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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[148][A 575]„Energetische“ Kulturtheorien.
a
[148] In A folgt: Von Max Weber.

Ostwald, Wilhelm, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (Philosophisch-soziologische Bücherei, red. v. Rud[olf] Eisler, Wien, Band XVI). W. Klinkhardt, Leipzig, 1909, 184 S. kt.
b
A: kl.
8°. Preis Μ. 5.–.
Prof. W[ilhelm] Ostwald in Leipzig ist, von der sachlichen Tragweite seiner Arbeiten ganz abgesehen, in höchstem Maße ausgezeichnet durch eine seltene Darstellungskunst. Dies nicht im Sinne der heute nur allzu üblichen Stil-Ästhetik.
1
[148] Marianne Weber sah in Webers nachlässigem Schreibstil einen bewußten Protest gegen die „Stilästhetik“ der Zeit, „die übermäßiges Gewicht auf Formwerte legt und Zeit verliert mit dem Bemühen, wissenschaftlichen Gebilden Kunstwerkcharakter zu verleihen.“ Weber selbst habe in der „Stilästhetik“ die Vermischung verschiedener Geistessphären gesehen und „die sich leicht dabei einschleichende ‚Unschlichtheit‘ der Ausdrucksmittel, ebenso wie das Haschen nach der ‚persönlichen Note‘ [gehaßt]“. Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild3, S. 322.
Soweit „Stil“-Fragen in Betracht kommen, äußert sich seine Kunst vielmehr gerade umgekehrt in der heute nur allzu seltenen Fähigkeit, mit dem kleinsten Aufwande an derartigen Mitteln in schlichter Knappheit und Klarheit der „Sache“ das Wort zu lassen und hinter ihr zurückzutreten. Unter Darstellungskunst ist hier vielmehr die Qualität der gedanklichen Werkzeuge gemeint, welche er und wie er sie zur „Vereinfachung“ der Denkobjekte zu verwenden gewußt hat. Auch der vollkommene Laie darf, wenn er die Ausführungen der meist so mageren allgemeinen Teile älterer chemischer Kompendien etwa über Atomgewichte und Verbindungsgewichte und was damit zusammenhängt, über den Begriff von „Lösungen“ im Gegensatz zu den „Verbindungen“, über die elektrochemischen Probleme, über die Isomerie u.s.w. gelesen hat, und damit die erstaunliche Kraftersparnis vergleicht, welche das Streben nach Hypothesenfreiheit und die Begrenzung auf das wirklich „Allgemeine“ an den chemischen Vorgängen der Ostwaldschen Darstellungsweise eingebracht hat, sich an der ungemeinen Eleganz dieser Kunst erfreuen. Und er wird es, nach der Eigenart dieser Leistung, vollkommen verständlich finden, daß Ostwald, ganz ebenso wie seinem [149]Geistesverwandten Mach
2
[149] Der Physiker, Philosoph und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach, der auch auf dem Gebiet der Psychologie und Sinnesphysiologie arbeitete und sich selbst als Naturforscher, nicht als Philosophen sah. Vgl. Mach, Ernst, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. – Leipzig: J. A. Barth 1905, S. VII.
[,] der Fehler besonders nahe liegt, 1) einerseits – in logischer Hinsicht – bestimmte naturwissenschaftliche Abstraktionsformen zum Maßstab wissenschaftlichen Denkens überhaupt zu verabsolutieren, – daß er 2) demgemäß heterogene Denkformen, welche (in der Sprache Machs zu reden) die „Denk[A 576]ökonomie“
3
Mach bezeichnet es als die Aufgabe des Naturforschers, „die ökonomische Darstellung des Tatsächlichen“ zu erreichen, vgl. Mach, ebd., S. 282. An anderer Stelle spricht er auch von einer „Ökonomie des Denkens“, vgl. Mach, Ernst, Die Mechanik in ihrer Entwickelung. Historisch-kritisch dargestellt. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1883, Vorwort, S. VI.
bei den Fragestellungen anderer Disziplinen erfordert, als Unvollkommenheiten und Rückständigkeiten empfindet, weil sie das nicht leisten, was sie ihrer Zweckbestimmung nach gar nicht leisten sollen (nicht nur die „Denkökonomie“ der Geschichte – im weitesten Sinn –[,] sondern schon der Biologie, und zwar, wie ausdrücklich betont sei: einerlei, ob sie sich „vitalistisch“ oder noch so „mechanistisch“ gebärdet,
4
Während der mechanistische Denkansatz das Leben von Organismen erklärt mittels der in der anorganischen Natur aufzufindenden Gesetzmäßigkeiten, geht der Vitalismus von einer naturwissenschaftlich nicht erfaßbaren Lebenskraft aus. Vgl. Bütschli, Otto, Mechanismus und Vitalismus. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1901.
zeigt derartige heterogene Denkhilfsmittel) – und daß er, damit im Zusammenhang, 3) andererseits – in sachlicher Hinsicht – ein möglichstes Maximum alles Geschehens überhaupt zu Spezialfällen „energetischer“ Beziehungen einzustampfen trachtet, – daß endlich 4) ihn sein leidenschaftlicher Drang, die Objekte intellektuell durch seine Begriffsmittel zu beherrschen, auch auf das Gebiet des Seinsollenden verfolgt und zur Ableitung rein „ressortpatriotischer“ Wertmaßstäbe aus den Tatsachen seines Arbeitsgebietes verführt. Diese Umstülpung des „Weltbildes“ einer Disziplin in eine „Weltanschauung“ ist ja heute eine ganz allgemeine Gepflogenheit:
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Mit Blick auf Naturalismus und Historismus konstatierte Weber schon einige Jahre vorher, daß es bei den empirischen Wissenschaften üblich geworden sei, Methoden und Ergebnisse in Weltanschauungen umzuwandeln, dies sei „nachgerade ein trivial gewordener Vorgang“, Weber, Roscher und Knies II, S. 109, Fn. 2.
in welcher Richtung sie sich bei der Biologie auf darwinistischer Grundlage zu vollziehen pflegt, ist bekannt (bei den wissenschaftlichen Anti-Darwinisten: – heute natürlich stets ein relativer Begriff – [150]pflegt sie charakteristischerweise in mehr oder minder extremen Pazifismus umzuschlagen).
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[150] Die Biologie auf darwinistischer Grundlage erforscht die natürlichen Umweltbedingungen eines Organismus mit dem Ziel, die Faktoren für seine optimale Erhaltung, Weiterentwicklung und Fortpflanzung bestimmen zu können. Der Sozialdarwinismus wendet diese Erklärungsweise auf den Menschen und seine soziale Daseinsform an, um im Sinne des Rassenerhalts das Überleben derjenigen Individuen zu ermöglichen, welche über die den Überlebensbedingungen am besten angepaßten Anlagen verfügen. Sozial- und rassenpolitische Maßnahmen sollen verhindern, daß die Schwachen Nachkommen haben und überleben. Die antidarwinistische Richtung verfolgt dasselbe Ziel, lehnt indessen Krieg ab, der gerade die Tüchtigsten und Durchsetzungsfähigsten in Gefahr bringe, von der Fortpflanzung ausgeschlossen zu werden.
Bei Mach werden aus der „Unrettbarkeit“ des Individuums (diese ist nicht nur faktisch-„thanatistisch“, sondern logisch gemeint) altruistische Imperative abgeleitet.
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Mach folgert aus der von ihm konstatierten Tatsache der Unrettbarkeit des Ich, auf das Streben nach eigener Unsterblichkeit zu verzichten und mit diesem Verzicht erst zur Hauptsache des Lebens, zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung, vorzustoßen. Man achte so das fremde Leben und überschätze sein eigenes nicht mehr. Vgl. Mach, Ernst, Analyse der Empfindungen, 5., verm. Aufl. Jena: Gustav Fischer 1906, S. 20.
Der Mach und Exner
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Max Weber könnte sich hier auf das Buch des Wiener Sinnesphysiologen Sigmund Exner, Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, I. Theil. Leipzig, Wien: Franz Deuticke 1894, beziehen. Es befindet sich in Max Webers Handbibliothek, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München.
in seinen metaphysischen Ansichten nahestehende Historiker L[udo] M[oritz] Hartmann leitet aus bestimmten Ansichten über die Prognose des historischen Prozesses den kategorischen Imperativ ab: Handle so, daß dein Handeln der (sozialen) Vergesellschaftung dient
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Vgl. Hartmann, Ludo Moritz, Über historische Entwickelung. Sechs Vorträge zur Einleitung in eine historische Soziologie. Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1905, S. 88. Der mit Max Weber persönlich bekannte Hartmann hatte diese Schrift Ernst Mach gewidmet und verweist darin mehrfach auf ihn und auf Sigmund Exner.
(woraus, beiläufig, folgen würde, daß Jay Gould, Rockefeller, Morgan,
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Die amerikanischen Großunternehmer Jay Gould (1836–1892), John Davison Rockefeller (1839–1937) und John Pierpont Morgan (1837–1913).
deren Leistungen nach jeder konsequenten sozialistischen Entwicklungstheorie in eminentem Sinn als „Vorfrüchte“ des Sozialismus zu gelten haben, als ethisch geniale Persönlichkeiten qualifiziert werden müßten) u.s.w. Bei Ostwald sind es, entsprechend der ungeheuren technisch-wirtschaftlichen Bedeutung der Chemie, naturgemäß technologische Ideale, welche in unbekümmerter Souveränität das Wort führen.
Dabei ist nun O[stwald] in hohem Maße beeinflußt durch die vom Comtismus und Queteletismus her orientierte (vermeintlich) [151]„exakte“ soziologische Methode, für deren Pflege Ernest Solvay in Brüssel sein „Institut de Sociologie (Institut Solvay)“
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[151] Der belgische Chemiker, Industrielle und Mäzen Ernest Solvay (1838–1922) gründete 1901 das Institut de Sociologie, auch Institut Solvay genannt, um von seinem naturwissenschaftlichen Ansatz aus auch soziale Phänomene und deren physikalisch-physiologische Grundlagen zu erforschen. Vgl. Weber, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, MWG I/11, S. 378 ff.
gegründet hat, eine mit Lesezimmern, allem für die soziologische Arbeit erforderlichen Material und sehr bedeutenden Fonds versehene Arbeits- und Publikationsstätte: als Mäcenatenschöpfung ebenso großartig und in ihrer Weise mustergültig – wie die von Solvay in seinen Arbeiten angewendete und von einzelnen seiner Mitarbeiter übernommene „wissenschaftliche“ Methode erbärmlich ist. Welche Wechselbälge gezeugt werden, wenn rein [A 577]naturwissenschaftlich geschulte Technologen die „Soziologie“ vergewaltigen, lehrt jeder Blick in eine beliebige Arbeit dieser Art, insbesondere in diejenigen Solvays selbst.
1)
[151][A 577] Wir nehmen als Beispiel eine gedrängte Analyse von E. Solvay, Formules d’introduction à l’Énergétique physio- et psycho-sociologique (Institut Solvay, Notes et Mémoires, Fasc. 1, 1906):
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Gemeint ist: Solvay, Note. Der korrekte Titel lautet: Note sur des formules d’introduction à l’énergétique physio- et psycho-sociologique. Im folgenden spezifiziert Weber den Buchstaben E für Energie meist mit in Kleinbuchstaben annotierten und tiefgestellten Indizes, Solvay schreibt diese Indizes überwiegend mit Großbuchstaben.
Der jeweilige energetische Ertrag (rendement = R) eines lebenden Organismus ergibt sich aus der Formel:
,
wobei Ec die respiratorisch oder durch Nahrung, Belichtung etc. aufgenommenen
c
[151]A: aufgenommene
Rohenergien (E[nergies] consommées), Ef die jeweils morphologisch fixierten (E[nergies] fixées), Er die als Rückstände unverwerteten (E[nergies] rejetées), El (E[nergies] liberées) endlich die durch die Oxydationsprozesse des Organismus freigesetzten Energien bezeichnet. Der für das Rendement entscheidende Bruch
bessert sich von der Kindheit (wo Ef sehr groß ist) bis zum Vollwachstum auf das Optimum und sinkt mit dem Alter durch Wachstum von Er (wegen wachsender Unfähigkeit zur Verwertung aufgenommener Energien) wieder. Vom „Standpunkt der Soziologie“ kommt nun aber für die Berechnung des energetischen Reinertrags eines Organismus, insbesondere des Einzelmenschen nur ein Bruchteil der gesamten freien organischen Energien = Eu (Energies utilisables) in Betracht: diejenige Quote nämlich, welche für Arbeit verwertbar ist, im Gegensatz zu dem in Wärme umgesetzten Bruchteil Et, welcher unverwertet bleibt wie bei jeder Maschine. Diese „Nutzenergie“ des Individuums ist aber ferner nicht durchweg soziale Nutzenergie (E[nergie] socio-énergétique
d
A: socio-énergetique
), da die Indi[152]viduen ja zunächst ihr „physio-energetisches“ Eigeninteresse verfolgen und also nur ein Bruchteil ihrer Nutzenergie sozial nutzbar gemacht wird. Für jede Zeitdauer t ist also durch Multiplikation der individuellen Nutzenergie mit dem je nach dem Grade der sozialen Nutzenergie abgestuften Koeffizienten u die „socio-utilisabilité“ des Individuums festzustellen. Es ergibt sich alsdann für die Zeitdauer T des gesamten Lebens eines Individuums die Größe: ∑u Eu t. Durch Addition des einfachen energetischen Rendements aller Individuen einer Gesellschaft in einer Zeiteinheit, Ermittlung des Durchschnittsbruches U, welchen ihre Sozialnutzbarkeit etwa ausmacht, und Division des Produktes von U mit der Summe der energetischen Einzelrendements durch die Summe der von der Gesellschaft während dieser Zeiteinheit konsumierten Energien läßt sich die Formel für Rs (Rendement social = Sozialnutzfähigkeit aller Individuen in dem gegebenen Moment) ermitteln:
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[152] Vgl. Solvay, Note, S. 9. Dort lautet die Formel:

Objekte, welche nicht physio-energetischen Charakters sind, d. h. deren Konsum nicht in Energiezerstörung im Interesse des Organismus besteht, die aber doch das Rendementsverhältnis beeinflussen, können dabei, im Prinzip, dadurch in diese Formel eingefügt werden, daß sie als entsprechende Vermehrungen oder Verminderungen von Ec (der zur Verwendung zur Verfügung stehenden Rohenergien) betrachtet, also der durch Nahrungskonsum (den eigentlichen Typus energetischen Konsums) verbrauch[A 578]ten Energie gleichgestellt werden. Ja selbst für Bedürfnisse, welche purement d’ordre imaginatif ou moral seien, glaubt S[olvay] dies behaupten zu dürfen (S. 12). Und sogar die „mißbräuchlichen“, d. h. von dem als Durchschnitt sich ergebenden Konsum des „homme normal“ abweichenden Konsumtionen lassen sich in die Formeln aufnehmen. Dann nämlich, wenn man berücksichtigt, daß ein solcher énergétisme excessif Einzelner zwar unter Umständen sich als „énergétisme privatif“ zu Ungunsten der Gesamtheit äußern kann, daß er aber unter andern Umständen: wenn es sich nämlich um „hommes capables“ handelt, die als Entgelt für ihren Überkonsum eine höhere energetische Leistungsquote einbringen, keineswegs antisozial sein, sondern im Effekt das energetische Rendement der Gesellschaft verbessern kann. Also: die energetischen Formeln und die in der Energetik üblichen Maßeinheiten (Kilogrammeter, Kalorien etc.) sind generell anwendbar.
Man hüte sich – um zunächst mit einigen Worten zu diesem Teile der Ausführungen Stellung zu nehmen – vor allem vor dem Glauben, daß die absolute Nichtigkeit von Solvay’s ganzer Konstruktion etwa darin bestehe, daß seine Formeln der Kompliziertheit der Phänomene nicht genügend Rechnung trügen. Auf einen solchen Einwand würde S[olvay] stets mit Recht antworten können, daß durch Einführung immer weiterer Variabler eine Integration schließlich „im Prinzip“ für jede noch so verwickelte Konstellation möglich sei. Auch daß man viele seiner Koeffizienten niemals exakt, manche gar nicht, quantitativ messen kann, ist kein „prinzipieller“ Fehler. Denn z. B. die Grenznutzlehre
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Vgl. Weber, Grenznutzlehre, oben, S. 115–133, hier S. 116, Anm. 5.
benutzt die Fiktion rein quantitativer Meßbarkeit von Bedürfnissen mit vollem methodischem Recht, – warum mit Recht? steht hier nicht zur Erörterung. Sondern die völlige Wertlosigkeit des Ganzen beruht auf dem Aufnehmen von Werturteilen schlechthin subjektiven Charakters in die scheinbar so streng „exakten“ Formeln. Der „point de vue social“, die socio-utilisabilité eines Menschen (diese Qua[153]lität selbst und natürlich erst recht der Grad derselben) und alles[,] was daran hängt, sind ja lediglich nach den gänzlich subjektiven Idealen bestimmbar, mit denen der Einzelne an die Frage nach dem Seinsollen der gesellschaftlichen Zustände herantritt: Unzählige Nuancen der zahlreichen möglichen Wertmaßstäbe und eine noch unendlichere Schar von Kompromissen zwischen den zahllosen möglichen, miteinander konkurrierenden oder als unerwünschtes Mittel zu dem gewünschten Zweck, als ungewollter Nebenerfolg neben dem beabsichtigten Erfolg mit einander direkt kollidierenden Wertmaßstäben kommen dabei in Betracht und sind natürlich untereinander absolut gleichberechtigt, so lange nicht einer der beiden vom Positivismus angeblich überwundenen Glaubens-Faktoren: der „theologische“ oder der „metaphysische“, durch eine Hintertür wieder eingeführt wird. Denn geschieht dies nicht, so ist die Frage, ob ein Individuum, welches einen énergétisme excessif entwickelt: Gregor VII., Robespierre, Napoleon, August der Starke, Rockefeller, Goethe, Oscar
e
[153]A: Oskar
Wilde, Iwan der Schreckliche u.s.w., trotzdem vom „sozio-energetischen Standpunkt“ aus, „rentabel“ gewesen sei, und gar die entscheidende weitere Frage: in welchem Grade diese und die zahllosen näheren oder entfernteren Annäherungen an solche Typen „rentabel“ oder „unrentabel“ seien, natürlich nur durch subjektives [A 579]Werturteil entscheidbar. Es ist eine läppische Spielerei, für dies Werturteil mathematische Symbole zu erfinden – die ja, hätten solche Kunststückchen überhaupt Sinn, für jedes einzeln wertende Subjekt – z. B. sicherlich für Herrn Solvay einerseits, mich andererseits – gänzlich andere Koeffizienten haben müßten! – Und vollends toll ist es alsdann, indem man dies leere Stroh drischt, sich so zu gebärden, als würde etwas „Wissenschaftliches“ dargeboten. Daß diese ganze Leistung Solvay’s keinen Schuß Pulver wert ist, mußte also schon hier konstatiert werden, obwohl erst jetzt (S. 15) diejenigen Partien
f
A: Parteien
beginnen, wo S[olvay] selbst Schwierigkeiten für die Anwendbarkeit seiner Formeln als vorhanden anerkennt. Es handelt sich nämlich nunmehr um die „phénomènes d’ordre intellectuel“. Sie entsprechen, sagt S[olvay] – „considérés en eux mêmes“ – keiner für ihre Charakterisierung spezifischen quantitativen Energieentwicklung, sondern stellen in Wirklichkeit („essentiellement“) eine Succession von jeweiligen Verteilungszuständen der neuro-muskulären Energie dar. (Die Anschauungsweise ist ein bekanntes Surrogat des strengen „psychophysischen Parallelismus“). Der gleiche quantitative Energieverbrauch kann daher Leistungen von sehr verschiedenem Werte (valeur) repräsentieren. Und dennoch müssen (NB.: par ordre de qui?) sie sich den Formeln einfügen lassen und diese quantitativ meßbar sein, – da sie ja (sic!)
g
A: (sic.)
in der Soziologie eine so große Rolle spielen, und (wie
h
A: (und wie
zur logischen Vollständigkeit dieses Schlusses hinzuzufügen wäre) a priori feststeht, daß die Soziologie mit energetischen Formeln auskommen muß
i
A: muß).
. Und in der Tat ist die Sache ja auch sehr einfach: man kann zwar nicht sie selbst und will nicht die sie (im Sinn des gewöhnlichen psychophysischen Parallelismus) begleitende (concomitante), aber nicht für sie charakteristische Energieentwicklung messen, – aber ihre Wirkung (effet) kann man ja doch messen. Und nun folgt eine Serie der ergötzlichsten Koboldsprünge. Wie mißt man wohl den „effet“ z. B. der Madonna Sistina oder einer Produktion der „Rinnsteinkunst“?
15
[153] Der Ausdruck geht auf Kaiser Wilhelm II. zurück. Er nahm 1901 die Enthüllung einer klassischen Denkmalgruppe zum Anlaß, das moderne Kunstschaffen zu kritisieren, das sich in seinen Augen über die Gesetze der Ästhetik hinwegsetze. Diese Kunst zeige nur das Elend und trage nichts zur Pflege der Ideale des deutschen Volkes bei, [154]eine solche Kunst erhebe nicht, sondern steige in den Rinnstein nieder. Vgl. Beutin, Heidi und Wolfgang Beutin, „Rinnsteinkunst“? – Konservativismus, Avantgardismus und der Richtungsstreit in der Berliner Moderne, in: dies., Rinnsteinkunst? Zur Kontroverse um die literarische Moderne während der Kaiserzeit in Deutschland und in Österreich. (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, hg. von Thomas Metscher und Wolfgang Beutin, Band 44). – Frankfurt a.Μ.: Peter Lang 2004, S. 17–46, hier S. 18.
Da S[olvay] sich scheut, sich und andern offen einzubekennen, daß [154]„effet“ hier lediglich erschleichungshalber statt des vorher gebrauchten mehrdeutigen Wortes „valeur“ steht, so wird folgende Argumentation angestellt: der „normale“ Zweck des „effort cérébral“ besteht beim „normalen“ Individuum und deshalb (NB!) auch beim (normalen) Kollektivindividuum: der „Gesellschaft“, in der Selbsterhaltung, d. h. dem Schutz gegen physische und „moralische“ (sic!) Schädlichkeiten. Also (!) bedeutet der normale Effekt der Gehirnanstrengung stets (NB!) eine energetische Rendementsverbesserung. Das ist nicht nur bei den technischen Erfindungen und nicht nur beim intelligenten gegenüber dem unintelligenten Arbeiter der Fall, sondern auch außerhalb der intellektuellen Sphäre. Die Musik z. B. ruft Gehirnzustände hervor, welche Modifikationen der Oxydationsprozesse hervorrufen, die ihrerseits dem Zweck besserer Ausnutzung der freigesetzten organischen Energie dienen
j
[154]A: dienen,
(vermutlich also der besseren Verdauung u.dgl., obwohl allerdings früher S[olvay] die Wirkung der Ideo-Energie auf die Größe von Er, d. h. die Fäkalien-Ausscheidung[,] für nicht erheblich erklärt hatte). Also ist ihre energetische Bedeutung erwiesen, und sie unterliegt folglich, wie alle ihresgleichen, „im Prinzip“ der Meßbarkeit, – [A 580]und damit sind wir glücklich wieder im schönen Reich der El und Eu-Formeln
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Gemeint sind „Energies liberées“ und „Energies utilisables“, vgl. oben, S. 151, Fn. 1.
angelangt. Freilich: es gibt da viele Koeffizienten, für die noch erst die Maßeinheiten zu finden sein würden: z. B. – nach Solvay – die Zahl der in einer Zeiteinheit möglichen Ideen u.s.w. Auch gibt es Schöpfungen des Intellekts oder der Kunst, bei denen der Gewinn potentiell bleibt und noch andere, die ein Defizit aufweisen, also sozialschädlich sind. (S[olvay] denkt hier vielleicht an die Selbstmorde aus Anlaß des Werther, welche dessen energetischen Wert beeinträchtigen). Aber jedenfalls, so meint er, kann auf Grund der Wertungsnorm (direkte oder indirekte Verbesserung des sozio-energetischen Rendements) jeder Mensch (sic!) „im Prinzip“ genau nach dem (natürlich während seines Lebens wechselnden) Maß seines psycho-energetischen – positiven oder negativen – sozialen Wertes kalkuliert (sic: „calquer!“) werden, ganz ebenso wie sein physio-energetischer Wert (s. früher)
17
Oben, S. 152, Fn. 1.
kalkulierbar ist. Diese „prinzipielle“ Möglichkeit aber ist von ungeheurer Wichtigkeit, um so mehr, als natürlich, „im Prinzip“, auch die Kalkulation solcher „Ideoenergien“, die – infolge der Unreife der Zeitgenossen – erst nach Jahrhunderten wirksam geworden sind, möglich ist. Zum Glück für den Autor aber „gehört es nicht in seine Arbeit“, die Methode zu untersuchen, wie denn nun die Bemessung der valeurs physio- et psycho-énergétiques in Angriff genommen werden solle, – jedenfalls umfassen die großen Linien (S. 21), mit deren Zeichnung sich diese wie jede ähnliche naturalistische Selbsttäuschung begnügt, nach seiner Ansicht „tout l’ensemble des recherches sociologiques proprement dites“.
Es folgt die Bemerkung, daß natürlich hinter den heutigen „Preis“-Erscheinungen der Tauschwirtschaft sich als „endgültiger“ Wertmesser die Kalorien und Oxydations[155]prozesse verbergen, welche, direkt oder indirekt, in Gestalt der Tauschgüter dem Organismus zugeführt werden. Daß man den Sauerstoff der Luft, so lange Landüberfluß herrscht, auch nicht einmal indirekt (im Grundwert) kauft und daß andererseits die „Oxydationsprozesse“, auf welche man z. B. beim Ankauf eines „echten“ Perserteppichs nach Solvay in Wahrheit spekulieren müßte, in Wirklichkeit ein Vexierwort für gänzlich subjektive Güterschätzungen von Individuen sind – denen, nach seinem eigenen Zugeständnis (s. o.),
18
[155] Oben, S. 154, Fn. 1.
kein Energiequantum eindeutig entspricht – ganz ebenso wie alle andern „sozialen“ Werte Resultate solcher darstellen – dies und Alles, was sonst ein Student der Nationalökonomie im ersten Semester zu diesem Unfug zu sagen hätte, stört unsern Autor nicht. Wie wir gleich anfangs von „valeur“ – das heißt dort doch wohl: vom ästhetischen Wert – zum „effet“ – den Oxydationsfolgen – des Kunstwerkes voltigierten, so führt uns die Betrachtung jetzt zu dem Ergebnis, daß die physio- und psycho-energetische Rendements-Verbesserung des „homme moyen“
19
Solvay, Note, S. 23.
das entscheidende Mittel zur Besserung des Rendements der Gesellschaft selbst sei. Also haben die Kalkulationen dieses „Produktivismus“ dem Gesetzgeber die Wege zu weisen, damit das „rendement normal“ erreicht werde, welches seinerseits von dem Bestehen der „humanité normale“, d. h. der Ergänzung von „hommes idéalement sains et sages“
20
Ebd., S. 24.
abhängt, die nicht mehr tun, als eben zur Erhaltung ihres eigenen persönlichen rendement normal erforderlich ist und dabei das „gesellschaftlich notwendige“ Minimum ihrer Energie sozialen Zwecken zur Verfügung stellen.
[A 581]Da jede soziale Gruppe eine chemische Reaktionseinheit darstellt, und da die Zeit nicht fern ist, wo jeder Vorgang im Universum seine energetische Bewertung (évaluation énergétique) empfangen haben wird, ist nach Solvays Ansicht auch der Tag, wo eine solche normative „positive“ Soziologie möglich sein wird, nicht mehr fern, – „im Prinzip“, darf man auch hier wohl hinzusetzen! Von den praktischen Vorschlägen S[olvay]s schweigen wir hier. Sein „Produktivismus“ und ebenso sein „Komptabilismus“ verhält sich an geistigem Gehalt zu den Konzeptionen des klassischen französischen Utopismus, etwa zu den Ideen Proudhons, ungefähr ebenso spießbürgerlich epigonenhaft wie sich zu den Gedankengängen Quetelets und Comtes die „Leistungen“ verhalten, die wir vorstehend kennen lernten.
21
Oben, S. 150 f.

Ostwald selbst bleibt in der hier besprochenen Schrift an Konsequenz stark hinter diesen „Leistungen“ zurück, obwohl oder vielmehr: weil er sie an „bon sens“ übertrifft. Die Bemerkungen Solvays über das Fehlen eindeutiger Korrelation
k
[155]A: Konrelation
zwischen „geistigem“ Inhalt und quantitativen Energierelationen z. B. finden wir in seiner hier besprochenen Schrift nirgends beachtet.
Und das Tragikomische dieser Ver[152][A 574]schleuderung reicher Mittel für rein dilettantische Zwecke tritt [153]wohl [A 579]in nichts so deutlich zu Tage, als darin, daß das Institut z. B. [155]eine [A 581]absolut wertlose Arbeit von Ch[arles] Henry
2)
Ch. Henry, Mésure des Capacités intellectuelles et énergétiques, Heft 6 der Notes et Mémoires.
22
Henry, Mesure. Der korrekte Titel lautet: La mesure des capacités intellectuelle et énergétique.
, welche in umfangreichen Rechnungen den sozialen (NB!) Nutzwert der Arbeit und also (wie bei allem „Positivismus“ dieser Art, schon bei [156]Comte selbst): die seinsollende Höhe des Arbeitsentgelts durch „energetische Formeln“ zu ermitteln sich müht, zwar publiziert, – weil die Nichtpublikation der durch Solvay geschaffenen „Tradition“ widersprechen würde, – der gegenwärtige Leiter des Instituts aber, Hr. Prof. Waxweiler, in einem Anhang dazu ganz richtig, nur mit übermäßig höflicher Schonung, auf wenigen Seiten auf die Sinnlosigkeit dieses für jeden Sachkundigen, – seit Thünens immerhin wesentlich geistreicherer, vor allem ökonomisch orientierter Konzeption, –
l
[156]A: orientierter, – Konzeption
23
[156] Der Agrarökonom Heinrich von Thünen bestimmte die Höhe des „natürlichen Arbeitslohnes“, indem er zum einen den notwendigen Lebensunterhalt des Arbeiters und zum anderen den Wert der von ihm erzeugten Produkte als die beiden wesentlichen Faktoren zugrundelegte.
erledigten Versuches, hinweist.
24
Waxweiler, Emile, Remarque additionelle: Sur l’interprétation sociologique de la distribution des salaires, in: Henry, Mesure, S. 63–75.
Da das Institut unter Waxweilers Leitung sich wirklich wertvollen Arbeiten zugewendet hat, popularisierenden sowohl wie wissenschaftlichen, darf man wohl hoffen, daß diese „energetischen“ Reminiszenzen bald gänzlich in die Ecke geworfen werden, wohin sie gehören.
Die vorliegenden, Ernest Solvay gewidmeten, populären Vorlesungen zeigen die Vorzüge von Ostwalds Denk- und Darstellungsweise,
25
Die Widmung in Ostwald, Kulturwissenschaft, S. III, lautet: „Ernest Solvay dem Begründer der soziologischen Energetik gewidmet“. Im Vorwort schreibt Ostwald, die Form der Vorlesungen habe er gewählt, weil diese zu eigenem Weiterdenken anregten, vgl. ebd., S. VI.
verbunden mit den Konsequenzen der oben hervorgehobenen allgemeinen Neigungen „naturalistischer“ Denker und verdienen auch in ihren schwächsten Partien schon als „Typus“ Beachtung. Soweit das ökonomische und sozialpolitische Problemgebiet berührt ist, wird darüber von angesehener sozialpolitischer Seite referiert werden. Ich schalte daher die Ausführungen über diese Dinge – die, wie ich nicht verschweigen darf, m. E. zum Übelsten gehören, was Ostwald je geschrieben hat – hier aus und beschränke mich auf ein kurzes Resumé der Kapitel, welche die konsequent und z. T formal sehr hübsch durchgeführte „energetische“ Auffassung der Kulturvorgänge sachlich darlegen, und [A 582]auf einige Bemerkungen teils allgemeiner Art, teils spezieller zu Aufstellungen, die von jenem (ökonomisch-sozialen) Problemgebiet mehr abseits liegen.
[157]Kap. I (Die Arbeit): Alles, was wir von der Außenwelt wissen, können wir in Energiebeziehungen: räumlichen und zeitlichen Änderungen der bestehenden Energieverhältnisse, ausdrücken („Energie“ = Arbeit und alle Umwandlungsprodukte derselben). Jeder Kulturumschwung wird durch neue energetische Verhältnisse (insbesondere: Auffindung neuer Energiequellen oder anderweite Verwendung schon bekannter) begründet
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[157] Weber gibt hier Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 13, fast wörtlich wieder. Dieser resümiert im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung, daß neue Energiearten „eine neue Ordnung der Dinge“ erforderten, so in der „ganze[n] Kulturgeschichte: immer wird der eintretende Umschwung durch neue energetische Verhältnisse begründet.“ Max Weber hat in seinem Exemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) an dieser Stelle am Rand ein Fragezeichen gesetzt und angemerkt: „Was heißt das?“
(folgt die Erörterung der Eigenart der 5 Energiearten, und besondere Hervorhebung und Bedeutung der chemischen Energie, als der aufbewahrungs- und transportfähigsten). – Kap. II (Das Güteverhältnis). „Güteverhältnis“ (Grundbegriff der ganzen Erörterung) = Relation der Menge der Nutzenergie B, welche bei einer von uns zu praktischen Zwecken erstrebten Energieumwandlung aus der Rohenergie A gewonnen wird und, infolge des unvermeidlichen Mitentstehens noch andrer Energien neben der Nutzenergie, stets <1 ist. Die gesamte Kulturarbeit erstrebt 1) Vermehrung der Rohenergien, 2) Verbesserung des Güteverhältnisses: letzteres ist insbesondere der Sinn der Rechtsordnung (die Beseitigung der im Kampf stattfindenden Energievergeudung ist ganz analog dem Ersatz der Petroleumlampe mit 2 % durch die Lampe mit Vergasung und Glühstrumpf mit 10 % Güteverhältnis). Da nur „freie“, und das heißt: durch Intensitätsunterschiede innerhalb der vorhandenen Energiemengen in Bewegung zu setzende, Energie nutzbar ist und diese freie Energie, nach dem zweiten Hauptsatz der Energetik, innerhalb jedes gegebenen geschlossenen Körpersystems durch nicht rückgängig zu machende Zerstreuung stetig abnimmt, läßt sich die bewußte Kulturarbeit auch als das „Bestreben zur Erhaltung der freien Energie“ kennzeichnen.
27
Ebd., S. 34.
Von diesem Ideal stetig abzuweichen nötigt uns in der Hauptsache der wertbestimmende Faktor „Zeit“: die Beschleunigung der langsamen (im „Idealfall“ unendlich langsamen) Energieumwandlungen ist es ja, welche diese für uns überhaupt erst nutzbar macht, zugleich aber [158]unvermeidlich beschleunigte Vernichtung freier Energie bedeutet. Und zwar so, daß für die erstrebenswerte Relation beider Seiten des Vorgangs zu einander jeweils ein Optimum besteht, bei dessen Überschreitung die weitere Beschleunigung unökonomisch wird. Der zweite Hauptsatz der Energetik ist also die Leitlinie der Kulturentwicklung. – Kap. III (Die rohen Energien). „So gut wie alles, was überhaupt auf der Erde geschieht“,
28
[158] Ebd., S. 41.
geschieht auf Kosten der freien Energie, welche die Sonne durch Strahlung an die Erde abgibt (einzige Ausnahme nach Ostwald: Ebbe und Flut und die von diesen abhängigen Erscheinungen. – Die Behauptung dürfte insofern unsicher sein, als die eigene thermische Energie des Erdinnern, deren praktische Bedeutung O[stwald] schlechthin leugnet, zwar die [A 583]Temperaturverhältnisse der Erdoberfläche generell kaum in praktisch erheblicher Weise beeinflußt, aber vielleicht – da es im absoluten Sinn wasserdichte Gesteinsschichten nicht gibt – die jeweilige endgültige Versickerungsgrenze mitbestimmt und dann für die verfügbare Wassermenge der Oberfläche und alles von dieser abhängige Geschehen mitspräche). Die dauerhafte Wirtschaft muß daher ausschließlich auf der regelmäßigen Benutzung der jährlichen Strahlungsmenge ruhen, deren Nutzbarmachung in ihrem Güteverhältnis noch so ungeheuer steigerungsfähig ist, daß der, allerdings einer sehr starken Durchbrechung jenes Prinzips, einer „Erbschaftsverschleuderung“, gleichkommende rapide Aufbrauch der in den Kohlenvorräten, in chemische Energie umgewandelt, aufgespeicherten Sonnenstrahlungsenergie gänzlich unbedenklich erscheint. Von dem – nach Maßgabe der vorhandenen Vorräte – nur wenig langsameren Aufbrauch der chemischen und Formenergien der Eisenvorräte, der für die Erzeugnisse der Elektrizität so wichtigen Kupfer- und Zinkvorräte u.s.w. spricht Verf. nicht. Eine Erörterung darüber, inwieweit die chemische und Formenergie des praktisch unerschöpflichen und dabei durch rapide fortschreitende Kostenherabsetzung ausgezeichneten Aluminiums die heute unentbehrlichen Funktionen jener praktisch unzweifelhaft erschöpfbaren Metalle restlos zu ersetzen vermag, wäre aber in einer Darstellung, welche sogar den künftigen Aufbau unserer Energiewirtschaft auf konzentrierter, filtrierter und in chemische oder elektrische Energie umgesetzter Energie der Sonnen[159]strahlung in Betracht zieht, immerhin vielleicht am Platze gewesen. Dies um so mehr, als Ostwald an eine Abnahme der Zufuhr von Energie durch Sonnenstrahlung in Vergangenheit und Zukunft innerhalb geologischer Epochen nicht glaubt, mithin offenbar, vom rein energetischen Standpunkt aus, ein besonderes Maß von Ökonomie mit den von dorther zugeführten Energiemengen unter Zukunftsgesichtspunkten gar nicht dringlich erscheint, während die für die Erzeugung, Leitung und Nutzbarmachung der wichtigsten Nutzenergien unentbehrliche chemische und Formenergie jener Stoffe durch Benutzung ebenso unwiederbringlich zerstreut werden, wie dies bei allen freien Energien nach der Entropielehre
29
[159] Vgl. dazu Weber, Grenznutzlehre, oben, S. 125, Anm. 24.
der Fall ist, – aber, zum Unterschied von anderen, in historisch absehbaren Zeiträumen: bei weiterer Zunahme der Ausbeute im Tempo der Gegenwart in wenig mehr als einem Jahrtausend. Unerörtert bleibt eben überhaupt bei der ausschließlichen Zuspitzung der Erörterung auf energetische Beziehungen, d. h. 1) Gewinnung von neuen Rohenergien, 2) Verbesserung des Güteverhältnisses bei der Gewinnung von Nutzenergien[,] die doch immerhin recht wichtige Rolle der zum großen Teil nur in erschöpfbaren Vorräten gegebenen Energieleiter als Objekt der Ökonomie: die Qualitäten, welche ihre Brauchbarkeit hierfür bedingen, lassen sich nur ziemlich gezwungen, jedenfalls nur indirekt, auch ihrerseits unter jene beiden Rubriken unterbringen, obwohl nicht [A 584]bezweifelt werden soll, daß Ostwalds Terminologie auch dies gelingen könnte. – Wenn nun aber die Aspekte
m
[159]A: Aspekten
der direkten Nutzbarmachung neuer Energien, speziell der heute fast nur auf dem Wege über lebende oder fossile Pflanzen nutzbar zu machenden Energie der Sonnenstrahlen, für die Zukunft so überaus günstige sind, wie dies Ostwald zuversichtlich annimmt, – so entsteht für die energetische Analyse der Kultur doch die Frage: wie kommt es nun, daß wir, unter diesen Verhältnissen und bei unseren generell abnehmenden Geburtenziffern, überhaupt irgend welches Gewicht auf das Güteverhältnis legen? Warum wird dieses alsdann nicht zunehmend irrelevant, statt immer bedeutsamer? Eine Antwort auf diese Frage könnte man nur mit ziemlicher Mühe und auch dann unvollständig aus den [160]Ausführungen in Kap. IV (Die Lebewesen), V (Der Mensch), VI (Die Beherrschung fremder Energien) wohl allenfalls entnehmen. Hätte Ostwald sie ausdrücklich gestellt und beantwortet, so wäre er in einer seinen Ausführungen sicherlich dienlichen Art zu einer Durchdenkung von Problemen geführt worden, wie sie z. B. Sombart in seiner Auseinandersetzung mit dem Reuleauxschen Begriff der Maschine angeschnitten hat.
30
[160] Dem von dem Ingenieur Franz Reuleaux beschriebenen kinematischen Prinzip der Bewegungserzwingung durch Maschinen setzt Sombart das ökonomische Prinzip der Ersetzung menschlicher Arbeit entgegen. Diese beiden Prinzipien bedingen sich Sombart zufolge gegenseitig in der Entwicklung immer weiter optimierter Maschinen, die zum einen die Bewegungsrichtung der Kraft immer genauer ausrichten, zum anderen aber auch die anfangs noch erforderliche Steuerung des maschinellen Ablaufes durch den Menschen allmählich in einen automatischen Maschinenbetrieb umsetzen können. Im Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der neueren Zeit, die eine nur auf den Endzweck, das Ersetzen individuellen Könnens und individueller Leistungsfähigkeit, eingesetzte Verfahrenstechnik ermöglichen, sieht Sombart die ungeheure epochale Bedeutung der Neuzeit. Und er resümiert, daß moderne Wissenschaft und Technik uns unsere ganze „Nichtigkeit“ offenbarten, uns aber gleichzeitig zeigten, „wie wir von neuem die Welt (freilich immer nur die Welt des äußeren Scheines!) erobern“ können, Sombart, Der moderne Kapitalismus II, S. 67.
Diese sind S. 82 unten nur kurz und dabei überdies in schiefer Weise berührt: es ist keineswegs richtig, daß „fortschreitende“ Kultur (gleichviel welchen der üblichen Maßstäbe des „Fortschrittes“ man anlegt) mit absoluter Verminderung der Benutzung menschlicher Energie identisch ist. Das trifft wohl nach der relativen energetischen Bedeutung der letzteren beim Vergleich der gegenwärtigen etwa mit der antiken Kultur zu, aber es ist auch nicht einmal in diesem relativen Sinn für jeden „Kulturfortschritt“ richtig – es sei denn, daß nur das „Kulturfortschritt“ heißen sollte, was energetischer „Fortschritt“ ist, also Tautologie vorliegt. Jene unterlassenen Erwägungen wären Ostwald auch bei seinem salto mortale auf das Gebiet der ökonomischen Fachdisziplin (Kap. XI)
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Kap. XI heißt „Geld und Tausch“, Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 147–156.
vielleicht zu Gute gekommen. Es wäre dann ferner der jetzt aus seinen Ausführungen deutlich zu entnehmenden sehr irrtümlichen Vorstellung vorgebeugt worden, als ob wenigstens das, was wir technischen Fortschritt nennen, immer auch auf einer Verbesserung des Güteverhältnisses beruhe. Als ob z. B. beim Übergang vom Hand- zum mechanischen Webstuhl, wenn man die in den Kohlen aufgespeicherte Sonnenstrahlenenergie den verschiedenen kinetischen, chemischen (außermenschlichen und [161]menschlichen) und sonstigen Energien zurechnet, welche pro rata auf ein mechanisches Textilprodukt (natürlich einschließlich der ungenutzt zerstreuten Energieteile) entfallen und nun die entsprechende Rechnung für die Handweberei anstellt, das rein energetische Güteverhältnis immer bei mechanischem Betrieb günstiger sei[,] als es beim Handwerk war. Ökonomische „Kosten“ sind sehr weit davon entfernt, mit dem „Energie“aufwand im physikalischen Sinn des Wortes einfach parallel zu gehen, [A 585]und erst recht ist in der Tauschwirtschaft das Verhältnis der für die „Konkurrenzfähigkeit“ entscheidenden Kostpreise weit davon entfernt, gleich demjenigen der verbrauchten Energiequanten zu sein, obwohl diese selbstredend überall, oft sehr „energisch“ dabei mitsprechen. O[stwald] selbst hat gelegentlich lebensökonomische Momente grundlegender Art, welche bei den meisten „technischen Fortschritten“ mitspielen und direkt eine Verschlechterung des energetischen Güteverhältnisses erheischen: das unumgängliche Streben nach Beschleunigung der Energieumwandlung, erwähnt. Dieser Sachverhalt steht nicht etwa vereinzelt da. Gelänge es, wie es Ostwald hofft, wirklich, eine Vorrichtung zur direkten Überführung von Sonnenstrahlen-Energie z. B. in elektrische Energie einmal zu erfinden, so könnte das energetische „Güteverhältnis“ um ein Vielfaches selbst hinter demjenigen der Ausnützung der Kohlenenergie in einer Dampfmaschine zurückbleiben und dennoch die ökonomische Konkurrenzfähigkeit der auf dem neuen Wege gewonnenen Energie vielleicht überwältigend sein.
32
[161] Vgl. ebd., S. 42 ff.
Hat doch gerade das dem Menschen von Natur mitgegebene „primitivste“ Werkzeug: der menschliche Muskel, ein weit besseres „Güteverhältnis“ in der Ausnützung der durch die biochemischen Oxydationsprozesse freigesetzten Energie[,] als selbst die beste Dynamomaschine je erreichen kann
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Hier stützt sich Weber auf eine Aussage des Physiologen Immanuel Munk, der den Muskel als die „vollendetste Dynamo-Maschine“ beschreibt. Dies zitiert Weber bereits in: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, MWG I/11, S. 181 mit Anm. 11.
– und doch ist diese in der ökonomischen Konkurrenz überlegen. Ostwald weiß zweifellos sehr wohl, warum. Aber bei gegebener Gelegenheit widerfährt es Ostwald immer wieder, daß er schlechthin „die ganze Kulturentwicklung“ auf eine der verschiedenen energetischen Bedingungen: das „Güteverhältnis“ zu [162]gründen sucht, obwohl doch er (s. o.)
34
[162] Oben, S. 157.
selber anfangs die Erschließung neuer Energien daneben stellte. Selbst das rein technologische Problem ist, energetisch betrachtet, durch O[stwald] nicht gefördert. Denn gerade die gegenseitige Beziehung zwischen der Verwertung neuer Energien und den Forderungen des „Güteverhältnisses“ wäre das eigentlich Interessante. Darüber aber erfahren wir nichts von Belang. Vollends aber kommt dabei selbst die Eigenart einer so dicht an die Technologie angrenzenden Betrachtungsweise, wie der (im fachwissenschaftlichen Sinn) „ökonomischen“ natürlich zu kurz.
Zwar hat Ostwald einleitend selbst den Vorbehalt gemacht, daß er sich bewußt sei, nur eine Seite der „Kulturerscheinungen“ zu behandeln,
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Vgl. Ostwald, Kulturwissenschaft, S. VII.
und dies ist unbedingt anerkennenswert gegenüber dem „Weltformel“-Bedürfnis mancher anderen naturalistischen Denker.
36
Für Weber leistet das „‚Weltformel‘-Bedürfnis“ der Tendenz Vorschub, die Kategorien des Seinsollenden mit der Tatsachenbeschreibung zu vermengen. So schreibt er zwei Jahre zuvor in seiner Auseinandersetzung mit Rudolf Stammler, dieser bediene sich einer zweideutigen Ausdrucksweise wie ein in eine Weltformel „verbissener Dogmatiker“, „für den es a priori feststeht, daß sein ‚Dogma‘ und die ‚Wissenschaft‘ sich unmöglich widersprechen“ können. Vgl. Weber, Stammlers Überwindung, S. 107, ähnlich S. 115.
Allein sein Unstern will es, daß er noch an die längst veraltete Comtesche Hierarchie der Wissenschaften glaubt und diese dahin interpretiert (S. 113 unten), daß die Begriffe der auf den unteren Staffeln der Pyramide stehenden „allgemeinsten“ Disziplinen für alle höheren[,] d. h. „weniger allgemeinen“[,] Wissenschaften zur Geltung gelangen, für diese also „grundlegend“ sein müßten. Er wird ungläubig den Kopf schütteln, wenn man ihm sagt, daß für die ökonomische Theorie (den spezifi[A 586]schen Bestandteil der ökonomischen Disziplinen, der sie von den anderen trennt)
n
[162]A: trennt),
nicht nur jene Begriffe gar keine, auch nicht die geringste, Rolle spielen, sondern daß für die Nationalökonomie überhaupt gerade die allgemeinsten, d. h. abstraktesten und deshalb sich von der Alltagserfahrung am weitesten entfernenden Theoreme der „allgemeineren“ Disziplinen gänzlich belanglos sind. Ob z. B. die Astronomie das kopernikanische oder das ptolemäische System zu akzeptieren hat, [163]ist für sie vollkommen gleichgültig. Ebenso wäre es für die Geltung der ökonomischen Theorie – eines Inbegriffs
o
[163]A: einen Inbegriff
gewisser hypothetischer „idealtypischer“ Lehrsätze – völlig belanglos, ob etwa die physikalische Energielehre die grundstürzendsten Änderungen erleben, ja sogar: ob der Satz von der Erhaltung der Energie seinen heutigen Geltungsumfang (wie zu erwarten) für alle physikalische, chemische und biochemische Erkenntnis behaupten wird oder etwa eines Tages ein „Anti-Rubner“ dessen Experimente über den Wärmehaushalt der Organismen
37
[163] Der Hygieniker und Ernährungsphysiologe Max Rubner erforschte die Naturgesetze des Wachstums und lehrte, daß Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch im Lebenslauf eines Menschen dem Prinzip der Erhaltung der Energie entsprechen. Bei Verbrauch geistiger Energie entsteht ihm zufolge ein Wärmeäquivalent, das Energiequantum bleibt also auch hier erhalten. Vgl. beispielsweise Rubner, Max, Die Gesetze des Energieverbrauchs bei der Ernährung. Leipzig und Wien: Franz Deuticke 1902.
umstößt (was selbstredend äußerst unwahrscheinlich ist). Oder, um die Sache gleich an demjenigen Problem zu verdeutlichen, welches so lange Zeit hindurch die physikalische Forschung eng mit ökonomischen Interessen verknüpfte: selbst die leibhaftige Existenz eines „perpetuum mobile“, d. h. also einer Energiequelle, welche freie Energie kostenlos in ein gegebenes energetisches System sprudelte, würde 1) jene hypothetischen Sätze der abstrakten Theorie der Ökonomik ganz und gar nicht zu „Unrichtigkeiten“ stempeln; es würde ferner 2), mag man sich die technische Tragweite einer sochhen utopischen Energiequelle als noch so kolossal ausmalen – und dazu hätte man allen Grund –[,] dennoch auch der
p
A: den
Bereich der praktischen Geltung jener abstrakten und hypothetischen Lehrsätze nur dann auf 0 reduziert, wenn durch jene Energiequelle a) jede beliebige Energie, b) überall, c) jeder Zeit, d) in jedem Zeitdifferenzial in unbegrenzter Quantität und e) beliebiger Wirkungsrichtung zur Verfügung stände. Jede leiseste Beschränkung auch nur einer dieser Bedingungen würde sofort den Grenznutzprinzipien wieder zu einer entsprechenden Partikel von Möglichkeit direkt praktischer Bedeutsamkeit verhelfen. – Es wurde bei diesen Utopien nur deshalb einen Augenblick verweilt, um klarzustellen, was aller modernen Methodenlehre zum Trotz immer wieder vergessen wird: daß die Comtesche Wissenschaftshierarchie das lebensfremde Schema [164]eines grandiosen Pedanten ist, der nicht begriff, daß es Disziplinen mit gänzlich verschiedenen Erkenntniszielen gibt, von denen jede von gewissen unmittelbaren Alltagserfahrungen ausgehend den Inhalt dieser „unwissenschaftlichen“ Erkenntnis unter ganz verschiedenen gänzlich selbständigen Gesichtspunkten sublimieren und bearbeiten muß. Daß sich alsdann irgendwo – und z. B. bei der Nationalökonomie schon beim ersten Schritt aus der „reinen“ Theorie heraus – die verschiedenen Disziplinen in ihren Objekten in der mannigfachsten Weise kreu[A 587]zen und wieder begegnen, versteht sich ja von selbst. Wer aber, wie Ostwald, jenen grundlegenden Sachverhalt nicht durchschaut oder ihm doch nur durch Freihaltung eines Plätzchens für die Wirksamkeit der „psychischen Energie“ (S. 70) nach Comteschem Schema gerecht zu werden trachtet, wird zum mindesten der Eigenart der „Kulturwissenschaften“ (die O[stwald] ja „fundamentieren“ will) nicht gerecht
3)
[164][A 587] Ob, beiläufig bemerkt, ein moderner Chemiker von „psychischer Energie“ sprechen sollte, wie Ostwald es zu tun pflegt,
38
[164] Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 70; diese Stelle ist in Webers Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) unterstrichen und am Rand mehrfach markiert.
ist eine Frage für sich. Jedenfalls wird, auch wer auf dem Standpunkt psychophysischer Kausalität steht, also den „Parallelismus“ verwirft, das, was Ostwald unter „psychologischen“ Vorgängen versteht, nämlich: „Gedanken“[,] kaum als „energetisch“ bewertbar verstehen können, wie Ostwald dies teils explicite[,] teils implicite tut. Über Sätze vollends wie den (S. 97 Anm.): „Gedanken können (sic!) unräumlich aufgefaßt (sic!) werden, doch bestehen (sic!) sie nicht ohne Zeit und Energie und sind (sic!) subjektiv“
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Weber hat in seinem Handexemplar von Ostwald, Kulturwissenschaft (ebd.), S. 97, diesen Satz am Rand mit zwei senkrechten Strichen und zwei Ausrufezeichen markiert, das Verb „können“ ist eingerahmt und die Sequenz „nicht ohne Zeit und Energie“ unterstrichen. Die mehrfachen „(sic!)“ im Zitat stammen von Max Weber.
– wollen wir lieber den Schleier der Liebe decken. Man mag zu der Psychologie von Münsterberg als Ganzem stehen wie immer,
40
Hugo Münsterberg suchte, von eigenen experimentalpsychologischen Arbeiten ausgehend, das Verhältnis von Wille und Bewegung, die Willenshandlung, metaphysisch und erkenntnistheoretisch zu fundieren. So unterschied er subjektivierende und objektivierende Erkenntnis des Psychischen, betrachtete die Psychologie als Einzelwissenschaft und wies die Fragen von Selbstbestimmung, Zwecksetzung und Ethik der Philosophie zu. Weber dürfte sich hier – wie schon früher – auf Münsterberg, Hugo, Grundzüge der Psychologie, Band 1: Allgemeiner Teil, Die Prinzipien der Psychologie. – Leipzig: Joh. Ambr. Barth 1900, beziehen. Weber, Roscher und Knies II, S. 117–123, greift für seine eigene methodologische Ausarbeitung zur Deutung von Freiheit und Handeln auch auf das „geistvolle Buch“ (ebd., S. 117) zurück.
– für Ostwald wären immerhin einige ihrer Kapitel eine recht nützliche Lektüre. Der „Energetiker“ hat es dem Sinn seiner Methodik nach nur mit „objektiven“ Nerven- und Gehirnleistungen, die Quantitäten darstellen, der Hauptsache nach also mit chemi[165]schen Energien zu tun und überhaupt nicht mit „Subjektivitäten“.
q
[165]A: „Subjektivitäten.“
Denn zwischen solchen und quantitativen „energetischen“ Relationen kann es kein durch die qualitative Eigenart der ersteren (den „Inhalt“ des Gedankens) bestimmtes Umwandlungsmaß geben – wie dies doch zum begrifflichen Wesen jeder „Energie“ gehört. Gesetzt, es gelänge z. B., einen Ausschlag in der Energiebilanz für „seelisch“ bedingte Vorgänge zu finden und man setzte die „introspektive“ Erkenntnis als spezifisches „Sinnesorgan“ für die „psychische“ Energie und die wechselnden „Inhalte“ der „Umwandlungen“ derselben (das wäre nach Ostwald S. 98 schon deshalb nötig, weil sonst psychische Vorgänge überhaupt nicht unter den Begriff des Geschehens fielen), – so würde ja doch auch das sinnloseste Geschwätz und Getue eines Paranoikers in Bezug auf das energetische Güteverhältnis „innerhalb der Epidermis“
41
[165] Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 82, formuliert: „außerhalb der Epidermis“ und bezeichnet damit Energieformen, die aus der Außenwelt stammen und die der Mensch zu beherrschen lernt.
in gar nichts von der höchstwertigen geistigen Leistung zu unterscheiden sein und erst recht (diese Selbstverständlichkeit ist immer wieder der entscheidende Punkt) keinerlei „energetisches“ Güteverhältnis als Maßstab z. B. für ein „richtiges“ und ein „falsches“ Urteil gegeben sein. Beide erfordern einen energetischen Aufwand, und gar nichts macht es wahrscheinlich, daß sich dieser beim „richtigen“ Urteil in Bezug auf das biochemische „Güteverhältnis“ oder sonstwie von den Verhältnissen beim „unrichtigen“ Urteil unterscheidet. Auch kann das „Güteverhältnis“ nicht etwa – wie nur der Sicherheit halber, gegenüber einem bekannten Standpunkt, der, wie auch Solvay (s. o. Anm. 1)[,]
42
Oben, S. 151–155, Fn. 1.
das „Wahre“ mit dem „Nützlichen“ identifiziert, gleich gesagt sei – durch eine „energetische“ Probe in der „Außenwelt“ hereingezogen werden. Denn es gibt viele zweifellose Wahrheiten, deren utilitarische Kostenbilanz „energetisch“ so gewaltig durch Energie-Vergeudung (chemische Energie: Scheiterhaufen, biochemische und kinetische: Parteiorganisation und Kriege u.s.w.) belastet ist, daß sie dieses Defizit schwerlich je durch Verbesserung irgend eines [A 588]energetischen Güteverhältnisses einbringen, zumal es unter ihnen auch solche Wahrheiten gibt, die auf dieses „Güteverhältnis“ gänzlich ohne Einfluß sind.
Ostwald teilt jene utilitarischen Erkenntnistheorien offenbar nicht, nur hält er alle nur historischen, d. h.: nicht paradigmatischen, Wahrheiten (S. 170) ganz mit Recht für technisch, deshalb aber auch für wissenschaftlich wertlos. Sein eigenes, höchst lesenswertes Buch „Große Männer“
43
Ostwald, Große Männer, war 1909 erschienen.
behandelt denn auch 1) als solche nur die großen Verbesserer energetischer Güteverhältnisse und 2) diese wesentlich als Paradigma für die praktische Frage: welcher Lehrgang befähigt zum Dienst an der Verbesserung des Güteverhältnisses; sie will also keine historische, sondern eine didaktische Leistung sein (im übrigen wird seine rein „heroistische“ Darstellung dem Einfluß der treibenden Kräfte der wissenschaftlichen Entwicklung wenig gerecht:
44
Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 172 f., beschreibt herausragende wissenschaftliche Arbeiten als höchste persönliche Leistungen einer einzelnen befähigten Person, die ihre Fragestellung mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt und dazu keiner organisatorischen oder institutionellen Unterstützung bedarf.
es ist bekanntlich zunehmend die Regel, daß wichtige Entdeckungen von mehreren ganz unabhängig von einander gemacht werden und immer mehr nur Zufall über die, als einzig in Betracht [166]kommendes Ziel, leidenschaftlich umstrittene „Priorität“ entscheidet). Die Historiker und ihresgleichen wird Ostwalds etwas naives Banausentum – denn so werden sie es empfinden müssen – wohl ziemlich kühl lassen, jedenfalls aber hätte z. B. Rickert sich ein besseres Paradigma spezifisch „naturwissenschaftlichen“ Denkens
r
[166]A: Denkers
(im logischen Sinn) gar nicht wünschen können.
45
[166] Heinrich Rickert bemerkt, daß mangelndes erkenntnistheoretisches Wissen in den Naturwissenschaften zu spekulativen metaphysischen Überlegungen verleitet und erwähnt hierbei auch Ostwalds Energetik. Vgl. Rickert, Heinrich, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, 1. Aufl. – Tübingen und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902 (hinfort: Rickert, Grenzen1), S. 111–117, bes. S. 115.

Genug: auch durch Einbeziehung des Psychischen in die Energetik, – deren Möglichkeit Ostwald in diesem Buch nur (S. 70) andeutet, während er andrerseits auch wieder betont: die Grenzen seiner Betrachtung lägen eben da, wo „psychologische“ Faktoren hineinspielten – wäre wohl verzweifelt wenig für eine „Grundlegung der Kulturwissenschaft“ (in Ostwalds Sinn) auszurichten. Und wie soll diese Einbeziehung durchgeführt werden? Wie unendlich kompliziert, „energetisch“ betrachtet, das Hineinspielen des „Psychischen“ in die Psychophysik der Arbeit sich gestaltet, habe ich anderwärts mir und den Lesern dieser Zeitschrift im Anschluß an Kraepelins und andrer Arbeiten zu vergegenwärtigen gesucht,
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Weber verweist auf seine 1908 und 1909 ebenfalls im Archiv für „Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienene Studie „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“. Vgl. MWG I/11, S. 163–250.
soweit ein Laie das kann. Aber diese Seiten des psychophysischen Problems meint Ostwald offenbar überhaupt nicht. Sollte ihm etwa die wissenschaftlich erledigte Lehre Wundts von dem „Gesetz der Vermehrung der psychischen Energie“ vorschweben, welche die „Steigerung“ dessen, was wir den „geistigen Gehalt“ eines kulturrelevanten
s
A: kulturlevanten
Vorgangs nennen (also eine Wertung), mit den psychischen Seinskategorien konfus in einander schiebt,
47
Bereits in seinem Aufsatz „Roscher und Knies“ hatte Weber sich mit Wundts Psychologie und seinen erkenntnistheoretischen Annahmen befaßt. Wundt behauptet, daß psychische Gebilde sowohl durch bestimmte, sie determinierende Elemente als auch durch eine qualitative Veränderung ihrer Eigenschaften entstehen. Dieses Hinzutreten einer neuen, aus den ursprünglichen Elementen nicht erklärbaren Qualität nennt er das „Prinzip der schöpferischen Synthese“, einen Fall des auch für individuelle und soziale Entwicklungen geltenden Gesetzes des „Wachstums der psychischen Energie“. Vgl. Weber, Roscher und Knies II, S. 101 f., mit Bezug auf Wundt, Wilhelm, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Zweiter Band: Methodenlehre, Zweite Abtheilung: Logik der Geisteswissenschaften, 2. umgearb. Aufl. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1895, S. 267 ff., sowie ders., Über psychische Causalität und das Prinzip des psychophysischen Parallelismus, in: Philosophische Studien, 10. Jg., 1894, S. 1–124, hier S. 116: „das Princip des Wachsthums geistiger Energie“, vgl. dazu auch MWG I/7. Schon Weber, Roscher und Knies II, S. 98 ff., hatte Wundts Gleichsetzung von Entwicklung und geistiger Wertsteigerung kritisiert.
so müßte uns der Unfug, den Lamprecht damit angerichtet hat,
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Weber, Roscher und Knies II, S. 98 und 103, hatte bereits auf die Arbeiten des [167]Historikers Karl Lamprecht verwiesen, der sich der Wundtschen Kategorien für seine historischen Forschungen bediene und damit Exaktheit für seine Aussagen vortäusche. Webers Handbibliothek enthält Lamprechts mehrbändiges Werk „Deutsche Geschichte“ von 1893 bis 1904 (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). Im 2. Ergänzungsband, 2. Hälfte von 1904 stellt Lamprecht dar, daß in einer jeden Epoche besonders Begabte, die entwicklungsgeschichtlich das nächste Kulturzeitalter vorbereiten, aus dem Durchschnittsmaß Herausragendes leisten, und diese Begabten „müssen es, weil sie dem psychologisch schlechthin gültigen Gesetze der schöpferischen Synthese unterliegen […]“. Im Text ist „schöpferische Synthese“ von Webers Hand unterstrichen und am Rand mit der Anmerkung: „Wundt!“ versehen, vgl. Lamprecht, Karl, Deutsche Geschichte, 2. Ergänzungsband: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, 2. Hälfte: Innere Politik – Äußere Politik, 1. und 2. Aufl. – Freiburg i. Br.: Hermann Heyfelder 1904, S. 23.
ein warnendes Beispiel sein. Die [167]S[igmund] Freudschen Lehren endlich, welche in ihren ersten Formulierungen eine Art von „Gesetz der Erhaltung der psychischen (Affekt-)Energie“
t
[167]A: (Affekt)-Energie“
zu statuieren schienen, sind – welches auch sonst ihr psychopathologischer Wert sein möge – inzwischen von ihrem eigenen Urheber derart umgestaltet worden, daß sie jede Schärfe im „energetischen“ Sinn verloren haben,
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Weber kannte 1907 nach eigener Aussage die Theorien von Freud aus dessen größeren Schriften, sie seien aber noch nicht in ihre „endgültige Fassung“ gebracht worden, vgl. Brief an Else Jaffé vom 13. September 1907, MWG II/5, S. 393–403, hier S. 394 f. Neben einigen größeren Publikationen zwischen 1895 und 1905 hatte Freud 1906 eine Reihe von Aufsätzen zur Ätiologie und Behandlung von Neurosen zusammengestellt in: Freud, Sigmund, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren 1893–1906. – Leipzig und Wien: F. Deuticke 1906 (hinfort: Freud, Sammlung). In einem 1894 erschienenen Aufsatz in dieser Sammlung beschrieb Freud, daß bei bestimmten psychischen Störungen eine zunächst stark wirkende Vorstellung zu einer schwachen gemacht werde, es dem Patienten also gelinge, der Vorstellung „den Affekt, die Erregungssumme, mit der sie behaftet ist, zu entreißen“. Vgl. Freud, Sigmund, Die Abwehr-Neuro-Psychosen, in: Freud, Sammlung, S. 45–59, hier S. 48. Er resümierte, „daß an den psychischen Funktionen etwas zu unterscheiden ist (Affektbetrag, Erregungssumme), das alle Eigenschaften einer Quantität hat […] – etwas, das der Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen der Körper“ (ebd., S. 59). Ein Jahrzehnt später schrieb Freud, daß im Unterschied zu seinen früheren Ansichten über die Entstehung von neurotischen und hysterischen Störungen „den bisher arg vernachlässigten, [168]höchst bedeutsamen Nachwirkungen der Kindheitseindrücke“ größere Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse, vgl. Freud, Sigmund, Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen [1906], in: Freud, Sammlung, S. 225–234, Zitate: S. 227 und 228.
in jedem Fall für den strengen [A 589]Energetiker mindestens zunächst noch nicht verwertbar sind. Sie würden auch, falls sie dies je werden sollten, ihrer Eigenart entsprechend, natürlich auf keinen Fall eine Legitimation für die Konfiskation aller bisher für die „Energetik“ nicht faßbaren Gesichtspunkte der „Kulturwissenschaften“ zu Gunsten irgend einer „Psychologie“ als Generalnenner abgeben. Genug davon. Es kam für uns darauf an, im Allgemeinen den methodologischen Ort zu bestimmen, an welchem der Verf. den Geltungsbereich seiner Gesichtspunkte auf theoretischem Gebiet (vom praktischen war schon die Rede) überschreitet.
. – [165]Denn daß [A 588]die reine „Theorie“ unserer Disziplin auch nicht das [166]mindeste mit „Psychologie“ zu tun hat, weiß jeder an modernen [167]Methoden geschulte Theoretiker (richtiger: sollte es wissen).
[168]In den drei Kapiteln von den Lebewesen (IV, V, VI) finden wir zunächst die Scheidung der „Anabionten“ (= Pflanzen) als Energie-Sammler [A 589]von den „Katabionten“
u
[168]A: „Ketabionten“
(= Tiere) als, energetisch betrachtet, parasitären Verbrauchern der von jenen gesammelten Sonnenstrahlen, wobei der Mensch (vorläufig noch!) zu den letzteren gehört. Vom Tier unterscheidet er sich energetisch nur durch das gewaltige und stetig steigende Maß der von ihm unter seine Herrschaft gebrachten „äußeren“ (außerhalb seiner Epidermis vorhandenen)
50
Vgl. dazu oben, S. 165, Anm. 41.
Energien in Gestalt von Werkzeugen und Maschinen: die Entwickelungsgeschichte der Kultur ist identisch mit der Geschichte der Einbeziehung fremder Energien in den menschlichen Machtbereich (also hier: auch ohne Verbesserung von „Güteverhältnissen“), – worauf dann der (in der Anmerkung kurz besprochene)
51
Oben, S. 166, Fn. 3.
Vorbehalt folgt, daß man für die Durchführbarkeit dieser Anschauung allerdings „gestatten“ müsse, von „psychischer Energie“ zu reden. Eingeflochten sind Erörterungen über den energetischen Entwickelungsgang der Kriegswaffen (S. 74), über den energetischen Wert des Friedens gegenüber jeder Art von Kampf, da ein solcher ja immer das (energetische) Güteverhältnis herabsetzt, über die Zähmung der Tiere (S. 85 f.: hier wie bei der Erörterung der Sklaverei fehlt die Kenntnis wichtiger Ergebnisse der Fachforschung), weiterhin eine recht hübsche energetische Analyse der Bedeutung des Feuers, S. 92, über Transport und Aufbewahrung von Energien und das Verhalten der einzelnen Energiearten dabei (Kap. VII). Die Art der Scheidung zwischen „Werkzeug“ und „Maschine“ (je nachdem dabei menschliche oder außermenschliche – auch tierische – Energie transformiert werde: S. 69), ist ungemein äußerlich und soziologisch so gut wie wertlos. Sodann gelangt der Verf. (Kap. VIII) zur „Vergesellschaftung“. Ihre Bedeutung für die Kultur werde heute, indem „man“ (wer?) die ganze Kulturwissenschaft mit der Soziologie gleichsetze, übertrieben, da ja die Erfindung der einfachsten Werkzeuge von Einzel[169]nen ausgegangen und auch ihre Benützung durch Einzelne möglich sei. Nur soweit die Gesellschaft „Kulturfaktor“ sei, das heißt: das „Güteverhältnis“ verbessere, – welches hier wieder alleiniger Maßstab sein wird – komme sie wissenschaftlich in Betracht: energetisch betrachtet tue sie dies insoweit, als sie durch „Ordnung“ und Funktionsteilung auf die Nutzrelation einwirkt. Die Energiebilanz, nicht die Mannigfaltigkeit ist nach O[stwald] auch das entscheidende Maß der „Vollkommenheit“ der Lebewesen, – eine Art der [A 590]Betrachtungsweise, die, in anderer Wendung, schon K[arl] E[rnst]
v
[169]A: A.
v. Baer in bekannter Weise mit Recht verspottet hatte.
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[169] Rickert charakterisiert die Argumentationsweise einer Philosophie, die an den „natürlichen Fortschritt“ glaubt, durch Verweis auf den Naturforscher Karl Ernst von Baer: Dieser habe, „ehe man vom Darwinismus als Geschichtsphilosophie wußte, diesen Anthropomorphismus köstlich verspottet, indem er sich die Entwicklungsgeschichte vom Standpunkt der Vögel geschrieben dachte. Die Bewohner der Luft finden den Menschen natürlich sehr unvollkommen, die Fledermäuse scheinen ihnen unter den Säugethieren am höchsten zu stehen, und sie weisen den Gedanken zurück, daß Wesen, die so lange nach der Geburt ihr Futter nicht selber suchen und sich nie frei vom Erdboden erheben, höher organisiert sein sollen als sie.“ Rickert, Grenzen1 (wie oben, S. 166, Anm. 45), S. 619.
Wenn wir übrigens die beherrschten „fremden“ Energien beim Menschen, die ja meist nur zu wenigen Prozenten ausgenützt werden – der Muskel ist, wie schon erwähnt,
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Oben, S. 161 mit Anm. 33.
die beste bekannte Dynamomaschine –[,] mit einbeziehen, dann ist nach der derzeitigen Technik jedenfalls von einer relativ günstigeren Energiebilanz (Güteverhältnis) des Menschen doch einfach gar keine Rede. Und wie steht es denn sonst mit der „Energiebilanz“ der Kultur?
Kunst z. B. (im weitesten Sinne) rechnet, wenn man die Ausführungen S. 112 oben irgend annähernd wörtlich nimmt, O[stwald] überhaupt nicht zu den „Kulturfaktoren“, – es sei denn (wie sich beruhigenderweise auf S. 89 ergibt), daß sie solche „Mißgriffe“, wie sie noch in Schillers „Göttern Griechenlands“ als Paradigmata der „Beschränktheit des Anfängers“ zusammengestellt sind, endlich meidet und die Wandlungen und Wanderungen der Energie zum Stoff nimmt, wodurch sie sich in den Dienst der Massenaufklärung stellen und der Energievergeudung entgegenwirken könnte.
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Für Ostwald erfüllt Kunst nur dann einen Sinn, wenn sie Energiegewinnung, Energiebeherrschung und Nutzbarmachung von Energie zum Thema wähle. In dieser Hin[170]sicht versage die Poesie vollkommen: „Wir pflegen noch jetzt jene aus der Beschränktheit des Anfängers stammenden Anschauungen, welche Schiller den ,Göttern Griechenlands‘ zusammengestellt hat, innerhalb der Poesie und haben uns daran gewöhnt, jene Mißgriffe als besonders ,schön‘ anzusehen. Die Folge davon ist, daß unsere heutigen Poeten, nachdem der magere Inhalt jenes Vorstellungskreises erschöpft ist, sich ohne Erfolg bemühen, einen wirklichen und lebendigen Zusammenhang solcher Dichtungen mit dem Denken und Fühlen unserer Zeit herzustellen.“ Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 88 f., mit Bezug auf Friedrich Schillers frühes Gedicht „Die Götter Griechenlands“, in: Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden, 1. Band. – Stuttgart: Cotta’scher Verlag 1862, S. 64–68.
Man [170]sieht, hier ist Du Bois Reymonds Anathema gegen die Bildung geflügelter Gestalten (weil diese „atypischer“ und „paratypischer“ Konstitution und, als Säuger mit sechs Extremitäten, anatomisch bedenklich seien)
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Im Handexemplar Ostwald, Kulturwissenschaft (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) findet sich auf S. 89 Max Webers Randnotiz: „cf. Du Bois Reymond“. Vgl. dazu Du Bois Reymond, Emil, Naturwissenschaft und bildende Kunst. Rede zur Feier des Leibnizschen Jahrestages in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 3. Juli 1890 gehalten. – Leipzig: Veit & Comp. 1891, S. 47 ff.
an prinzipientreuem Naturalismus denn doch weit übertroffen. Fragt sich nur, wie die Kunst diesem Programm genügen soll? Das Maximum von Energieumwandlung pro qm Leinwand bringt man auf, wenn man Explosionen oder Seeschlachtenbilder malt. Ziemlich nahe kam alsdann dem Ideal eine eigenhändige (jugendliche) Farbenskizze K[aiser] Wilhelms II.: zwei Panzerschiffe mit kolossaler Pulverdampfentwicklung, die ich in Privatbesitz einmal sah.
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Weber verweist hier auf das Bild, das mit dem Titel „Kampf zwischen Panzerschiffen und Torpedobooten. Nach einer Zeichnung vom Prinzen Wilhelm (1885)“ abgedruckt ist in: Kürschner, Joseph und Karl von Beaulieu-Marconnay, Kaiser Wilhelm II. als Soldat und Seemann, zugleich Geschichte des Reichsheeres und der Flotte seit 1871, ein Jubiläumsbuch für das deutsche Volk [1877–1902]. – Berlin: Weller 1902, Doppelseite 239–240. Auf der linken Seite unten befindet sich im Bild die Signatur: „Wilhelm Prinz von Preussen 85“. Wo Max Weber es gesehen haben könnte, ließ sich nicht nachweisen.
Aber was nützt das gegen die Energievergeudung der Civilisten? Das berühmte Walzwerk A[dolph] v. Menzels
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Das Ölbild „Das Eisenwalzwerk“ von Adolph von Menzel aus dem Jahr 1875, Nationalgalerie Berlin.
stellt sich vielleicht im (energetischen!) „Güteverhältnis“ noch günstiger, ist aber doch von kaum wesentlich größerer didaktischer Massenwirkung, speziell auf die Hausfrauen, auf die es doch sehr ankäme. Poetisch und künstlerisch illustrierte Kochrezepte dürften unbedingt akzeptabel sein. Aber was sonst? Und vor allem: wie? Das Gesetz von der Erhaltung der Energie und die Entropielehre könnte die Kunst doch wohl nur „symbolisch“ dar[171]stellen, und da kämen ja alle jene fatalen „Unwirklichkeiten“ wieder hinein! Ostwalds Vorgänger auf dem Wege der „rationalen“ Definition der Kunstzwecke: – z. B. Comte, Proudhon, Tolstoi,
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[171] Gemeint ist eine zweckrationale, instrumentelle, die Kunst vornehmlich aus der Perspektive ihres gesellschaftlichen oder politischen Nutzens auffassende Betrachtungsweise, vgl. zu Pierre-Joseph Proudhon vor allem dessen Schrift: Du principe de l’art et sa destination sociale. – Paris: Garnier 1865, bes. S. 43 und 350 f. Bei Leo N. Tolstoi wird Weber vornehmlich dessen Abhandlung: Was ist Kunst? Übersetzt von Michael Feofanoff. – Leipzig: Eugen Diederichs 1902, im Blick haben. In Auguste Comtes hierarchischer Klassifikation der Wissenschaften haben die Künste zwar keinen Platz, jedoch könne eine ästhetische Erziehung eine allgemeine Geistestätigkeit ohne stumpfes und egoistisches Trachten fördern und die große Lücke ausfüllen, die durch das Erlöschen der Religion entstehen werde, vgl. Comte, Auguste, Die Soziologie. Übersetzt von Valentine Dorn und eingeleitet von Heinrich Waentig, Bd. 3 (Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, hg. von Heinrich Waentig, 10. Bd.). – Jena: Gustav Fischer 1911, S. 129 f.
sind ganz ebenso banausisch wie er, aber doch nicht so blindlings zu Werk gegangen, wie er es tut. In Leipzig scheint das Mißverhältnis obzuwalten, daß z. B. Lamprecht für wissenschaftliche Zwecke erheblich zu viel, Ostwald dagegen – ganz unbeschadet aller seiner Verdienste um die chemische Analyse der Farbstoffe für die Malerei
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Vgl. Ostwald, Wilhelm, Malerbriefe. Beiträge zur Theorie und Praxis der Malerei. – Leipzig: S. Hirzel 1904.
– etwas zu wenig Fühlung mit der Kunst besitzt und daß, einer fatalen Eigenart der [A 591]„psychischen Energie“ entsprechend, der „Ausgleich“ dieser Intensitätsdifferenzen trotz der zweifellos häufigen „Berührung“ nicht recht zustande kommen will. Auf diese Art ist Ostwald nicht einmal bis zu einer eigentlich „energetischen“ Kunstbetrachtung durchgedrungen. Denn wie würde wohl eine solche aussehen? Nach dem „energetischen“ Güteverhältnis würde wohl vor allem dem „Luca fa presto“
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Spitzname des neapolitanischen Barockmalers Luca Giordano, der von seinem Vater ausgebildet und, so heißt es, von ihm zur Schnelligkeit angehalten wurde, so daß der Zuruf „Luca, fa presto“ zur Charakterisierung seines Malstils wurde.
der Kranz zu reichen sein, sehr entgegen der heute „üblichen“ Ansicht, – denn nicht irgend ein angeblicher absoluter Wert des schließlich erzielten Resultates als solchen, sondern das Resultat, verglichen mit dem „Energieverbrauch“: eben das „Güteverhältnis“, müßte doch wohl entscheiden. Und die Energieersparnis, welche durch die heutigen technischen „Errungenschaften“ für die Herstellung von Farben für die Malerei, das Heben von Steinen für einen Monumentalbau, für die Herstellung von Kunstmöbeln usw. erzielt wird, – sie wäre das, was den [172]eigentlichen künstlerischen „Fortschritt“ in sich schließen würde, denn nur sie, nicht die Leistung des Architekten, Malers, Kunsttischlers, verbessert das „Güteverhältnis“. Für den sogenannten „Künstler“ scheint sich nur, in großartigster Weise, die Predigt der „Einfachheit“ in den künstlerischen Mitteln „energetisch“ (aus dem Güteverhältnis) begründen zu lassen. Man sieht nicht recht, warum Ostwald, nachdem er einmal sich bis zu den oben analysierten Postulaten verstiegen hatte, nicht resolut auch diese Konsequenzen gezogen hat. Es wäre die höchste Zeit! Denn es ist ja doch wirklich eine „energetisch“ unerträgliche Sache, zu denken, daß die Herstellung z. B. eines künstlerisch vollendeten Tisches eine Unmasse von kinetischer, chemischer, biochemischer Form- usw. Energie verbraucht hat, die sich niemals aus dem Tische zurückgewinnen läßt, der ja, energetisch gewertet, nicht mehr potentielle Kalorien repräsentiert, als ein gleichgroßer Klumpen Holz: – seine spezifische, ihn zum Kunstwerk stempelnde „Form“-Energie ist für die Energiegewinnung wertlos. Fatal – daß die „Kunst“ gerade da anfängt, wo die „Gesichtspunkte“ des Technikers aufhören! Aber vielleicht steht es mit dem, was man „Kultur“ nennt, überhaupt und überall so? Dann hätte O[stwald] dies erkennen und recht deutlich sagen sollen. So aber bleibt die Beziehung zwischen seinen Gedanken und den „Kulturwissenschaften“ gänzlich im Dunklen. –
Doch kehren wir zu ihm zurück. – Die höchste Form der Verbesserung des Güteverhältnisses, welche die „Gesellschaft“ ermöglicht, ist offenbar (S. 122) die Bildung der Erfahrungstradition durch Bildung der Allgemeinbegriffe, die, wie in letzter Instanz alle und jede Wissenschaft, im Dienst der Prophezeiung der Zukunft und ihrer Beherrschung durch Erfindung stehen (S. 121/2: übrigens haben – eine bedenkliche „teleologische“ Erweiterung – nach S. 152 bereits die Pflanzen „Erfindungen“ gemacht): Das Werkzeug der Vergesellschaftung in dieser Hinsicht ist die Sprache.
[A 592]Aber, ach! wie kläglich ist es um sie und die Wissenschaft von ihr heute noch (Kap. IX) bestellt! Nachdem der Versuch, Lautgesetze „aufzustellen“, gescheitert ist (Ostwald erscheint hier nicht ganz orientiert über den Sinn und den derzeitigen Stand dieses Problems), haben die Fachphilologen keinerlei ernstlichen Versuch gemacht, die höchste Stufe jeder Wissenschaft: künstliche Synthese von Sprachen, welche den energetischen Anforderungen (über diese siehe S. 126 oben) genügen, ihrerseits zu erklimmen. Offen[173]bar schwebt die Analogie der Bedeutung der Synthese des Harnsalzes für die organische Chemie vor. Ungeheure Energiemengen gehen daher in direkten Sprachenkämpfen und internationalen Sprachschwierigkeiten verloren, da nun einmal die natürlichen Sprachen sich als zu unvollkommen für diese Aufgabe gezeigt haben. – Das letztere ist durchaus nicht erweislich. O[stwald] weiß offenbar nicht, in welchem Sinne er den „Philologen“ gegenüber in der Tat „im Rechte“ ist: die Erhaltung des Latein als universeller Gelehrtensprache, die es geworden war, ist allerdings durch die Renaissance mit ihrer puristischen Ausrottung der kräftigen Entwicklungsansätze des eben deshalb als „barbarisch“ verspotteten scholastischen Latein unmöglich gemacht worden. Das Fehlen einer solchen Gelehrtensprache ist in der Tat der wesentlichste zweifellose Mangel, da der Güterverkehr im Englischen ein hinlängliches Instrument besitzt. Die Ekrasierung der Natursprachen in ihren Folgen liegt nicht ganz so einfach, wie O[stwald] annimmt. Allein für die positive schöpferische Bedeutung gerade der oft so lästigen Vieldeutigkeit der naturgewachsenen sprachlichen Gebilde, die nur zum einen Teil größere Armut, zum andern aber größeren Reichtum an potentiellem Gehalt bedeutet[,] als die abstrahierende Begriffsbildung sie erfordert und bedingt, dürfte es nach dem naturwissenschaftlich (im logischen, nicht im sachlichen Sinn) begrenzten Interessenkreis Ostwalds wohl ausgeschlossen sein, bei ihm Verständnis zu finden. – Es folgen die Kapitel über „Recht und Strafe“ (X), „Wert und Tausch“ (XI), den „Staat und seine Gewalt“ (XII), in denen es hoch und zum Teil etwas toll, jedenfalls aber in den zu Grunde gelegten Postulaten oft äußerst wenig „energetisch“ hergeht und die ich, wie gesagt, meinerseits bis auf ganz wenige Einzelbemerkungen übergehe. Ostwald verkennt, wie überhaupt, so in den Bemerkungen über den Elektrizitäts-„Diebstahl“ (S. 12) die Eigenart der juristischen Begriffsbildung: diese fragt (das ist neuerdings am weitaus besten von Jellinek herausgearbeitet worden)
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[173] Vgl. Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. verm. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905, S. 23.
nun einmal absolut nicht darnach, ob die „energetischen“, sondern ob die von der Rechtsnorm festgestellten Merkmale (fremde bewegliche „Sache“) zutreffen, und es hat seinen sehr guten praktischen Sinn und hat mit chemischer Ignoranz gar [174]nichts zu schaffen, wenn sie dabei die (in diesem Fall vielleicht übergroße) Neigung zeigt, formal zu verfahren[,] und die Ausdehnung der Rechtsnormen auf „neue“ [Α 593]Tatbestände im allgemeinen dem Gesetzgeber, nicht dem Richter, zuweist: „die Form ist die Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“.
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[174] Die genaue Formulierung lautet bei Ihering: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit.“ Sie ist entnommen aus Ihering, Rudolph von, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil 2, Abt. 2, 4. verb. Auflage. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1883, S. 471. Diesen Satz zitierte Weber auch in seinem Diskussionsbeitrag zur Rede von Hermann Kantorowicz „Rechtswissenschaft und Soziologie“ auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Oktober 1910 in Frankfurt, unten, S. 285 mit Anm. 10.
Ob aber ein Tatbestand im Rechtssinne „neu“ ist, ergibt sich niemals aus naturwissenschaftlichen Erwägungen allein, sondern in erster Linie aus dem Gesamtzusammenhang der jeweils unbestritten geltenden Rechtsnormen, deren Zusammenarbeitung zu einem in sich widerspruchslosen gedanklichen System die eine (elementarste) Arbeit der Jurisprudenz ist und den primären Maßstab abgibt auch für die Entscheidung des „prima facie“ (und zuweilen definitiv) in der Art ihrer Normgebundenheit zweifelhaften Fälle, wie auch der Anhänger der „freirechtlichen“ Gedanken nicht prinzipiell bestreitet. Inwieweit ihr nun dabei gegebenenfalls auch einmal eine naturwissenschaftliche Anschauungsweise nützen könne, hängt gänzlich vom Einzelfall ab. Entscheidend sind aber gerade bei den nicht „vorgesehenen“ Fällen letztlich stets durchaus unnaturwissenschaftliche (Wert-)Erwägungen, mag das nun dem Chemiker als „Rückständigkeit“ erscheinen oder nicht. – Die Ausführungen ferner über den Sinn der „Rechtsgleichheit“ (S. 142)
w
[174]A: 142),
und über die „Verhältnismäßigkeit“ der Strafe (S. 143): Forderung milderer Freiheitsstrafen gegen sozial Höherstehende, da sie davon relativ härter getroffen werden – sind schwerlich „energetischen“ Charakters, vielmehr dürften die letzteren dem sonst bei den Naturalisten so sehr als veraltet verschrienen „Vergeltungs“-Standpunkt entsprechen. Gewiß, man kann zu verwandten, aber doch im Ergebnis vielfach recht abweichenden, Resultaten auch bei „energetischer“ Betrachtung kommen, aber dann müßte man das energetische „Güteverhältnis“ zwischen Strafnorm und Straferfolg feststellen. Man würde dann, von Ostwalds Standpunkt aus, etwa den energe[175]tischen Aufwand für die Gewinnung der Formenergie der Gefängniswände, ferner die chemische Energie der Gefangennehmung, die biochemischen Energien der Gefängnisverwaltung auf das „Güteverhältnis“ hin kritisieren und dann fragen: mit welchem Minimum von Energieaufwand der „energetische“ Strafzweck: Erhaltung der Ordnung durch Beseitigung der störenden Elemente, erreicht werden könnte. Energetisch würde sich dann das „Güteverhältnis“ in dieser Hinsicht günstiger stellen als bei der von Ostwald für die Träger von Mordinstinkten (warum nur diese?) empfohlenen
x
[175]A: empfohlene
Kastration, wenn man sich mit dem sehr geringen Aufwand von kinetischer und Formenergie begnügte, welchen
y
A: welche
die Alternative: Prügelstrafe oder Henken, ergibt. Da Ostwald insbesondere auch auf die Notwendigkeit der Erhaltung der Arbeitsenergie des Verbrechers für die Gesellschaft abhebt, so würde nichts im Wege stehen, „energetisch“ nach der Berufsarbeit desselben zu scheiden: Rentner, aber auch Philologen, Historiker und ähnliche Tagediebe, welche das energetische Güteverhältnis nicht verbessern, hänge man auf (und übrigens: warum, angesichts ihrer Nutzlosigkeit, nicht auch schon[,] ehe sie [A 594]sich als Verbrecher lästig machen?), für Arbeiter, Techniker, geistig mitarbeitende Unternehmer und vor allem für die das Güteverhältnis höchstgradig verbessernden Menschen: die Chemiker, greife man zur Prügelstrafe. Wenn O[stwald] diese Konsequenzen ablehnt, so muß er sich klar sein, daß dafür doch wohl andere als „energetische“ Erwägungen – und nur diese wollte doch seine Schrift bieten – maßgebend sind. Ebenso enthalten die Äußerungen über die „Rechtsgleichheit“ keinerlei „energetische“, sondern rein „naturrechtliche“ Ideale, während die ebenfalls ganz dem alten physiokratischen „Naturrecht“ entsprechenden Bemerkungen über den „Sinn“ der Rechtsordnung (S. 26) durch ihre energetische Begründung schwerlich etwas an Überzeugungskraft für den gewinnen, der sie nicht ohnehin aus ganz andern Gründen teilt. Die frohe Überzeugung (S. 38), daß nur die „Dummheit“ der Menschen das allgemeine Durchdringen des Strebens nach dem optimalen Güteverhältnis hindere, wird – leider – das Kopfschütteln der Sozialhistoriker erregen. – Diese Vermengung von Werturteilen und empirischer Wissenschaft tritt eben überall in fatalster Weise hervor. Daß das Verhältnis von [176]Bedürfnis und Kosten nun einmal kein „energetisch“ zu definierendes ist, könnte schließlich auch ein Dilettant wie Ostwald einsehen, wenn man ihm auch die ganz wertlosen, mit der Denkweise der Scholastik identischen Erörterungen über den ökonomischen Wertbegriff und das justum pretium (S. 152) gern zugute halten wird,
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[176] Zum ökonomischen Wertbegriff und „justum pretium“ vgl. Brentano, Wertlehre, S. 15–22.
– da hier auch „intra muros“ genug pecciert wird. Daß endlich der Satz (S. 55): das „allgemeine Problem der Lebewesen“ bestehe darin, „sich eine möglichst lange Dauer zu sichern, wobei die Gattung als Gesamtwesen aufzufassen ist“ (sic!),
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Der zitierte Satz in Ostwald, Kulturwissenschaft, S. 55 lautet genau: „Das allgemeine Problem der Lebewesen besteht darin, sich eine möglichst lange (praktisch unbegrenzte) Dauer zu sichern, wobei die Gattung als Gesamtwesen aufzufassen ist, da eine Sicherung des einzelnen Individuums gegen Zerstörung ausgeschlossen erscheint.“
nicht energetischer Provenienz ist, wird er sich selbst sagen. Aber dann hätte er sich wohl die Frage vorlegen dürfen, woher alsdann jener kategorische Imperativ des „wobei“-Satzes seine Legitimation nehmen soll? Was schert mich „die Gattung“? Auf diese praktische Frage dürfte eine Naturwissenschaft sich doch wohl überhaupt nicht anmaßen wollen, die maßgebliche Antwort zu erteilen; am allerwenigsten aber ist ersichtlich, wie aus irgend einem energetischen „Güteverhältnis“ irgend eine ethische Pflicht, sich so oder so zur „Gattung“ zu verhalten, gefolgert werden könnte.
In den Erörterungen des letzten Kapitels (die Wissenschaft), welche der Pädagogik gewidmet sind, tritt zunächst in den Behauptungen auf S. 182 eine gewisse Unorientiertheit Ostwalds
z
[176]A: Ostwald
über den Stand der wissenschaftlichen Pädagogik hervor.
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Für Ostwald hat die Schule neben der Charakterbildung und Entwicklung der sozialen Fähigkeiten auch dafür zu sorgen, daß Wissen und Erkenntnis weitergegeben werden unter der Maßgabe, daß nicht nur überkommene und bewährte Lerninhalte, sondern auch neue Kenntnisse und Wissensfortschritte vermittelt werden. Nur so würden die Entwicklungsmöglichkeiten der jungen Schüler gefördert. Die Volksschule habe bereits begonnen, ihre Wissensvermittlung mit Rücksicht auf die Kinder durchzuführen, der Unterricht in der „höheren“ Schule leide aber an einem übermäßigen Sprachunterricht, der unter dem Einfluß „welt- und wissenschaftsfremde[r] Philologen“ kaum zu reformieren sei und eine „sachlich […] längst sinn- und zwecklos gewordene Belastung der jugendlichen Entwicklung“ bedeute. Ostwald, Kulturwissenschaften, S. 182.
Den Bemerkun[177]gen über den Religionsunterricht (in der Anmerkung das.)
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[177] Ostwald, ebd., S. 182, Fn. 1, merkt zu der Lage der Volksschulen an, daß die „große Ausdehnung und die unzweckmäßige Gestaltung“ ihres Religionsunterrichtes indessen noch ihre zeitgemäße Entwicklung behindere. Unter Verweis auf Nordamerika, insbesondere Neuengland, wo die Konfessionen selbst für die religiöse Unterrichtung der Schüler sorgen, bemerkt er, daß auch ohne diesen Unterricht ein „lebhaftes religiöses Leben“ möglich sei.
wird jeder nicht durch konfessionelle oder andere autoritäre Interessen Gebundene natürlich beistimmen; dagegen liegt die Frage der Stellung der alten Sprachen gerade von seinem eigensten Standpunkt aus durchaus nicht so einfach, wie er annimmt. Mir ist es sehr eindrücklich gewesen, als – freilich im Gegen[A 595]satz zu der offiziellen katholischen Stellungnahme – ein besonders eifriger Pädagoge streng klerikaler Richtung mir seine Vorliebe für eine möglichst rein naturwissenschaftliche Jugendbildung (neben der religiösen) auseinandersetzte, von der er (m. E., nach dem ganzen Geist des modernen Katholizismus und seiner Anpassungsfähigkeit, mit gutem Grunde) keinerlei Schädigung seiner Konfessionsinteressen, wohl aber die Ausrottung der freiheitlich-„subjektivistischen“ und ihre Ersetzung durch „organische“ Ideale im Sinne des Thomismus erwartete,
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Der katholische Theologe Hermann Schell kritisierte den zeitgenössischen Katholizismus, der sich in seiner konservativen, auf Rom und den Papst ausgerichteten Ausprägung nicht mit religiöser Selbstbestimmung und Wissenschaft vertrage und so dem Aberglauben und Wahngebilden Vorschub leiste. In einer 1897 erschienenen kritischen Schrift zum Katholizismus führte er aus, Katholizität bedeute, daß alle Berufsgebiete „Provinzen des Gottesreiches“ seien und ihre richtige Pflege die „Weihe des allgemeinen Priestertums“ mit sich bringe. Dies bedeute auch, „die naturwissenschaftliche oder realistische Bildung ist an sich nicht minder geeignet, die Gymnasialschule für den Idealismus zu werden, wie die altsprachliche humanistische Gymnasialbildung“. Vgl. Schell, Hermann, Der Katholicismus als Princip des Fortschritts, 6. Aufl. – Würzburg: Andreas Göbels Verlagsbuchhandlung 1897, S. 33. Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97–215, hier S. 124, Fn. 2, zitierte bereits diese Schrift. Ob Weber Schell auch persönlich kannte, ist unklar.
– während andererseits bekanntlich Gelehrte ersten Ranges, deren leidenschaftliches Interesse für „technischen Fortschritt“ auch Ostwald voll genügen würde, in eingehender Begründung aus ihren Seminarerfahrungen mit „gymnasial“ und mit „real“ vorgebildeten Schülern die fast stets geringere Denkschulung der letzteren – schließlich doch das auch „energetisch“ entscheidende Moment – hervorgehoben haben. Ganz einfach liegen also diese Dinge jedenfalls nicht. Wenn man (S. 180) „Charakterbildung“ mit „Entwicklung der sozialen Eigenschaften“ und diesen [178]vieldeutigen Begriff seinerseits, wie bei Ostwald zweifellos, mit: „energetisch (d. h. technisch) nützlichen Eigenschaften“ identifiziert, so hat das Konsequenzen, die leider sehr viel weiter, als Ostwald ahnt, davon entfernt sind, „Freiheit des Denkens und der Gesinnung“ zu erzielen, wie sie der Schlußsatz des Buches
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[178] Am Schluß seines Buches resümiert Ostwald, Kulturwissenschaften, S. 184, es vermittle die „Vorstellung, welcher sachliche Inhalt dem heranwachsenden jungen Menschen zu wissen not tut, und in welchem Sinne sein Charakter entwickelt werden muß. Das Wissen ist in erster Linie, um das Wissen von der Natur zu orientieren, und die Richtung der Charakterentwicklung soll die Freiheit des Denkens und der Gesinnung sein.“
als Folge der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse erwartet. Denn ein Apostel der „Ordnung“ und der Vermeidung „energievergeudenden“ Echauffements für andere als technologische Ideale, wie es Ostwald ist und konsequenterweise sein muß, verbreitet – ob er will oder nicht (und wahrscheinlich geschähe dies sehr gegen Ostwalds Willen) – unvermeidlich eine Gesinnung der Fügsamkeit und Anpassung gegenüber den gegebenen sozialen Machtverhältnissen, wie sie den matter-of-fact-men
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In einem Diskussionsbeitrag über „Das Verhältnis der Kartelle zum Staate“ kam Weber 1905 auf die preußische Staatsleitung zu sprechen und stellte die Frage: „Was für Leute sitzen denn heute auf den Ministersesseln? Ganz vortreffliche Leute in ihrer Art, aber diese Art heißt: matter-of-fact-men, business-men.“ Diese würden heute nicht mehr den Anspruch an sich stellen, Staatsmänner zu sein, sie würden sich vielmehr an gegebene Situationen, wie auch an „dynastische Wünsche“, anzupassen wissen, wie es von ihnen auch erwartet werden würde. Vgl. Weber, Das Verhältnis der Kartelle zum Staate. Diskussionsbeitrag auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik am 28. September 1905, MWG I/8, S. 266–279, hier S. 273.
aller Epochen gleichmäßig eigentümlich war. Freiheit der Gesinnung ist nun einmal sicherlich kein technologisch oder utilitarisch wertvolles Ideal und „energetisch“ nicht begründbar. Und ob mit der Unterstellung allen Fortschrittes des wissenschaftlichen Denkens unter den Wertmaßstab: praktische „Beherrschung“ der Außenwelt, den Interessen der Wissenschaft – sogar auch im Sinn dieses selben Maßstabes – dauernd gedient wäre, steht nicht fest. Es ist doch nicht ganz zufällig, daß nicht der Erzvater dieses wissenschaftstheoretischen Standpunktes: Bacon, sondern daß darin ganz anders gerichtete Denker es waren, welche die methodischen Grundlagen der modernen exakten Naturwissenschaften schufen. Das, was man heute: „Suchen nach der wissenschaftlichen Wahrheit um ihrer selbst willen“ nennt, nannte z. B. Swammerdam in der Sprache der damaligen Zeit: „Nachweis der Weisheit Gottes in der Anatomie [179]einer Laus“;
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[179] Bei Johann Swammerdamm – auch: Swammerdam – heißt es: „Sendschreiben von der Menschen Laus an den hoch angesehnen Herrn Thevenot, ehedem Abgesandten des Königs von Frankreich an den freyen Staat zu Genua. Hochedler Herr. Ich stelle hiermit Ew. Hochedl. in der Zergliederung einer Laus den allmächtigen Finger GOttes vor Augen. Sie werden in derselben mit Wundern aufgehäuffte Wunder erblicken, und in einem kleinen Punkte die Weisheit GOttes deutlich erkennen.“ Vgl. Swammerdamm, Johann, Bibel der Natur, worinnen die Insekten in gewisse Classen vertheilt, sorgfältig beschrieben, zergliedert, in säubern Kupferstichen vorgestellt, mit vielen Anmerkungen über die Seltenheiten der Natur erleutert, und zum Beweis der Allmacht und Weisheit des Schöpfers angewendet werden. Aus dem Holländischen übersetzt. – Leipzig: in Johann Friedrich Gleditschens Buchhandlung 1752, S. 30; dass. auch in: Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 91 mit Hg.-Anm. 33.
und der liebe Gott hat als heuristisches Prinzip damals gar nicht so übel funktioniert. Andererseits ist selbstredend zuzugeben, daß wei[A 596]terhin ökonomische Interessen es gewesen sind und noch sind, welche Wissenschaften wie der Chemie (und manchen anderen Naturwissenschaften) den nötigen Dampf gaben und geben. Aber soll man dieses faktisch für die Chemie wichtigste Agens heute ebenso zum „Sinn“ der Arbeit der Wissenschaft machen, wie früher den lieben Gott und seinen „Ruhm“? Dann wäre mir der letztere lieber! –
Wenn die vorstehenden Bemerkungen den Anschein erweckt haben sollten, als hielte ich die energetische Betrachtungsweise für gänzlich unfruchtbar für unsere Disziplin, so entspräche dies nicht meiner Ansicht. Es ist durchaus in der Ordnung, daß man sich jeweils auch darüber klar wird, wie sich denn die physikalischen und chemischen Energiebilanzen technischer und ökonomischer Entwicklungsvorgänge gestalten. Ostwald wird mit der Erwähnung, daß Ratzel von solchen Erörterungen mit ihm Nutzen gezogen habe,
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Ostwald, Kulturwissenschaft, Vorwort, S. V, bezieht sich auf seinen Leipziger Kollegen, den Geographen und Begründer der Anthropogeographie Friedrich Ratzel, mit dem er in vielen Gesprächen die Anwendbarkeit der Energiegesetze auf Anthropologie und Völkerkunde herausgearbeitet habe, wie auch überhaupt ihm – Ostwald – dabei deutlich geworden sei, daß die energetischen Begrifflichkeiten auch höherentwickelte Formen von Gesellschaft sowie Kultur und deren Fortschritt erklären könnten, vgl. ebd., S. V f.
sicherlich vollkommen recht haben: es wird auch uns anderen so gehen, und gerade seine allgemeine Bemerkung (S. 3), daß es notwendig sei, alle die besonderen Aussagen festzustellen, welche sich aus der Anwendung des Energiegesetzes auf die sozialen Erscheinungen ergeben, verdient vorbehaltlose Zustimmung. Aber wenn er dann sofort hinzufügt: daß es sich dabei um eine „Grundlegung“ der Soziologie vom Gesichtspunkt der Energetik [180]aus handle, so ist dies eben eine Folge der verfehlten Comteschen Wissenschaftsschematik. Gerade die konkreten Einzelergebnisse der chemischen, biologischen (u.s.w.) Arbeit sind es, die, wo sie in unsere Betrachtung hineinragen, unser Interesse erregen, – die grundlegenden Theoreme dagegen nur ganz ausnahmsweise und niemals als essentielle „Grundlage“, wie schon oben dargelegt wurde. Dieser Sachverhalt pflegt den Vertretern der Naturwissenschaft stets auffallend schwer begreiflich zu sein, – aber er sollte eigentlich einen auf dem Standpunkt der „Denkökonomie“ stehenden Denker nicht überraschen. Es ist ferner durchaus nicht zu leugnen, daß die Terminologie mancher Disziplinen, z. B. der unsrigen in der ökonomischen Produktionslehre, entschieden durch Berücksichtigung der physikalischen und chemischen Begriffsbildung an Eindeutigkeit gewinnen würde. Aber Ostwald überschätzt alle diese Gewinnste denn doch in einer so lächerlichen Weise, daß er vielfach den Spott aller mit den wirklichen Problemen der „Kulturwissenschaften“ einigermaßen Vertrauten geradezu herausfordert. Wenn die vorstehende Besprechung hie und da ihrerseits, – angesichts der Behandlungsweise, die unsere Probleme bei Ostwald erfahren, noch in äußerst bescheidenem Umfang, – einen etwas scherzhaften Ton anschlug, so möge man das nicht mißverstehen. Ich habe guten Grund, nicht mit Steinen nach Leuten zu werfen, welche bei Überschreitung ihres engsten Fachgebietes einige faux pas machen, denn dieses Experimentieren mit den eigenen Begriffsbildungen auf Grenz- und Nachbargebieten ist [Α 597]heute zunehmend unvermeidlich, so leicht dabei Fehler unterlaufen. Aber angesichts des maßlosen Hochmuts, mit welchem Vertreter der Naturwissenschaften auf die Arbeit anderer (namentlich: historischer) Disziplinen, die andern methodischen Zielen entsprechend andere Wege gehen müssen, zu blicken pflegen, ist es am Platz festzustellen, daß auch für einen so bedeutenden Denker, wie Ostwald es ist, Chwolsons „12. Gebot“
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[180] Chwolson, Orest Danilowitsch, Hegel, Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot. Eine kritische Studie, 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. – Braunschweig: Vieweg und Sohn 1908, S. 14; das Gebot heißt: „Du sollst nie über etwas schreiben, was du nicht verstehst“.
zu Recht besteht. Ostwald ist in seinen Informationsquellen sehr schlecht beraten gewesen und hat außerdem, durch Hineinmischung seiner praktischen Lieblingspostulate auf allen möglichen politischen (wirtschafts-, kriminal-, schulpoliti[181]schen u.s.w.) Gebieten, – die nun einmal aus „energetischen Tatbeständen“ heraus nicht entscheidbar sind und von ihm selbst auch aus ganz anderen Prämissen entschieden werden, – in die, bei rein wissenschaftlicher Fragestellung, streng sachlich auf die kausale Tragweite der energetischen Beziehungen und die methodische Tragweite der energetischen Begriffe zu beschränkende Untersuchung, seiner eigenen Sache nur geschadet.
Das ist, bei allen Meinungsverschiedenheiten, bedauerlich. Unbeschadet der rücksichtslosesten Kritik jener zahllosen grotesken Entgleisungen, die auf aller Seiten dieser zum Erbarmen schlechten Schrift passieren (hier sind noch nicht 10 % davon zur Darstellung gebracht worden), ist und bleibt eben Ostwald doch ein Geist, dessen erfrischende Begeisterung ebenso wie sein von jeder dogmatischen Erstarrung frei gebliebener Sinn für moderne Probleme es jedem zum Vergnügen machen müßte, auf dem großen Problemgebiet: „Technik und Kultur“ mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Wenn hier auf diese Schrift so umfänglich eingegangen wurde, so hat dies übrigens nicht allein in der Bedeutung ihres Verfassers, sondern auch darin seinen Grund, daß sie, mit Vorzügen und Schwächen ein „Typus“ ist für die Art, wie der „Naturalismus“, das heißt: der Versuch: Werturteile aus naturwissenschaftlichen Tatbeständen abzuleiten, überhaupt (gröber oder feiner) ein für allemal verfährt. Aus den Irrtümern sonst bedeutender Gelehrter lernt man oft mehr, als aus den Korrektheiten von Nullen. Wesentlich um ihrer charakteristischen und typischen Irrtümer willen ist die kleine Mißgeburt hier so eingehend behandelt worden. Es kommt keinem Historiker, Nationalökonomen oder anderen Vertretern „kulturwissenschaftlicher“ Disziplinen heute die Anmaßung bei, den Chemikern und Technologen vorzuschreiben, was für eine Methode und welche Gesichtspunkte sie anzuwenden hätten. Daß sich die Vertreter dieser Disziplinen nachgerade ebenso zu bescheiden lernen, – dies ist Voraussetzung fruchtbaren Zusammenarbeitens, welches niemand mehr wünschen kann als der Ref[erent]. Denn so lange ihnen nicht einmal die grundlegende Erkenntnis zum Gemeingut geworden ist: daß gewisse historisch gegebene und historisch wandelbare gesellschaftliche Bedingungen, d. h. Interessenkonstellationen be[A 598]stimmter Art, es waren und sind, welche die Verwertung technischer „Erfindungen“ überhaupt erst möglich gemacht haben, möglich machen und möglich (oder auch: unmög[182]lich) machen werden, – daß mithin von der Entwicklung dieser Interessenkonstellationen und keineswegs von den rein technischen „Möglichkeiten“ allein es auch abhängt, wie sich die Zukunft der technischen Entwicklung gestalten wird, – so lange ist eine fruchtbare Auseinandersetzung nicht möglich.