrachtet werden darf, ist eine Wissenschaft vom menschlichen Handeln. Menschliches Handeln ist dabei ein (subjektiv) „sinnhaftes“ auf „Objekte“, ausschließlich innere (wie z. B. bei der Kontemplation) oder, beim „aktiven“ Handeln, äußere Objekte (Dinge oder Menschen) bezogenes Sichverhalten. „Gemeinschaftshandeln“ ist (für diese besondere Art von Soziologie) ein auf das Handeln Anderer seinem (subjektiv gemeinten) „Sinn“ nach bezogenes Handeln. Ein wichtiger Spezialfall des so definierten „Handelns“ ist nun das „rational“, d. h. unter (subjektiver) Orientierung an „Mittel“ und „Zweck“, auf die Außenwelt bezogene, innerhalb des Gemeinschaftshandelns also: auf das Handeln Anderer bezogene, Handeln. Nicht jedes ökonomisch rationale Handeln ist „Gemeinschaftshandeln“. Aber z. B. das rationale Handeln auf dem Markt, wie es die rationale Preisbildungstheorie konstruiert, ist ein solches. Innerhalb des (subjektiv) sinnhaft auf das Handeln Anderer bezogenen Handelns, des Gemeinschaftshandelns also, wird nun das rationale Handeln von der Theorie deshalb als „Idealtypus“ gebraucht, weil es besonders eindeutig und ohne alle „psychologische“ Erörterun[382]gen konstruierbar ist. Und – was hier nicht näher aus[B 120]geführt werden kann – auch soweit im übrigen die empirische Erkenntnis der ökonomischen Realitäten „psychologische“ Einsichten verwertet, haben diese, weitaus dem Schwerpunkt nach, den Charakter der „psychologia[381] Weber bezieht sich – wie schon oben, S. 349 mit Anm. 8 – auf seinen Aufsatz: Weber, Objektivität, S. 64 ff. 
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 rationalis“ (also einer in Wahrheit unpsychologischen Erkenntnis), und der Rest gehört dem Typus der neuerdings sogenannten „verstehenden“ Psychologie an. Denn die Nationalökonomie, speziell auch die historische, ist eine menschliches Handeln in seinen Motiven und Konsequenzen „verstehende“ Wissenschaft, eben daher intim verknüpft mit der „verstehenden Soziologie“. – Auch noch diese methodischen Sachverhalte im Ausschuß nebenher mitzuerörtern, würde aber doch wohl kaum möglich sein, obwohl gerade erst sie die logischen Probleme klarstellen. Es herrscht zurzeit in unserer Disziplin so etwas wie eine methodologische Pestilenz. Fast kein noch so rein empirischer Aufsatz kann geschrieben werden, ohne daß der Autor sozusagen um seiner Reputation willen, „methodologische“ Bemerkungen dazu für nötig hält. Das kann sehr leicht zu dem Zustand des „Fluchs der Kröte“[382]B: „psychologie
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 führen. Man kann gehen, ohne die Anatomie seiner Beine zu kennen. Nur wenn etwas nicht in Ordnung ist, kommt diese für das Gehen praktisch in Betracht. – Ich nehme also an, daß man sich auf das einfache zur Diskussion gestellte Problem der allgemeinen Beziehung von praktischer Wertung und empirischer Wissenschaft beschränken wird, wollte die große Komplikation der näheren Beziehungen zwischen dem Rationalen und dem Empirischen hier nur angedeutet haben und verweise auf den gleichzeitig erscheinenden Aufsatz im „Logos“.[382] In arglistiger Bewunderung rühmt die Kröte das elegante Gehen des Tausendfüßlers, der daraufhin seine unwillkürliche Fähigkeit, die vielen Beine nacheinander zu setzen, verliert; vgl. Meyrink, Gustav, Der Fluch der Kröte, in: ders., Des deutschen Spießers Wunderhorn, 2. Teil. – München: Albert Langen 1913, S. 217–221. 
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 Weber verweist auf seinen im September 1913 im „Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ erschienenen Aufsatz: Weber, Kategorien, unten, S. 383–440, mit Editorischem Bericht. 
