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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[278][Rechtswissenschaft und Soziologie]

1.

Der erste Debattenredner, der Rechtsanwalt Ernst Fuchs, hatte in Zweifel gezogen, daß man bei der Frage des Verhältnisses von Recht und Soziologie „das Werturteil aus der Diskussion ausscheiden“ könne (Verhandlungen DGS 1910, S. 312), worauf er – vom Vorsitzenden Ferdinand Tönnies darauf hingewiesen, daß sich die Versammlung auf das Prinzip der Wertfreiheit verpflichtet habe – sich abermals zum Wesen der freien Rechtsschule, über die Kantorowicz gesprochen hatte, äußerte. Diese könne bei richtiger Erkenntnis die Gesinnung ändern, schon heute sei es doch so, „daß der nicht formalistische Richter bewußt, halbbewußt oder unbewußt insgeheim soziologisch und nicht dialektisch die Streitfragen entscheidet“ (ebd.). Hier vermerkt der Verhandlungsband: „(Prof. M. Weber: zur Geschäftsordnung!)“, worauf Tönnies Max Weber außerhalb der Rednerliste das Wort erteilt:
[[A 312]]Ich
a
[278] In A geht voraus: Professor Dr. Max Weber (zur Geschäftsordnung):
wollte nur bemerken, daß die Frage doch von Herrn Dr. Kantorowicz dahin gestellt ist: ob nach den anzuerkennenden logischen Grundlagen der Rechtsinterpretation das Gesetz unter irgend welchen Verhältnissen begriffliche Lücken haben kann oder nicht. Diese logische Frage geht uns hier allein an, nicht aber dürfen wir die Frage erörtern, von der ich allerdings glaube, daß der Herr Redner in sie hinein zu gleiten droht – ob, wenn diese Theorie nicht akzeptiert wird, irgend jemand gedrückt, schlecht behandelt wird, sittlich verwerfliche Zustände entstehen, oder etwas ähnliches.
Anschließend legt Ernst Fuchs unter anderem noch dar, die soziologische Rechtslehre erkenne, daß neben und hinter dem Gesetz ein „ungeheures Gebiet“ stehe, das durch den Gesetzesbuchstaben nicht geregelt und durch bloß dialektisches Konstruieren nicht zu beherrschen sei; eine solche Feststellung gehöre doch zu einer „erkenntnis-theoretischen Betrachtung“ (ebd., S. 313). Hier merkt der Verhandlungsband an:
[[A 313]](Zuruf des Prof. Dr. Max Weber: Unzweifelhaft!)
Auf Ernst Fuchs folgten – nach einer Bemerkung von Kantorowicz zur Geschäftsordnung – Beiträge des Juristen Hans Wüstendörfer und des Tübinger Juristen Philipp Heck, der, gegen die herrschende „Begriffsjuris[279]prudenz“ (ebd., S. 317) argumentierend, die Bedeutung der Zwecksetzung von Gesetzen hervorhebt und die Interessenabwägung der von einem Rechtssatz Betroffenen in die Jurisdiktion miteinbezogen wissen wollte. Für die Erkenntnis einer möglichen Komplikation von Interessen sei es wichtig, die Geschichte eines Rechtsinstituts zu kennen, weil dies auch Aufschluß über die gegenwärtig gültige Rechtsauffassung gebe. Der vom Referenten vorgebrachte Vorwurf, daß die Rechtsgeschichte die Normen „isolierend“ betrachte, sei für die germanistische und deutsche Rechtsgeschichte nicht aufrechtzuerhalten (vgl. ebd., S. 320). An dieser Stelle vermerkt der Verhandlungsband:
[[A 320]](Prof. Weber: Heusler!)
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[279] Gemeint ist: Heusler, Institutionen I und II.
Heck stimmt Webers Einwurf zu, hat ein Gegenbeispiel und kommt bald darauf zum Schluß seines Beitrages. Auf ihn folgen die Redner Heinrich Wimpfheimer und Eberhard Gothein, an dessen ziemlich kurzen, mit Beifall aufgenommenen Beitrag Weber mit seinem längeren Diskussionsbeitrag anschließt.

2.

[[A 323]]Verehrte Anwesende! Da ich mich für diesen Ausschluß der sogenannten „Werturteile“ mit verantwortlich fühle und da gesagt worden ist, es sei während dieser ganzen Tagung über Dinge gesprochen worden, die man nicht ohne Werturteil habe verhandeln können,
2
Der Beginn von Webers Diskussionsbeitrag steht offenbar unter dem unmittelbaren Eindruck des Beifalls, den sein Vorredner Eberhard Gothein bekommen hatte. Gothein hatte dargelegt, daß die Rechtsgeschichte die Normen der Vergangenheit nach Kriterien wie sachgerecht, fortschrittlich oder rückschrittlich zu bewerten habe. Solche, hinsichtlich historischer Gegebenheiten – auch in dieser „erlauchten Versammlung“ – zweifellos zugelassenen Urteile müßten entsprechend auch für Fragen gelten wie die, ob das römische Recht für die Bauern von Vorteil gewesen sei, das deutsche Recht aber nicht: „Denn wenn man hier die Werturteile ausschließen würde, dann hieße das, daß man überhaupt die Rechtsgeschichte kastrieren wolle.“ An dieser Stelle vermerkt das Protokoll: „Beifall“, vgl. Gothein, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 322 f., hier S. 323.
so erinnere ich daran, daß z. B. gestern ein Theologe
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Ernst Troeltsch hatte am Vortag, Freitag, dem 21. Oktober 1910, seinen Vortrag „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ gehalten, Verhandlungen DGS 1910, S. 166–192, anschließende Debatte, S. 192–214; zu Max Webers Diskussionsbeiträgen dazu vgl. MWG I/9, S. 741–764.
hier gesprochen hat über Dinge, die ihn gewiß so innerlich berühren, wie irgend [280] etwas und daß er absolut – ich rufe jeden zum Zeugen dafür [A 324]an, der zugehört hat – daß er absolut „wertfrei“ darüber gesprochen hat, und daß wir gestern in der Lage gewesen sind, darüber wertfrei zu diskutieren, und daß ich es blamabel finden würde, wenn die Gesellschaft sich dazu bekennen würde, daß nur ein Theologe fähig ist, wertfrei zu sprechen, und daß man nur mit einem Theologen wertfrei diskutieren kann. Ich persönlich bin nicht der Meinung, daß das, was nach unserem Statut in der Diskussion ausgeschlossen ist, nur grade die politischen Werturteile sind.
b
[280] In A folgt der Protokollzusatz: (Vorsitzender: Nein!)
Auch der Wert eines Kunstwerkes, auch der Wert einer Rechtsnorm, auch einer Rechtsnorm in der Vergangenheit, steht hier nicht zur Diskussion. Es ist sehr richtig, daß wir hier erörtern werden, welche Wirkung Rechtsnormen z. B. auf die Bauern in diesem oder jenem Stadium gehabt haben. Aber ob diese Wirkung erwünscht gewesen ist, ob das von irgend einem geschichtsphilosophischen Standpunkt aus erfreulich ist oder nicht, darüber werden wir hier nicht urteilen können, weil das Dinge sind, die mit rein subjektiven praktischen persönlichen Stellungnahmen des einzelnen Forschers zusammenhängen und durch die Arbeit, wie wir sie betreiben wollen, nicht zu erledigen sind. Wir behandeln selbstverständlich auch „Werturteile“, die wir vorfinden, soweit diese Lebensäußerungen für unsere Feststellungen Wichtigkeit haben, als Objekt unserer Betrachtung und suchen sie erklärend zu „verstehen“. Und dies „Verstehen“ ist selbstredend nicht möglich, wenn wir nicht selbst einer inneren wertenden Stellungnahme zu der Frage, auf welche sich jene „Werturteile“ beziehen, fähig sind. Aber wir selbst wollen nicht wertend „Stellung nehmen“, sondern Tatsachen feststellen und erklären, und – das ist die einzige Form von Wertungen, die bei uns eine Stätte haben – logische und methodische Fragen des Wissenschaftsbetriebs erörtern. Wir finden, daß die praktischen, rechtspolitischen Wertungen bereits von anderen Gesellschaften
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[280] Weber dürfte hier vor allem an den Verein für Sozialpolitik denken; vgl. oben S. 221, Anm. 2. Für die Deutsche Gesellschaft für Soziologie engagierte sich Weber in der Erwartung, daß damit eine „Arbeitsgemeinschaft“ – wie er selbst sagt (Weber, Geschäftsbericht, MWG I/13, S. 260) – zur Förderung strikt erfahrungswissenschaftlicher, also auch dem Erfordernis der Werturteilsfreiheit entsprechender Forschung geschaffen werde.
in hinlänglichem Maße besorgt [281]werden, und dasjenige, was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade, daß wir von uns verlangen, daß wir darin Zurückhaltung bewahren, uns auf die Darstellung der Tatsachen und deren Erklärung einerseits und auf die logischen Grundlagen unseres wissenschaftlichen Arbeitens andererseits beschränken. Das aber können wir!
Verehrte Anwesende! Im Hintergrund des Vortrags des Herrn Dr. Kantorowicz stand – und darauf möchte ich noch einmal in voller Übereinstimmung mit ihm den Finger legen – die Konstatierung, die ich, wie ich schon bei anderen Gelegenheiten getan habe,
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[281] Weber bezieht sich vor allem auf seinen Aufsatz: Weber, Stammlers Überwindung. Weber legt in ähnlicher Formulierung, ausgehend von einem Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches, dar, daß ein Rechtssatz zum einen die von einer befugten Person angewendete Norm bedeute und als solche auch zum Objekt juristischer Problematisierung und Bewertung werden könne, und zum anderen empirisch wirksam das Verhalten der Menschen im Sinne der Rechtsordnung, zu deren Bestandteil dieser Paragraph gehört, beeinfluße, vgl. ebd., bes. S. 139–141. Schon in seinem Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904 hatte Weber den logischen Unterschied der gesetzten Geltung eines Ideals einerseits und der orientierenden und motivierenden Wirkung einer Idee andererseits ausgearbeitet und auch am Beispiel des Staatsbegriffes dargestellt, vgl. Weber, Objektivität, S. 74 f.
so zusammenfassen möchte: daß wir einen bestimmten Rechtssatz, z. B. einen Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs in zwei ganz verschiedenen Weisen ansehen können, richtiger: daß er dann auch etwas ganz verschiedenes ist, je nach der Fragestellung, mit der wir an ihn herantreten. Wir können einmal nach dem „Sinn“ dieses Rechtssatzes fragen, d. h., ausgehend davon, daß eine generelle und hypothetisch gefaßte Norm vorhanden ist, fragen: findet sie auf die Fälle X, Y, Z ihrem Sinne nach Anwendung, dergestalt nämlich, daß ein Richter, wenn er „richtig“ entscheiden will, so und so entscheiden müßte? Das ist eine dogmatische und keine Tatsachen-Frage, keine soziologische Frage, in keinem Sinne dieses Wortes, sondern eine reine Rechtsfrage. Dagegen können wir nun diesen selben Rechtssatz soziologisch ansehen; sofort verändert er nicht nur seinen Sinn, er ist überhaupt etwas ganz anderes. Was „ist“ der Rechtssatz soziologisch? Er [A 325]bedeutet, daß eine gewisse faktische Wahrscheinlichkeit besteht, eine „Chance“, daß, wenn jene Tatbestände X, Y, Z, von denen ich vorhin sprach, vorliegen – daß dann faktische Konsequenzen bestimmter Art eintreten, ein faktischer Zwang in bestimmter Richtung ausgeübt werden wird zugunsten [282]desjenigen, der in einer bestimmten Weise sich an bestimmte staatlich eingesetzte Instanzen – die „Gerichte“ – wendet, das Geld dafür, was das kostet, zu bezahlen in der Lage und geneigt ist, sich auf die sonstigen Weiterungen, die damit verknüpft sind, einzulassen. Diese Chance: daß also hinter dem betreffenden ökonomischen oder sonstigen Interesse, angesichts der durchschnittlich üblichen „Interpretation“ eines in einem Gesetzbuch enthaltenen gedruckten Satzes, der Schutz der Staatsgewalt faktisch stehen wird, diese Chance ist eine, dem Prinzip nach, ebenso nach ihrer „Wahrscheinlichkeit“ berechenbare Möglichkeit, – im Prinzip, nicht de facto –, wie irgend ein möglicher Vorgang der toten oder lebenden Natur. Die Behauptung der Rechtsdogmatik, daß ein Rechtssatz bestimmten Inhalts „gelte“, bedeutet in der Sprache der Soziologie nur: daß eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, daß gewisse faktische Umstände ein bestimmtes Zwangseingreifen des Staats herbeiführen. Es ist gar keine Rede davon, daß etwa auf dem Gebiete des Soziologischen das Rechnen durch das „Werten“ ersetzt werden könnte, wie wohl einmal gesagt wurde. Ich kann einfach nicht verstehen, was das heißen soll. Im Gegenteil: wir haben ja gerade von den Naturwissenschaften gelernt, und werden hoffentlich noch mehr lernen, die Art, mit denen sie Fakta eben rein als Fakta zu behandeln pflegt. Auf diesem Gebiete liegen die Unterschiede der empirischen Wissenschaften nicht.
Ob nun im einzelnen Fall sich diese Rechtssätze faktisch in einem Urteil, welches, wenn wir auf den Sinn des Rechtssatzes sehen, – also eine ganz andere Frage als die soziologische stellen – „richtig“ ist, realisieren, – nun, das hängt von einer Unmasse soziologischer Umstände und ganz konkreter Dinge ab. Gewiß auch davon unter Umständen, ob der Richter etwa einen sehr starken Frühschoppen hinter sich hat. Es hängt von der Art der Vorerziehung des Juristen ab, es hängt von tausend konkreten Verhältnissen ab, die, ob sozialer oder nicht sozialer Natur, jedenfalls reine Faktizitäten sind. Das „Gelten“ eines Rechtssatzes im soziologischen Sinn ist ein empirisches Wahrscheinlichkeitsexempel über Fakta, das Gelten im juristischen Sinn ist ein logisches Soll, und das sind zwei ganz verschiedene Dinge, und was ich hier an einem Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, etwas undeutlich vielleicht, demonstriert habe, dessen Tragweite wird vielleicht klarer, wenn ich ein anderes Beispiel wähle. Ich habe dasselbe allerdings [283]schon anderweit gebraucht.
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[283] Auch hier verweist Weber wieder – wie oben, S. 281, Anm. 5 – auf Weber, Stammlers Überwindung.
Sie gestatten aber, da es doch schwerlich gelesen worden ist, daß ich es erneut vorbringe. Wenn wir folgende Satzreihe betrachten: „Die Vereinigten Staaten haben gegenüber ihren Einzelstaaten das Recht, Handelsverträge abzuschließen“ – erster Satz –; zweiter Satz: „demgemäß haben die Vereinigten Staaten einen Handelsvertrag mit Mexiko abgeschlossen“; dritter Satz: „dieser Handelsvertrag entspricht nicht den Interessen der Vereinigten Staaten“; vierter Satz: „denn die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten ist ungünstig davon beeinflußt worden“; „die Interessen der Vereinigten Staaten hätten vielmehr nach der und der Rich[A 326]tung gelegen“; „die Verfassung der Vereinigten Staaten ist daran schuld, daß etwas derartiges zustande kommen konnte“; „die Stimmung der Vereinigten Staaten ist demgemäß die und die“ usw. – so werden Sie, wenn Sie diese einzelnen Sätze nebeneinander nehmen und Sie sich fragen, was ist in jedem Fall unter dem Begriff der „Vereinigten Staaten“ gedacht: – so werden Sie, sage ich, zu dem Resultat kommen: jedesmal etwas anderes, niemals aber der Rechtsbegriff Vereinigte Staaten. Der Rechtsbegriff Vereinigte Staaten nämlich ist ein Komplex von Rechtsnormen, die von der Jurisprudenz auf ihren Sinn hin zu interpretieren sind, während die „Vereinigten Staaten“ in dem Sinne, in dem wir in der Wirtschaftswissenschaft, in der Soziologie, in der Politik, überhaupt außerhalb der Rechtswissenschaft, damit zu tun haben, ein ins praktisch Unendliche gehender Komplex von Parlamentarien
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Synonym für Parlamentaria; Angelegenheiten des Parlaments.
allen möglichen Charakters, von Präsident und Bureaukratie, Militär, von Kohlengruben und Goldgruben und Hochöfen und Eisen, was da produziert ist oder was da produziert werden könnte, von Arbeitern, und ich weiß nicht was alles, sind, in jedem einzelnen der erwähnten Fälle vielleicht etwas anderes und jedenfalls in fast jedem unter anderen Gesichtspunkten zu einem Begriff zusammengeschlossen. Der Rechtsbegriff Vereinigte Staaten aber hat nun vor diesem soziologischen Begriff Vereinigte Staaten die ungeheure Überlegenheit des im Prinzip logisch klaren Gehaltes voraus, und deshalb orientieren sich die soziologischen Begriffe und die Kollektivbegriffe anderer Disziplinen regelmäßig an eben jenem Rechtsbegriffe, obwohl das juristische Begriffsystem „Verei[284]nigte Staaten“ ein rein ideales Gedankengebilde ist, etwas, was als solches keine empirische Realität im Leben hat, sondern eben etwas – wie man zu sagen pflegt – „Geltendes“ ist. Etwas „Seiendes“, empirisch Seiendes, ist es nur, insofern es von Juristen seinem geltenden Sinn entsprechend gedacht zu werden pflegt, mehr oder minder genau also entsprechend der idealen juristischen Denknorm, – aber nicht weil es als ideale Norm gilt, sondern: weil eine gewisse Chance besteht, daß Menschen, insbesondere Richter, in einer bestimmten, ihm entsprechenden Art handeln.
Also: die dogmatische Betrachtung, d. h. die Betrachtung des Sinnes von Verfassungs- und Staatsrecht-Normen[,] und die Betrachtung eines rechtlich geordneten Gemeinwesens, für welches sie, dogmatisch betrachtet, „gelten“ wollen, sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Nun fragt es sich eben: wie ist es logisch möglich, daß trotzdem eine Bedeutsamkeit soziologischer Feststellungen für rechtliche Erwägungen eintreten kann? Herr Dr. Kantorowicz hat angeführt: erstens die notwendige Lückenhaftigkeit des Gesetzessystems im logischen Sinn. Es sei logisch kein geschlossenes System. Zugegeben! Folgt daraus nun aber allein schon: daß eine so ganz heterogene Betrachtungsweise, wie die soziologische, das zu ersetzen geeignet wäre? Das wird er gewiß nicht sagen wollen, sondern er wird nur sagen wollen, daß aus der Kenntnis der faktischen Struktur der Gesellschaft oder z. B. jener νοn
c
[284]A: vor
mir zitierten Gemeinwesen, welche man der Kürze halber mit jenem an sich ganz heterogenen juristischen Ausdruck bezeichnet, daß daraus unter Umständen der allein mögliche, weil allein sinnvolle Zweck von Rechtsnormen zu entnehmen sei. Er selbst hat als klassisches [A 327]Beispiel für das, was er für logisch richtig hält, jene Formulierung des Schweizer Gesetzbuchs angeführt, wonach der Richter den einzelnen Fall so entscheiden soll, wie er, wenn er Gesetzgeber wäre, die gesetzliche Norm dafür fixieren würde. Meine Herren, das ist ja ersichtlich gar kein soziologischer, sondern ein strikt Kantscher Grundsatz, beinahe wörtlich aus der „Kritik der praktischen Vernunft“
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[284] Gemeint ist: Kant, Kritik der praktischen Vernunft.
zu entnehmen.
d
In A folgt der Protokollzusatz: (Zuruf:)
Ich sage nur, er wäre daraus abzuleiten, [285]nicht: er sei faktisch daraus entnommen worden. (Dr. Kantorowicz: Man muß aber soziologische Erwägungen anstellen, um dem Postulat zu genügen). Gewiß, darin sind wir vollständig einig, ich habe nur feststellen wollen, daß das, was ich hier sage, auch der Sinn Ihrer Ausführungen gewesen ist, woran ich von Anfang an nicht gezweifelt habe.
Nun, meine Herren, welche Folgen die Anerkennung dieses Grundsatzes etwa haben könnte für unsere Rechtsprechung, das ist wiederum eine soziologisch sehr schwer zu beantwortende Frage. Verschieden ist die Art der Position des Richters in England von der des Richters bei uns,
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[285] Der englische Richter ist nicht an ein gesatztes, „rationales“ Recht gebunden, viel mehr liegen seiner jeweiligen Urteilsfindung Präjudizien und konkrete, die Rationalität der Rechtsregeln einschränkende Wertabwägungen zugrunde. Damit wird dem englischen Richter eine größere Machtfülle zugestanden, als sie dem kontinentalen Richter zukommt. Weber wird später bemerken, daß die erstarkende Interessensvertretung der deutschen Richter danach strebe, die Lage ihres Standes zu verbessern, indem sie auf die „‚vornehme‘ Stellung“ des englischen Richters verweist, vgl. Weber, Die Entwicklungsbedingungen des Rechts, § 8. Die formalen Qualitäten des modernen Rechts, MWG I/22-3, S. 615–639, hier S. 631, sowie den Editorischen Bericht, ebd., S. 249–272, bes. S. 270.
und das würde keineswegs praktisch gleichgültig sein für die Konsequenzen, die entständen, wenn man dem deutschen, sozial ganz anders gestellten Richter diese, mindestens scheinbar und nach seiner subjektiven Vorstellung, sehr große Gewalt in die Hand legen würde. Diese Frage würde uns jedoch ins Rechtspolitische führen, und das schließen wir ja aus. Aber, was die Tatsachen anlangt, ist daran zu erinnern, daß ja die Lückenhaftigkeit des Gesetzes schon heute keineswegs der einzige Fall der von der Gesetzgebung selbst herbeigeführten Judikatur praeter, ja selbst contra legem ist. Denn wenn es richtig ist, daß es zwei Arten von Rechtsfindung geben kann, „formale Justiz“ und „Kadijustiz“, und wenn Ihering
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Das Zitat lautet bei Ihering: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit.“ Es ist entnommen aus: Ihering, Rudolph von, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil 2, Abt. 2, 4. verb. Auflage. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1883, S. 471.
von der formalen Justiz gesagt hat: die Form sei die Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit – ob mit Recht haben wir hier nicht zu erörtern, – so ist daran zu erinnern, daß faktisch die Institution des Geschworenengerichts bei uns die Türe öffnet, durch welche die Kadijustiz praeter und auch contra legem eintritt. Unzähligemale
e
[285] Veraltet für: Unzählige Male
erkennen [286]die Geschworenen auf Totschlag, weil sie nicht den Mut haben, die Konsequenz auf sich zu nehmen, daß derjenige, der nur auf Indizienbeweise hin des Mordes schuldig befunden werden kann, nun zum Tod verurteilt wird. So und so oft mal erkennen die Geschworenen einen Mann der Vergewaltigung eines Mädchens für unschuldig, weil dieses Mädchen vorher geschlechtlichen Verkehr gehabt hat. Beide Male gegen die Gesetze. Die Geschworenen sind aber nicht verpflichtet, Gründe anzugeben; es gibt keine Instanz, die das rektifizieren könnte; trotz allem Recht und trotzdem das Recht selbstverständlich die Geschworenen dem Sinne nach binden will, entziehen sie sich ihm de facto. Und auf dem Gebiete der Strafjustiz, meine Herren, besteht deshalb schon, in noch weiterem Sinn, als der Vortrag verlangte, Freirechtlertum, aber freilich: in einem ganz anderen Sinn, als sicherlich derjenige ist, den Herr Dr. Kantorowicz
f
[286]A: Kantorovicz
gemeint hat:
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[286] Kantorowicz hatte im Vortrag seine Meinung, wie die Freirechtsschule die Interessensabwägung in einem zu entscheidenden Rechtsfall vorzunehmen habe, folgendermaßen beschrieben: Es gehe weder um eine Entscheidung zugunsten des sozial Schwachen noch umgekehrt zugunsten des „sozial mächtigeren Teils“, sondern um einen Vergleich mit einem außerhalb des konkreten Rechtsfalles liegenden Wert, mit einem Kulturwert, der „die Gesamtheit der von einer bestimmten Rechtsordnung verfolgten Zwecke“ in sich schließe, vgl. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 275–309, hier S. 295.
durch persönliche Empfindungen, durch Geschlechterinteressen und endlich durch Klassenkonflikte bedingte Judikatur.
Und nun komme ich noch mit einigen Bemerkungen kurz auch meinerseits auf die Rechtsgeschichte zu sprechen. – Herr Kollege Heck und anschließend auch Herr Kollege Gothein
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Vgl. die Darstellung des Diskussionsverlaufes, oben, S. 278 f.
haben zwar auch die andere Seite hervorgehoben, aber im wesentlichen ist nur davon gesprochen worden, welche Dienste die Soziologie der Rechtsgeschichte [A 328]zu leisten habe, und daß die Rechtsgeschichte soziologisch zu betreiben sei, d. h., daß sie die Faktizitäten des Rechtslebens, die Art, wie praktisch das Recht lebendig war, und nicht das, was sich da aus irgend welchen Rechtsnormen der Vergangenheit an Recht konstruieren läßt, zu ihrem Objekt zu machen habe. Ich möchte nun doch das eine dazu sagen: Die entscheidende Frage, was denn eigentlich rechtsgeschichtlich relevant ist, was also Objekt der Rechtsgeschichte wird, dies kann allerdings doch nur [287]von systematischen Erwägungen aus entschieden werden. Und weiter: es kann auch die rechtsgeschichtliche Forschung nur in der Weise betrieben werden, sie wird faktisch nur in der Weise betrieben, daß, wenn ich hier eine „Rechtsquelle“ vor mir habe, ich meine: eine Erkenntnisquelle von Recht – einerlei, ob Gesetzbuch, Weistum, Urteil, Privaturkunde oder was sonst – ich mir notwendigerweise zuerst rechtsdogmatisch ein Bild davon mache: die Geltung welches Rechtssatzes setzt das logisch voraus, indem ich mich also möglichst in die Seele eines Richters der damaligen Zeit zurückversetze: wie würde ein Richter der damaligen Zeit sinngemäß in einem konkreten Fall zu entscheiden haben, der ihm vorgelegt wäre, wenn dieser Rechtssatz, den ich da dogmatisch mir konstruiere, von ihm als Grundlage seiner Entscheidung angenommen worden wäre. Sobald man sich den wirklichen Vorgang der rechtshistorischen Forschung ansieht, kann das nicht bestritten werden, auf den ersten Blick werden Sie es vielleicht nicht glauben. Dann erst, auf Grund dieser dogmatischen Erwägungen, werde ich überhaupt fähig, zu bemerken, daß – wie es oft genug geschah – in den und den Fällen das faktisch lebendige Rechtsbewußtsein nicht so funktionierte, nicht gemäß dem ideal konstruierbaren Sinn, den ich gewonnen hatte. Und dann erst eröffnet sich mir überhaupt das Auge dafür: wie das lebendige, d. h. das faktisch in realem Zwang sich äußernde, Recht der betreffenden Zeit de facto ausgesehen hat: vielleicht, ja wahrscheinlich, äußerst widerspruchsvoll und von Gericht zu Gericht verschieden. Mit anderen Worten: Als heuristisches Prinzip ist eine rechtsdogmatische Konstruktion auch für das Recht der Vergangenheit, auch für die Rechtsgeschichte, nicht zu entbehren. Darum würde ich es für unberechtigt halten, etwa den Unterschied zu machen: das Recht, das nicht mehr gilt, nur als Faktum und nicht als „Norm“ zu betrachten, und das Recht, das noch gilt, nicht als Faktum[,] sondern als Norm. Beides kann sowohl auf seinen Sinn hin untersucht werden … (Zuruf: Vom Richter.) – Nein, nicht nur vom Richter. Auch ich kann mich wissenschaftlich darein versenken, und jede Rechtsdogmatik tut es. Und ebenso kann ich mich in die Frage versenken: welchen Inhalt eigentlich, juristisch konstruiert, irgend eine der vielen merkwürdigen Bestimmungen des englischen Rechts der Vergangenheit wohl haben könnte, wenn man sie mit den Mitteln der Logik in ihre juristischen Konsequen[288]zen triebe. Das sind Fragen, die nicht notwendig uninteressant und die vor allem heuristisch fruchtbar sind.
Wie gesagt, ist eine rechtsdogmatische Konstruktion und Analyse auch das Prinzip der Auslese des für die Rechtsgeschichte wissenschaftlich Relevanten. Und, meine Herren, das gilt nun auch – da wir einmal in dieser Diskussion über „Werturteile“ begriffen sind – das gilt nun auch ebenso für die Beziehung der Werte zu den Problemstellungen, womit wir uns hier in der soziologischen Gesellschaft wissenschaftlich zu befassen haben. Denn die Frage, [A 329]ob ein bestimmtes Faktum Gegenstand unserer Diskussionen werden soll, ob es also wissenschaftlich „interessant“ geworden ist, ist letztlich identisch mit der Frage: ob es Bedeutung für Kulturwerte hat. Aber wenn wir als Männer der empirischen Wissenschaft uns mit einem „interessanten“ Faktum befassen, dann liegt diese Frage: warum es interessant ist, hinter uns, denn nunmehr ist es unsere Aufgabe, lediglich und allein die Tatsachen festzustellen und sonst nichts. Und auch die Parteien, die sich über deren Wert oder Unwert streiten, haben ein Interesse daran, daß jemand da ist, der sagt: ich sage dir nicht, du hast recht oder du hast unrecht, das kann ich dir mit den Mitteln der empirischen Wissenschaft nicht sagen, sondern ich kann dir nur sagen: das sind die Tatsachen – vielleicht kennt er sie gar nicht –, das sind die Bedingungen, das sind die Folgen davon, daß es so ist, also: wenn das geschähe, was du willst, dann würden die und die Mittel und die und die Nebenfolgen mit in den Kauf genommen werden müssen. Das sind Fragen, die nach dem Schema: auf X folgt Y entschieden werden können. Alle anderen Fragen aber, die nach diesem Schema nicht entschieden werden können, liegen nicht auf unserem Gebiete. Ob man auch die Entscheidung über solche anderen Fragen eine wissenschaftliche nennen will oder nicht, das ist uns hier gleichgültig; jedenfalls gehört sie nicht vor das Forum einer reinen Tatsachenwissenschaft, die wir hier betreiben wollen. Das hätte nie bestritten werden dürfen, und daran wollen wir festhalten.
Schließlich – und damit greife ich zurück auf die Debatte von heute Vormittag und auf gewisse Einwendungen, die gegen das, was ich gegen Herrn Kollegen Voigt gesagt habe,
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[288] Weber bezieht sich auf seinen Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Andreas Voigt „Wirtschaft und Recht“, oben, S. 264–272.
vorgebracht [289]wurden. Das sog. wirtschaftliche Prinzip spielt eine der Rechtsdogmatik ähnliche Rolle auf dem Gebiet der Nationalökonomie. Das wirtschaftliche Prinzip – was besagt es? Es formuliert seine Urteile folgendermaßen: Wenn jemand seine gesamten jetzigen und künftigen Bedürfnisse mit der Allwissenheit eines Gottes kennte und gegeneinander abzuwägen in der Lage wäre, auf der einen Seite, – und wenn er mit der Allwissenheit eines Gottes auch die vorhandenen Vorräte und die notwendigen Arbeitsaufwendungen zur Deckung dieser Bedürfnisse an Gütern – potentielle und aktuelle: die sich ihrerseits ja auch darnach richten, welche Bedürfnisse so und so viel andere Menschen haben, die auch diese Güter haben möchten – wenn er das alles wüßte, – wie würde er dann, unter dem Prinzip der Deckung möglichst vieler seiner Bedürfnisse mit den vorhandenen Mitteln verfahren? Meine Herren, Sie sehen, daß nie in der Realität, niemals in der Wirklichkeit, ein Mensch sich in dieser Lage befindet: das gibt es einfach nicht. Ein derartiger nicht nur absolut rein rational handelnder, sondern zugleich auch allwissender Mensch existiert nicht. Dennoch, meine Herren, ist uns dieses theoretisch fingierte Handeln, ein reines Gedankengebilde, heuristisch wertvoll zu einer Analyse des wirklichen Handelns. Denn es läßt sich erfahrungsgemäß zeigen, daß das wirkliche Handeln gewisse Annäherungstendenzen an ein solches rein rationales Handeln zeigt, und zwar Annäherungstendenzen ganz besonders in einer Zeit des ökonomischen Rationalismus, wie der unsrigen. Wir wären gar nicht in der Lage, das wirkliche Handeln der Menschen auf wirtschaftlichem Gebiet zu analysieren, wenn wir nicht vorher ein streng rationales Handeln von Menschen – wie es in der Wirklichkeit niemals, auch auf dem Gebiet der Börse nicht, besteht: davon haben [A 330]wir heute morgen bei dem Kapitel über die Panik
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[289] Weber bezieht sich auf den Vortrag von Eberhard Gothein „Soziologie der Panik“, mit dem die Vormittagssitzung des 3. und letzten Verhandlungstages, Samstag, den 22. Oktober 1910, eröffnet worden war, vgl. Verhandlungen DGS 1910, S. 216–248.
gehört – wenn wir nicht ein solches streng rationales Handeln uns vorher vorgestellt hätten. Ähnliches gibt es nun nicht nur auf dem Gebiete der Nationalökonomie. Man kann den österreichischen Feldzug und Moltkes Verhalten
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Helmuth Graf Moltke war Generalstabschef im preußisch-österreichischen Krieg 1866 und konnte die entscheidende Schlacht bei Königgrätz für Preußen entscheiden, obwohl sie zunächst für die Preußen und ihre norddeutschen Verbündeten verloren zu sein schien, da der Nachschub die preußischen Truppenteile nicht rechtzeitig erreich[290]te. Schon in seinem Aufsatz „Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie“ verwandte Weber im 1906 erschienenen III. Teil dieses Beispiel; vgl. Weber, Roscher und Knies III, S. 100 f., Fn. 1.
nicht begreifen, auch rein histo[290]risch nicht, wenn man sich nicht, unbewußt, konstruiert: wenn Moltke allwissend gewesen wäre und also gewußt hätte: die Verteilung des österreichischen Heeres, die Chance, so und so schnell da und dahin zu kommen, ganz genau, wenn er allwissend gewesen wäre in Bezug auf alle Umstände, die überhaupt für den Erfolg, für den bezweckten Erfolg, der ja in diesem Fall eindeutig feststand: die Niederwerfung des Gegners, in Betracht kamen – wenn er das alles gewußt hätte und streng unter diesem einen Gesichtspunkt, ungestört durch Denkfehler und Irrtum, durch die ungenügende Information, durch ich weiß nicht was alles hätte handeln können, wie hätte er dann handeln müssen? Das ist das heuristische Prinzip, welches wir anlegen, um das wirkliche Handeln Moltkes zu verstehen; denn das wirkliche Handeln Moltkes ist eben soweit rational gewesen, wie es ihm gelang, es rational zu gestalten. Er wollte selbstverständlich gerne unter diesem Prinzip handeln; er konnte es nicht, weil er ein dem Irrtum unterworfener, über die Umstände unvollkommen unterrichteter Mensch war. Aber um sein durch diese irrationalen Momente mitbestimmtes reales Handeln zu verstehen, müssen wir streng rationales Handeln und seinen Erfolg uns vorstellen können, sonst können wir allerdings menschliches Gesellschaftsleben, historische Dinge nur ebenso unvollkommen verstehen wie die Vorgänge in einem Bienenstock. Ganz gewiß können wir die Bienenstocksvorgänge heute bis zu einem sehr weitgehenden Grad beschreiben und analysieren und haben eine weitgehende Kenntnis davon, aber die Behandlung menschlichen sozialen Lebens bringt uns dem gegenüber doch einen ungeheuren Vorteil, den wir nicht wegwerfen wollen, da wir mit Hilfe dieser rationalen Konstruktionsmittel prinzipiell weiterkommen können in unserem Denken und Erkennen der ursächlichen Verkettungen, als das auf dem Gebiete der Tierstaaten je gelungen ist und gelingen kann.
Nach seinem Diskussionsbeitrag zur Rede von Hermann Kantorowicz machte Max Weber zu dessen später erfolgenden Schlußwort noch einen kurzen Zwischenruf. Kantorowicz kam gegen Ende auf das „Problem der Behandlung der Rechtsgeschichte“ (Verhandlungen DGS 1910, S. 333) zu [291]sprechen, er hätte in seiner Hauptrede von seiner Vorstellung von einer „Normengeschichte des Rechts“ (ebd., S.305 f.) gesprochen und die Schwierigkeiten dargestellt, wenn der Sinn von Rechtsinstitutionen interpretiert werde, ohne auf die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der entsprechenden Epoche einzugehen. Im Hinblick darauf stellte er in seinen abschließenden Bemerkungen fest, daß man beispielsweise im römischen Recht die Behauptung antreffe, daß das Gewohnheitsrecht nachrangig zum geltenden Gesetz sei, sowie auch gegensätzlich, daß dem Gewohnheitsrecht die gleiche Geltung wie dem Gesetzesrecht zukomme. Den Historiker interessiere nun nicht, wie dieser Widerspruch aufzulösen sei, er stelle lediglich fest, daß eine Regelung aus einer älteren Schicht der Rechtsprechung stamme und die andere aus einer jüngeren und sie seien „ungeschickt zusammengeschmolzen“ (ebd., S. 333). An dieser Stelle ist im Verhandlungsband in das Schlußwort von Kantorowicz in fortlaufender Zeile eingefügt:
[[A 333]](Prof. Weber: Aber damals war das römische Recht geltendes Recht!)
Kantorowicz widersprach, griff dann aber unabhängig von Webers Zwischenruf dessen Ansatz idealtypischer Verwendung geltender Orientierungsbilder auf, daß man die Rechtsdogmatik als „heuristisches Prinzip“ brauche, schon um nachvollziehen zu können, was frühere Juristen gemeint hätten, vgl. ebd., S. 334. Anschließend erhielt Voigt, als Redner vom Vormittag, die Gelegenheit zum Schlußwort für seinen Vortrag „Wirtschaft und Recht“ (ebd., S. 334 f.). Danach schloß der Vorsitzende Tönnies die Versammlung des Ersten Deutschen Soziologentages.