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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[389][A 253]Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie
1)
[389][A 253] Außer auf die Darlegungen Simmels (in den „Probl[emen] d[er] Gesch[ichts-]Philos[ophie]“)
1
[389] Simmel, Probleme2; es handelt sich um die zweite, völlig veränderte Auflage von 1905; Handexemplar Max Webers in der Diözesanbibliothek Aachen.
und eigne ältere Arbeiten (in Schmollers „Jahrbuch“ und Jaffés „Archiv“)
2
Weber verweist auf seinen dreiteiligen, 1903 bis 1906 erschienenen Aufsatz: Weber, Roscher und Knies I–III, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von Gustav Schmoller. Von seinen Aufsätzen, die im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé, erschienen sind, dürfte er sich vornehmlich beziehen auf: Weber, Objektivität (1904), Weber, Kritische Studien (1906) und Weber, Stammlers Überwindung (1907).
sei auf die Bemerkungen von Rickert (in der 2. Auflage der „Grenzen“)
3
Rickert, Grenzen2, erschien 1913; Rickert hatte Max Weber über den Verlag ein Freiexemplar zuschicken lassen, vgl. die Aufstellung der Freiexemplare, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), Nr. 351, mit dem Verlagszusatz „erledigt 2.VI.13“. Zum Näheren vgl. die Bandeinleitung, oben, S. 80.
und die verschiedenen Arbeiten von K[arl] Jaspers (speziell jetzt: Allg[emeine] Psychopathologie)
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Jaspers, Psychopathologie, war Mitte 1913 erschienen. Zu den weiteren „verschiedenen Arbeiten“ von Jaspers gehört der Aufsatz: Jaspers, Karl, Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Originalien, Band 9, Heft 3, 1912, S. 391–408. Daß Weber diesen Aufsatz kannte, geht aus einem Brief an Karl Jaspers vom 2. November 1912 explizit hervor (vgl. MWG II/7, S. 728). In diesem Brief erwähnte Weber (ebd., [390]S. 728) noch einen weiteren Aufsatz, bei dem es sich vermutlich handelt um: Jaspers, Karl, Die Trugwahrnehmungen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Referate und Ergebnisse, Band 4, 1912, S. 289–354. Zwischen diesen Aufsätzen und der „Allgemeinen Psychopathologie“ von Jaspers ist weiterhin erschienen: Jaspers, Karl, Kausale und ,verständliche‘ Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der Dementia praecox (Schizophrenie), in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Originalien, Band 14, Heft 2 [vom 11.1.1913], 1913, S. 158–263. Auch diese Abhandlung wird Weber gekannt haben, da er mit dem Habilitationsgesuch von Jaspers im Sommer 1913 befaßt war, vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 387, Anm. 24.
hingewiesen. Abweichungen der Begriffsbildung, wie sie sich gegenüber diesen Autoren und auch gegenüber F[erdinand] Tönnies’ dauernd wichtigem [390]Werk (Gemeinschaft und Gesellschaft)
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Tönnies, Gemeinschaft, war 1887 zuerst erschienen; zum Näheren vgl. die Bandeinleitung, oben, S. 27, Anm. 47.
und Arbeiten A[lfred] Vierkandts und Anderer
6
Weber könnte sich hier beziehen auf: Vierkandt, Alfred, Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1896, ders., Die Stetigkeit im Kulturwandel. – Leipzig: Duncker & Humblot 1908, sowie ders., Die Soziologie als empirisch betriebene Einzelwissenschaft. I. Objekt und Aufgabe der Soziologie, in: Monatsschrift für Soziologie, 1. Jg., Februar-Heft, 1909, S. 91–100, und dass., II. Die Methode der Soziologie, in: ebd., Juni-Heft 1909, S. 394–403. Zu den hier von Weber gemeinten Arbeiten „Anderer“ dürfte sicherlich gehören: Spann, Wirtschaft und Gesellschaft. Vgl. auch die Bandeinleitung, oben, S. 32.
finden, müssen nicht immer Abweichungen der Ansichten sein. In methodischer Hinsicht kommen außer den Genannten die Arbeiten von Gottl („Herrschaft des Worts“)
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Gottl, Herrschaft, war 1901 erschienen, außerdem wird Weber im Blick haben: Gottl, Friedrich, Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung. I. Umrisse einer Theorie des Individuellen, in: AfSSp, Band 23, Heft 2, 1906, S. 403–470, dass., II. Der Stoff der Sozialwissenschaft, ebd., Band 24, Heft 2, 1907, S. 265–326, und dass., III. Geschichte der Sozialwissenschaft, ebd., Band 28, Heft 1, 1909, S. 72–100. Zum Näheren vgl. die Bandeinleitung, oben, S. 17, Anm. 87.
und [für die Kategorie der objektiven Möglichkeit]
e
[390] [ ] in A.
Radbruch
8
Im Anschluß an Gustav Radbruch (Die Lehre von der adäquaten Verursachung, Inaugural-Dissertation. – Berlin: Georg Reimer 1902) und an die Konzeption der „objektiven Möglichkeit“ von Johannes von Kries (Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben. – Leipzig: Fues Verlag 1888) behandelt Weber, Kritische Studien, im Teil II, S. 269 ff., das Problem der historischen Kausalerklärung. Der Ertrag dieser Erörterungen („Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche“, ebd. S. 287) gilt auch für die verstehende Soziologie.
und, wenn auch mehr indirekt, von Husserl
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Weber bezieht sich u. a. offenbar auf: Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen, Teil 1: Prolegomena zur reinen Logik; Teil 2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. – Halle: Niemeyer 1900 und 1901; Näheres in der Einleitung zu diesem Band, oben, S. 82 f.
und Lask
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Weber dürfte sich hier beziehen auf: Lask, Emil, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911 (nach dem in der Diözesanbibliothek Aa[391]chen überlieferten Handexemplar: Marianne und Max Weber von Emil Lask persönlich gewidmet); vgl. dazu die Bandeinleitung, oben, S. 81 f., Anm. 43.
in Betracht. Man wird ferner leicht be[391]merken, daß die Begriffsbildung Beziehungen äußerer Ähnlichkeit bei stärkstem innerlichem Gegensatz zu den Aufstellungen R[udolf] Stammlers (Wirtschaft und Recht)
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Stammler, Wirtschaft2; vgl. die Bandeinleitung, passim.
aufweist, der als Jurist ebenso hervorragend, wie als Sozialtheoretiker unheilvoll verwirrungstiftend ist. Dies ist sehr absichtlich der Fall. Die Art der Bildung soziologischer Begriffe ist überaus weitgehend Zweckmäßigkeitsfrage. Keineswegs alle nachstehend (unter V bis VII)
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Unten, S. 408–440.
aufgestellten Kategorien sind wir genötigt zu bilden. Sie sind zum Teil entwickelt, um zu zeigen, was Stammler „hätte meinen sollen“. Der zweite Teil des Aufsatzes ist ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung, welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags (Wirtschaft und Gesellschaft) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk
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Weber hatte zu Beginn des Jahres 1909 die Redaktion der Neuauflage für das „Handbuch der politischen Ökonomie“ übernommen, das 1913 in „Handbuch der Sozialökonomik“ und 1914 in „Grundriß der Sozialökonomik“ umbenannt wurde. Dieses Sammelwerk sah nach der den ursprünglichen „Stoffverteilungsplan“ von 1910 ersetzenden „Einteilung des Gesamtwerks“ von 1914 neun Abteilungen in fünf Büchern vor. Die Abteilung III ist mit „Wirtschaft und Gesellschaft“ überschrieben, ihr erster, von Weber in 8 Kapiteln zu bearbeitender Teil I. mit „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“, vgl. auch die abgedruckten Dispositionen in: MWG I/24, S. 142–173. Webers ursprünglicher Plan war, unter diesem Titel die Formen wirtschaftlichen Handelns, von zufälligen Tauschbeziehungen bis zu rational gesatzten Wirtschaftsordnungen, in Bezug zu ihrer jeweiligen sozialen und damit auch rechtlichen und religiösen Einbindung darzustellen. Die einzelnen Manuskripte sind in verschiedenen Zusammenhängen postum veröffentlicht worden. – Zum „zweite[n] Teil des Aufsatzes“ vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 384 f., sowie die Einleitung, oben, S. 62 ff.
dienen sollte und von welcher andre Teile wohl anderweit gelegentlich publiziert werden. Die pedantische Umständlichkeit der Formulierung entspricht dem Wunsch, den subjektiv gemeinten Sinn von dem objektiv gültigen scharf zu scheiden (darin teilweise abweichend von Simmels Methode).
.
a
[389] In A folgt: Von Max Weber (Heidelberg). / I.

Inhalt: I. Sinn einer „verstehenden“ Soziologie [S. 389]. – II. Verhältnis zur „Psychologie“ [S. 396]. – III. Verhältnis zur Rechtsdogmatik [S. 404]. – IV. „Gemeinschaftshandeln“
b
A: „Gemeinschaftshandeln.“
[S. 406]. – V. „Vergesellschaftung“ und „Gesellschaftshandeln“ [S. 408]. – VI. „Einverständnis“
c
A: „Einverständnis.“
[S. 418]. – VII. „Anstalt“ und „Verband“ [S. 431].

I.
d
Gliederungsziffer hierhin verschoben; vgl. textkritische Anm. a.

Menschliches („äußeres“ oder „inneres“) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Ge[A 254]schehen. Was aber, wenigstens im vollen Sinne, nur menschlichem Verhalten eignet, sind Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist. Ein durch Deutung gewon[390]nenes „Verständnis“ menschlichen Verhaltens enthält zunächst eine spezifische, sehr verschieden große, qualitative „Evidenz“. [391]Daß eine Deutung diese Evidenz in besonders hohem Maße besitzt, beweist an sich noch nichts für ihre empirische Gültigkeit. Denn ein in seinem äußeren Ablauf und Resultat gleiches Sichverhalten kann auf unter sich höchst verschiedenartigen Konstellationen von Motiven beruhen, deren verständlich-evidenteste nicht immer auch die wirklich im Spiel gewesene ist. Immer muß vielmehr das „Verstehen“ des Zusammenhangs noch mit den sonst gewöhnlichen Methoden kausaler Zurechnung, so weit möglich, kontrolliert werden, ehe eine noch so evidente Deutung zur gültigen „verständlichen Erklärung“ wird. Das Höchstmaß an „Evidenz“ besitzt nun die zweckrationale Deutung. Zweckrationales Sichverhalten soll [392]ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig erfaßte Zwecke. Keineswegs nur zweckrationales Handeln ist uns verständlich: wir „verstehen“ auch den typischen Ablauf der Affekte und ihre typischen Konsequenzen für das Verhalten. Das „Verständliche“ hat für die empirischen Disziplinen flüssige Grenzen. Die Ekstase und das mystische Erlebnis sind ebenso wie vor allem gewisse Arten psychopathischer Zusammenhänge oder das Verhalten kleiner Kinder (oder etwa: der uns hier nichts angehenden Tiere) unserem Verstehen und verstehenden Erklären nicht in gleichem Maße wie andere Vorgänge zugänglich. Nicht etwa das „Abnorme“ als solches entzieht sich dem verstehenden Erklären. Im Gegenteil: das, als einem „Richtigkeitstypus“ (im bald zu erörternden Wortsinn)
14
[392] Unten, S. 396 ff.
entsprechend[,] absolut „Verständliche“ und zugleich „Einfachste“ zu erfassen[,] kann gerade die Tat des aus dem Durchschnitt weit Hervorragenden sein. Man muß, wie oft gesagt worden ist, „nicht Caesar sein, um Caesar zu verstehen“.
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Dieser Satz geht auf Simmel, Probleme2, S. 57, zurück und war von Weber bereits in Weber, Roscher und Knies II, S. 146, Fn. 2, zitiert worden.
Sonst wäre alle Geschichtsschreibung sinnlos. Umgekehrt gibt es Hergänge, die wir als „eigene“ und zwar „psychische“ ganz alltägliche Leistungen eines Menschen ansehen, die aber in ihrem Zusammenhang jene qualitativ spezifische Evidenz, welche das Verständliche auszeichnet, überhaupt nicht besitzen. Ganz ebenso wie viele psychopathische
N
MWG: psychopathischen Korrektur in MWG digital.
Vorgänge ist z. B. der Ablauf der Gedächtnis- und intellektuellen Übungserscheinungen nur teilweise „verstehbar“. Feststellbare Regelmäßigkeiten solcher psychischen Vorgänge behandeln die verstehenden Wissenschaften daher ganz wie die Gesetzlichkeiten der physischen Natur.
Die spezifische Evidenz des zweckrationalen Sichverhaltens [A 255]hat natürlich nicht zur Folge, daß etwa speziell die rationale Deutung als Ziel soziologischer Erklärung anzusehen wäre. Bei der Rolle, welche „zweckirrationale“ Affekte und „Gefühlslagen“ im Handeln des Menschen spielen, und da auch jede zweckrational verstehende Betrachtung fortgesetzt auf Zwecke stößt, die ihrerseits nicht mehr wieder als rationale „Mittel“ für andere Zwecke gedeutet, sondern nur als nicht weiter rational deutbare Zielrich[393]tungen hingenommen werden müssen, – mag ihre Entstehung als solche dann auch weiterhin Gegenstand „psychologisch“ verstehender Erklärung sein, – könnte man ebensogut das gerade Gegenteil behaupten. Allerdings aber bildet das rational deutbare Sichverhalten bei der soziologischen Analyse verständlicher Zusammenhänge sehr oft den geeignetsten „Idealtypus“: Die Soziologie wie die Geschichte deuten zunächst „pragmatisch“, aus rational verständlichen Zusammenhängen des Handelns. Derart verfährt z. B. die Sozialökonomik mit ihrer rationalen Konstruktion des „Wirtschaftsmenschen“.
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[393] Dieser „rationalen Konstruktion“ bedient sich in einer speziellen Hinsicht die „Grenznutzlehre“, deren Voraussetzungen und Grenzen Weber bereits 1908 in dem Besprechungsaufsatz, Weber, Grenznutzlehre, oben, S. 115–133, erörtert hatte.
Ebenso aber überhaupt die verstehende Soziologie. Denn als ihr spezifisches Objekt gilt uns nicht jede beliebige Art von „innerer Lage“ oder äußerem Sichverhalten, sondern: Handeln. „Handeln“ aber (mit Einschluß des gewollten Unterlassens und Duldens) heißt uns stets ein verständliches, und das heißt ein durch irgend einen, sei es auch mehr oder minder unbemerkt, „gehabten“ oder „gemeinten“ (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu „Objekten“. Die buddhistische Kontemplation und die christliche Askese der Gesinnung sind subjektiv sinnhaft auf für die Handelnden „innere“, das rationale ökonomische Schalten eines Menschen mit Sachgütern auf „äußere“ Objekte bezogen. Das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln nun ist im speziellen ein Verhalten, welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden nach auf das Verhalten Anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar ist. Subjektiv sinnhaft auf die Außenwelt und speziell auf das Handeln Anderer bezogen sind nun auch die Affekthandlungen und die für den Ablauf des Handelns, also indirekt, relevanten „Gefühlslagen“, wie etwa: „Würdegefühl“, „Stolz“, „Neid“, „Eifersucht“. Die verstehende Soziologie interessieren daran aber nicht die physiologischen und früher sogenannten „psychophysischen“ Erscheinungsformen:
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Hier hat Weber vermutlich Fechner, Gustav Theodor, Elemente der Psychophysik, 2 Theile. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1860, im Blick. Die Psychophysik erforscht nach Fechner den beim Menschen empirisch zu beobachtenden Zusammenhang [394]physischer, d. h. organischer, Faktoren und ihren psychischen Korrelaten. Mit seinem Buch begründete er die eigentliche experimentelle Psychologie, die von Wilhelm Wundt aufgenommen und als „Physiologische Psychologie“ weiterentwickelt wurde, dessen gleichnamiges Lehrbuch erschien ab 1874 in mehreren Auflagen, vgl. Wundt, Wilhelm, Grundzüge der Physiologischen Psychologie, 1. Aufl. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1874.
Pulskurven z. B. oder Verschiebungen des Reak[394]tionstempos
f
[394]A: Reaktionstempes
oder dergleichen, auch nicht die nackt psychischen Gegebenheiten, z. B. die Kombination der Spannungs-, Lust- und Unlustgefühle
g
A: Unlustgefüllte
, durch die sie charakterisiert werden können. Sondern sie differenziert ihrerseits nach den [A 256]typischen sinnhaften (vor allem: Außen-)Bezogenheiten des Handelns, und deshalb dient ihr – wie wir sehen werden
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Unten, S. 396 ff.
– das Zweckrationale als Idealtypus, gerade um die Tragweite des Zweckirrationalen
h
A: Zweckirrationalen
abschätzen zu können. Wenn man den (subjektiv gemeinten) Sinn seiner Bezogenheit als die „Innenseite“ des menschlichen Verhaltens bezeichnen wollte – ein nicht unbedenklicher Sprachgebrauch! –[,] nur dann würde man sagen können: daß die verstehende Soziologie jene Erscheinungen ausschließlich „von innen heraus“[,] d. h. aber dann: nicht durch Aufzählung ihrer physischen oder psychischen Phänomene, betrachtet. Unterschiede der psychologischen Qualitäten eines Verhaltens sind also nicht schon als solche für uns relevant. Gleichheit der sinnhaften Bezogenheit ist nicht gebunden an Gleichheit der im Spiel befindlichen „psychischen“ Konstellationen, so sicher es ist, daß Unterschiede auf jeder Seite durch solche auf der andern bedingt sein können. Aber z. B. eine Kategorie wie „Gewinnstreben“ gehört in schlechterdings keine „Psychologie“. Denn das „gleiche“ Streben nach „Rentabilität“ des „gleichen“ geschäftlichen Unternehmens kann bei zwei aufeinander folgenden Inhabern nicht nur mit absolut heterogenen „Charakterqualitäten“ Hand in Hand gehen, sondern direkt in seinem ganz gleichen Verlauf und Enderfolge durch gerade entgegengesetzte letzte „psychische“ Konstellationen und Charakterqualitäten bedingt sein, und auch die (für die Psychologie) letzten dabei maßgebenden „Zielrichtungen“ brauchen keinerlei Verwandtschaft miteinander zu haben. Vorgänge, welche nicht einen auf das Verhalten Anderer subjektiv bezogenen Sinn haben, sind um deswillen nicht [395]etwa soziologisch gleichgültig. Im Gegenteil können gerade sie die entscheidenden Bedingungen, und also: Bestimmungsgründe, des Handelns in sich schließen. Auf die in sich sinnfremde „Außenwelt“, auf Dinge und Vorgänge der Natur, ist ja das Handeln zu einem für die verstehenden Wissenschaften sehr wesentlichen Teil sinnhaft bezogen: das theoretisch konstruierte Handeln des isolierten Wirtschaftsmenschen z. B. ganz ausschließlich. Aber die Relevanz von Vorgängen ohne subjektive „Sinnbezogenheit“, wie etwa des Ablaufs der Geburten- und Sterbeziffern, der Ausleseprozesse der anthropologischen Typen, ebenso aber die der
i
[395] Fehlt in A; der sinngemäß ergänzt.
nackt psychischen Tatbestände besteht für die verstehende Soziologie ganz ebenso lediglich in ihrer Rolle als „Bedingungen“ und „Folgen“, an denen sinnhaftes Handeln orientiert wird, wie etwa für die Wirtschaftslehre diejenige von klimatischen oder pflanzenphysiologischen Sachverhalten.
Die Vorgänge der Vererbung z. B. sind nicht aus einem subjektiv gemeinten Sinn verständlich, und sie sind es natürlich nur umso weniger, je exakter die naturwissenschaftlichen Feststellungen ihrer [A 257]Bedingungen werden. Gesetzt z. B., es gelänge einmal – wir drücken uns hier bewußt „unfachmäßig“ aus –[,] das Maß von Vorhandensein bestimmter soziologisch relevanter Qualitäten und Triebe, z. B. solcher, welche entweder die Entstehung des Strebens nach bestimmten Arten von sozialer Macht oder die Chance, diese zu erlangen, begünstigen: – etwa die Fähigkeit zur rationalen Orientierung des Handelns im allgemeinen oder bestimmte andere angebbare intellektuelle Qualitäten im besonderen, – irgendwie mit einem Schädelindex oder mit der Herkunft aus bestimmten durch irgendwelche Merkmale bezeichenbaren Menschengruppen in annähernd eindeutigen Zusammenhang zu bringen. Dann hätte die verstehende Soziologie diese speziellen Tatsachen bei ihrer Arbeit selbstverständlich ganz ebenso in Anschlag zu bringen, wie z. B. die Tatsache des Aufeinanderfolgens der typischen Altersstufen oder etwa der Sterblichkeit der Menschen im allgemeinen. Ihre eigene Aufgabe aber begänne erst genau da, wo deutend zu erklären wäre: 1. durch welches sinnhaft auf Objekte, sei es der Außenwelt oder sei es der eigenen Innenwelt bezogene Handeln die mit jenen spezifischen ererbten Qualitäten begabten Menschen nun [396]die dadurch mitbedingten oder begünstigten Inhalte ihres Strebens durchzusetzen suchten, wieweit und warum dies gelang oder warum nicht? – 2. welche verständlichen Folgen dieses (erbgutbedingte) Streben wiederum für das sinnhaft bezogene Verhalten anderer Menschen gehabt hat.

II.

Die verstehende Soziologie ist nach allem Gesagten nicht Teil einer „Psychologie“. Die unmittelbar „verständlichste Art“ der sinnhaften Struktur eines Handelns ist ja das subjektiv streng rational orientierte Handeln nach Mitteln, welche (subjektiv) für eindeutig adäquat zur Erreichung von (subjektiv) eindeutig und klar erfaßten Zwecken gehalten werden. Und zwar am meisten dann, wenn auch dem Forscher jene Mittel für diese Zwecke geeignet scheinen. Wenn man ein solches Handeln „erklärt“, so heißt das aber gewiß nicht: daß man es aus „psychischen“ Sachverhalten, sondern offenbar gerade umgekehrt: daß man es aus den Erwartungen, welche subjektiv über das Verhalten der Objekte gehegt wurden (subjektive Zweckrationalität), und nach gültigen Erfahrungen gehegt werden durften (objektive Richtigkeitsrationalität), und ganz ausschließlich aus diesen, ableiten will. Je eindeutiger ein Handeln dem Typus der Richtigkeitsrationalität entsprechend orientiert ist, desto weniger wird sein Ablauf durch irgendwelche psychologischen Erwägungen überhaupt sinnhaft verständlicher. Umgekehrt bedarf jede Erklärung von „irrationalen“ Vorgängen, d. h. [A 258]solchen, bei welchen entweder die „objektiv“ richtigen Bedingungen des zweckrationalen Handelns unbeachtet oder (was zweierlei ist) auch subjektiv die zweckrationalen Erwägungen des Handelnden relativ weitgehend ausgeschaltet waren, eine „Börsenpanik“ z. B., vor allen Dingen der Feststellung: wie denn im rationalen idealtypischen Grenzfall absoluter Zweck- und Richtigkeitsrationalität gehandelt worden wäre. Denn erst[,] wenn dies feststeht, kann, wie die einfachste Erwägung lehrt, die kausale Zurechnung des Verlaufs sowohl zu objektiv wie zu subjektiv „irrationalen“ Komponenten überhaupt vollzogen werden, weil man erst dann weiß: was denn überhaupt an dem Handeln – wie man sich charakteristisch auszudrücken pflegt: – „nur psychologisch“ erklärlich, d. h. aber: [397]Zusammenhängen zuzurechnen ist, welche auf objektiv irrtümlicher Orientiertheit oder auch auf subjektiver Zweckirrationalität und im letzten Fall entweder auf nur in Erfahrungsregeln erfaßbaren, aber ganz unverständlichen oder auf verständlich, aber nicht zweckrational, deutbaren Motiven ruht. Ein andres Mittel gibt es also auch für die Feststellung nicht: was denn an dem – nehmen wir einmal an: vollständig bekannten – „psychischen“ Befund für den Verlauf des Handelns relevant geworden ist. Dies gilt absolut ausnahmslos für schlechthin alle historische und soziologische Zurechnung. Die letzten mit „Evidenz“ erfaßbaren und in diesem Sinne „verstehbaren“ („einfühlungsmäßig nacherlebbaren“) „Zielrichtungen“ aber, auf welche eine verstehende Psychologie stößt
j
[397]A: stößt,
(etwa: der „Geschlechtstrieb“)[,] sind nur noch Gegebenheiten, welche im Prinzip ganz ebenso wie jede andere, auch eine ganz sinnfremde, Konstellation von Faktizitäten einfach hinzunehmen sind. Zwischen dem absolut (subjektiv) zweckrational orientierten Handeln und den absolut unverständlichen psychischen Gegebenheiten in der Mitte liegen nun, in der Realität durch gleitende Übergänge verbunden, die üblicherweise so genannten „psychologisch“ verständlichen (zweckirrationalen) Zusammenhänge, auf deren höchst schwierige Kasuistik hier auch nicht einmal andeutend eingegangen werden könnte. – Subjektiv zweckrational orientiertes und am objektiv Gültigen „richtig“ orientiertes („richtigkeitsrationales“) Handeln sind an sich gänzlich zweierlei. Dem Forscher kann ein von ihm zu erklärendes Handeln im höchsten Grade zweckrational, dabei aber an für ihn ganz ungültigen Annahmen des Handelnden orientiert erscheinen. An magischen Vorstellungen orientiertes Handeln beispielsweise ist subjektiv oft weit zweckrationaleren Charakters als irgend ein nicht magisches „religiöses“ Sichverhalten, da die Religiosität ja gerade mit zunehmender Entzauberung der Welt zunehmend (subjektiv) zweckirrationalere Sinnbezogenheiten („gesinnungshafte“ oder mystische z. B.) anzunehmen ge[A 259]nötigt ist. Auch abgesehen von der Zurechnung (s. o.)
19
[397] Oben, S. 396.
haben aber Geschichtsschreibung und Soziologie immer wieder auch mit den Beziehungen des tatsächlichen Ablaufs eines sinnhaft ver[398]ständlichen Handelns zu demjenigen Typus zu tun, den dies Handeln annehmen „müßte“, wenn es dem (für den Forscher selbst) „Gültigen“, wir wollen sagen: dem „Richtigkeitstypus“, entsprechen sollte. Denn es kann für bestimmte (nicht: alle) Zwecke der Geschichtsschreibung und Soziologie die Tatsache: daß ein subjektiv sinnhaft orientiertes Sichverhalten (Denken und Thun) sich einem Richtigkeitstypus entsprechend, widersprechend oder mehr oder minder ihm sich annähernd orientiert, ein „um seiner selbst willen“, d. h. infolge der leitenden Wertbeziehungen höchst wichtiger Sachverhalt sein. Und ferner wird dies meist für den äußeren Ablauf – den „Erfolg“ – des Handelns ein höchst entscheidendes kausales Moment sein. Ein Sachverhalt also, für welchen die konkret historischen oder typisch soziologischen Vorbedingungen in jedem Fall soweit aufzudecken sind, daß das Maß von Identität, Abweichung oder Widerspruch des empirischen Ablaufs gegenüber dem Richtigkeitstypus als verständlich und dadurch als durch die Kategorie der „sinnhaft adäquaten Verursachung“ erklärt erscheint. Koinzidenz mit dem „Richtigkeitstypus“ ist der „verständlichste“, weil „sinnhaft adäquateste“ Kausalzusammenhang. „Sinnhaft adäquat verursacht“ erscheint es der Geschichte der Logik, daß einem Denker bei einem bestimmt gearteten subjektiv sinnhaften Zusammenhang von Erörterungen über logische Fragen („Problemlage“) ein dem Richtigkeitstypus der „Lösung“ sich annähernder „Gedanke einfällt“. Im Prinzip ebenso, wie die Orientierung eines Handelns am „erfahrungsgemäß“ Wirklichen uns spezifisch „sinnhaft adäquat verursacht“ erscheint. Eine faktisch weitgehende Annäherung des realen Ablaufs eines Handelns an den Richtigkeitstypus, also faktische objektive Richtigkeitsrationalität, ist aber sehr weit davon entfernt, notwendig zusammenzufallen mit subjektiv zweckrationalem, d. h. nach eindeutig vollbewußten Zwecken und vollbewußt als „adäquat“ gewählten Mitteln orientiertem Handeln. Ganz wesentliche Teile der verstehend psychologischen Arbeit bestehen ja zurzeit gerade in der Aufdeckung ungenügend oder garnicht bemerkter und also in diesem Sinne nicht subjektiv rational orientierter Zusammenhänge, die aber dennoch tatsächlich in der Richtung eines weitgehend objektiv „rational“ verständlichen Zusammenhanges verlaufen. Sehen wir von gewissen Teilen der Arbeit der sog. Psychoanalyse hier ganz ab, welche diesen Charakter haben, so enthält z. B. auch eine Kon[399]struktion wie Nietzsches Theorie des Ressentiment
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[399] Vgl. Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. – Leipzig: Naumann 1887.
eine Deutung, welche aus dem Pragma einer Interessenlage eine – ungenügend oder garnicht bemerkte, weil aus verständlichen Gründen „unein[A 260]gestandene“ – objektive Rationalität des äußeren oder inneren Sichverhaltens ableitet. Übrigens ganz genau im (methodisch) gleichen Sinne, wie die ihr darin um Jahrzehnte vorangegangene Theorie des ökonomischen Materialismus es ebenfalls tut. In solchen Fällen geraten nun freilich sehr leicht das subjektiv, wenn auch unbemerkt, Zweckrationale und das objektiv Richtigkeitsrationale
k
[399]A: Richtigrationale
in eine nicht immer ganz geklärte Beziehung zueinander, die uns jedoch hier nicht weiter angehen soll. Es kam nur darauf an, das jederzeit Problematische und Begrenzte gerade des „nur Psychologischen“ am „Verstehen“ skizzenhaft (und notwendig ungenau) anzudeuten. Auf der einen Seite steht eine unbemerkte („uneingestandene“) relativ weitgehende Rationalität des scheinbar gänzlich zweckirrationalen Verhaltens: „verständlich“ ist es wegen jener Rationalität. Auf der andern Seite die hundertfach (namentlich in der Kulturgeschichte) zu belegende Tatsache: daß scheinbar direkt zweckrational bedingte Erscheinungen in Wahrheit durch ganz irrationale Motive historisch ins Leben gerufen waren und nachher, weil veränderte Lebensbedingungen ihnen ein hohes Maß von technischer „Richtigkeitsrationalität“ zuwachsen ließen, als „angepaßt“ überlebten und sich zuweilen universell verbreiteten.
Die Soziologie nimmt natürlich Notiz nicht nur von der Existenz „vorgeschobener Motive“ des Handelns, von „stellvertretenden Befriedigungen“ von Triebrichtungen und dergleichen, sondern erst recht davon: daß auch schlechthin „unverständliche“ qualitative Bestandteile eines Motivationsablaufs diesen in der eingreifendsten Weise auch in seiner sinnhaften Bezogenheit und in der Art seiner Auswirkung mitbestimmen. Das in seiner sinnhaften Bezogenheit „gleiche“ Handeln nimmt schon bei rein quantitativ verschiedenem „Reaktionstempo“ der handelnd Beteiligten zuweilen einen im schließlichen Effekt radikal verschiedenen Verlauf. Eben solche Unterschiede und erst recht qualitative Stimmungsla[400]gen lenken die ihrer „sinnhaften“ Bezogenheit nach ursprünglich „gleich“ angesponnenen Motivationsketten im Effekt oft in auch sinnhaft heterogene Bahnen.
Es sind für die Soziologie 1. der mehr oder minder annähernd erreichte Richtigkeitstypus, 2. der (subjektiv) zweckrational orientierte Typus, 3. das nur mehr oder minder bewußt oder bemerkt, und mehr oder minder eindeutig zweckrational orientierte, 4. das nicht zweckrational[,] aber in sinnhaft verständlichem Zusammenhang, 5. das in mehr oder minder sinnhaft verständlichem, durch unverständliche Elemente mehr oder minder stark unterbrochenem oder mitbestimmtem Zusammenhang motivierte Sichverhalten, und endlich 6. die ganz unverständlichen psychischen oder physischen Tatbestände „in“ und „an“ einem Menschen durch völlig gleitende Übergänge verbunden. Daß nicht jedes „richtigkeitsrational“ [A 261]ablaufende Handeln subjektiv zweckrational bedingt war, weiß sie und daß insbesondere nicht die logisch rational erschließbaren, sondern die – wie man sagt – „psychologischen“ Zusammenhänge das reale Handeln bestimmen, ist ihr selbstverständlich. Logisch läßt sich z. B. aus mystisch-kontemplativer Religiosität die Unbekümmertheit um das Heil anderer, aus dem Prädestinationsglauben
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[400] Nach der vor allem von Johannes Calvin (1509–1564) vertretenen Prädestinationslehre hat Gott nach seinem unerforschlichen Ratschluß Menschen entweder zur ewigen Seligkeit oder zur ewigen Verdammnis bestimmt. Wie aus dem Prädestinationsglauben ein Zwang zur ständigen Selbstprüfung und Selbstkontrolle, daraus eine spezifisch „moderne“, den Anforderungen der kapitalistischen Wirtschaft entsprechende Berufsethik und Lebensführung, aus alledem dem Gläubigen ein Erkenntnisgrund „der eigenen Bestimmung zur Seligkeit“ erwächst, hatte Weber in „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ (1904/05) zu zeigen unternommen; vgl. MWG I/9, S. 97–215 und 222–425; zum Zitat vgl. Weber, Antikritisches Schlußwort zum „Geist des Kapitalismus“, II: Positives Resumé, ebd., S. 708–740, hier S. 715.
Fatalismus oder auch ethischer Anomismus als „Konsequenz“ erschließen. Tatsächlich kann die erstere in bestimmten typischen Fällen zu einer Art von Euphorie führen, welche subjektiv als ein eigentümliches objektloses Liebesgefühl „gehabt“ wird: – soweit liegt ein wenigstens partiell „unverständlicher“ Zusammenhang vor –,
l
[400]A: vor,–
und es wird nun dieses Gefühl oft als „Liebesakosmismus“
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Unter „Liebesakosmismus“ versteht Weber eine bedingungslose und allumfassende Menschenliebe. Sie ist „akosmistisch“, weil sie sich von den ihr entgegenstehen[401]den, ihre Wirksamkeit hemmenden oder sogar ins Gegenteil verkehrenden Realitäten der „Welt“ nicht beirren läßt. Lew Nikolajewitsch Tolstoi, in seinen späten Jahren, war für Weber die am meisten beeindruckende Verkörperung einer solchen, mit radikalem Pazifismus einhergehenden „akosmistischen Liebesethik“ christlicher Prägung, vgl. auch Weber, Zwischen zwei Gesetzen, MWG I/15, S. 95–98, bes. S. 97 f.
in sozialem Handeln „abreagiert“: – ein, [401]natürlich nicht „zweckrational“, wohl aber psychologisch, „verständlicher“ Zusammenhang. Und der Prädestinationsglaube kann, bei Vorhandensein gewisser (durchaus verständlicher) Bedingungen, sogar in spezifisch rational verständlicher Art die Fähigkeit zu aktiv ethischem Handeln dem Gläubigen zum Erkenntnisgrund seiner persönlichen Seligkeit werden lassen und damit diese Qualität in teils zweckrational, teils sinnhaft restlos verständlicher Art zur Entfaltung bringen. Andererseits aber kann nun der Standpunkt des Prädestinationsglaubens seinerseits in „psychologisch“ verständlicher Art Produkt sehr bestimmter, wiederum in ihren Zusammenhängen sinnhaft verständlicher, Lebensschicksale und (als Gegebenheiten hinzunehmender) „Charakter“-Qualitäten sein. – Genug: die Beziehungen zur „Psychologie“ sind für die verstehende Soziologie in jedem Einzelfall verschieden gelagert. Die objektive Richtigkeitsrationalität dient ihr gegenüber dem empirischen Handeln, die Zweckrationalität gegenüber dem psychologisch sinnhaft Verständlichen, das sinnhaft verständliche gegenüber dem unverstehbar motivierten Handeln als Idealtypus, durch Vergleichung mit welchem die kausal relevanten Irrationalitäten (im jeweils verschiedenen Sinn des Worts) zum Zweck der kausalen Zurechnung festgestellt werden.
Wogegen sich die Soziologie aber auflehnen würde, wäre die Annahme: daß „Verstehen“ und kausales „Erklären“ keine Beziehung zueinander hätten, so richtig es ist, daß sie durchaus am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit beginnen, insbesondere die statistische Häufigkeit eines Sichverhaltens dieses um keine Spur sinnhaft „verständlicher“ macht und optimale „Verständlichkeit“ als solche garnichts für die Häufigkeit besagt, bei absoluter subjektiver Zweckrationalität sogar meist gegen sie spricht. Denn dessen ungeachtet sind sinnhaft verstandene seelische Zusammenhänge und speziell zweckrational orientierte Motivationsabläufe für die Soziologie [A 262]durchaus dazu qualifiziert, als Glieder einer Kausalkette zu figurieren, welche z. B. mit „äußeren“ Verumständungen beginnt und im Endpunkt wieder auf „äußeres“ [402]Sichverhalten führt. „Sinnhafte“ Deutungen konkreten Verhaltens rein als solche sind natürlich auch für sie, selbst bei größter „Evidenz“, zunächst nur Hypothesen der Zurechnung. Sie bedürfen also der tunlichsten Verifikation mit prinzipiell genau den gleichen Mitteln wie jede andere Hypothese. Sie gelten uns als brauchbare Hypothesen dann, wenn wir ein, im Einzelfall höchst verschieden großes, Maß von „Chance“ dafür annehmen dürfen, daß (subjektiv) „sinnhafte“ Motivationsverkettungen vorliegen. Kausalketten, in welche zweckrational orientierte Motivationen durch deutende Hypothesen eingeschaltet sind, sind ja unter bestimmten dafür günstigen Umständen, und zwar gerade auch in bezug auf eben jene Rationalität, direkt der statistischen Nachprüfung und in diesen Fällen also einem (relativ) optimalen Beweise ihrer Gültigkeit als „Erklärungen“ zugänglich. Und umgekehrt sind statistische Daten (und dazu gehören z. B. auch viele Daten der „Experimentalpsychologie“)[,] wo immer sie den Ablauf oder die Folgen eines Verhaltens angeben, welches irgend etwas verständlich Deutbares in sich schließt, für uns erst dann „erklärt“, wenn sie auch wirklich im konkreten Fall sinnhaft gedeutet sind.
Der Grad der Richtigkeitsrationalität eines Handelns endlich ist für eine empirische Disziplin eine empirische Frage. Denn empirische Disziplinen arbeiten, wo immer es sich um die realen Beziehungen zwischen ihren Objekten (und nicht: um ihre eigenen logischen Voraussetzungen) handelt, unvermeidlich mit dem „naiven Realismus“, nur je nach der qualitativen Art des Objekts in verschiedenen Formen. Auch die mathematischen und logischen Sätze und Normen sind daher, wo sie Objekt soziologischer Forschung sind, z. B. wenn der Grad ihrer richtigkeitsrationalen „Anwendung“ zum Ziel statistischer Untersuchung wird, für uns gerade „logisch“ garnichts als: konventionelle Gepflogenheiten eines praktischen Sichverhaltens – obwohl ihre Geltung doch andrerseits „Voraussetzung“ der Arbeit des Forschers ist. Gewiß gibt es jene wichtigen Problematiken innerhalb unserer Arbeit, in welchen grade das Verhältnis des empirischen Verhaltens zum Richtigkeitstypus auch reales kausales Entwicklungsmoment empirischer Vorgänge wird. Aber diesen Sachverhalt als solchen aufzuzeigen, ist nicht etwa eine das Objekt des empirischen Charakters beraubende, sondern eine durch Wertbeziehungen bestimmte, die Art der verwendeten Idealtypen und ihre Funktion bedingende Zielrichtung der Arbeit. [403]Die wichtige und selbst in ihrem Sinn schwierige allgemeine Problematik des „Rationalen“ in der Geschichte [A 263]braucht hier nicht nebenher erledigt zu werden
2)
[403][A 263] Die Art[,] wie die Relation zwischen dem Richtigkeitstypus eines Verhaltens und dem empirischen Verhalten „wirkt“ und wie dies Entwicklungsmoment sich zu den soziologischen Einflüssen z. B. in einer konkreten Kunstentwicklung verhält, hoffe ich gelegentlich an einem Beispiel (Musikgeschichte)
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[403] Weber hat hier offensichtlich die Analysen im Blick, die in „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ ihren Niederschlag gefunden haben. Diese Abhandlung beschränkt sich in ihren allein abgeschlossenen resp. überlieferten Teilen fast vollständig auf Prozesse der Rationalisierung in der Musik (hinsichtlich der Akkordharmonik und des Tonsystems), die sich aus einer innermusikalischen Dynamik, z. B. aus der „inneren Logik“ von Tonbeziehungen, erklären; vgl. Weber, Zur Musiksoziologie, MWG I/14, S. 145–280, hier S. 207. Die auf der Ebene des „empirischen Verhaltens“ wirksam werdenden „soziologischen Einflüsse“ kommen nur am Rande in den Blick. Geplant war aber eine Untersuchung, die zeigen sollte, daß in der Musikgeschichte wie in jeder „empirischen Disziplin“ die Frage nach dem „Grad der Richtigkeitsrationalität eines Handelns“, oben, S. 402, als empirische Frage aufzufassen und zu beantworten ist.
zu erläutern. Nicht nur für eine Geschichte der Logik oder anderer Wissenschaften, sondern ganz ebenso auf allen andern Gebieten sind gerade jene Beziehungen, also die Nähte, an welchen Spannungen des Empirischen gegen den Richtigkeitstypus aufbrechen können, entwicklungsdynamisch von der höchsten Bedeutung. Ebenso freilich der auf jedem einzelnen Gebiet der Kultur individuell und grundverschieden liegende Sachverhalt: daß und in welchem Sinn ein eindeutiger Richtigkeitstypus nicht durchführbar, sondern Kompromiß oder Wahl zwischen mehreren solchen Grundlagen der Rationalisierung möglich ist oder unvermeidlich wird. Hier können solche, inhaltliche, Probleme nicht erörtert werden.
. Denn für die allgemeinen Begriffe der Soziologie jedenfalls ist, logisch betrachtet, die Verwendung des „Richtigkeitstypus“ prinzipiell nur ein Fall der Bildung von Idealtypen, wenn auch oft ein höchst wichtiger Fall. Gerade dem logischen Prinzip nach versieht er diese Rolle prinzipiell nicht anders wie, unter Umständen, ein zweckmäßig gewählter „Irrtumstypus“ sie, je nach dem Zweck der Untersuchung, auch versehen kann. Für einen solchen ist freilich noch immer die Distanz gegen das „Gültige“ maßgebend. Aber logisch ist es auch kein Unterschied: ob ein Idealtypus aus sinnhaft verständlichen oder aus spezifisch sinnfremden Zusammenhängen gebildet wird. Wie im ersten Fall die gültige „Norm“, so bildet im zweiten Fall eine empirisch zum „reinen“ Typus sublimierte Faktizität den Idealtypus. Auch im ersten Fall ist aber nicht das empirische Material geformt durch Kategorien der „Geltungssphäre“. Sondern es ist eben nur der [404]konstruierte Idealtypus dieser entnommen. Und es hängt durchaus von den Wertbeziehungen ab, inwieweit gerade ein Richtigkeitstypus als Idealtypus zweckmäßig wird.

III.

Das Ziel der Betrachtung: „Verstehen“, ist schließlich auch der Grund, weshalb die verstehende Soziologie (in unserem Sinne) das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr „Atom“ – wenn der an sich bedenkliche Vergleich hier einmal erlaubt ist – behandelt. Die Aufgabe anderer Betrachtungsweisen kann es sehr wohl mit sich bringen, das Einzelindividuum vielleicht als einen Komplex psychischer, chemischer oder anderer „Prozesse“ irgendwelcher Art zu behandeln. Für die Soziologie aber kommt alles die Schwelle eines sinnhaft deutbaren Sichverhaltens zu „Objekten“ (inneren oder äußeren) Unterschreitende nur ebenso in Betracht wie die Vorgänge der „sinnfremden“ Natur: als Bedingung oder subjektiver Bezogenheitsgegenstand des ersteren. Aus dem gleichen Grunde ist [A 264]aber für diese Betrachtungsweise der Einzelne auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens. Keine scheinbar abweichende Ausdrucksform darf dies verschleiern. Es liegt in der Eigenart nicht nur der Sprache, sondern auch unseres Denkens, daß die Begriffe, in denen Handeln erfaßt wird, dieses im Gewande eines beharrenden Seins, eines dinghaften oder ein Eigenleben führenden „personenhaften“ Gebildes, erscheinen lassen. So auch und ganz besonders in der Soziologie. Begriffe wie „Staat“, „Genossenschaft“, „Feudalismus“ und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns, und es ist also ihre Aufgabe, sie auf „verständliches“ Handeln[,] und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren. Dies ist bei anderen Betrachtungsweisen keineswegs notwendig der Fall. Vor allem ist darin die soziologische von der juristischen Betrachtungsweise geschieden. Die Jurisprudenz behandelt z. B. unter Umständen den „Staat“ ebenso als „Rechtspersönlichkeit“ wie einen Einzelmenschen, weil ihre auf objektive Sinndeutung und das heißt: den geltensollenden Inhalt von Rechtssätzen gerichtete Arbeit jenes begriffliche Hilfs[405]mittel nützlich, vielleicht unentbehrlich, erscheinen läßt. Ganz ebenso wie ein Rechtssatz Embryonen als „Rechtspersönlichkeiten“ behandelt, während für empirisch verstehende Disziplinen auch beim Kinde der Übergang von reinen Faktizitäten des praktisch relevanten Verhaltens zum sinnhaft verständlichen „Handeln“ durchaus flüssig ist. Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das „Recht“ als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittelung des logisch richtigen „objektiven“ Sinngehaltes von „Rechtssätzen“ zu tun, sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von Menschen über den „Sinn“ und das „Gelten“ bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen. Darüber, also über das Konstatieren des tatsächlichen Vorhandenseins einer solchen Geltungsvorstellung, geht sie nur in der Weise hinaus, daß sie 1. auch die Wahrscheinlichkeit des Verbreitetseins solcher Vorstellungen in Betracht zieht, und 2. durch folgende Überlegung: Daß empirisch jeweilig bestimmte Vorstellungen über den „Sinn“ eines als geltend vorgestellten „Rechtssatzes“ in den Köpfen bestimmter Menschen herrschen, hat unter bestimmten angebbaren Umständen die Konsequenz, daß das Handeln rational an bestimmten „Erwartungen“ orientiert werden kann, gibt also konkreten Individuen bestimmte „Chancen“. Dadurch kann deren Verhalten erheblich beeinflußt werden. Dies ist die begriffliche soziologische Bedeutung der empirischen „Geltung“ eines „Rechtssatzes“. Für die soziologische Betrachtung steht daher [A 265]auch hinter dem Worte „Staat“ – wenn sie es überhaupt verwendet – nur ein Ablauf von menschlichem Handeln besonderer Art. Wenn sie nun genötigt ist, hier wie oft das gleiche Wort wie die juristische Wissenschaft zu gebrauchen, so ist doch dessen juristisch „richtiger“ Sinn dabei nicht der von ihr gemeinte. Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den „typischen“ Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben. Und dazu kommt noch, daß, der Natur des Objekts entsprechend, fortwährend so verfahren werden muß: daß „eingelebte“ und aus dem Alltag bekannte sinnhafte Zusammenhänge zur Definition anderer verwendet und dann [406]nachträglich ihrerseits wieder mit Hilfe dieser letzteren definiert werden müssen. Wir gehen einige solche Definitionen durch.

IV.

Von „Gemeinschaftshandeln“ wollen wir da sprechen, wo menschliches Handeln subjektiv sinnhaft auf das Verhalten anderer Menschen bezogen wird. Ein ungewollter Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. soll uns nicht Gemeinschaftshandeln heißen. Wohl aber ihre etwaigen vorherigen Versuche einander auszuweichen, oder, nach einem Zusammenstoß, ihre etwaige „Prügelei“ oder „Verhandlung“ über gütlichen „Ausgleich“. Nicht etwa nur Gemeinschaftshandeln ist für die soziologische Kausalzurechnung wichtig. Aber es ist das primäre Objekt einer „verstehenden“ Soziologie. Einen wichtigen normalen – wenn auch nicht unentbehrlichen – Bestandteil des Gemeinschaftshandelns bildet insbesondere dessen sinnhafte Orientierung an den Erwartungen eines bestimmten Verhaltens Anderer und den darnach für den Erfolg des eigenen Handelns (subjektiv) geschätzten Chancen. Ein äußerst verständlicher und wichtiger Erklärungsgrund des Handelns ist dabei das objektive Bestehen dieser Chancen, d. h. die größere oder geringere, in einem „objektiven Möglichkeitsurteil“ ausdrückbare Wahrscheinlichkeit, daß diese Erwartungen mit Recht gehegt werden. Davon bald mehr.
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[406] Unten, S. 409 ff. Bei diesen und den nachfolgenden Überlegungen arbeitet Weber mit dem von Johannes von Kries stammenden Konzept der „objektiven Möglichkeit“ und Gustav Radbruchs Begriff der „adäquaten Verursachung“ (vgl. dazu oben, S. 390, Anm. 8). Zwischen den „durchschnittlichen subjektiven Erwartungen“ der Akteure und dem „durchschnittlichen objektiven Gelten der Chance“ (d. h. der „objektiven Möglichkeit“ einer Ordnung) existiert, sagt Weber erläuternd (unten, S. 422), „gegenseitig die Beziehung der verständlich adäquaten Verursachtheit“ [Hervorhebung, J.W.].
Wir bleiben zunächst bei dem Tatbestand der subjektiv gehegten Erwartung. – Speziell alles im früher definierten Sinn „zweckrationale“ Handeln überhaupt ist an Erwartungen orientiert. Im Prinzip scheint es daher zunächst dasselbe, ob Erwartungen bestimmter, sei es ohne Zutun des Handelnden oder als Reaktionen auf sein gerade auf ihren Eintritt abgezwecktes Handeln erwarteter, Naturvorgänge oder ob in ähnlicher Art Erwartungen [A 266]eines bestimmten Verhaltens anderer Menschen dem eige[407]nen Handeln des Erwartenden die Wege weisen. Aber: die Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer Menschen können sich bei dem subjektiv rational Handelnden auch darauf gründen, daß er ein subjektiv sinnhaftes Verhalten von ihnen erwarten, also auch dessen Chancen aus bestimmten sinnhaften Beziehungen, mit einem verschieden großen Grade von Wahrscheinlichkeit, voraus berechnen zu können subjektiv glaubt. Insbesondere kann sich diese Erwartung darauf subjektiv gründen: daß der Handelnde sich mit dem oder den Anderen „verständigt“, „Vereinbarungen“ mit ihnen getroffen hat, deren „Innehaltung“, dem von ihm selbst gemeinten Sinn gemäß, er von ihnen zu gewärtigen Anlaß zu haben glaubt. Schon dies ergibt eine dem Gemeinschaftshandeln spezifische qualitative Besonderheit, weil eine sehr wesentliche Erweiterung desjenigen Umkreises von Erwartungen eintritt
m
[407] Fehlt in A; eintritt sinngemäß ergänzt.
, an welchen der Handelnde sein eigenes Handeln zweckrational orientieren zu können glauben wird. Der mögliche (subjektiv gemeinte) Sinn des Gemeinschaftshandelns erschöpft sich freilich nicht etwa in der Orientierung speziell an „Erwartungen“ des „Handelns“ Dritter. Im Grenzfall kann davon gänzlich abgesehen und das auf Dritte sinnbezogene Handeln lediglich an dem subjektiv geglaubten „Wert“ seines Sinngehalts als solchen („Pflicht“ oder was es sei) orientiert, das Handeln also nicht erwartungsorientiert, sondern wertorientiert sein. Ebenso muß bei den „Erwartungen“ nicht ein Handeln, sondern es kann auch z. B. nur ein inneres Sichverhalten (etwa eine „Freude“) des Dritten den Inhalt der Erwartung ausmachen. Der Übergang vom Idealtypus des sinnhaften Bezogenseins des eignen auf ein sinnhaftes Verhalten des Dritten endlich zu dem Fall, wo der Dritte (etwa ein Säugling) lediglich als „Objekt“ in Betracht kommt, ist empirisch durchaus flüssig. Das an Erwartungen sinnhaften Handelns orientierte Handeln ist uns nur der rationale Grenzfall.
Stets aber ist uns „Gemeinschaftshandeln“ ein entweder 1. historisch beobachtetes oder 2. ein theoretisch, als objektiv „möglich“ oder „wahrscheinlich“ konstruiertes Sichverhalten von Einzelnen zum aktuellen oder zum vorgestellten potentiellen Sichverhalten anderer Einzelner. Das ist ganz streng festzuhalten auch bei jenen Kategorien, welche nun weiter zu erörtern sind.

[408]V.

Vergesellschaftetes Handeln („Gesellschaftshandeln“) wollen wir ein Gemeinschaftshandeln dann und soweit nennen, als es 1. sinnhaft orientiert ist an Erwartungen, die gehegt werden auf Grund [A 267]von Ordnungen, wenn 2. deren „Satzung“ rein zweckrational erfolgte im Hinblick auf das als Folge erwartete Handeln der Vergesellschafteten, und wenn 3. die sinnhafte Orientierung subjektiv zweckrational geschieht. – Eine gesatzte Ordnung in dem hier gemeinten rein empirischen Sinn ist – wie hier nur ganz provisorisch definiert sei – entweder 1. eine einseitige, im rationalen Grenzfall: ausdrückliche, Aufforderung von Menschen an andere Menschen oder 2. eine, im Grenzfall: ausdrückliche, beiderseitige Erklärung von Menschen zueinander, mit dem subjektiv gemeinten Inhalt: daß eine bestimmte Art von Handeln in Aussicht gestellt oder erwartet werde. Alles Nähere darüber bleibt zunächst dahingestellt.
Daß ein Handeln subjektiv sinnhaft an einer gesatzten Ordnung „orientiert“ wird, kann nun zunächst bedeuten: daß dem subjektiv von den Vergesellschafteten in Aussicht genommenen Handeln auch ihr tatsächliches Handeln objektiv entspricht. Der Sinn einer gesatzten Ordnung und also das eigene in Aussicht gestellte wie das von Andern erwartete Handeln kann aber von den einzelnen Vergesellschafteten untereinander verschieden erfaßt worden sein oder später gedeutet werden, so daß ein Handeln, welches an
n
[408] Fehlt in A; an sinngemäß ergänzt.
einer von den Beteiligten subjektiv für mit sich identisch gehaltenen Ordnung subjektiv entsprechend orientiert ist, nicht notwendig ein auch objektiv in gleichen Fällen gleichartiges Handeln sein muß. Und ferner kann eine „Orientierung“ des Handelns an einer gesatzten Ordnung auch darin bestehen, daß deren subjektiv erfaßtem Sinn von einem Vergesellschafteten bewußt entgegengehandelt wird. Auch indem Jemand bewußt und absichtsvoll dem von ihm subjektiv erfaßten Sinn der Ordnung eines Kartenspiels entgegen, also „falsch“, spielt, bleibt er dennoch als „Mitspieler“ vergesellschaftet, im Gegensatz zu jemandem, der sich dem Weiterspielen entzieht. Ganz ebenso wie ein „Dieb“ oder ein „Totschläger“ sein Verhalten an eben jenen Ordnungen, denen er subjektiv bewußt [409]sinnhaft zuwiderhandelt, dennoch dadurch orientiert, daß er sein Tun oder seine Person verhehlt. Das Entscheidende für die empirische „Geltung“ einer zweckrational gesetzten Ordnung ist also nicht: daß die einzelnen Handelnden ihr eigenes Handeln kontinuierlich dem von ihnen subjektiv gedeuteten Sinngehalt entsprechend orientieren. Sie kann vielmehr zweierlei Dinge bedeuten: 1. daß tatsächlich (subjektiv)
o
[409]A: (subjektiv),
die einzelnen im Durchschnitt wie die Falschspieler und Diebe die Erwartung hegen, daß die anderen Vergesellschafteten ihr Verhalten durchschnittlich so gestalten werden: „als ob“ sie die Innehaltung der gesatzten Ordnung zur Richtschnur ihres Handelns nähmen; 2. daß sie, nach der durchschnittlich anzuwendenden Beurteilung von Chancen menschlichen Sichverhaltens, solche Erwartungen objektiv hegen [A 268]konnten (eine besondere Formung der Kategorie der „adäquaten Verursachtheit“). Logisch ist an sich beides (1 und 2) streng auseinanderzuhalten. Das Eine ist ein bei den das Beobachtungsobjekt bildenden Handelnden subjektiv vorliegender, d. h. vom Forscher als „durchschnittlich“ vorhanden angenommener, Tatbestand. Das andere ist eine von dem erkennenden Subjekt (Forscher) objektiv unter Berücksichtigung der wahrscheinlichen Kenntnisse und Denkgepflogenheiten der Beteiligten zu kalkulierende Chance. Bei Bildung genereller Begriffe schätzt aber die Soziologie ein durchschnittliches Maß von Vorhandensein der zur Abschätzung jener Chancen erforderlichen „Fähigkeiten“ des Auffassens auch den am Handeln Beteiligten als subjektiv vorhanden zu. Das heißt: sie setzt ein für allemal idealtypisch voraus: daß objektiv vorhandene Durchschnittschancen auch von den zweckrational Handelnden durchschnittlich subjektiv annähernd in Rechnung gestellt werden. Daher soll auch uns die empirische „Geltung“ einer Ordnung in der objektiven Begründetheit jener Durchschnittserwartungen (Kategorie der „objektiven Möglichkeit“) bestehen. In dem speziellen Sinn: Daß uns nach Lage der jeweils durchschnittlich wahrscheinlichen Tatsachenberechnung ein subjektiv seinem Sinngehalt nach durchschnittlich an ihnen orientiertes Handeln als „adäquat verursacht“ gilt. Dabei fungieren also die objektiv abschätzbaren Chancen der möglichen Erwartungen auch als zulänglicher verständlicher Erkenntnisgrund für das wahrscheinliche Vorhanden[410]sein jener Erwartungen bei den Handelnden. Beides koinzidiert hier der Tatsache nach im Ausdruck fast unvermeidlich, ohne daß aber natürlich der logische Abgrund verwischt werden dürfte. Nur im erstgedachten Sinn: als objektives Möglichkeitsurteil, ist es selbstverständlich gemeint: daß jene Chancen den subjektiven Erwartungen der Handelnden sinnhaft zur Grundlage zu dienen durchschnittlich geeignet seien „und daher“ tatsächlich (in einem relevanten Maße) dienten. Es ist nun schon klar, daß mit dem bisher Gesagten zwischen der logisch scheinbar exklusiven Alternative: Fortbestand oder Nichtmehrbestand einer Vergesellschaftung, in der Realität eine lückenlose Skala von Übergängen gegeben ist. Sobald freilich alle beteiligten Kartenspieler voneinander gegenseitig „wissen“, daß die vereinbarten Spielregeln überhaupt nicht mehr innegehalten werden, oder sobald keine normalerweise in Rechnung zu stellende Chance objektiv besteht „und daher“ subjektiv keine solche mehr in Rechnung gestellt wird: daß z. B. der Zerstörer fremden Lebens sich um die Ordnung, die er bewußt verletzt, normalerweise überhaupt noch kümmert, – weil eben die Verletzung für ihn keinerlei Konsequenzen voraussehen läßt, – in solchen Fällen ist deren empirische Existenz [A 269]nicht mehr gegeben und besteht also auch die betreffende Vergesellschaftung nicht mehr. Sie besteht so lange und insoweit, als ein an ihren Ordnungen irgendwie dem durchschnittlich gemeinten Sinn nach orientiertes Handeln noch in einem praktisch relevanten Umfang abläuft. Dies aber ist ein flüssiger Tatbestand.
Aus dem Gesagten folgt z. B. auch, daß das reale Handeln der Einzelnen subjektiv sinnhaft sehr wohl an mehreren Ordnungen orientiert sein kann, welche einander nach den jeweils konventionellen Denkgepflogenheiten sinnhaft „widersprechen“, dennoch aber nebeneinander empirisch „gelten“. Die durchschnittlich herrschenden Anschauungen vom „Sinn“ unserer Gesetzgebung z. B. verbieten absolut den Zweikampf. Gewisse weitverbreitete Vorstellungen vom „Sinn“ als geltend angenommener gesellschaftlicher Konventionen
3)
[410][A 269] Der Begriff ist hier nicht speziell zu erörtern. Es sei nur bemerkt: als „Recht“ gilt uns soziologisch eine in ihrer empirischen Geltung durch einen „Zwangsapparat“ (im bald zu erörterndem Sinn),
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[410] Unten, S. 413.
als Konvention eine nur durch „soziale Mißbilligung“ der [411]zur „Rechts“- bzw. „Konventions“-Gemeinschaft vergesellschafteten Gruppe garantierte Ordnung. Die Grenze kann in der Realität natürlich flüssig sein.
gebieten ihn. Indem der einzelne ihn vollzieht, [411]orientiert er sein Handeln an diesen konventionellen Ordnungen. Indem er aber dabei sein Tun verhehlt, orientiert er es an den Ordnungen der Gesetze. Die praktische Wirkung des empirischen, d. h. hier und immer: des durchschnittlich für die subjektive sinnhafte Orientierung des Handelns zu erwartenden[,] „Geltens“ der beiderseitigen Ordnungen ist in diesem Fall also verschieden. Eine empirische „Geltung“ aber, d. h. die Tatsache: daß das Handeln durch sinnhafte Orientierung an ihrem (subjektiv erfaßten) Sinn orientiert und dadurch beeinflußt wird, schreiben wir beiden zu. Als normalen Ausdruck der empirischen „Geltung“ einer Ordnung werden wir aber freilich die Chance ihres „Befolgtwerdens“ ansehen. Das heißt also: daß die Vergesellschafteten durchschnittlich sowohl auf das nach der Durchschnittsauffassung „ordnungsgemäße“ Verhalten anderer mit Wahrscheinlichkeit zählen, als auch im Durchschnitt ihr eigenes Handeln den gleichartigen Erwartungen anderer gemäß einrichten („ordnungsgemäßes Gesellschaftshandeln“). Alsbald sei betont: die empirische „Geltung“ einer Ordnung erschöpft sich nicht in der durchschnittlichen Begründetheit der „Erwartungen“ der Vergesellschafteten in bezug auf ihr faktisches Verhalten. Dies ist nur die rationalste und dabei soziologisch unmittelbar greifbarste Bedeutung. Aber ein ausschließlich bei allen Beteiligten nur an „Erwartungen“ des Verhaltens Anderer orientiertes Verhalten eines jeden von ihnen wäre nur der absolute Grenzfall zum bloßen „Gemeinschaftshandeln“ und bedeutete die ab[A 270]solute Labilität auch dieser Erwartungen selbst. Diese letzteren sind vielmehr gerade um so mehr mit durchschnittlicher Wahrscheinlichkeit „begründet“, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden darf, daß die Beteiligten ihr eigenes Handeln nicht bloß an den Erwartungen des Handelns der Anderen orientieren, sondern je mehr bei ihnen die subjektive Ansicht in relevantem Maß verbreitet ist, daß die (subjektiv sinnhaft erfaßte) „Legalität“ gegenüber der Ordnung „verbindlich“ für sie sei.
Das Verhalten des „Diebes“ und „Falschspielers“ werden wir als (subjektiv) „ordnungswidriges“ Gesellschaftshandeln bezeichnen, ein subjektiv der Intention nach ordnungsgemäß, aber dabei von der Durchschnittsdeutung der Ordnung abweichend orientiertes [412]Handeln als objektiv „abnormes“ Gesellschaftshandeln. Jenseits dieser Kategorien liegen die Fälle des nur „vergesellschaftungsbedingten“ Handelns: Jemand sieht sich entweder bei seinem sonstigen Handeln veranlaßt, zweckrational auf die Notwendigkeiten, welche er durch die Vergesellschaftung sich auferlegt hat, Rücksicht zu nehmen (anderweite Ausgaben z. B. um dadurch bedingter Ausgaben willen zu unterlassen). Oder er wird in seinem anderweiten Handeln (z. B. in der Entwicklung seiner „Freundschaften“ oder seines gesamten „Lebensstils“), ohne dies zweckrational zu wollen und zu bemerken, durch die Orientiertheit gewisser Teile seines Handelns
p
[412]A: Handels
an vereinbarten Ordnungen (z. B. seiner religiösen Sekte) beeinflußt. Alle diese Unterschiede sind in der Realität flüssig. Kein prinzipieller Unterschied überhaupt liegt darin: ob Gesellschaftshandeln in sinnhaften Beziehungen unter den Vergesellschafteten gegenseitig oder zu Dritten abläuft; denn gerade dies letztere kann den vorwiegend gemeinten Sinn der Vereinbarung bilden. Dagegen kann man das an den Ordnungen der Vergesellschaftung orientierte Handeln unterscheiden in „gesellschaftsbezogenes“, d. h. direkt zu den (wie immer: subjektiv sinnhaft gedeuteten) Ordnungen der Vergesellschaftung Stellung nehmend, also dem gemeinten Sinn nach auf die planvolle allgemeine Durchsetzung ihrer empirischen Geltung oder umgekehrt auf ihre Änderung und Ergänzung gerichtet, oder nur „gesellschaftsgeregeltes“, d. h. an diesen Ordnungen orientiert, aber nicht in jenem Sinne „gesellschaftsbezogen“. Auch dieser Unterschied ist flüssig.
Rationaler Idealtypus der Vergesellschaftung ist uns vorläufig der „Zweckverein“: ein Gesellschaftshandeln mit einer zweckrational von allen Beteiligten vereinbarten Ordnung des Inhalts und der Mittel des Gesellschaftshandelns. In der Vereinbarung der Ordnung („Satzung“) haben im idealtypischen Rationalitätsfall die vergesellschaftet Handelnden subjektiv eindeutig auch aus[A 271]bedungen: welches in welchen Formen sich vollziehende Handeln welcher (oder in welcher Art zu bestimmender) Personen („Vereinsorgane“) „dem Verein zugerechnet“ werden soll und welchen „Sinn“, d. h. welche Folgen für die sich Vergesellschaftenden dies haben soll. Ferner: ob und welche Sachgüter und Leistungen für die vereinbarten Zwecke des Gesellschaftshandelns („Vereins[413]zwecke“) verfügbar sein sollen („Zweckvermögen“). Ebenso: welche Vereinsorgane und wie sie darüber disponieren sollen; welche Leistungen die Beteiligten für Vereinszwecke zu bieten, welches Handeln ihnen „geboten“, „verboten“, oder „erlaubt“ sein soll und was sie selbst auf Grund ihrer Beteiligung an Vorteilen zu gewärtigen haben. Endlich: ob und welche Vereinsorgane und unter welchen Bedingungen und durch welche Mittel sie auf die Innehaltung der vereinbarten Ordnung hinzuwirken sich bereit halten sollen („Zwangsapparat“). Jeder am Gesellschaftshandeln Beteiligte verläßt sich in einem gewissen Umfang darauf, daß die anderen Beteiligten sich (annähernd und durchschnittlich) der Vereinbarung gemäß verhalten werden und zieht diese Erwartung bei der rationalen Orientierung seines eigenen Handelns in Rechnung. Die Gründe, welche der Einzelne für jene Zuversicht zu haben glaubt, sind für die empirische Existenz des Vereins gleichgültig, wenn er objektiv annehmen darf: daß, dem Erfolge nach, irgend welche wie immer gearteten Interessen der anderen ihnen die Innehaltung der vereinbarten Ordnung durchschnittlich mit hinlänglicher Wirkung anempfehlen. Natürlich aber kann die von ihm vorausgesetzte Chance: daß im Falle der Nichtinnehaltung die Ausübung physischen oder (noch so milden, z. B. nur in der christlichen „brüderlichen Vermahnung“ bestehenden) psychischen Zwanges in Aussicht stehe, die subjektive Sicherheit, daß jene Zuversicht im Durchschnitt nicht enttäuscht werde, und die objektive Wahrscheinlichkeit, daß jene Erwartungen begründet sind, stark erhöhen. Das, nach seinem subjektiv durchschnittlich als gemeint vorausgesetzten Sinngehalt[,] eine „Vereinbarung“ bedeutende Handeln heißt uns, im Gegensatz zum an dieser Vereinbarung orientierten „Gesellschaftshandeln“, das „Vergesellschaftungshandeln“. – Innerhalb des an der Vereinbarung orientierten Handelns ist die wichtigste Art des „gesellschaftsbezogenen“ Gesellschaftshandelns einerseits das spezifische Gesellschaftshandeln der „Organe“, andererseits das Gesellschaftshandeln der Vergesellschafteten, welches sinnhaft auf jenes Handeln der Organe bezogen ist. Speziell innerhalb der später zu erörternden
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[413] Unten, S. 431 ff.
Vergesellschaftungskategorie der „Anstalten“ (insbesondere des „Staates“) pflegt man diejenigen Ordnungen, welche zur Orientierung dieses Handelns geschaffen sind: das [414]Anstaltsrecht (im [A 272]Staat das „öffentliche Recht“) von den das sonstige Handeln der Vergesellschafteten regelnden Ordnungen zu scheiden. Aber auch innerhalb des Zweckvereins gilt die gleiche Scheidung („Vereinsrecht“ gegenüber den durch den Verein geschaffenen Ordnungen). Doch sollen uns diese (flüssigen) Gegensätze hier nicht beschäftigen.
Bei voller Entwicklung ist der Zweckverein kein ephemeres, sondern ein perennierendes „soziales Gebilde“. Das bedeutet: trotz des Wechsels der am Gesellschaftshandeln Beteiligten, d. h. also: trotz der Nichtmehrbeteiligung bisheriger und der Beteiligung immer neuer Personen, natürlich – im idealtypischen Grenzfall – stets kraft spezieller neuer Vereinbarung, betrachtet man ihn als mit sich identisch bleibend. Dies geschieht so lange, als trotz des Wechsels der Personen ein an den „gleichen“ Ordnungen des Verbandes orientiertes Handeln in einem soziologisch relevanten Umfang tatsächlich erwartet werden darf. „Gleich“ aber ist die (subjektiv erfaßte) Ordnung im soziologischen Sinne so lange, als die durchschnittlichen Denkgepflogenheiten der Vergesellschafteten diese Identität bezüglich der durchschnittlich für wichtig angesehenen Punkte annehmen. Sie können sie mehr oder minder eindeutig und mehr oder minder annähernd annehmen: die „Gleichheit“ ist soziologisch ein durchaus nur relativ und gleitend bestehender Sachverhalt. Die im Verein Vergesellschafteten können Ordnungen durch neues Vergesellschaftungshandeln bewußt ändern, oder diese können durch Veränderung der sich durchsetzenden durchschnittlichen Auffassung ihres „Sinnes“ oder, und namentlich, durch Veränderung der Umstände, ohne neues Vergesellschaftungshandeln die Art ihrer praktischen Bedeutung für das Handeln wechseln („Bedeutungswandel“,– ungenau auch „Zweckwandel“ genannt) oder ganz verlieren. In solchen Fällen hängt es sowohl 1. von der Kontinuierlichkeit der Änderungen wie 2. von dem relativen Umfang der, in Gestalt entsprechend
q
[414]A: entsprechend,
sich orientierenden Handelns, empirisch fortbestehenden alten Ordnungen wie 3. von dem Fortbestand der entweder aus den gleichen oder gleichartig ausgelesenen Personen bestehenden oder doch gleichartig handelnden Verbandsorgane und Zwangsapparate ab: ob der Soziologe das verändert ablaufende Gesellschaftshandeln zweckmäßigerweise als eine „Fortsetzung“ des alten
r
A: alten,
oder als ein „neues“ [415]soziales Gebilde betrachtet. Wiederum liegt also ein durchaus in gleitenden Übergängen verlaufender Tatbestand vor. Ebenso ist es durchaus eine Frage des Einzelfalls (und also: der durch den konkreten Forschungszweck bestimmten Zweckmäßigkeit): wann man eine Vergesellschaftung als ein „selbständiges“ Gebilde und wann man sie als „Teil“ einer übergreifenden Vergesellschaftung ansieht. Das [A 273]letztere aber kann prinzipiell in zweierlei Arten der Fall sein. 1. Einmal so: daß die empirisch „geltenden“ Ordnungen eines Gesellschaftshandelns nicht ausschließlich der Satzung durch die an diesem Handeln Beteiligten entspringen (autonome Ordnungen), sondern daß das Gesellschaftshandeln mitbedingt ist dadurch, daß die Beteiligten dasselbe (immer: normalerweise) auch an den Ordnungen einer anderen Vergesellschaftung, an der sie beteiligt sind, orientieren (heteronome Ordnungen: so etwa das Gesellschaftshandeln der Kirche an den Ordnungen der politischen Gewalt oder umgekehrt). 2. Oder aber so, daß die Organe einer Vergesellschaftung ihrerseits wieder in bestimmter Art vergesellschaftet sind in einem umfassenderen Gebilde von Verbandsorganen einer anderen Vergesellschaftung: so etwa die Organe eines „Regiments“ im Gesamtapparat einer „Heeresverwaltung“ (heterokephaler im Gegensatz zum autokephalen Zweckverband, wie ihn etwa ein freier Verein oder ein selbständiger „Staat“ darstellt). Heteronomie der Ordnungen und Heterokephalie der Organe fallen oft, aber nicht notwendig zusammen. Das Gesellschaftshandeln in einem autokephalen Verein ist heute normalerweise durch die Orientierung des Handelns seiner Mitglieder an Satzungen des politischen Verbandes mitbedingt, also heteronom. Die sozialistische „Vergesellschaftung“ der Produktionsmittel würde bedeuten: daß das heute schon zum erheblichen Teil heteronome, d. h. an Ordnungen anderer, vor allem politischer, Verbände orientierte Gesellschaftshandeln jedes einzelnen, jetzt im Prinzip autokephalen, „Betriebs“ heterokephal gegenüber den Organen einer (irgendwelchen) „Gesamtheit“ würde. –
Nicht jede vereinbarte Vergesellschaftung führt aber zum Entstehen eines Zweckvereins, für welchen nach der Definition 1. die Vereinbarung genereller Regeln und 2. die Existenz eigener Verbandsorgane konstitutiv sein sollen. Eine Vergesellschaftung („Gelegenheitsvergesellschaftung“) kann auch einen ganz ephemer gemeinten Sinn haben, etwa einen sofort auszuführenden [416]gemeinsamen Totschlag aus Rache, und es können also alle als Charakteristika der Zweckvereine erwähnten Bestandteile fehlen, bis auf die rational vereinbarte „Ordnung“ des Gesellschaftshandelns, welche nach der gewählten Definition konstitutives Merkmal sein soll. Ein bequemes Beispiel für die Stufenfolge von der Gelegenheitsvergesellschaftung angefangen bis zum Zweckverein ist die der industriellen „Kartellierungen“ von der einfachen einmaligen Verabredung von Unterbietungsgrenzen zwischen einzelnen Konkurrenten bis zum „Syndikat“ mit großem eigenen Vermögen, Verkaufskontoren und einem umfassenden Apparat von Organen. Gemeinsam ist ihnen allen nur [A 274]die vereinbarte Ordnung, deren Inhalt bei der hier idealtypisch vorauszusetzenden ausdrücklichen Festsetzung aller Punkte mindestens die Abmachung enthält: was unter den Beteiligten als geboten[,] oder umgekehrt: was als verboten, oder ferner auch: was als erlaubt gelten solle. Beim isolierten (unter Abstraktion von jeder Existenz einer „Rechtsordnung“ zu denkenden) Tausch wird z. B. im idealtypischen Fall der vollen Explizität mindestens vereinbart: 1. als geboten: die Übergabe und eventuell noch die Pflicht der Garantie des Besitzes der Tauschgüter gegen Dritte, – 2. als verboten: die Zurücknahme, 3. als erlaubt: die beliebige Verfügung jedes Teils über das erlauschte Gut. – Ein solcher isolierter rationaler „Tausch“ dieses Typus ist einer der Grenzfälle der „organlosen“ Vergesellschaftung. Ihm fehlen, außer der vereinbarten Ordnung, alle jene Merkmale, welche dem Zweckverein eignen. Er kann heteronom geordnet sein (durch Rechtsordnung oder Konvention) oder ganz autonom dastehen, in seinen „Erwartungen“ bedingt durch das beiderseitige Vertrauen, daß der andere Teil sich aus gleichviel welchen Interessen vereinbarungsgemäß verhalten werde. Aber er ist weder ein autokephales noch ein heterokephales Gesellschaftshandeln, weil er überhaupt nicht als perennierendes „Gebilde“ auftritt. Und auch das Auftreten von Tauschakten als Massenerscheinungen, auch als in sich kausal zusammenhängender Massenerscheinungen („Markt“), stellt natürlich keineswegs ein Zweckvereinsgebilde dar, sondern ist gerade umgekehrt von diesem grundsätzlich geschieden. Der Fall des Tauschs ist zugleich geeignet zu veranschaulichen: daß das die Vergesellschaftung herbeiführende Handeln (Vergesellschaftungshandeln) nicht notwendig nur an den Erwartungen des Handelns der sich Vergesellschaftenden selbst [417]orientiert sein muß. Sondern, im Beispiel, außerdem an den Erwartungen: daß Dritte, Unbeteiligte das Resultat des Tausches: „Besitzwechsel“, „respektieren“ werden. Insoweit ist es bloßes „Gemeinschaftshandeln“
s
[417]A: „Gemeinschaftshandeln“,
von der Art, die wir später „Einverständnishandeln“ nennen werden.
27
[417] Unten, S. 422 ff.
Historisch finden wir die Stufenleiter der Entwicklung von der Gelegenheitsvergesellschaftung ausgehend und fortschreitend zum perennierenden
t
A: peremierenden
„Gebilde“ oft. Der typische Keim derjenigen Vergesellschaftung, welche wir heute „Staat“ nennen, liegt in freien Gelegenheitsvergesellschaftungen von Beutelustigen zu einem Kriegszug unter selbstgewähltem Führer einerseits, in der Gelegenheitsvergesellschaftung der Bedrohten zur Abwehr anderseits. Es fehlt völlig das Zweckvermögen und die Dauer. Ist der Beutezug oder die Abwehr gelungen (oder: mißlungen) und die Beute verteilt, so hört die Vergesellschaftung zu bestehen auf. Von da bis zur [A 275]Dauervergesellschaftung der Kriegerschaft mit systematischer Besteuerung der Frauen, Waffenlosen, Unterworfenen und weiter zur Usurpierung richterlichen und verwaltenden Gesellschaftshandelns führt in lückenlosen Übergängen ein weiter Weg. Umgekehrt kann aber auch – und das ist einer der verschiedenen bei Entstehung der „Volkswirtschaft“ beteiligten Prozesse – aus den der Bedürfnisdeckung halber bestehenden perennierenden Vergesellschaftungen durch Zerfall das amorphe, ein „Gemeinschaftshandeln“ darstellende Gebilde des „Markts“ hervorgehen.
Das „psychische“ Verhalten der Beteiligten, die Frage also: aus welchen letzten „inneren Lagen“ heraus sie sich vergesellschaften und dann ihr Handeln an den vereinbarten Ordnungen orientieren, – ob sie sich ihnen lediglich aus nüchterner Zweckmäßigkeitserwägung oder aus leidenschaftlichem Attachement an die vereinbarten oder vorausgesetzten Vergesellschaftungszwecke, oder unter widerwilliger Hinnahme dieser als unvermeidlichen Übels, oder weil sie dem Gewohnten entsprechen, oder warum sonst, fügen, – dies ist für die Existenz der Vergesellschaftung solange gleichgültig, als, im Effekt, in einem soziologisch relevanten Umfang die Chance jener Orientierung an der Vereinbarung tatsächlich besteht. Mit ihrer Beteiligung am Gesellschaftshandeln können ja die einzelnen [418]Beteiligten gänzlich verschiedene, entgegengesetzte, und gegeneinander gerichtete Zwecke verfolgen und tun dies sehr häufig. Der Kriegsvölkerrechtsverband, die Rechtsvergesellschaftung für das Gemeinschaftshandeln auf dem Markt mit seinem Tausch- und Preiskampf sind nur besonders deutliche Beispiele dieses überall wiederkehrenden Sachverhalts. Alles Gesellschaftshandeln ist natürlich Ausdruck einer auf die Orientierung des Handelns, des fremden und eigenen, an seinen Ordnungen, aber an sich auf garnichts sonst gerichteten und daher sehr verschieden gearteten Interessenkonstellation bei den Beteiligten. Deren Inhalt läßt sich ganz allgemein nur rein formal dahin kennzeichnen, wie es schon mehrfach geschah: daß der einzelne auf das durch die Vergesellschaftung vereinbarte Handeln des oder der Anderen rechnen und daran sein eigenes Handeln orientieren zu können ein Interesse zu haben glaubt.

VI.

Es gibt Komplexe von Gemeinschaftshandeln, welche ohne eine zweckrational vereinbarte Ordnung dennoch 1. im Effekt so ablaufen, als ob eine solche stattgefunden hätte, und bei welchen 2. dieser spezifische Effekt durch die Art der Sinnbezogenheit des Handelns der Einzelnen mitbestimmt ist. – Jedes zweck[A 276]rationale Eintauschen von „Geld“ z. B. enthält, neben dem Einzelakt der Vergesellschaftung mit dem Tauschpartner, die sinnhafte Bezogenheit auf künftiges Handeln eines nur unbestimmt vorgestellten und vorstellbaren Umkreises von aktuellen und potentiellen Geldbesitzern, Geldliebhabern und Geldtauschreflektanten. Denn an der Erwartung: daß auch andere Geld „nehmen“ werden, welche den Geldgebrauch erst möglich macht, wird das eigene Handeln orientiert. Die sinnhafte Orientierung ist dabei zwar, im allgemeinen, eine solche an den eigenen und indirekt auch an vorgestellten fremden individuellen Interessen an der eigenen bzw. der fremden Güterbedarfsdeckung. Aber sie ist keine Orientierung an einer gesatzten Ordnung über die Art der Güterbedarfsdeckung der vorgestellten Beteiligten. Vielmehr ist das, mindestens relative Fehlen einer solchen („gemeinwirtschaftlichen“) Ordnung der Bedarfsdeckung der am Geldgebrauch Beteiligten ja gerade Vorausset[419]zung des Geldgebrauchs. Dennoch ist nun dessen Gesamtresultat normalerweise in vieler Hinsicht so geartet, „als ob“ es durch Orientierung an einer Ordnung der Bedarfsdeckung aller Beteiligten erreicht worden sei. Und zwar ist dies der Fall infolge der sinnhaften Bezogenheit des Handelns des Geldgebrauchers, dessen Lage, wie die jedes Tauschenden beim Tausch, innerhalb gewisser Grenzen durchschnittlich so gestaltet ist, daß sein Interesse ihm ein gewisses Maß von Rücksichtnahme auf die Interessen Anderer normalerweise auferlegen wird, weil diese die normalen Bestimmungsgründe für diejenigen „Erwartungen“ sind, die er seinerseits von ihrem Handeln hegen darf. Der „Markt“, als idealtypischer Komplex derartigen Handelns, zeigt also das oben mit „als ob“ eingeführte Merkmal.
28
[419] Oben, S. 409.
Eine Sprachgemeinschaft wird im idealtypischen „zweckrationalen“ Grenzfall dargestellt durch zahlreiche einzelne Akte von Gemeinschaftshandeln, die orientiert sind an der Erwartung, bei einem Anderen „Verständnis“ eines gemeinten Sinns zu erreichen. Daß dies massenhaft zwischen einer Vielheit von Menschen durch sinnhaft ähnlichen Gebrauch bestimmter äußerlich ähnlicher Symbole irgendwie annähernd so abläuft, „als ob“ die Sprechenden ihr Verhalten an grammatischen zweckvoll vereinbarten Regeln orientierten, stellt, da es durch jene Sinnbezogenheit der Akte der individuellen Sprechenden determiniert ist, ebenfalls einen Fall dar, der dem eingangs erwähnten Merkmale entspricht.
Gemeinsam ist beiden aber fast ausschließlich jenes Merkmal. Denn die Art, wie jener Gesamteffekt entsteht, läßt sich zwar für beide Fälle in einigen äußerlichen Parallelen illustrieren, die aber keinen erheblichen Erkenntniswert haben. Auf das „als ob“ läßt [A 277]sich also hier nur eine beide Male vorhandene Problemstellung für die Soziologie begründen, die aber sofort auf inhaltlich ganz verschiedene Begriffsreihen führt. Alle Analogien mit dem „Organismus“ und ähnlichen Begriffen der Biologie sind zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Dazu tritt nun, daß keineswegs nur durch Gemeinschaftshandeln von Menschen ein Gesamteffekt hervorgebracht werden kann, welcher so aussieht, „als ob“ das Handeln durch vereinbarte Ordnung determiniert sei, sondern ebenso und noch weit drastischer durch die verschiedenen Formen „gleicharti[420]gen“ und „Massen“handelns, welche dem Gemeinschaftshandeln nicht zugehören.
Denn zum „Gemeinschaftshandeln“ soll ja nach der gewählten Definition sinnhafte Bezogenheit des Handelns der einen „auf“ das der andern gehören. „Gleichartigkeit“ des Verhaltens mehrerer genügt also nicht. Auch nicht jede Art von „Wechselwirkung“. Auch nicht die „Nachahmung“ rein als solche. Eine „Rasse“ wird, möge das Verhalten der ihr Zugehörigen in irgend einem Punkte noch so gleichartig sein, zur „Rassengemeinschaft“ für uns erst da, wo ein Handeln der Rassezugehörigen in gegenseitiger sinnhafter Bezogenheit entsteht: wenn z. B., um das absolute Minimum zu nehmen, Rassezugehörige in irgend einer Hinsicht sich von der „rassefremden“ Umwelt „absondern“ mit Bezug darauf, daß andere Rassezugehörige es auch tun (gleichviel ob in gleicher Art und Umfang). Wenn in einer Straße eine Masse von Passanten auf einen Regenschauer durch Aufspannen des Schirms reagieren, so ist das kein Gemeinschaftshandeln (sondern: ein „massenhaft gleichartiges“ Handeln). Auch nicht dasjenige Handeln, welches durch den bloßen, nicht mit sinnhafter Bezogenheit verbundenen „Einfluß“ des Verhaltens anderer hervorgerufen wird. Beispielsweise bei einer Panik. Oder wenn eine Masse von Straßenpassanten im Fall eines Gedränges irgend einer „Massensuggestion“ unterliegt. In solchen Fällen einer Beeinflussung des Verhaltens der einzelnen durch die bloße Tatsache, daß auch andere Situationsbeteiligte sich in bestimmter Art verhalten, wollen wir von „massenbedingtem Sichverhalten“ sprechen. Denn es ist kein Zweifel, daß die bloße Tatsache der simultan und selbst der örtlich getrennt handelnden, aber (z. B. durch die Presse) zueinander in Beziehung gesetzten „Masse“ die Art des Verhaltens aller Einzelnen in einer hier nicht zu erörternden Art, deren Analyse den Gegenstand „massenpsychologischer“ Untersuchung bildet,
29
[420] Vgl. dazu vor allem Le Bon, Gustave, Psychologie der Massen, übersetzt von Rudolf Eisler. – Leipzig: Kröner 1912 (frz.: Psychologie des foules. – Paris: Félix Alcan 1895).
beeinflussen kann. Der Übergang vom „massenbedingten Handeln“ zum Gemeinschaftshandeln ist natürlich in der Realität vollkommen flüssig. Schon die Panik enthält selbstverständlich neben rein massenbedingtem auch Elemente von Gemeinschaftshandeln. Das Verhalten [A 278]jener Straßenpassanten entwickelt sich dazu, wenn [421]etwa bei Bedrohung durch einen bewaffneten Trunkenbold eine Vielzahl von ihnen sich auf diesen stürzt und ihn durch gemeinsames, eventuell „arbeitsteiliges“, Zugreifen festhält. Oder wenn das Gleiche geschieht, um einem schwer Verletzten gemeinsame Nothilfe angedeihen zu lassen. Da hier „arbeitsteilig“ gehandelt wird, zeigt sich die Selbstverständlichkeit: daß Gemeinschaftshandeln nichts mit „gleichartigem“ Handeln als solchem zu tun hat, sondern oft das Gegenteil bedeutet. Darin liegt auch die Verschiedenheit vom „nachahmenden“ Handeln.
30
[421] Hier bezieht sich Weber auf Gabriel Tarde, vgl. dazu die Einleitung, oben, S. 78, Anm. 24.
„Nachahmung“ kann bloßes „massenbedingtes“ Sichverhalten oder mehr ein am Verhalten des Nachgeahmten im Sinn der „Nachbildung“ orientiertes Handeln sein. Und dies wiederum mehr wegen einer – zweckrationalen oder andern – Schätzung des Wertes des nachgeahmten Handelns an sich, oder nur in sinnhafter Bezogenheit auf Erwartungen: z. B. aus „Konkurrenz“-Notwendigkeiten. Es führt eine umfassende Skala von Übergängen bis zu jenem Fall eines sehr spezifischen Gemeinschaftshandelns: wo ein Sichverhalten um deswillen nachgebildet wird, weil es als Merkmal der Zugehörigkeit zu einem Kreise von Menschen gilt, welche – gleichviel aus welchem Grunde – eine spezifische „soziale Ehre“ beanspruchen und, in gewissem Umfang, auch genießen. Dieser letztere Fall aber überschreitet offenbar schon den Bereich des nur „nachahmenden“ Handelns und wird durch diese Kategorie nicht erschöpfend charakterisiert.
Das Bestehen einer „Sprachgemeinschaft“ bedeutet für uns nicht: daß massenbedingte Gleichartigkeit bei der Hervorbringung bestimmter Lautkomplexe existiere (das ist gar nicht erforderlich), auch nicht nur: daß der Eine „nachahmt“, was Andere tun, sondern vielmehr ein Verhalten bei „Äußerungen“, welches an bestimmten, innerhalb eines Menschenkreises durchschnittlich bestehenden Chancen sich „verständlich“ zu machen, sinnhaft orientiert ist und daher diesen sinnhaften Effekt im Durchschnitt auch erwarten „darf“. Ebenso wie „Herrschaft“ nicht bedeutet: daß eine stärkere Naturkraft sich, irgendwie, Bahn bricht, sondern: ein
u
[421]A: eine
sinnhaftes Bezogensein des Handelns der Einen („Befehl“) auf das der Anderen („Gehorsam“) und entsprechend umgekehrt, derart, daß im [422]Durchschnitt auf das Eintreffen der Erwartungen, an welchen das Handeln beiderseits orientiert ist, gezählt werden darf.
Eine durch brauchbare Merkmale ausgezeichnete Kategorie von Erscheinungen gibt also jenes durch „als ob“ gekennzeichnete Phänomen nicht ab. Wir wollen statt dessen im Anschluß an das über die „Nachahmung“ und die „Herrschaft“ soeben Gesagte eine andere Unterscheidung in dies Vielerlei von Sachverhalten hinein[A 279]tragen: Unter „Einverständnis“ nämlich wollen wir den Tatbestand verstehen: daß ein an Erwartungen des Verhaltens Anderer orientiertes Handeln um deswillen eine empirisch „geltende“ Chance hat, diese Erwartungen erfüllt zu sehen, weil die Wahrscheinlichkeit objektiv besteht: daß diese Andern jene Erwartungen trotz des Fehlens einer Vereinbarung als sinnhaft „gültig“ für ihr Verhalten praktisch behandeln werden. Begrifflich gleichgültig sind die Motive, aus welchen dieses Verhalten der Anderen erwartet werden darf. Der Inbegriff von Gemeinschaftshandeln, welcher und soweit er in einer durch Orientierung an solchen „Einverständnis“-Chancen bedingten Art abläuft, soll „Einverständnishandeln“ heißen.
Das objektiv – im Sinn der abschätzbaren Chancen – „geltende“ Einverständnis ist natürlich nicht zu verwechseln mit dem subjektiven Zählen des einzelnen Handelnden darauf: daß andere die von ihm gehegten Erwartungen als sinnhaft gültig behandeln werden. Ebensowenig wie die empirische Geltung einer vereinbarten Ordnung mit der subjektiven Erwartung der Innehaltung ihres subjektiv gemeinten Sinnes. In beiden Fällen besteht aber zwischen dem (logisch unter der Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ erfaßten) durchschnittlichen objektiven Gelten der Chance und den jeweils durchschnittlichen subjektiven Erwartungen gegenseitig die Beziehung der verständlich adäquaten Verursachtheit. – Das subjektive Orientieren des Handelns am Einverständnis kann, ebenso wie bei der Vereinbarung, im Einzelfall nur scheinbar oder nur annähernd vorliegen, und das wird auf den Grad und die Eindeutigkeit der empirischen Geltungschancen nicht ohne Wirkung bleiben. Die einzelnen durch Einverständnis Vergemeinschafteten können absichtsvoll einverständniswidrig, ganz ebenso wie die Vergesellschafteten vereinbarungswidrig handeln. Wie bei der Vergesellschaftung der „Dieb“ unseres Beispiels, so kann z. B. beim Herrschafts-Einverständnis der „Ungehorsame“ dennoch an dessen, [423]subjektiv erfaßten, Sinngehalt sein Handeln (durch Verhehlung) orientieren. Der Begriff „Einverständnis“ darf daher auch in subjektiver Hinsicht nicht etwa verwechselt werden mit der „Zufriedenheit“ der Beteiligten über dessen empirische Geltung. Furcht vor üblen Folgen kann das „Sichfügen“ in den durchschnittlichen Sinngehalt einer Gewaltherrschaftsbeziehung ganz ebenso bedingen wie das Eingehen einer dem Einzelnen unerwünschten „freien“ Vereinbarung. Dauernde Unzufriedenheit gefährdet freilich die Chancen des empirischen Bestandes, hebt aber das Einverständnis so lange nicht auf, als der Gewaltherrscher auf eine (dem durchschnittlich erfaßten Sinn entsprechende) Befolgung seiner Befehle zählen zu können objektiv eine relevante Chance hat. Warum? ist insofern [A 280]wichtig, als – ganz wie bei der Vergesellschaftung – die bloße Orientiertheit an den „Erwartungen“ des Verhaltens des oder der Anderen (z. B. bloße „Furcht“ der „Gehorchenden“ vor dem „Herrn“) den Grenzfall und ein hohes Maß von Labilität bedeutet, da die „Erwartungen“ auch hier um so mehr objektiv „begründet“ sind, je mehr mit Wahrscheinlichkeit darauf gezählt werden kann, daß die „Einverstandenen“ durchschnittlich ein (subjektiv) „einverständnisgemäßes“ Handeln als für sie (gleichviel warum) „verbindlich“ ansehen werden. Auch Vereinbarungen „gelten“ letztlich kraft dieses (Legalitäts-)Einverständnisses. Geltendes Einverständnis darf dabei nicht mit „stillschweigender Vereinbarung“ identifiziert werden. Natürlich führt von der explicite vereinbarten Ordnung zum Einverständnis eine Skala von Übergängen, auf welcher sich auch ein solches Verhalten findet, welches die Beteiligten durchschnittlich gegenseitig als eine stillschweigend vereinbarte Ordnung praktisch behandeln. Dies bietet aber prinzipiell gegenüber der ausdrücklichen Vereinbarung keine Besonderheit. Und eine „undeutliche“ Vereinbarung ist empirisch eine nach den jeweils verbreiteten Deutungsgewohnheiten der Chance verschiedener praktischer Konsequenzen besonders stark ausgesetzte Ordnung. Dagegen das „geltende“ Einverständnis in seinem reinen Typus enthält nichts mehr von Satzung oder, speziell, von Vereinbarung. Die durch Einverständnis Vergemeinschafteten können unter Umständen persönlich nie etwas voneinander gewußt haben, und dabei kann dennoch das Einverständnis sogar eine empirisch fast unverbrüchlich geltende „Norm“ darstellen: so beim sexuellen Verhalten zwischen erstmalig zusammentreffenden Mitgliedern [424]einer exogamen Sippe, die sich ja oft weithin durch politische und selbst sprachverschiedene Gemeinschaften hindurch erstreckt. Ebenso beim Geldgebrauch, wo das Einverständnis in der Chance des nach dem gemeinten Sinn bei dem betreffenden Tauschakt als Geld behandelten Gutes besteht, von einer unbekannten Vielzahl als „gültiges“ Mittel zur Zahlung von Schulden, d. h. zur Ableistung eines als „verbindlich“ geltenden Gemeinschaftshandelns behandelt zu werden.
Es gehört nicht jedes Gemeinschaftshandeln zur Kategorie des Einverständnishandelns, sondern erst jenes, welches durchschnittlich seine Orientierung eben auf die Chance des Einverständnisses gründet. Die soziale Absonderung von Rassegenossen also z. B. dann, wenn in irgendeinem relevanten Grade darauf gezählt werden darf, daß die Beteiligten sie im Durchschnitt wie ein verbindliches Verhalten praktisch behandeln werden. Sonst liegt, je nachdem, massenbedingtes oder einfaches Gemeinschaftshandeln der Einzelnen ohne Einver[A 281]ständnis vor. Die Flüssigkeit des Übergangs liegt auf der Hand. Besonders stark ist sie in Fällen wie bei der Festhaltung des Trunkenbolds oder der Nothilfe. Mehr als bloß faktisches Zusammenwirken durch einfaches Gemeinschaftshandeln liegt da bei den einzelnen Mithandelnden subjektiv nur dann vor, wenn das Handeln an irgendeinem als empirisch „geltend“ vorausgesetzten Einverständnis orientiert ist, also etwa: daß jeder Einzelne bei jenem aktuellen Zusammenhandeln so weit und so lange beteiligt zu bleiben sich verbunden halten werde, wie dies dem durchschnittlich erfaßten „Sinn“ desselben entspreche. Jene beiden Beispiele verhalten sich dabei graduell durchschnittlich verschieden: Nothilfehandeln mehr im Sinn des Bestehens einer Einverständnischance, also eines Einverständnishandelns, das andere mehr als bloß faktisch zusammenwirkendes Gemeinschaftshandeln. Und natürlich ist nicht jedes äußerlich als ein „Zusammenwirken“ sich präsentierende Verhalten mehrerer schon ein Gemeinschafts- oder gar ein Einverständnishandeln. Und ein äußerliches Zusammenhandeln gehört seinerseits andererseits keineswegs zum Begriff des Einverständnishandelns. Es fehlt z. B. in allen Fällen der sinnhaften Bezogenheit auf das Handeln unbekannter Dritter ganz. In ähnlicher Art wie in jenen beiden Beispielen unterscheidet sich graduell auch das Einverständnishandeln der Sippegenossen von dem auf das potentielle Handeln anderer Tauschreflektanten [425]bezogenen Gemeinschaftshandeln. Nur soweit, als im letzteren Fall die Erwartungen sich auf Chancen der durchschnittlichen Orientiertheit des fremden Handelns an angenommenen Gültigkeiten gründet, also normalerweise nur soweit sie „Legalitätserwartungen“ sind, konstituieren sie hier Einverständnis. Und nur insoweit ist also das Handeln Einverständnishandeln. Im übrigen nur: einverständnisbedingtes Gemeinschaftshandeln. Andererseits zeigt schon das Beispiel der Nothilfe, daß das „Einverständnis“ zum Inhalt auch eine ganz konkrete Zweckbezogenheit ohne abstrakten „Regel“-Charakter haben kann. Es kann aber auch in Fällen, wo wir ein „Perennieren“ einer und derselben Einverständnisvergemeinschaftung, etwa einer „Freundschaft“, annehmen, ein fortwährend inhaltlich wechselnder und nur durch Bezugnahme auf einen idealtypisch konstruierbaren, von dem jeweils Handelnden irgendwie als geltend behandelten, perennierenden Sinngehalt angebbarer Inhalt sein. Auch dieser kann bei bleibender Identität der Personen wechseln: dann ist es auch hier durchaus Frage der Zweckmäßigkeit, ob man die nunmehrige Beziehung als veränderte „Fortsetzung“ oder als „neu“ bezeichnen will. Dies Beispiel, und erst recht etwa das einer erotischen Beziehung, zeigt ferner, daß selbstverständlich die das Einverständnis konstituierenden Sinn[A 282]bezogenheiten und „Erwartungen“ nicht im mindesten den Charakter eines zweckrationalen Kalküls und einer Orientierung an rational konstruierbaren „Ordnungen“ haben müssen. Die „geltende“ Orientiertheit an „Erwartungen“ besagt beim Einverständnis vielmehr lediglich: daß der Eine durchschnittlich sein eigenes Verhalten auf einen bestimmten mehr oder minder häufig als „gültig“ angenommenen, aber dabei vielleicht höchst irrationalen Sinngehalt des (inneren oder äußeren) Verhaltens des Anderen einstellen zu können die Chance hat. Durchaus eine Frage des Einzelfalls ist es daher auch, ganz ebenso wie bei der Vergesellschaftung: inwieweit aus dem durchschnittlich etwa in „Regeln“ angebbaren Sinngehalt des Einverständnisses durchschnittlich generelle Regel-mäßigkeiten des praktischen Verhaltens folgen. Denn auch hier ist das einverständnisbedingte Handeln nicht mit dem Einverständnishandeln identisch. „Standeskonvention“ z. B. ist ein Einverständnishandeln, konstituiert durch dasjenige Verhalten, welches jeweils durchschnittlich als obligatorisch empirisch „gilt“: Durch das „Geltungs“-Einverständnis unterscheidet sich die „Konvention“ [426]von der bloßen, auf irgend einer „Eingeübtheit“ und gewohnten „Eingestelltheit“ beruhenden „Sitte“, wie durch das Fehlen des Zwangsapparats vom „Recht“, – natürlich nach beiden Seiten flüssig. Eine Standeskonvention kann nun aber faktische Konsequenzen für das Verhalten der Teilhaber herbeizuführen geeignet sein, welche empirisch nicht als einverständnismäßig obligatorisch gelten. Feudale Konventionen z. B. können die Auffassung des Handels als widersittlich bedingen und infolgedessen eine Herabsetzung des Maßes der eigenen Legalität im Verkehr mit Händlern herbeiführen.
Gänzlich verschiedene subjektive Motive, Zwecke und „innere Lagen“, zweckrational oder „nur psychologisch“ verständliche, können als Resultante ein seiner subjektiven Sinnbezogenheit nach gleiches Gemeinschaftshandeln, und ebenso ein seiner empirischen Geltung nach gleiches „Einverständnis“ erzeugen. Reale Grundlage des Einverständnishandelns ist lediglich eine auf die je nachdem verschieden eindeutige Geltung des „Einverständnisses“ und nichts anderes hinwirkende Konstellation „äußerlicher“ oder „innerlicher“ Interessen, deren Bestand durch untereinander im übrigen sehr heterogene innere
v
[426]A: inneren
Lagen und Zwecke der Einzelnen bedingt sein kann. Damit ist natürlich nicht etwa geleugnet, daß für die einzelnen nach der vorwaltenden subjektiven „Sinnrichtung“ zu scheidenden Arten von Gemeinschaftshandeln sowohl wie speziell von Einverständnishandeln sich recht wohl Motive, Interessen und „innere
a
A: „inneren
Lagen“ inhaltlich angeben lassen, welche durchschnittlich am häufigsten deren Entstehung und Fortbestand begründen. Eben diese Feststellung ist ja eine [A 283]der Aufgaben jeder inhaltlichen Soziologie. Solche ganz allgemeine Begriffe aber, wie sie hier zu definieren waren, sind notwendig inhaltsarm. Flüssig ist natürlich der Übergang vom Einverständnishandeln zum Gesellschaftshandeln – welches ja lediglich den durch Satzung geordneten Spezialfall darstellt. So geht das Einverständnishandeln von Trambahnpassagieren, welche in einem Konflikt eines anderen Passagiers mit dem Schaffner für jenen „Partei ergreifen“, in Gesellschaftshandeln über, wenn sie sich nachher etwa zu einer gemeinsamen „Beschwerde“ verbinden. Und vollends wo immer zweckrational eine Ordnung geschaffen wird, ist „Vergesellschaf[427]tung“ vorhanden, wenn auch in höchst verschiedenem Umfang und Sinn. So entsteht Vergesellschaftung schon, wenn etwa für die sich einverständnismäßig, aber ohne Vereinbarung, „absondernden“ Rassegenossen eine „Zeitschrift“ mit „Verlegern“, „Herausgebern“, „Mitarbeitern“, „Abonnenten“ gegründet wird, von der aus nun das bisher amorphe Einverständnishandeln „Direktiven“ mit verschieden großen Geltungschancen empfängt. Oder wenn für eine Sprachgemeinschaft eine „Akademie“ nach Art der Crusca
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[427] Gemeint ist die Accademia della Crusca, ein in Florenz 1582 gegründeter Verein, der sich mit seiner Satzung das Ziel setzte, die italienische Sprache zu reinigen und von fremden Einflüssen frei zu halten.
und „Schulen“, in denen grammatische Regeln gelehrt werden, entstehen. Oder für die „Herrschaft“ ein Apparat von rationalen Ordnungen und Beamten. Und umgekehrt pflegt fast jeder Vergesellschaftung ein über den Umkreis ihrer rationalen Zwecke hinaus übergreifendes („vergesellschaftungsbedingtes“) Einverständnishandeln zwischen den Vergesellschafteten
b
[427]A: Vergesellschaften
zu entspringen. Jeder Kegelklub hat für das Verhalten der Teilnehmer zueinander „konventionelle“ Konsequenzen, d. h. er stiftet außerhalb der Vergesellschaftung liegendes an „Einverständnis“ orientiertes Gemeinschaftshandeln.
Der einzelne Mensch ist nun bei seinem Handeln fortwährend an zahlreichem und immer anderem Gemeinschaftshandeln, Einverständnishandeln und Gesellschaftshandeln beteiligt. Sein Gemeinschaftshandeln kann denkbarerweise in jedem einzelnen Akt auf einen anderen Umkreis fremden Handelns und auf andere Einverständnisse und Vergesellschaftungen sinnhaft bezogen sein. Je zahlreicher und mannigfaltiger nach der Art der für sie konstitutiven Chancen nun die Umkreise sind, an denen der einzelne sein Handeln rational orientiert, desto weiter ist die „rationale gesellschaftliche Differenzierung“ vorgeschritten, je mehr es den Charakter der Vergesellschaftung annimmt, desto weiter die „rationale gesellschaftliche Organisation“. An einer Vielzahl von Arten des Gemeinschaftshandelns
c
A: Gemeinschaftshandeln
kann dabei der einzelne natürlich auch durch ein und denselben Akt seines Handelns beteiligt sein. Ein Tauschakt, den jemand mit X, dem Bevollmächtigten von Y, vollzieht, der etwa seinerseits „Organ“ eines Zweck[A 284]vereins ist, enthält [428]1. eine Sprach- und 2. Schriftvergesellschaftung, 3. eine Tauschvergesellschaftung mit X persönlich, 4. eine solche mit Y persönlich, 5. eine solche mit dem Gesellschaftshandeln der an jenem Zweckverein Beteiligten; 6. ist der Tauschakt in seinen Bedingungen an den Erwartungen des potentiellen Handelns anderer Tauschreflektanten (Konkurrenten von beiden Seiten) und an den entsprechenden Legalitätseinverständnissen mit orientiert usw. Eine Handlung muß zwar Gemeinschaftshandeln darstellen, um Einverständnishandeln zu sein, nicht aber um einverständnisorientiert zu sein. Jede Disposition über Vorräte und Besitztümer eines Menschen ist, ganz abgesehen davon, daß sie normalerweise erst durch die Chance des Schutzes, welchen der Zwangsapparat der politischen Gemeinschaft gewährt, möglich wird, auch dann und soweit einverständnisorientiert, als sie im Hinblick auf die Möglichkeit der Veränderung der eigenen Vorräte durch Tausch nach außen erfolgt. Vollends eine geldwirtschaftliche „Privatwirtschaft“ umschließt eitel Gesellschafts-, Einverständnis- und Gemeinschaftshandeln. Nur der rein theoretische Grenzfall: die Robinsonade, ist von allem Gemeinschaftshandeln und daher auch von allem einverständnisorientierten Handeln völlig frei. Denn sie ist sinnhaft lediglich auf die Erwartungen des Verhaltens der Naturobjekte bezogen. Ihre bloße Denkbarkeit genügt daher, um deutlich zu illustrieren: daß nicht alles „wirtschaftliche“ Handeln schon begrifflich Gemeinschaftshandeln in sich schließt. Der Sachverhalt ist vielmehr ganz generell der: daß gerade die begrifflich „reinsten“ Typen in den einzelnen Sphären des Handelns jenseits des Gemeinschaftshandelns und der Einverständnisse liegen, auf dem Gebiet des Religiösen ebenso wie in der Wirtschaft, der wissenschaftlichen und künstlerischen Konzeption. Der Weg der „Objektivation“ führt nicht notwendig, freilich aber der Regel nach schnell zum Gemeinschaftshandeln und, wenn auch nicht notwendig immer, so doch in aller Regel speziell zum Einverständnishandeln.
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[428] Hier kommt die Robinsonade nicht als – umstrittenes – Denkmittel der ökonomischen und soziologischen Theorie in den Blick. Sie motiviert Weber vielmehr zu der Bemerkung, daß nicht nur hinsichtlich der Ökonomie, sondern aller Wertsphären der spezifische Sinngehalt sich in seiner reinsten Form zeige, bevor er objektiviert und so für gesellschaftliche Handlungszusammenhänge bestimmend werde. Das ist ein paradox erscheinender, für die Verstehende Soziologie aber offenbar konstitutiver Gedanke.
[429]Ganz und gar nicht darf man, nach allem Gesagten, Gemeinschaftshandeln, Einverständnis und Vergesellschaftung etwa mit der Vorstellung eines „Mit- und Füreinander“ im Gegensatz zu einem „Gegeneinander“ identifizieren. Nicht nur selbstverständlich die ganz amorphe Vergemeinschaftung, sondern auch „Einverständnis“ ist für uns durchaus nicht identisch mit „Exklusivität“ gegen andere. Ob ein Einverständnishandeln „offen“ ist, d. h. jederzeit jedem, der da will, die Beteiligung möglich ist, oder ob und in welchem Maße es „geschlossen“ ist, d. h. die Beteiligten die Teilnahme daran für Dritte, rein einverständnismäßig oder durch Vergesellschaftung, unmöglich machen, ist Frage des Einzelfalles. Eine konkrete Sprachgemeinschaft oder Marktgemeinschaft haben jeweils irgendwo (meist: flüssige) [A 285]Grenzen. D.h. jeweils kann normalerweise nicht jeder überhaupt existierende Mensch bei den „Erwartungen“ als – aktueller und potentieller – Teilhaber des Einverständnisses in Betracht gezogen werden, sondern nur eine, oft höchst unbestimmt zu begrenzende, Vielheit. Aber die Sprachgemeinschaftsbeteiligten z. B. haben normalerweise kein Interesse am Ausschluß Dritter vom Einverständnis (wohl natürlich, je nach Umständen, an einer konkreten Konversation), und auch die Marktinteressenten sind oft gerade an der „Erweiterung“ des Marktes interessiert. Dennoch können sowohl eine Sprache (als sakrale, ständische oder Geheimsprache) wie ein Markt monopolistisch durch Einverständnis und Vergesellschaftung „geschlossen“ werden. Und andererseits kann selbst die normalerweise durch Vergesellschaftung geschlossene Beteiligung am spezifischen Gemeinschaftshandeln konkreter politischer Machtgebilde, gerade im Machtinteresse, weitgehend [für „Einwanderer“]
d
[429] [ ] in A.
offengehalten werden.
Die am Einverständnishandeln Beteiligten können mit diesem ein gemeinsames gegen außen gerichtetes Interesse verfolgen. Aber dies ist nicht nötig. Einverständnishandeln ist nicht gleich „Solidarität“, und auch Gesellschaftshandeln ist keineswegs ein exklusiver Gegensatz zu demjenigen Gemeinschaftshandeln von Menschen, welches wir „Kampf“ nennen, d. h. – ganz allgemein – dem Streben, den eigenen Willen gegen einen widerstrebenden anderen, unter Orientierung an den Erwartungen des Verhaltens [430]des Andern, durchzusetzen. Der Kampf durchzieht vielmehr potentiell alle Arten von Gemeinschaftshandeln überhaupt. Inwieweit z. B. ein Akt der Vergesellschaftung den Ausdruck der Solidarität gegen Dritte oder ein Interessenkompromiß oder nur eine aus irgendwelchen Gründen den Beteiligten erwünscht gewesene Verschiebung der Kampfformen und Kampfgegenstände dem durchschnittlich (aber vielleicht individuell verschieden) subjektiv gemeinten Zweck nach praktisch bedeutet, ist Sache des Einzelfalls. Oft von jedem etwas. Es gibt keinerlei Einverständnisgemeinschaft, einschließlich der mit schrankenlosestem Hingabegefühl verknüpften, wie etwa erotischer oder charitativer Beziehungen, welche nicht, jenem Gefühl zum Trotz, rücksichtsloseste Vergewaltigung des anderen in sich schließen könnte. Und die Mehrzahl aller „Kämpfe“ schließt andererseits irgend ein Maß von Vergesellschaftung oder Einverständnis ein. Es liegt hier der bei soziologischen Begriffen häufige Fall vor, daß deren Tatbestände sich teilweise überdecken, und zwar vermöge der gleichen, nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus angesehenen, Merkmale. Der von jeglicher Art von Vergemeinschaftung mit dem Gegner ganz freie Kampf ist nur ein Grenzfall. Von einem Mongolensturm etwa ausgehend, über die heutige, „völ[A 286]kerrechtlich“, sei es noch so prekär, mitbedingte Art der Kriegsführung, weiter über die ritterliche Fehde, wo die zulässigen Waffen und Kampfmittel geregelt werden („Messieurs les Anglais, tirez les premiers“),
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[430] In der Schlacht von Fontenoy 1745 soll der französische Leutnant auf die Aufforderung des englischen Offiziers, den Kampf zu beginnen, gesagt haben: „Non, Monsieurs, nous ne tirons jamais les premiers“, vgl. Carlyle, Thomas, Geschichte Friedrichs II. von Preußen genannt Friedrich der Grosse, 4. Band. – Berlin: Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei 1866, S. 126 f. Weber verwendet dieses Beispiel auch in: Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 234.
zum geregelten gerichtlichen Zweikampf und zur freundschaftlichen „Bestimmungsmensur“, die schon dem sportlichen „Wettkampf“ zugehört, finden wir stufenweise zunehmende Fragmente einer Einverständnis-Vergemeinschaftung der Kämpfer, und wo der gewaltsame Kampf in „Konkurrenz“, sei es um olympische Kränze oder Wahlstimmen oder sonstige Machtmittel oder um soziale Ehre oder Gewinn übergeht, vollzieht er sich durchaus auf dem Boden einer rationalen Vergesellschaftung, deren Ordnungen dabei als „Spielregeln“ dienen, welche die Kampfformen bestimmen, damit aber [431]auch die Kampfchancen verschieben. Die von Stufe zu Stufe zunehmende „Befriedung“ im Sinn des Zurücktretens physischer Gewaltanwendung schiebt diese nur zurück, ohne jemals den Appell an sie ganz auszuschalten. Nur ist im Verlauf der historischen Entwicklung ihre Anwendung zunehmend von dem Zwangsapparat einer bestimmten Art von Vergesellschaftung oder Einverständnis-Gemeinschaft: der politischen, monopolisiert und in die Form der geordneten Zwangsandrohung durch die Mächtigen und schließlich durch eine formell sich neutral gebärdende Gewalt verwandelt worden. Der Umstand, daß „Zwang“, physischer oder psychischer Art, irgendwie fast allen Vergemeinschaftungen zugrunde liegt, hat uns nun noch kurz, aber nur soweit als es zur Ergänzung der bisherigen idealtypischen Begriffe erforderlich ist, zu beschäftigen.

VII.

Ein Sachverhalt ist uns in den gelegentlich verwerteten Beispielen schon mehrfach begegnet und jetzt noch spezieller herauszuheben: der Fall nämlich, daß jemand „ohne sein Zutun“ an einer Einverständnisgemeinschaft beteiligt wird und bleibt. Das ist bei einem amorphen Einverständnishandeln – etwa des „Sprechens“ – etwas keiner weiteren Erörterung Bedürftiges. Denn Jeder ist jeweilig an ihm „beteiligt“, dessen jeweiliges Handeln der von uns als Merkmal angenommenen Voraussetzung (Einverständnis) entspricht. Aber nicht immer so einfach liegt es im übrigen. Es wurde oben als Idealtypus der „Vergesellschaftung“ der auf einer ausdrücklichen Vereinbarung von Mitteln, Zwecken, Ordnungen beruhende rationale „Zweckverein“ hingestellt. Dabei wurde nun schon festgestellt: daß und in welchem Sinn ein solcher als ein trotz des Wechsels der Beteiligten perennierendes Gebilde angesehen werden kann. Immerhin war noch vorausgesetzt, daß die „Beteiligung“ der Einzelnen: die im [A 287]Durchschnitt begründete Erwartung, daß Jeder sein Handeln an der Ordnung orientiere, auf besonderer rationaler Vereinbarung mit allen Einzelnen beruhe. Es gibt aber sehr wichtige Vergesellschaftungsformen, bei denen das Gesellschaftshandeln in weitgehendem Maße wie beim Zweckverein rational durch von Menschen geschaffene Satzungen nach Mitteln und Zwecken geordnet, also „vergesellschaftet“ ist und innerhalb deren dennoch [432]geradezu als Grundvoraussetzung ihres Bestandes gilt: daß der Einzelne normalerweise in die Beteiligung am Gesellschaftshandeln und also in die Mitbetroffenheit von jenen Erwartungen der Orientiertheit seines Handelns
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[432]A: Handeln
an jenen von Menschen geschaffenen Ordnungen ohne sein Zutun hineingerät. Das für sie konstitutive Gemeinschaftshandeln ist gerade dadurch charakterisiert: daß beim Vorliegen gewisser objektiver Tatbestände bei einer Person von dieser die Beteiligung am Gemeinschaftshandeln, insbesondere also die Orientierung ihres Handelns an den Ordnungen erwartet, und zwar im Durchschnitt deshalb mit Recht erwartet wird, weil die betreffenden Einzelnen empirisch als zur Teilnahme an dem für die Gemeinschaft konstitutiven Gemeinschaftshandeln „verpflichtet“ gelten und weil die Chance besteht, daß sie eventuell auch gegen ihren Widerstand dazu (sei es auch in noch so gelinder Form) angehalten werden durch einen „Zwangsapparat“. Die Tatbestände, an welche jene Erwartung in einem besonders wichtigen Fall: der politischen Gemeinschaft, sich knüpft, sind z. B. vor allem: Abstammung von bestimmten Personen oder Geburt und unter Umständen sogar bloßer Aufenthalt oder doch schon bestimmte Handlungen innerhalb eines bestimmten Gebiets. Die normale Art des Eintritts des Einzelnen in die Gemeinschaft ist dann: daß er in die Beteiligung „hineingeboren“ und „hineinerzogen“ wird. Wir wollen solche Gemeinschaften, bei denen dieser Sachverhalt, also: 1. im Gegensatz zum freiwilligen „Zweckverein“: die Zurechnung auf Grund rein objektiver Tatbestände unabhängig von Erklärungen der Zugerechneten, – 2. im Gegensatz zu den einer absichtsvollen rationalen Ordnung entbehrenden, in dieser Hinsicht also amorphen Einverständnisvergemeinschaftungen, die Existenz solcher rationaler von Menschen geschaffener Ordnungen und eines Zwangsapparates als einer das Handeln mitbestimmenden Tatsache, als „Anstalten“ bezeichnen. Nicht jede Gemeinschaft also, in die man normalerweise hineingeboren und -erzogen wird, ist „Anstalt“: nicht z. B. die Sprachgemeinschaft oder die Hausgemeinschaft. Denn beide entbehren derartiger rationaler Satzungen. Wohl aber diejenige Strukturform der politischen Gemeinschaft, welche man als „Staat“ und z. B. diejenige der religiösen, welche [433]man im strengen technischen Sinn als „Kirche“ zu bezeichnen pflegt.
[A 288]Wie das an einer rationalen Vereinbarung orientierte Gesellschaftshandeln
f
[433]A: Gesellschafthandeln
zum Einverständnishandeln, so verhält sich die Anstalt mit ihren rationalen Satzungen zum „Verband“. Als Verbandshandeln gilt uns ein nicht an Satzung, sondern an Einverständnis orientiertes, also: ein Einverständnishandeln, bei welchem 1. die Zurechnung des Einzelnen zur Teilnahme einverständnismäßig ohne sein eigenes darauf zweckrational gerichtetes Zutun erfolgt und bei welchem ferner 2. trotz des Fehlens einer darauf abgezweckten gesatzten Ordnung dennoch jeweils bestimmte Personen (Gewalthaber) einverständnismäßig wirksame Ordnungen für das Handeln der einverständnismäßig zum Verband gerechneten Beteiligten erlassen, wenn ferner 3. sie selbst oder andere Personen sich zur eventuellen Ausübung von physischem oder psychischem, wie immer geartetem, Zwang gegen einverständniswidrig sich verhaltende Teilnehmer bereit halten. Stets handelt es sich natürlich, wie bei allem „Einverständnis“, um durchschnittlich eindeutig verstandenen Sinngehalt und wandelbare Durchschnittschancen der empirischen Geltung. Die urwüchsige „Hausgemeinschaft“, bei welcher der „Hausherr“ – ebenso ein der rationalen Satzung entbehrendes „patrimoniales“ politisches Gebilde, bei welchem der „Fürst“, – ebenso eine Gemeinschaft eines „Propheten“ mit „Jüngern“, bei welcher der erstere, – eine nur einverständnismäßig bestehende religiöse „Gemeinde“, bei welcher etwa ein erblicher „Hierarch“ der Gewalthaber ist, – sind „Verbände“ von leidlich reinem Typus. Der Fall bietet prinzipiell sonst gegenüber dem anderweiten „Einverständnishandeln“ keine Besonderheiten, und dessen ganze Kasuistik ist sinngemäß darauf anwendbar. In der modernen Zivilisation ist nun fast alles Verbandshandeln mindestens partiell durch rationale Ordnungen – die „Hausgemeinschaft“ z. B. heteronom durch das von der Staatsanstalt gesatzte „Familienrecht“ – irgendwie geordnet. Der Übergang zur „Anstalt“ ist also flüssig. Dies umsomehr, als es andrerseits nur sehr wenige „reine“ Typen von Anstalten gibt. Denn je vielseitiger das sie konstituierende Anstaltshandeln ist, desto regelmäßiger ist jeweils nicht dessen Gesamtheit zweckrational durch Satzung geordnet. [434]Diejenigen Satzungen z. B., welche für das Gesellschaftshandeln politischer Anstalten – wir nehmen ad hoc an: durchweg zweckrational – geschaffen werden und den Namen „Gesetze“ führen, greifen, in aller Regel wenigstens, zunächst nur fragmentarisch Tatbestände heraus, deren rationale Ordnung von irgend welchen Interessenten jeweils erstrebt wird. Das tatsächlich den Bestand des Gebildes konstituierende Einverständnishandeln übergreift also nicht nur normalerweise ihr an zweckrationalen Satzungen orientierbares Gesell[A 289]schaftshandeln, wie dies ja auch bei den meisten Zweckvereinen der Fall ist, sondern es ist auch normalerweise dem letzteren gegenüber das ältere. Das „Anstaltshandeln“ ist der rational geordnete Teil eines „Verbandshandelns“, die Anstalt ein partiell rational geordneter Verband. Oder – der Übergang ist soziologisch angesehen durchaus flüssig – die Anstalt ist zwar eine völlig rationale „Neuschöpfung“, aber doch nicht in einem gänzlich „verbandsleeren“ Geltungsbereich. Sondern es wird schon vorher bestehendes Verbandshandeln oder verbandsgeregeltes Handeln, z. B. unter „Annexion“ oder Vereinigung der bisherigen Verbände zur neuen Gesamtanstalt, vermittelst einer Serie von darauf gerichteten Satzungen entweder gänzlich neuen Ordnungen für das verbandsbezogene oder aber für das verbandsgeregelte Handeln oder für beides unterstellt; oder es wird nur ein Wechsel des Verbandes, auf den das Handeln nunmehr zu beziehen bzw. als durch dessen Ordnungen betroffen es anzusehen ist, oder nur ein Wechsel des Personals der Anstaltsorgane und speziell des Zwangsapparates vorgenommen.
Die Entstehung neuer Anstalts-Satzungen jeder Art nun vollzieht sich durchweg, mag sie mit einem als „Neuschöpfung“ einer Anstalt zu betrachtenden Hergang verbunden sein oder im normalen Verlauf des Anstaltshandelns geschehen, nur in den allerseltensten Fällen durch autonome „Vereinbarung“ aller an demjenigen künftigen Handeln, für welches nach dem durchschnittlich gemeinten Sinn Loyalität gegenüber der Satzung erwartet wird, Beteiligten. Sondern fast ausschließlich durch „Oktroyierung“. Diese bedeutet: Bestimmte Menschen proklamieren eine Satzung als für das verbandsbezogene oder verbandsgeregelte Handeln geltend, und die Anstaltsgenossen (oder der Anstaltsmacht Unterworfenen) fügen sich dem tatsächlich mehr oder minder vollständig durch mehr oder minder eindeutige sinnhaft loyale Orientierung [435]ihres Handelns daran. Das besagt: die gesatzte Ordnung tritt bei den Anstalten in empirische Geltung in Gestalt von „Einverständnis“. Dies ist auch hier wohl zu unterscheiden von „Einverstandensein“ oder so etwas wie „stillschweigender Vereinbarung“. Vielmehr ist es auch hier zu verstehen als die Durchschnittschance, daß die nach (durchschnittlichem) Sinnverständnis als von der oktroyierten Satzung betroffen „Gemeinten“ sie auch tatsächlich – begrifflich einerlei, ob aus Furcht, religiösem Glauben, Pietät gegen den Herrscher, oder rein zweckrationaler Erwägung oder welchen Motiven auch immer – praktisch als „gültig“ für ihr Verhalten behandeln, ihr Handeln also daran, im Durchschnitt im Sinn der Satzungsgemäßheit, orientieren werden. – Die Oktroyierung kann von „Anstaltsorganen“ durch ihr spezifisches, kraft Einverständ[A 290]nisses empirisch geltendes, satzungsgemäßes Anstaltshandeln geschaffen werden (autonome Oktroyierung), wie etwa die Gesetze einer nach außen ganz oder teilweise autonomen Anstalt (z. B. eines „Staats“). Oder sie kann „heteronom“, von außen her, z. B. etwa für das Gesellschaftshandeln der Genossen einer Kirche oder Gemeinde oder eines sonstigen anstaltsmäßigen Verbandes durch Oktroyierung seitens eines anderen, z. B. eines politischen Verbandes, erfolgen, der sich die an der heteronom geordneten Gemeinschaft Beteiligten in ihrem Gemeinschaftshandeln fügen.
Die ganz überwältigende Mehrzahl aller Satzungen sowohl von Anstalten wie von Vereinen ist dem Ursprung nach nicht vereinbart, sondern oktroyiert, das heißt: von Menschen und Menschengruppen, welche aus irgendwelchem Grunde faktisch das Gemeinschaftshandeln nach ihrem Willen zu beeinflussen vermochten, diesem auf Grund von „Einverständniserwartung“ auferlegt. Diese faktische Macht der Oktroyierung kann nun ihrerseits als gewissen, persönlich oder nach Merkmalen bestimmten oder nach Regeln (z. B. durch Wahl) auszulesenden, Menschen zukommend einverständnismäßig empirisch „gelten“. Dann kann man diese empirisch geltenden, weil im faktischen Durchschnitt hinlänglich das Handeln der Beteiligten bestimmenden, Prätensionen und Vorstellungen von einer „geltenden“ Oktroyierungsgewalt die „Verfassung“ der betreffenden Anstalt nennen. Sie ist in sehr verschiedenem Umfang in rationalen ausdrücklichen Satzungen niedergelegt. Oft gerade die praktisch wichtigsten Fragen nicht, und zwar zuweilen auch, aus hier nicht zu erörternden Gründen, absichtlich nicht. Sat[436]zungen geben daher über die empirisch geltende, letztlich stets auf verbandsmäßigem „Einverständnis“ ruhende, Oktroyierungsgewalt nur unsicheren Aufschluß. Denn in Wahrheit ist natürlich die jeweils nur abschätzbare Chance: welchen Menschen, inwieweit und in welchen Hinsichten, sich letztlich die nach der üblichen Deutung jeweils gemeinten Zwangsbeteiligten praktisch durchschnittlich „fügen“ würden, der entscheidende Inhalt desjenigen „Einverständnisses“, welches die wirklich empirisch geltende „Verfassung“ darstellt. Die Urheber zweckrationaler Verfassungen können durch diese die Oktroyierung von bindenden Satzungen auch z. B. an die Zustimmung der Mehrheit der Genossen oder der Mehrheit gewisser nach bestimmten Merkmalen bezeichneter oder nach Regeln auszulesender Personen knüpfen. Auch das bleibt der Minderheit gegenüber natürlich durchaus eine „Oktroyierung“, wie die vielfach auch bei uns im Mittelalter verbreitet gewesene und z. B. im russischen Mir
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[436] Der russische Mir bezeichnet die Gemeinsamkeit des Bodenbesitzes einer bäuerlichen Gemeinde. Die Teilhaber der Dorfgemeinschaft haben ein Nutzungsrecht am immer wieder neu umzuverteilenden Boden und die Pflicht, den ihnen zugewiesenen Teil auch zu bewirtschaften, da die Gemeinde als ganze bis Anfang des 20. Jahrhunderts für die Steuern zu haften hatte.
bis an die Schwelle der Gegenwart herrschende Auffassung noch nicht vergessen hatte: daß eine [A 291]„gültige“ Satzung eigentlich (trotz des offiziell schon bestehenden Majorisierungsprinzips) die persönliche Zustimmung aller derjenigen erfordere, die sie binden solle.
Der Sache nach aber beruht jegliche Oktroyierungsmacht auf einem spezifischen, in seinem Umfang und seiner Art jeweils wechselnden Einfluß – der „Herrschaft“ – konkreter Menschen (Propheten, Könige, Patrimonialherren, Hausväter, Älteste oder anderer Honoratioren, Beamten, Partei- oder anderer „Führer“ von höchst wichtig verschiedenem soziologischem Charakter) auf das Verbandshandeln der Andern. Dieser Einfluß ruht wiederum auf charakteristisch verschiedenen Motiven, darunter auch auf der Chance der Anwendung von physischem oder psychischem Zwang
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[436]A: Zwangs
irgendwelcher Art. Aber auch hier gilt: daß das bloß an Erwartungen (insbesondere: „Furcht“ der Gehorchenden) orientierte Einverständnishandeln nur den relativ labilen Grenzfall bildet. Die Chance der empirischen Geltung des Einverständnisses wird auch [437]hier unter sonst gleichen Umständen umso höher zu veranschlagen sein, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden kann, daß die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich „verbindlich“ auch subjektiv ansehen. Soweit dies durchschnittlich oder annähernd der Fall ist, so weit ruht „Herrschaft“ auf dem „Legitimitäts“-Einverständnis. Die Herrschaft als wichtigste Grundlage fast alles Verbandshandelns, deren Problematik hier einsetzt, ist notwendig ein Objekt gesonderter[,] hier nicht zu erledigender Betrachtung. Denn für ihre soziologische Analyse kommt es entscheidend auf die verschiedenen möglichen, subjektiv sinnhaften, Grundlagen jenes „Legitimitäts“-Einverständnisses an, welches überall da, wo nicht nackte Furcht vor direkt drohender Gewalt die Fügsamkeit bedingt, in grundlegend wichtiger Art ihren spezifischen Charakter bestimmt. Dies Problem kann aber nicht nebenbei erörtert werden, und daher muß hier der naheliegende Versuch, nun den hier beginnenden „eigentlichen“ Problemen der soziologischen Verbands- und Anstaltstheorie nahezutreten, unterbleiben.
Der Weg der Entwicklung führt zwar im einzelnen immer wieder – wie wir dies früher sahen
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[437] Oben, S. 427.
– auch von konkreten rationalen zweckverbandsmäßigen Ordnungen zur Stiftung von „übergreifendem“ Einverständnishandeln. Aber im ganzen ist, im Verlauf der für uns übersehbaren geschichtlichen Entwicklung, zwar nicht eindeutig ein „Ersatz“ von Einverständnishandeln durch Vergesellschaftung, wohl aber eine immer weitergreifende zweckrationale Ordnung des Einverständnishandelns durch Satzung und insbesondere eine immer weitere [A 292]Umwandlung von Verbänden in zweckrational geordnete Anstalten zu konstatieren.
Was bedeutet nun aber die Rationalisierung der Ordnungen einer Gemeinschaft praktisch? Damit ein Kontorist oder selbst der Leiter eines Kontors die Vorschriften der Buchführung „kenne“ und sein Handeln an ihnen durch richtige – oder auch im Einzelfall, infolge von Irrtum oder Betrug, falsche – Anwendung orientiere, ist offenbar nicht erfordert, daß er die rationalen Prinzipien, an deren Hand jene Normen erdacht worden sind, gegenwärtig habe. Damit wir das Einmaleins „richtig“ anwenden, ist nicht notwendig, daß wir die algebraischen Sätze, welche z. B. der Subtrakti[438]ons-Maxime: „9 von 2 geht nicht, da borge ich mir 1“[,] zugrunde liegen, rational eingesehen haben. Die empirische „Geltung“ des Einmaleins ist ein Fall der „Einverständnisgeltung“. „Einverständnis“ und „Verständnis“ sind aber nicht identisch. Das Einmaleins wird uns als Kindern ganz ebenso „oktroyiert“ wie einem Untertan eine rationale Anordnung eines Despoten. Und zwar im innerlichsten Sinn, als etwas von uns in seinen Gründen und selbst Zwecken zunächst ganz Unverstandenes, dennoch aber verbindlich „Geltendes“. Das „Einverständnis“ ist zunächst also schlichte „Fügung“ in das Gewohnte, weil es gewohnt ist. Mehr oder minder bleibt es so. Nicht an der Hand rationaler Erwägungen, sondern an der Hand eingeübter (oktroyierter) empirischer Gegenproben stellt man fest, ob man einverständnismäßig „richtig“ gerechnet hat. Dies findet sich auf allen Gebieten wieder: so wenn wir einen elektrischen Trambahnwagen oder einen hydraulischen Lift oder eine Flinte sachgemäß benutzen, ohne von den naturwissenschaftlichen Regeln, auf denen ihre Konstruktion beruht, irgend etwas zu wissen, in welche selbst der Tramwagenführer und Büchsenmacher nur unvollkommen eingeweiht sein können. Kein normaler Konsument weiß heute aber nur ungefähr um die Herstellungstechnik seiner Alltagsgebrauchsgüter, meist nicht einmal darum, aus welchen Stoffen und von welcher Industrie sie produziert werden. Ihn interessieren eben nur die für ihn praktisch wichtigen Erwartungen des Verhaltens dieser Artefakte. Nicht anders steht es aber mit sozialen Institutionen, wie etwa dem Gelde. Wie dieses eigentlich zu seinen merkwürdigen Sonderqualitäten kommt, weiß der Geldgebraucher nicht, – da sich ja selbst die Fachgelehrten darüber heftig streiten. Ähnlich bei den zweckrational geschaffenen Ordnungen. Solange die Schaffung eines neuen „Gesetzes“ oder eines neuen Paragraphen der „Vereinsstatuten“ diskutiert wird, pflegen wenigstens die praktisch besonders stark davon berührten Interessenten den wirklich gemeinten „Sinn“ einer Neuordnung zu durch[A 293]schauen. Ist sie praktisch „eingelebt“, so kann dieser ursprünglich von den Schöpfern, mehr oder minder einheitlich, gemeinte Sinn so völlig vergessen oder durch Bedeutungswandel verdeckt werden, daß der Bruchteil der Richter und Anwälte, welche den „Zweck“, zu welchem verwickelte Rechtsnormen seinerzeit vereinbart oder oktroyiert worden sind, wirklich durchschauen, winzig ist, das „Publikum“ aber selbst die Tatsache des Geschaffenseins [439]und der empirischen „Geltung“ der Rechtsformen und also der daraus folgenden „Chancen“ gerade soweit kennt, als zur Vermeidung der allerdrastischsten Unannehmlichkeiten unvermeidlich ist. Mit steigender Kompliziertheit der Ordnungen und fortschreitender Differenzierung des gesellschaftlichen Lebens wird dieser Tatbestand immer universeller. Am besten kennen zweifellos den empirisch geltenden Sinn von gesatzten Ordnungen, d. h. die durchschnittlich daraus, daß sie einmal geschaffen wurden und nun in einer bestimmten Art durchschnittlich interpretiert und durch den Zwangsapparat garantiert sind, mit Wahrscheinlichkeit folgenden „Erwartungen“ gerade diejenigen, welche planvoll einverständniswidrig zu handeln, sie also zu „verletzten“ oder zu „umgehen“ beabsichtigen. Die rationalen Ordnungen einer Vergesellschaftung, sei sie Anstalt oder Verein, werden also von den Einen zu bestimmten unter sich wieder vielleicht sehr verschieden gedachten Zwecken oktroyiert oder „suggeriert“. Von den Zweiten, den „Organen“ der Vergesellschaftung, werden sie – jedoch nicht notwendig in Kenntnis jener Zwecke ihrer Schaffung – mehr oder minder gleichartig subjektiv gedeutet und aktiv durchgeführt. Von den Dritten werden sie, soweit für ihre Privatzwecke absolut nötig, subjektiv in verschiedener Annäherung an jene Art der üblichen Durchführung gekannt und zum Mittel der Orientierung ihres (legalen oder illegalen) Handelns gemacht, weil sie bestimmte Erwartungen bezüglich des Verhaltens anderer (der „Organe“ sowohl wie der Anstalts- oder Vereinsgenossen) erwecken. Von den Vierten aber, und das ist die „Masse“, wird ein dem durchschnittlich verstandenen Sinn in irgend einer Annäherung entsprechendes Handeln „traditionell“ – wie wir sagen – eingeübt und meist ohne alle Kenntnis von Zweck und Sinn, ja selbst Existenz, der Ordnungen innegehalten. Die empirische „Geltung“ grade einer „rationalen“ Ordnung ruht also dem Schwerpunkt nach ihrerseits wieder auf dem Einverständnis der Fügsamkeit in das Gewohnte, Eingelebte, Anerzogene, immer sich Wiederholende. Auf seine subjektive Struktur hin angesehen, hat das Verhalten oft sogar überwiegend den Typus eines mehr oder minder annähernd gleichmäßigen Massenhandelns ohne jede Sinnbezogenheit. Der Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung und [A 294]Rationalisierung bedeutet also, wenn auch nicht absolut immer, so im Resultat durchaus normalerweise, ein im ganzen immer weiteres Distan[440]zieren der durch die rationalen Techniken und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis, die ihnen, im ganzen, verborgener zu sein pflegt wie dem „Wilden“ der Sinn der magischen Prozeduren seines Zauberers. Ganz und gar nicht eine Universalisierung des Wissens um die Bedingtheiten und Zusammenhänge des Gemeinschaftshandelns bewirkt also dessen Rationalisierung, sondern meist das gerade Gegenteil. Der „Wilde“ weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn „Zivilisierte“. Und es trifft dabei auch nicht universell zu, daß das Handeln des „Zivilisierten“ durchweg subjektiv zweckrationaler ablaufe. Dies liegt vielmehr für die einzelnen Sphären des Handelns verschieden: ein Problem für sich. Was der Lage des „Zivilisierten“ in dieser Hinsicht ihre spezifisch „rationale“ Note gibt, im Gegensatz zu der des „Wilden“, ist vielmehr: 1. der generell eingelebte Glaube daran, daß die Bedingungen seines Alltagslebens, heißen sie nun: Trambahn oder Lift oder Geld oder Gericht oder Militär oder Medizin, prinzipiell rationalen Wesens, d. h. der rationalen Kenntnis, Schaffung und Kontrolle zugängliche menschliche Artefakte seien, – was für den Charakter des „Einverständnisses“ gewisse gewichtige Konsequenzen hat, – 2. die Zuversicht darauf, daß sie rational, d. h. nach bekannten Regeln und nicht, wie die Gewalten, welche der Wilde durch seinen Zauberer beeinflussen will, irrational funktionieren, daß man, im Prinzip wenigstens, mit ihnen „rechnen“, ihr Verhalten „kalkulieren“, sein eigenes Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren könne. Und hier liegt das spezifische Interesse des rationalen kapitalistischen „Betriebes“ an „rationalen“ Ordnungen, deren praktisches Funktionieren er in seinen Chancen ebenso berechnen kann wie das einer Maschine. Davon an anderer Stelle.