[307][Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung]
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[[A 49]]Der Herr Vorredner hat Recht,
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 was heißt eigentlich Nation und Nationalgefühl? Haben wir überhaupt Anlaß, diese Begriffe ausdrücklich als besondere Realitäten zu behandeln? – Das wären die Fragen, die vor allen anderen gestellt werden müssen. Auf die Frage z. B., ob die Juden eine Nation sind, kann man gar nicht einfach mit ja oder nein antworten, denn [A 50]das erfordert eine sehr schwierige Begriffsbestimmung. Soweit hinter dem offenkundig vieldeutigen Wort überhaupt eine gemeinsame Sache steckt, liegt sie offenbar auf politischem Gebiet. Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur etwa so definieren: sie ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben. Die kausalen Komponenten aber, die zur Entstehung eines Nationalgefühls in diesem Sinne führen, können grundverschieden sein. Sehen wir einmal von der Gemeinschaft des religiösen Glaubens ab, die darin noch immer – bei Serben und Kroaten[307] Weber bezieht sich auf Ferdinand Tönnies, in: Verhandlungen DGS 1912, S. 49, der den Vorsitz am Vormittag des ersten Verhandlungstages am 21. Oktober 1912 innehatte und in die Diskussion zum Referat von Paul Barth einführte, bevor er Max Weber als erstem Diskussionsredner das Wort erteilte. 
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 – ihre Rolle nicht ausgespielt hat, so kommen zunächst gemeinsame, rein politische Schicksale in Betracht, durch welche unter Umständen auch sonst heterogene Völker zusammengeschweißt werden können. In solchen Erinnerungen ist der Grund zu suchen, warum der Elsäßer sich als nicht der deutschen Nationalität zugehörig empfindet: seine politischen Schicksale sind zu lange in außerdeutschen Zusammenhängen verlaufen. Seine Helden sind Helden der französischen Geschichte. Wenn Ihnen der [308]Kastellan des Kolmarer Museums zeigen will, was ihm von seinen Schätzen besonders teuer ist, so führt er Sie von Grünewalds Altar fort in ein Zimmer mit Trikoloren-, Pompier- und anderen Helmen, und solchen Erinnerungen scheinbar nichtigster Art aus einer Zeit, die ihm ein Heldenzeitalter bedeutet. Das Beispiel der Religion von Serben und Kroaten – die Kroaten sind römisch-katholisch, die Serben griechisch-orthodox – bringt Weber auch im Text „Ethnische Gemeinschaften“, MWG I/22-1, S. 168–190, hier S. 185. Der Text stammt aus der Vorkriegszeit, seine Entstehungszeit ist uns nicht genauer bekannt. Im Blick auf den Zusammenhang von Nation und Gemeinschaftsempfinden geht Weber hier auch auf Fragen der Abstammung ein und stellt fest, daß Nationalitätsunterschiede trotz starker Abstammungsverwandtschaft bestehen könnten, „nur weil Unterschiede der religiösen Konfessionen vorliegen, wie zwischen Serben und Kroaten.“ (ebd.). 
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 – Auch eine bestehende staatliche Organisation aber, deren Heldenzeitalter von den Massen nicht mitempfunden wird, kann dennoch rein als solche, trotz größter innerer Gegensätze, der ausschlaggebende Faktor für ein mächtiges Gemeingefühl sein. Der Staat als Garant der Sicherheit wird gewertet und dies zumal in Zeiten der Bedrohung von außen, wo dann ein solches nationales Gemeinschaftsgefühl wenigstens intermittierend aufflackert. So sahen wir, wie in der sog. Nibelungengefahr die scheinbar rücksichtslos auseinanderstrebenden Elemente des österreichischen Staats sich zusammenschlossen, und nicht nur auf die am Staat als solchem interessierten Beamten und Offiziere, sondern auf die Massen der Armee Verlaß war. Besonders kompliziert liegen die Verhältnisse bei einer weiteren Komponente: dem Einfluß der Rasse. Von mystischen Wirkungen der Blutsgemeinschaft im Sinne der Rassenfanatiker sehen wir dabei wohl besser gänzlich ab. Für die soziale Anziehung und Abstoßung sind die Verschiedenheiten des anthropologischen Typus ein, aber ein neben traditionserworbenen Unterschieden nur gleichberechtigtes Moment der Abschließung. Und zwar mit charakteristischen Unterschieden. Jeder Yankee nimmt den zivilisierten Viertels- oder Achtelsindianer als Nationalitätsgenossen an, beansprucht womöglich selbst, Indianerblut zu besitzen. Ganz anders aber verhält er sich den Negern gegenüber, und zwar gerade dann, wenn dieser die gleichen Lebensformen annimmt und damit die gleichen sozialen Prätentionen erhebt. Wie erklärt sich das? Ästhetische Aversion mag mitspielen. Der „Negergeruch“ allerdings, von dem so viel gefabelt wird,[308] Auch dieses Beispiel der Elsässer und ihrer wechselvollen Geschichte im französisch-deutschen Grenzland des Hochrheins führt Weber in seinem Text „Ethnische Gemeinschaften“ an, in ähnlicher Weise beschreibt er das Kolmarer Museum und seine Bedeutung für die Elsässer, die vor allem seit der Französischen Revolution eine gemeinsame Kultur politischer Erinnerung mit den Franzosen teilten, vgl. Weber, Ethnische Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 186 f., sowie oben, S. 307, Anm. 2. 
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 ist nach meiner Erfahrung nicht zu entdecken, und schwarze Ammen, schwarze Kutscher Schulter an Schulter mit der [309]das Kabriolet lenkenden Dame und vor allem mehrere Millionen Mischlinge sprechen allzu deutlich gegen die angeblich natürliche Abstoßung. Diese ist sozialen Charakters, und ich habe nur eine einzige einleuchtende Begründung gehört: die Neger sind Sklaven gewesen, die Indianer nicht. Das könnte sich, unausgesprochen, auch gegen Simmel richten. Bei ihm heißt es in seinem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ (Simmel, Soziologie, S. 657): „Die Re[309]zeption der Neger in die höhere Gesellschaft Nordamerikas scheint schon wegen der Körperatmosphäre des Negers ausgeschlossen“.
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 – Von den Kulturelementen, welche die wichtigste [A 51]positive Grundlage der Bildung von Nationalgefühl darstellen, steht überall in erster Linie die gemeinsame Sprache. Auch sie ist weder ganz unentbehrlich noch allein ausreichend. Man darf behaupten: daß es ein spezifisches Schweizer Nationalgefühl gab trotz Weber hatte auch schon zwei Jahre vorher auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910 zum Vortrag von Alfred Ploetz gesagt, daß in den Vereinigten Staaten die Herabsetzung der Schwarzen durch die Weißen zwar mit der Notwendigkeit der Rassentrennung begründet werde, tatsächlich aber auf ihre unterschiedliche sozio-ökonomische Lage und gesellschaftliche Stellung zurückzuführen sei, vgl. Weber, Die Begriffe Rasse und Gesellschaft, oben, S. 243–260, hier S. 248 f. Zu den sozialen Gründen der Rassentrennung Farbigen gegenüber vgl. auch Weber, Ethnische Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 169–171, sowie oben, S. 307, Anm. 2. 
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 der Sprachverschiedenheit. Trotz der Sprachgemeinschaft fehlt es dem Irländer mit dem Engländer. Die Bedeutung der Sprache ist in notwendigem Steigen begriffen, parallel mit der Demokratisierung von Staat, Gesellschaft und Kultur. Denn gerade für die Massen spielt die Sprache schon rein ökonomisch eine entscheidendere Rolle, als für den Besitzenden feudalen oder bürgerlichen Gepräges, der wenigstens in Sprachgebieten gleichartiger Kultur meist die fremde Sprache spricht, während der Kleinbürger und Proletarier im fremden Sprachgebiet ungleich stärker auf den Zusammenhalt mit Gleichsprachlichen angewiesen ist. Und dann vor allem: die Sprache und das heißt: die auf ihr aufgebaute Literatur sind das erste und zunächst einzige Kulturgut, welches den Massen beim Aufstieg zur Teilnahme an der Kultur überhaupt zugänglich wird. Der Kunstgenuß erfordert ein weit größeres Maß von Schulung, und Kunst ist weit aristokratischeren Gepräges, als Literatur gerade in ihren größten Leistungen. Aus diesem Grunde war die Vorstellung so utopisch: Demokratisierung müsse die Sprachenkämpfe mildern, die man in Österreich gehabt hat. Die Tatsachen haben sie inzwischen gründlich dementiert. Gemein[310]same „Kulturgüter“ können also ein einigendes nationales Band abgeben. Auf den objektiven Wert dieser Kulturgüter kommt es dabei aber gar nicht an und deshalb darf man „Nation“ nicht als „Kulturgemeinschaft“ fassen. Gerade die Zeitungen, in denen sich gewiß nicht immer das Sublimste an literarischer Kultur sammelt, kitten die Massen am stärksten zusammen. Über die eigentlich soziologischen Bedingungen der Entstehung einer einheitlichen Literatursprache und – was etwas anderes ist – einer Literatur in der Volkssprache stecken alle Untersuchungen noch in den Anfängen. Für Frankreich kann auf die Aufsätze meines verehrten Freundes Vossler[309] In A folgt: des Fehlens 
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 verwiesen werden. Nur auf einen typischen Träger dieser Entwicklung möchte ich hier hinweisen, weil man an ihn nicht oft denkt: die Frauen. Ihre spezifische Leistung für die Bildung eines an der Sprache orientierten Nationalgefühls liegt hier. Eine erotische Lyrik, die sich an Frauen wendet, kann nicht wohl fremdsprachig sein, weil sie dann von den Adressatinnen unverstanden bliebe. Ganz gewiß nicht die höfische und ritterliche Lyrik allein, auch nicht immer zuerst, aber doch oft und nachhaltig gerade sie hat daher in Frankreich, Italien, Deutschland das Lateinische, in Japan das Chinesische durch die eigene Sprache ersetzt und diese zur Literatursprache sublimiert. Wie dann die Bedeutung der Volkssprache unter dem Einfluß der Erweiterung der Verwaltungsaufgaben von Staat und Kirche, also als Sprache der Behörden und der Predigt stetig fortschreitet, habe ich hier nicht zu schildern. Nur noch ein Wort über die ökonomische Bedingtheit gerade der modernen Sprachenkämpfe. An der Erhaltung und Pflege der Volkssprache sind heute ganz erhebliche pekuniäre und kapitalistische Interessen verankert: solche der Verleger, Herausgeber, Auto[311]ren und Mitarbeiter von Büchern und Zeitschriften, vor allem aber von Zeitungen. Seit es einmal polnische und lettische Zeitungen gab, war der von den Regierungen oder herrschenden Schichten anderer Sprachzugehörigkeit geführte Sprachenkampf so gut wie aussichtslos geworden.[310] Aus einem Brief an den Romanisten Karl Vossler vom November 1911 geht hervor, daß Weber dessen im selben Jahr erschienene Aufsätze zur Entstehungsgeschichte der französischen Schriftsprache kannte und schätzte. Weber hebt insbesondere hervor, daß Vossler nicht die „üblichen ,Lautwandel-Hypothesen‘“ zur Erklärung der französischen Spracheigenart bemühe, sondern kulturgeschichtliche Fragestellungen, wie die Formung des „Sprachkörpers“ durch den dichterischen, gelehrten und gestaltenden Umgang mit Sprache, untersuche. Sachlich wichtig seien ihm die diesbezüglichen Arbeiten Vosslers „mit ihrem stark soziologischen Einschlag. Denn damit kann unsereiner doch unmittelbar etwas anfangen“, vgl. Brief Max Webers an Karl Vossler vom 15. November 1911, MWG II/7, S. 358–360, alle Zitate hier S. 359; sowie Vossler, Karl, Zur Entstehungsgeschichte der französischen Schriftsprache, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, Jg. 3, 1911, S. 45–60, 157–172, 230–246, 348–363 und 476–494. 
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 Denn gegen diese Gewalten ist die [A 52]Staatsraison machtlos. Und diesen kapitalistischen Erwerbsinteressen tritt ein anderes materielles Interesse von großem Gewicht zur Seite: in der Konkurrenz um die Ämter werfen die Amtsanwärter ihre Doppelsprachigkeit in die Wagschale und suchen für diese ein möglichst breites Pfründengebiet mit Beschlag zu belegen, wie in Österreich die Tschechen mit ihrem Überschuß von massenhaft gezüchtetem intellektuellem Proletariat. Diese Tendenz ist an sich alt. Die konziliare und zugleich nationalistische Reaktion des ausgehenden Mittelalters gegen den Universalismus des Papsttums – der Name natio findet sich als Rechtsbegriff für eine organisierte Gemeinschaft ja zuerst an den Universitäten und auf den Reformkonzilien – hatten ihren Ursprung in starkem Maße in dem Interesse der Intellektuellen, welche die Pfründen ihres eigenen Landes nicht von Rom her durch Fremde besetzt, sondern für sich reserviert sehen wollten. Nur die Verknüpfung mit der nationalen Sprache als solcher fehlte damals und ist, aus den erwähnten Gründen, spezifisch modern. Alles in allem: wenn man es überhaupt zweckmäßig findet, ein Nationalgefühl als etwas Einheitliches, spezifisch Gesondertes zu unterscheiden, so kann man das nur durch Bezugnahme auf eine Tendenz zum eigenen Staat, und man muß sich dann klar sein, daß darunter sehr heterogen geartete und verursachte Gemeinschaftsgefühle zusammengefaßt werden. [311] Weber bezieht sich vermutlich auf die Politik des zaristischen Rußland in dem Teil Polens, der ihm auf dem Wiener Kongreß zugefallen war und zunächst seine Autonomie behielt. Im Laufe der Jahre wurde er zunehmend russischer Verwaltung unterworfen, 1865 schließlich das Russische zur Amtssprache erklärt. Dies verhinderte aber weder die fortdauernde Existenz noch die Neugründung von Zeitungen in den angestammten Sprachen. 
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Nach dem Vortrag von Ferdinand Schmid äußerte sich Max Weber in der Nachmittagssitzung kurz zu diesem (vgl. unten, S. 318) und leitete dann mit [312]den Worten „Nun zu den Erörterungen von heute Vormittag“ zur Fortführung der Debatte über Paul Barths Vortrag über. 
 [[A 72]]Herrn Dr. Ludo Moritz Hartmann will ich die größere Kompetenz im Tatsächlichen der österreichischen Verhältnisse zugeben.
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 Zu seiner Definition des Begriffes Nation muß ich aber nochmals sagen: Es gibt keinen soziologisch eindeutigen genetischen Begriff von Nation und Nationalität, der an den Begriff „Kultur“ anknüpft.[312] Weber hatte am Vormittag in seinem ersten Diskussionsbeitrag zur Rede von Paul Barth Beispiele aus Österreich-Ungarn angeführt, um die Bedeutung einer gemeinsamen Sprache, vor allem im Falle gleichzeitigen Gebrauchs von National- und Minderheitensprachen, und nationaler Zugehörigkeitsgefühle in einem Vielvölkerstaat darzulegen, oben, S. 309–311. Der in Wien lebende deutsch-österreichische Historiker Ludo Moritz Hartmann beschrieb in einem nachfolgenden kurzen Diskussionsbeitrag als „sachliche Berichtigung“ von Webers Ausführungen zu Österreich einige aus den nationalen Gegensätzen erwachsende Probleme des österreichischen „Imperialismus“, vgl. Verhandlungen DGS 1912, S. 53. 
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 Definitionen sind hier konventionell und bleiben im Gebiet des Subjektiven. Die Hartmannsche Definition läßt z. B. die Frage offen, was denn eine „Kulturgemeinschaft“ ist. In welchem Sinne – wenn überhaupt – besteht eine solche zwischen der Aristokratie und dem Proletariat eines Landes? Damit beginnt zuerst das Problem: die Gemeinsamkeit welcher Kulturgüter bietet den stärksten Antrieb dafür, daß die betreffende Gemeinschaft nach einer politischen Or[A 73]ganisation strebt? Die Bedeutung der Kunst ist dafür sehr gering. Um so stärker ist der Einfluß der Literatur, wie ich schon ausführte. Hartmann hatte am Vormittag in einem kurzen Diskussionsbeitrag zur Rede von Paul Barth den Begriff Nation folgendermaßen definiert: „Nation ist die Gesamtheit der durch gemeinsame Schicksale und gemeinsamen Verkehr, dessen Vermittlerin die Sprache ist, zu einer Kulturgemeinschaft verbundenen Menschen […].“ Vgl. Verhandlungen DGS 1912, S. 53, dazu auch oben, S. 311, Anm. 7. 
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 Weber verweist auf seinen ersten Diskussionsbeitrag zur Rede von Paul Barth, oben, S. 309 f. 
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[[A 74]]Hier ist sehr wohl und ausdrücklich von „Blut“ gesprochen worden. Ich habe aber ausgeführt, daß mit der unklaren Rassemystik nichts anzufangen ist.
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 Ich habe die Frage aufgeworfen, inwiefern [313]erbliche Qualitäten gemeinschaftsbildend sind. Wie schwankend die Zuteilung zu einem Volk ist, zeigt sich darin, daß man in Amerika eine Frau als Negerin bezeichnet, die ⅟100 Negerblut hat, während wir Leute als Deutsche bezeichnen, die kaum einen Tropfen deutsches Blut haben (z. B. Treitschke). Weber bezieht sich hier auf die Vormittagsdiskussion und die dort von Müller-Hansen gemachte Bemerkung: „Der Begriff des Blutes hat in den bisher aufgebrachten [313]Definitionen merkwürdigerweise gar keine Rolle gespielt. Die Grundlage der Nation ist die Rasse.“; vgl. Verhandlungen DGS 1912, S. 74, sowie seine eigene Bemerkung: „Besonders kompliziert liegen die Verhältnisse bei einer weiteren Komponente: dem Einfluß der Rasse. Von mystischen Wirkungen der Blutsgemeinschaft im Sinne der Rassenfanatiker sehen wir dabei wohl besser gänzlich ab.“ vgl. oben, S. 308. 
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 Es ist mit Recht hervorgehoben worden, welche Rolle die Religion auf dem Gebiete nationaler Gemeinschaftsbildung spielen kann. Namensgebende Vorfahren des Historikers Heinrich von Treitschke stammten aus Böhmen, Treitschke ist die eingedeutschte Form des slawischen Namens Treschky. 
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 Gerade Sektenbildung führt oft zur Inzucht und hat in Indien z. B. neue anthropologische Typen erzeugt. Paul Barth war in seiner Rede „Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung“ mehrmals auch auf das Verhältnis von Nationalität und Religion eingegangen, vgl. Verhandlungen DGS 1912, S. 21–48, z. B. S. 28 ff. und 36 f. In der Diskussion äußerte sich Eduard Bernstein zur Rolle des Protestantismus, vgl. ebd., S. 52, und Richard Böttger erwähnte kurz die der nationalen Vergemeinschaftung womöglich förderliche Wirkung von katholischer Kirche und Pietismus, vgl. ebd., S. 73. Nicht zuletzt hatte Weber selbst in seinem ersten Diskussionsbeitrag auf eine entsprechende Rolle von Religion hingewiesen, vgl. oben, S. 307 mit Anm. 2. 
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 – Der Sinn von „Nation“ und „national“ ist absolut nicht eindeutig. Wir können ihn nicht finden von der Seite der gemeinsamen Qualität her, welche die Gemeinschaft [314]erzeugt, sondern nur von der Seite des Zieles her, nach dem hin etwas drängt, was wir unter dem Sammelnamen Nationalität bezeichnen: dem selbständigen Staatswesen.  In seiner 1916 erschienenen Untersuchung „Hinduismus und Buddhismus“ legt Weber dar, daß für die Entstehung des indischen Kastenwesens neben der sozialen – ständischen und ökonomischen – Ungleichheit auch ethnische Merkmale eine bedeutende Rolle gespielt hätten. Da die Kasten traditionell oft nach Hautfarbe voneinander getrennt seien, hätten anthropometrische Untersuchungen typische Abstufungen anthropologischer Merkmale je nach Art der Kaste ergeben, vgl. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, I. Das hinduistische soziale System, MWG I/20, S. 49–220, hier S. 208 f. Weber merkte an, daß ein Zusammenhang also bestehe, der sich jedoch nicht als „‚rassenpsychologisches‘ Produkt“ oder aus „geheimnisvollen, im ,Blut‘ liegenden Tendenzen der ,indischen Seele‘“, sondern soziologisch mit dem Zusammentreffen „im äußeren Typus auffallend rassenverschiedener Völker in Indien“ erklären lasse, ebd., S. 209. Ähnlich auch in dem Text „Ethnische Gemeinschaften“, den Weber möglicherweise zeitlich parallel zum Zweiten Soziologentag und seiner Vorbereitung geschrieben hatte und in dem er ausführte, die „Reinzüchtung anthropologischer Typen“ sei oft Folge von durch Endogamie bewirkter Abschottung von Gemeinschaften, wie beispielsweise bei Sekten in Indien, vgl. Weber, Ethnische Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 170. Zur anthropologischen und soziologischen Differenzierung im indischen Kastensystem vgl. auch Ay, Karl-Ludwig, Max Weber und der Begriff der Rasse, in: Aschkenas – Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 3. Jg., 1993, S. 189–218. 
Was die Anzweiflungen von Professor Michels gegen die Bedeutung der erotischen Lyrik für die Propaganda der Volkssprache und ihre Entwicklung zur Literatursprache anlangt, so meine ich, daß die Tatsachen sowohl in Frankreich wie namentlich in Japan und auch in Italien doch außerordentlich klar liegen. Petrarca hat eben seine [A 75]Sonette seiner Laura niemals weder vorgelesen noch zugeschickt,
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 und Goethes römische Elegien sind auf dem Rücken der Vulpius abskandiert.[314] Robert Michels hatte am Vormittag in der Diskussion ausgeführt, daß er im Gegensatz zu Max Weber (vgl. oben, S. 310) vor einer Überschätzung des Zusammenhangs von Nationalität und Erotik warne; kein großer Dichter, etwa Petrarca, habe sich durch Unterschiede in der Nationalität daran hindern lassen, „seine Dame in der eignen Sprache anzudichten“, vgl. Verhandlungen DGS 1912, S. 54. 
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 Im übrigen aber können wir an dieser Meinungsverschiedenheit vielleicht einmal praktisch illustrieren, was es mit dem Unterschiede empirischer kausaler Erklärung und wertender Betrachtung, von deren Ausschluß aus unsern Debatten heute wieder die Rede war, eigentlich auf sich hat. Die „Gunst der Frauen“ als ein kausales Moment soziologischer Erscheinungen schätzt Professor Michels, wie sich zeigt, niedriger ein als ich. Aber damit ist doch nun nicht gesagt, daß er die Gunst der Frauen im Werte niedriger einschätzt, als ich tue. Eine Auseinandersetzung darüber würde ersichtlich nicht an diesen Ort gehören und prinzipiell eine Einigung ausschließen, und so steht es meines Erachtens mit allen Wertdiskussionen überhaupt. Man kann da nur Standpunkte festlegen, aber eine Einigung ist prinzipiell gar nicht das bei Wertdiskussionen erstrebte Ziel. Erwägen Sie, wohin es geführt hätte, wenn wir heute etwa den Wert der Nationalität oder den Wert des nationalen Staates mit in die Diskussion gezogen hätten, wie dies der erste Herr Redner immerhin bis zu einem gewissen Grade getan hatte. Goethe schrieb die Gedichtsammlung „Römische Elegien“ erst nach der Rückkehr von seiner Italienreise 1786–1788. Darin bringt er nicht nur seine Bewunderung der Antike zum Ausdruck, sondern auch seine erotischen Empfindungen für seine Weimarer Geliebte und spätere Frau Christiane Vulpius. 
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 Wir hätten ein allgemeines Chaos gegenseitiger nationaler Rekriminationen, etwa der Polen gegen die Deut[315]schen und umgekehrt, heraufbeschworen, bei dem eine Förderung sachlicher Erkenntnis auf keine Weise herausgesprungen wäre. Vorläufig haben wir den Statutenparagraph, welcher derartiges verbietet, Damit bezieht sich Weber nochmals auf Paul Barth, der seinen Vortrag mit der Frage beendet hatte, ob der gemeinsame Wille nicht besser zum Volksganzen fortschreite, wenn der Staat nicht national, sondern international organisiert wäre, vgl. [315]Barth, Die soziologische Bedeutung der Nationalität, in: Verhandlungen DGS 1912, S. 21–48, hier S. 48, vgl. hierzu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 304 f. 
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 und so lange er besteht, werden wir auf unserem Rechte, seine Durchführung zu verlangen, bestehen.  Zum Wortlaut des § 1 der Statuten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vgl. oben, S. 222, Anm. 5. 
