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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[186][Rezension von:]

[B 615][A, A₁ 1]Weber, Adolf, Professor an der Handelshochschule zu Cöln. Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft. J.C.B.
a
[186]A, A₁: J.B.C.
Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1909. 77 S. Μ. 2.–.
Die frischgeschriebene Broschüre beabsichtigt ihrer ganzen Anlage nach nicht, irgend einen neuen Gedanken zu vertreten: sie entstammt augenscheinlich dem Bedürfnis, ein Bekenntnis abzulegen und verdient als Symptom einer bestimmten, in den mannigfachsten Formen wiederkehrenden „Stimmungslage“ Beachtung. Sie befaßt sich 1) mit der Erörterung des wissenschaftlichen Wesens der Volkswirtschaftslehre, 2) mit ihrem Verhältnis zur „Ethik“ und 3) zur geschäftlichen Praxis, [B 616]endlich 4) mit ihrer „volkserzieherischen“ Aufgabe.
1
[186] Max Weber bezieht sich auf Weber, Adolf, Aufgaben, S. 4.
Ad 1 wird unter Ablehnung sowohl des Historismus (gegen Schmoller S. 26 ff.)
2
Weber, Adolf, Aufgaben, S. 26 ff., bezieht sich auf Schmollers Rektoratsrede: Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Socialwissenschaften und die heutige deutsche Volkswirtschaftslehre. Rede bei Antritt des Rektorats gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1897, wiederabgedruckt in: Schmoller, Gustav, Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volkswirtschaftslehre. – Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 315–343 (hinfort: Schmoller, Wechselnde Theorien).
wie des Hineintragens
b
A: das Hineintragen
naturwissenschaftlicher Methodik (mit Anschluß an Sombart S. 5
3
Weber, Adolf, Aufgaben, S. 5, zitiert: Sombart, Werner, Das Lebenswerk von Karl Marx. – Leipzig: Gustav Fischer 1909.
und Diehl S. 16)
4
Weber, Adolf, Aufgaben, S. 16, zitiert: Diehl, Karl, Die Bedeutung der wissenschaftlichen Nationalökonomie für die praktische Wirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede, gehalten am 25. Februar 1909 an der Universität Freiburg i. B., in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, Band 37, 1909, S. 289–315.
nach einigen Bemerkungen über wirtschaftliche Motive (S. 6) in Kürze eine Systematik der Volkswirtschaftslehre (teilweise im Anschluß an Hasbach
5
Vgl. Hasbach, Wilhelm, Güterverzehrung und Güterhervorbringung. – Jena: Gustav Fischer 1906.
u. Plenge,
6
Vgl. Plenge, Johann, Das System der Verkehrswirtschaft. Probevorlesung am 25. April 1903 zum Zweck der Habilitation an der Universität Leipzig. – Tübingen: Verlag der H. Laupp’schen Buchhandlung 1903.
im wesentlichen nach eigener Zurechtlegung) geboten (S. 18 ff.). Ad 2 wird sehr [187]nachdrücklich die Ausscheidung der Frage des „Seinsollenden“ (als nur subjektiv zu beantworten S. 34) von der wissenschaftlichen Tatsachenforschung und die strenge Scheidung der wissenschaftlichen von der etwaigen reformpolitischen Tätigkeit des akademischen Lehrers verlangt, ad 3 alsdann auf dieser Basis zwischen (akademischer) „Theorie“ und (geschäftlicher) „Praxis“ Frieden zu stiften gesucht nach der Losung (S. 68): daß das „wirtschaftliche Seinsollen“ „mit dem Maßstabe des wirtschaftlichen Seins“ „gemessen“ werden müsse. Ad 4 endlich wird der Wissenschaft die Aufgabe zugesprochen, unter strenger Begrenzung ihrer Aufgaben (gemäß Nr. 2 und 3) „über die Schranken der parteipolitischen Gegensätze hinweg“ an der ökonomischen Erziehung der Nation (im Sinne Lists)
7
[187] Vgl. List, Friedrich, Das nationale System der politischen Ökonomie. Mit einer historischen und kritischen Einleitung, hg. von K. Th. Eheberg, 7. Aufl. – Stuttgart: J. G. Cotta 1883.
mitzuwirken, indem sie „Vorurteile“, wie beispielsweise „das Dogma von dem naturnotwendigen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ (durch den Nachweis, daß Hebung der Produktivität die Löhne steigert), ebenso wie Vorurteile gegen die Bauspekulation durch Aufdeckung der Gründe der Mietssteigerungen beseitigt.
8
Weber bezieht sich in diesem Satz auf Weber, Adolf, Aufgaben, S. 76; die in Anführungszeichen gesetzten Formulierungen sind direkte Zitate daraus.
Da der Verfasser
c
[187] c–c(bis S. 200: zustimme.) Petitdruck in A, A1, B.
sich wiederholt auch auf mich bezieht und in der Tat, speziell in den Ausführungen im 3. Abschnitt,
9
Der Bezug Adolf Webers auf Max Weber besteht vornehmlich in dem Verweis auf dessen erkenntniskritische Trennung von Seiendem und Seinsollendem, unter Nennung des sog. „Objektivitätsaufsatzes“ von 1904 (Weber, Objektivität), vgl. Weber, Adolf, Aufgaben, Kap. I, S. 12, 28 und Kap. II, S. 47, 61; weitere Nennungen Max Webers durch Weber, Adolf, ebd., S. 3 und 9.
aber auch in manchen anderen, sich eine mir erfreuliche Übereinstimmung der Ansichten findet, scheint es mir richtig, auch die Punkte zu bezeichnen, wo sie (wenigstens nach der Art, wie der Verf. sich ausdrückt) nicht besteht. Das gilt
d
A, A₁: trifft
zunächst bezüglich eines Teiles der Ansichten, die er über die als „Kathedersozialisten“ bezeichnete, bekanntlich die denkbar größten Gegensätze der Methoden und praktischen Ideale in sich schließende Gruppe von Gelehrten und (wohlgemerkt!) Praktikern äußert.
10
Der Begriff „Kathedersozialisten“ bezieht sich auf eine Gruppe von Professoren [188]und Praktikern, die sich im Verein für Sozialpolitik zusammengeschlossen hatten, um vermittels entsprechender Enqueten die Grundlagen für eine gegen das Manchestertum gerichtete Sozialpolitik zu legen. Die Auffassungen über die gebotene Sozialpolitik waren dabei keineswegs einheitlich. Einig war man sich allerdings über die staatliche Verpflichtung zur Beseitigung von sozialen Mißständen und zur Milderung der Klassengegensätze sowie darüber, daß Sozialpolitik nicht durch Wirtschaftspolitik ersetzt werden könne.
Zusammengehalten [188]wurde und wird die Gruppe, neben rein wissenschaftlichen Interessen, nur durch die Anerkennung des Bedürfnisses nach Diskussion derjenigen praktisch-politischen Fragen, welche mit den sozialen Folgeerscheinungen des Kapitalismus zusammenhängen, aber durch kein Programm. Solche albernen Anwürfe
e
[188]A: Auswürfe
wie die vom Verfasser
f
A, A₁: Verf.
auf S. 2 als symptomatisch für die Gegenwart registrierten
g
A, A₁: wiedergegebenen
, hat nun der „Katheder-Sozialismus“ bekanntlich schon vor 3½ Jahrzehnten an seiner Wiege gefunden.
11
Zur Auseinandersetzung zwischen Wirtschaftsliberalismus, Unternehmertum, konservativer Sozial- und Wirtschaftspolitik einerseits und dem Kathedersozialismus andererseits innerhalb und außerhalb des Vereins für Sozialpolitik vgl. Lindenlaub, Richtungskämpfe, bes. S. 44–83, und Boese, Verein, S. 1–42.
Sein Einfluß aber, der heute wie damals bekämpft wird, beruhte keineswegs in erster Linie auf der Zugehörigkeit vieler Professoren, sondern gerade auf derjenigen der „Praktiker“ (hohe Verwaltungsbeamte: Miquel, Thiel etc.)
h
Klammer fehlt in A, A1.
und bis Mitte der 90er Jahre der
i
A, A₁, B: die
Großindustrie (Bueck
k
A, A₁: Großindustrie: Bueck
etc.), welche sich die Mitarbeit der akademischen Kreise überall da äußerst gern gefallen ließ
l
A, A₁: ließen
, wo sie ihren jeweiligen Wünschen entsprach, und immer dann genau das gleiche Wutgeschrei erhob
m
A, A₁: erhoben
, wenn dies einmal nicht der Fall war.
[A, A₁ 2]Der Protest:
n
A, A₁: Protest,
daß die Vertretung irgend welcher, noch so erhabener, Ideale nun
o
Zu erwarten wäre: nie
und nimmer im Namen einer (empirischen!) „Wissenschaft“ erfolgen könne, ist innerhalb des Vereins f[ür] Sozialpolitik bekanntlich nicht verstummt.
12
Im seit 1872 bestehenden Verein für Sozialpolitik ließen sich die Gruppe der Vereinsgründer und eine seit den 1890er Jahren beigetretene jüngere Generation von Nationalökonomen unterscheiden. Die erste vertrat eine Politik maßvoller staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft und eine Sozialreform zur Verbesserung der sozioökonomischen Lage der Arbeiterschaft. Geeignete sozialpolitische Maßnahmen sollten mit Hilfe nationalökonomischer Untersuchungen zur Lage und Entwicklung der jeweils betroffenen Bevölkerungsgruppe ausgearbeitet und somit wissenschaftlich begründet werden. Die zweite Gruppe vertrat dieselbe sozialreformerische Position, hielt indessen Ideale und politische Einstellungen für nicht wissenschaftlich begründbar. Vgl. zu [189]den im Verein geführten Diskussionen Lindenlaub, Richtungskämpfe, bes. Kap. 5: Der Konflikt der Generationen: Der Verein für Sozialpolitik zwischen konservativer und liberaler Sozialpolitik und kapitalistischen und sozialistischen Leitbildern, S. 385–432.
Der Fehler der Vermi[189]schung von Politik und Wissenschaft ist aber außerhalb des Kathedersozialismus nicht in geringerem, sondern in weit höherem Grade gemacht worden, wie – auch nach meiner oft genug wiederholten Ansicht – innerhalb desselben. Und ganz gewiß nicht legitimiert zu irgend welcher Anklägerrolle in dieser Hinsicht ist ein Typus, wie der des a.a. O. zitierten Herrn Prof. Ehrenberg nach dessen eigener „Praxis“.
13
Der Nationalökonom Richard Ehrenberg warf den Kathedersozialisten vor, mit ihrer tendenziösen historischen Forschung, bei der sie einseitig nur die sozioökonomische Lage der Arbeiterschaft betrachteten, rechtfertigten sie eine arbeiterfreundliche Sozialpolitik und ließen die Leistung der Unternehmer unberücksichtigt. In seinen einleitenden Bemerkungen verweist Weber, Adolf, Aufgaben, S. 2 f., auf einen Zeitungsartikel von Ehrenberg, in dem dieser seine Kritik am Kathedersozialismus sehr polemisch formuliert hatte, vgl. Editorischer Bericht, oben, S. 184.
Zunächst Rundschreiben an uns „Kathedersozialisten“ mit dem Hinweis auf die außerordentliche Bedeutung eines beigelegten (eigenen) Aufsatzes für die „Verständigung“ von „Sozialreformern und Unternehmern“, – welche zu „vermitteln“ der Absender sich berufen glaubte.
14
Vgl. Ehrenberg, Richard, Sozialreformer und Unternehmer. Unparteiische Betrachtungen. – Jena: Gustav Fischer 1904.
Als[B 617]dann, nach Mißerfolgen in dieser Richtung, immer unerquicklichere
p
[189]A, A₁: unglücklichere
Arten der Reklame für angeblich neue Methoden (über diese von niemand zu entdeckende „Neuheit“, vgl. jetzt auch die kühle Abfertigung E[hrenberg]s durch Professor Lexis in der Festschrift für Schmoller S. 34 unten).
15
Ehrenberg setzte der historischen Nationalökonomie seine Wirtschaftswissenschaft der exakt-vergleichenden Methode entgegen. Statt historischer Untersuchungen zur Entwicklung von Volkswirtschaften gehe es um die Erforschung der großindustriellen Wirtschaftsbetriebe. An die Stelle der historischen Arbeit in Staats- und Gemeindearchiven solle die Auswertung von Betriebsarchiven und Unternehmerbiographien treten. Nur dieses empirisch-statistische Verfahren erlaube es, wie in den Naturwissenschaften, zu vergleichen und zu verallgemeinern. Ehrenberg gründete 1905 für die Veröffentlichung der Ergebnisse seiner exakten Wirtschaftsforschung das Thünen-Archiv, vgl. Ehrenberg, Ziele (wie oben, S. 183, Anm. 3). Wilhelm Lexis, Volkswirtschaftslehre, hier S. 34, schreibt dazu: „In der neuesten Zeit hat R. Ehrenberg den exakten Teil der Thünenschen Methode, eben die zahlenmäßige Beobachtung des inneren Gefüges und Getriebes konkreter Privatwirtschaften, namentlich der großen Unternehmungen, besonders herausgehoben und als die eigentliche grundlegende Methode der Volkswirtschaftslehre aufgestellt, die er die ,exakt-vergleichende‘ nennt […]. Solche Spezialuntersuchungen privatwirtschaftlicher, namentlich landwirtschaftlicher Betriebe, sind auch schon früher angestellt worden, und es unter[190]liegt keinem Zweifel, daß sie zum wissenschaftlichen Ausbau der Volkswirtschaftslehre nötig sind. Das vergleichende Verfahren führt auch zu gewissen allgemeinen Sätzen, aber es genügt nicht, um den volkswirtschaftlichen Prozeß zu erklären, der sich aus dem Zusammenwirken und der gegenseitigen Beeinflussung der Einzelwirtschaften ergibt.“
[190]Dazu dann „Bescheidenheiten“ gegenüber den Großindustriellen auf Kosten der entstellt
1)
[190][B 617][A, A₁ 2] Ich fasse den Ausdruck absichtlich milde, da ich zu E[hrenberg]s Gunsten natürlich annehme, daß nur grobe Fahrlässigkeit bei der ausdrücklichen Unterdrückung des warmen Lobes, welches Brentano den wirklich charitativen Wohlfahrtseinrichtungen (im Gegensatz zu den rein „geschäftlich“ bedingten) gespendet hat,
16
Brentano hatte in seinem Vortrag „Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben“ bei der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Mannheim 1905 festgestellt, die Arbeitgeber der Großindustrie schüfen mit ihren betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen eine Schar von an ihren Betrieb gebundenen, mit allem einverstandenen Arbeitswilligen. Über die eigentlich betrieblichen Belange hinaus gelangten die Arbeitgeber so zu großem Einfluß auf ihre Arbeiterschaft, der sich auch auf das private Leben auswirke. Von diesem Urteil nahm er die karitativen Wohlfahrtseinrichtungen ausdrücklich aus, sie seien über „alles Lob erhaben“, vgl. Brentano, Lujo, Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben, in: Verhandlungen VfSp 1905, S. 135–149, hier S. 140 f.
vorlag. Dagegen muß ich die Art, wie Herr H[enry] A[xel] Bueck mich, unter ausdrücklicher Berufung auf seine Bekanntschaft nicht nur mit dem Wortlaut, sondern auch dem genauen Zusammenhang einer Äußerung von mir, die Arbeitswilligenvon denen ich mit keinem Wort geredet hatte – als „Canaillen“ bezeichnen ließ (abgedruckt u. a. in den Mitteilungen des Zentralverbandes D[eutscher] Industrieller),
q
[190] In A zwei Textzeilen vertauscht.
als Fälschung bezeichnen.
17
Henry Axel Bueck, Generalsekretär des Centralverbandes Deutscher Industrieller, hatte in seinem Vortrag „Kathedersozialismus“ im Oktober 1906 u. a. Max Weber scharf attackiert und sich dabei auf dessen Äußerungen bei der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik 1905 bezogen: „Professor Max Weber brauchte das Wort ,Kanaille‘ mit Bezug auf Beispiele und in einer Wortstellung, die deutlich erkennen ließ, daß in seinen Augen die Arbeitswilligen zu den Kanaillen zählen.“ Bueck, Henry Axel, Kathedersozialismus. Vortrag, gehalten in der Eisenhütte Oberschlesien, Zweigverein des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, am 28. Okt. 1906 in Gleiwitz, abgedruckt in: Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller, No. 104, Dez. 1906, S. 214–245, Zitat S. 237. Max Weber hatte in seinem Diskussionsbeitrag hingegen darüber gesprochen, daß ein autoritäres System ihm ausgesetzte Menschen zu „Kanaillen“ erziehe, weil es „depravierend und charakterschwächend“ wirke, vgl. Weber, Max, Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben. Diskussionsbeitrag auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik am 26. September 1905, MWG I/8, S. 249–259, hier S. 252 f.
Daß ein
r
In A, A1 folgt: die Verleumdung politischer Gegner betreibendes
Blatt wie die „Schles[ische] Ztg.“ daraus machte: die Arbeitgeber seien (nach meiner Ansicht) „Canaillen“ (was Herrn Koll[egen] von Wenckstern zu einer Berichtigung Anlaß gab),
18
Die Schlesische Zeitung hatte am 5. Juli 1908 in einem Leitartikel in Form eines [191]fiktiven Gesprächs gegen den Kathedersozialismus im Verein für Sozialpolitik, insbesondere gegen dessen Hauptvertreter Gustav Schmoller und Adolph Wagner, polemisiert. Aber auch Max Weber wurde mit Bezug auf seine Äußerung auf der Mannheimer Generalversammlung von einem der Gesprächsteilnehmer zitiert: „Na, ich bin ja eine von den ,Canaillen‘, wie Weber-Heidelberg uns industrielle Unternehmer genannt hat. […] Es ist doch höchste Zeit, daß die Regierung das Lehrmonopol dieser Herren, die sich als Bahnbrecher der Sozialdemokratie bewährt haben, an den Universitäten abstellt.“ Vgl. o. V., Ein widerspenstiger Leichnam (Gespräch in der Elektrischen), in: Schlesische Zeitung, Nr. 466 vom 5. Juli 1908, S. 1; hier zitiert nach Wenckstern, Adolph von, Staatswissenschaftliche Probleme der Gegenwart, 1. Band. – Berlin: Vossische Buchhandlung 1909, S. 33 f. In derselben Publikation schreibt von Wenckstern: „Wenn er [Weber] den Ausdruck ,Canaillen‘ gebraucht haben sollte, so wird er ihn in Beziehung auf solche industrielle Unternehmer gebraucht haben, welche moralisch unwürdig sind und handeln.“ (Ebd., S. 38). Dazu ist auch eine Zuschrift Max Webers an Wenckstern, undat., abgedruckt (ebd., S. 45 f.; MWG II/11). Weber war sicherlich verwundert, daß gerade dieser Kollege für ihn Partei ergriff, schrieb er doch später: „Wenckstern steht mir absolut fern!“, vgl. Brief Max Webers an Johann Plenge vom 1. Februar 1913, MWG II/8, S. 74.
nimmt nicht weiter wunder. Dergestalt wird die „Stimmung“ gegenüber den „Kathedersozialisten“ fabriziert. –
[191]Daß in der Versammlung in Cöln 1905,
19
Richard Ehrenberg hatte im Zentralverband Deutscher Industrieller in Köln am 18. November 1905 einen Vortrag mit dem Titel „Wirtschafts-Wissenschaft und Wirtschafts-Praxis“ gehalten, vgl. den Abdruck in: Ehrenberg, Richard, Terrorismus in der Wirtschaftswissenschaft, zweites und drittes Heft. – Berlin: Reimar Hobbing 1910 (hinfort: Ehrenberg, Wirtschaftswissenschaft), S. 110–116.
welche der Verf. S. 66/67 zitiert, die „Vorwürfe Ehrenbergs“ gegen die „herrschende Richtung“ unserer Wissenschaft „nur zum Teil widerlegt werden konnten“, mag sein. Die anwesenden (im übrigen von mir sehr geschätzten) Kollegen waren nicht die Leute dazu, denn sie selbst schoben politische Stellung und wissenschaftliche Arbeit ineinander, anerkannten bedauernd das Vorhandensein räudiger, d. h. der Richtung des Herrn Kirdorf
t
A, A₁: Kirdorff
u. Kons[orten] sozialpolitisch nicht genehmer, Schafe (ich schmeichle mir fast, zu diesen zu gehören) in den Universitäten, stempelten dabei nebenher versehentlich einige darüber nicht wenig erstaunte Kollegen zu „Freihändlern“ und versicherten nur, – mit Wilhelm Busch –: „… jedoch – es gibt auch bessere Menschen noch“.
20
Es heißt: „So denkt der böse Mensch. – Jedoch / Es gibt auch gute Menschen noch. –“ Busch, Wilhelm, Der Geburtstag oder Die Partikularisten. Schwank in 100 Bildern. – München: Fr. Bassermann 1901, S. 1.
Das kann begreiflicherweise niemand recht imponiert haben:
u
Doppelpunkt fehlt in A, A1.
– vielleicht nicht einmal ihnen selbst, und wenn sie wirklich die vom Verf. auf S. 67 oben geschilderten Gefühle mit nach Hause getragen haben sollten,
21
Weber, Adolf, Aufgaben, S. 67, beschreibt, daß das Verhältnis von nationalökonomischer Theorie und wirtschaftlicher Praxis angespannt sei, sogar ein Mann der Wissenschaft, Professor Wirminghaus, habe auf der Versammlung des Zentralverbandes der Industriellen vom November 1905 bestätigt, daß bei einzelnen Professoren eine [192]einseitige Stimmung gegen die Männer der Praxis, also gegen die Unternehmer, herrsche.
so könnte das recht wohl damit zusammenhängen. Auswärts hat der ganze wunderliche Vorgang, speziell das Auftreten des Herrn Ehrenberg, wohl nur heitere Empfindungen erregt.
wiedergegebenen Ansichten von „Kathe[191]dersozialisten“ (speziell Brentanos):
s
[191] Doppelpunkt fehlt in A, A1.
– was Vertreter der Großindustrie durch Anregung einer Subskription für eine E[hren[192]berg]sche „Strafprofessur“ quittierten.
22
Unter „Strafprofessur“ wurde eine Professur verstanden, die von der Regierung zusätzlich eingerichtet wurde, um einem politisch mißliebigen Professor einen ihr genehmen entgegen zu setzen. Vgl. zur Strafprofessur in der Nationalökonomie Krüger, „Jüngere“ (wie oben, S. 183, Anm. 2), S. 116. Für die Einrichtung einer Professur für Ehrenberg an der Universität Leipzig war dem sächsischen Kultusministerium von einer Gruppe Industrieller ein hoher Betrag angeboten worden. Die Initiative scheiterte am Widerstand der Fakultät. In seinen Memoiren spricht Brentano in diesem Zusammenhang von einer „Tendenzprofessur“; vgl. Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands. – Jena: Diederichs 1931 (hinfort: Brentano, Mein Leben), S. 289. Ehrenberg selbst beschreibt seine Bemühungen, die exakt-vergleichende Methode in der Nationalökonomie auch institutionell an preußischen Universitäten, wie Rostock und Leipzig, zu verankern, vgl. Ehrenberg, Wirtschaftswissenschaft (wie oben, S. 191, Anm. 19), bes. S. 22–29.
Nach dem (vorläufigen) Scheitern dieses Projekts schließlich ganz den Zeitläuften entsprechend: Vorspanndienste für den „Bund der Landwirte“, wie sie s. Z. ja auch Herrn Prof. Ruhland eine Audienz beim preußischen Kultusminister verschafft haben.
23
Der seit 1899 in Rostock lehrende Richard Ehrenberg, der neben seinem „Thünen-Archiv“ auch ein „Institut für exakte Wirtschaftsforschung“ gründen wollte – dies möglichst nicht in der Peripherie des Reiches –, bemühte sich um Unterstützung in unternehmerischen und politischen Kreisen Preußens. Die von Weber angedeutete Begebenheit stellt Ehrenberg folgendermaßen dar: im Sommer 1907 habe er dem Ministerialdirektor Friedrich Althoff, zuständig für das preußische Hochschulwesen, den Plan unterbreitet, sein Institut für exakte Wirtschaftsforschung nach Möglichkeit in Preußen zu gründen. Althoff sei daran sehr interessiert gewesen, habe sich aber schließlich gehindert gesehen, dem Vorschlag zu folgen, weil die öffentliche Meinung darin einen Versuch zur Beeinflussung der Wissenschaft sehen würde. Daran sei ihm klargeworden, wie stark der Einfluß seiner Gegner – damit meinte er die Kathedersozialisten – sei, Ehrenberg, Wirtschaftswissenschaft (wie oben, S. 191, Anm. 19), S. 17 f. Der promovierte Nationalökonom und Agrarpolitiker Gustav Ruhland war seit 1894 wissenschaftlicher Berater des Bundes der Landwirte. Zunächst an Schweizer Universitäten, strebte er nach der Jahrhundertwende eine Professur in Preußen an. Auf Veranlassung des Bundes der Landwirte wurde dieses Anliegen im preußischen Kultusministerium besprochen mit dem Bescheid, es werde zugestimmt, wenn sich eine preußische Fakultät um Ruhland bemühe. Da kein solcher Vorschlag erfolgte, versuchte ein Vertreter des Bundes der Landwirte in Hessen, ihn an der Universität Gießen unterzubringen. Die Ereignisse, die auf einen langwierigen Verleumdungsprozeß, den Fall Biermer-Ruhland, hinausliefen, beschreibt Brentano in seinen Memoiren, vgl. Brentano, Mein Leben (wie oben, Anm. 22), S. 405–411.
Und parallel damit das für jeden Freund der Wissenschaft traurige Schauspiel, wie ein begabter Schriftsteller nach sehr vielversprechenden Anfangsleistungen mit sichtlich steigender Begier nach „Erfolg“ und entsprechend steigender Hast der Produktion immer mangelhafter gearbeitete Leistungen, schließlich zunehmend platte Nichtigkeiten auf den Markt [193]wirft und sich um seinen guten Namen bringt ….
24
[193] So schon Webers Einschätzung Ende 1906 in einem Brief an Carl Neumann: „Ehrenberg hat früher gute Sachen gemacht. […] Jetzt hält er sich seltsamerweise für einen Reformator der nationalökonomischen Wissenschaft, wozu er nicht das geringste Zeug hat. Seine neuesten Leistungen sind kläglich, die Reklame, die er macht, widerlich.“ Brief Max Webers an Carl Neumann vom 3. November 1906, MWG II/5, S. 174–176, hier S. 174 f.
– Der Verf. wird, hoffe ich, mit mir denken: daß diese Art von „Verbindung“ von Theorie und Praxis keineswegs eine – gegenüber irgendwelchen Sünden des [A, A₁ 3]„Kathedersozialismus“ – neue Ära strenger Wissenschaftlichkeit und „vornehmer“
v
[193] An- und Ausführungszeichen fehlen in A, A1.
Abkehr von der Tagespolitik für die Zeit prognostiziert, wo dieser (an Verbreitung höchst wahrscheinlich zunehmende) Typus von Publizisten die erstrebten akademischen Positionen erlangt haben wird.
Von der Vermischung des Werturteiles mit der Tatsachendarstellung ist im übrigen auch der Verf. noch keineswegs ganz frei (S. 48 Zeile 3, S. 52
w
A, A₁: 53
Zeile 20, S. 63 Zeile 18, S. 76 Zeile 2 v.
x
A, A₁: w.
u. und vorher). Der „Gegensatz“ zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ – ist eben – man mag es bedauern oder nicht – doch keineswegs eine einfache Lohnfrage und daher durch steigende Löhne nicht erledigt, „objektiv“ nicht und „subjektiv“ erst recht nicht. Der Glaube, daß es ein aus dem „wirtschaftlichen Sein“ ableitbares oder daran meßbares „rein wirtschaftliches Sein-Sollen“ gebe, ist, wie der Verf. sich sicherlich leicht überzeugen wird, ein palpabler ressortpatriotischer Irrtum, – ja es muß mit Nachdruck konstatiert [B 618]werden, daß gerade diesem selben Irrtum gegenüber (der ja allem „Manchestertum“ und allen Sentiments der „Praktiker“ – seien sie Unternehmer oder Arbeiter – zugrunde liegt) die „Ethik“ des Kathedersozialismus und dessen ganze Denkrichtung[,] einschließlich ihrer größten Sünden (zu denen auch ich seinerzeit den S. 26 wiedergegebenen Ausspruch in Schmollers Rektoratsrede über die Disqualifikation der „Manchesterleute“ und „Marxisten“ für akademische Stellen gezählt habe),
25
Schmollers Diktum lautete: „Weder strikte Smithianer noch strikte Marxianer können heute Anspruch darauf machen, für vollwertig gehalten zu werden.“ Vgl. Schmoller, Wechselnde Theorien (wie oben, S. 186, Anm. 2), S. 341. Weber, Adolf, Aufgaben, S. 26, hatte das Diktum korrekt wiedergegeben.
dennoch einen Fortschritt zu so unermeßlich universelleren Gesichtspunkten bedeutete, daß wir heutigen Epigonen, gleichviel welcher „Richtung“, gar nicht genug dafür dankbar [194]sein können. – Überhaupt: bei dem schärfsten methodischen und sachlichen Gegensatz gegen führende Persönlichkeiten des V[ereins] f[ür] Soz[ial]-Pol[itik] trage ich den Namen eines Kathedersozialisten heute, wo er wieder einmal aus der hof- und kultusministeriellen Mode gekommen ist, mit doppeltem Stolz, und von Schmoller insbesondere gilt uns Andersdenkenden Disraëlis Wort über Lord Palmerston: „Wir bekämpfen ihn, aber wir sind stolz auf ihn“
26
[194] Nachgewiesen ist das Zitat nicht von, sondern über Disraeli. Bernal Osborne sagte über ihn: „Although I am opposed to him, I am proud of him […]“. Vgl. Meynell, Wilfrid, Benjamin Disraeli. An Unconventional Biography. – New York: D. Appleton and Company 1903, S. 397. Hier nach der Erläuterung zum Brief Max Webers an Gustav Schmoller vom 16. November 1905, MWG II/4, S. 595, Anm. 4.
– wie ich seinerzeit ihm selbst, und zwar in einer Periode leidenschaftlichster Auseinandersetzungen im Ver[ein] f[ür] Soz[ial]-Pol[itik], schrieb.
27
Max Weber bezieht sich hier auf den Konflikt, der sich auf der Mannheimer Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik im September 1905 während der Debatte über das Thema „Das Verhältnis der Kartelle zum Staate“ insbesondere zwischen Gustav Schmoller und Friedrich Naumann entladen und zu längeren, auch öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen geführt hatte (vgl. dazu Weber, Zur Verteidigung Friedrich Naumanns. Diskussionsbeiträge auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Mannheim am 28. September 1905, MWG I/13, S. 60–64, und Weber, zusammen mit Eberhard Gothein und Alfred Weber, Zur Angelegenheit Schmoller-Naumann. Zuschrift vom 30. September 1905 an die Frankfurter Zeitung, ebd., S. 65–69, beides mit den Editorischen Berichten, sowie: Lindenlaub, Richtungskämpfe, S. 409–418, und die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Friedrich Naumann vom 30. September 1905, in: MWG II/4, S. 540–542). In dieser angespannten Situation schrieb Weber Mitte November in einem persönlichen und vermittelnden Brief an Schmoller, daß der Verein ihm seinen sozialpolitischen Einfluß verdanke, und das wüßten alle, auch wenn sie mit ihm – Schmoller – nicht immer einer Meinung seien. Es gehe nicht nur um seine Unentbehrlichkeit, „sondern Sie werden doch wohl selbst – hoffentlich – etwas Ähnliches wie Disraeli’s Wort über Palmerston: ‚wir bekämpfen ihn, aber wir sind stolz auf ihn‘ herausempfunden haben.“ Brief Max Webers an Gustav Schmoller vom 16. November 1905, MWG II/4, S. 595.
Ich nehme mein staatsbürgerliches Recht, bei öffentlichen Auseinandersetzungen über Tagesfragen „Kathedersozialist“ zu sein, genau ebenso entschieden in Anspruch, wie ich mir etwas darauf zugute tue, daß meine früheren Schüler alle denkbaren wirtschafts- und sozialpolitischen „Standpunkte“ einnehmen. Ich halte die Beschäftigung der Gelehrten mit Tagesproblemen auch nicht für unfruchtbar für die Interessen der Wissenschaft: wir haben es immer wieder erlebt, daß es der Probe an konkreten historischen Situationen, wie sie praktischen Tagesproblemen zugrunde liegen, bedurfte, um scheinbar eindeutige Begriffe in ihrer Vieldeutigkeit zu enthüllen[,] und daß aktuelle rein prakti[195]sche Fragen dem Interesse für rein wissenschaftliche Erkenntnis den Weg wiesen, und wir werden es immer wieder erleben. Das liegt in der Natur eines großen Teiles unseres Begriffsschatzes als „wertbezogener“ Gebilde: – eine Auffassung, der ja auch der Verf. zugestimmt hat.
28
[195] Weber, Adolf, Aufgaben, S. 28, wo auf Max Webers Konzepte des Idealtypus und der Wertbeziehung verwiesen wird.
In dem Versuch, Werturteile als wissenschaftliche Erkenntnis hinzustellen und in der Gepflogenheit, geschützt vor der Öffentlichkeit, vom Katheder den Schülern einen Bewertungs-„Standpunkt“ aufzudrängen
a
[195] In A, A1, B folgt ein Komma.
– aber natürlich: ebenso einen
b
A: einem
gemäßigten“ wie einen
c
A: einem
„extremen“
d
Gedankenstrich fehlt in A, A1.
[,] sehe selbstredend auch ich das entscheidende Unrecht. Dieses Unrecht ist und wird aber von allen Gegnern der Kathedersozialisten in mindestens dem gleichen Umfang begangen, wie von einem Teil der letzteren. Die bloße Ablehnung parteipolitischer Stellungnahme (so: Gothein, Sering u. a.) genügt, wie den Bemerkungen des Verf. auf S. 53 u. 65 hinzuzufügen ist, nicht nur nicht, sondern verschlimmert die Situation, indem sie den Anschein erweckt, als ob eine solche contradictio in adjecto wie eine „unparteiische Beurteilung“ jemals Sinn
e
A: Sinne
gewinnen könne, oder als ob vieldeutige Worte wie die „Gesamtinteressen“, das „Allgemeinwohl“ u. dgl. jemals weniger „subjektive“ Maßstäbe sein könnten, als irgend eine noch so „extreme“ Parteiparole. Der „relativistische“ Glaube vollends an die Möglichkeit „historisch“ orientierter Bewertungsmaßstäbe enthält – nur anders gewendet – die gleichen Illusionen wie die Meinung von der Möglichkeit, ein „rein wirtschaftliches Seinsollen“ zu konstruieren und am „wirtschaftlichen Sein“ zu „messen“. Da der Verf. seinerseits wiederholt von „Illusionen“ anderer (offenbar: der „Kathedersozialisten“) spricht, wäre es gut gewesen, anzudeuten, worin diese denn nun eigentlich bestanden haben sollen[,] und – den Nachweis zu versuchen, daß andere davon [A, A₁ 4]frei seien. Dieser letztere Nachweis dürfte ihm vielleicht nicht einmal für sich selbst gelingen (s. o.).
f
Gedankenstrich fehlt in A.
Von Einzelheiten sei noch angemerkt: die Unterscheidung von „Natur“- und „Menschen“-Wissenschaft oder von „Körper“- und „Seelen“-Forschung (S. 4 f.) ist ein methodisch überwundener Standpunkt, und auch die (von mir nicht geteilten) Ansichten Som[196]barts
29
[196] Vgl. dazu oben, S. 186, Anm. 3.
fallen damit nicht zusammen. Eine Auseinandersetzung mit Diehls (vom Verf. akzeptierten) Ansichten
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Vgl. dazu oben, S. 186, Anm. 4.
führte hier zu weit. Der „methodologische“ Standpunkt des Verf. ist augenscheinlich noch nicht endgültig geklärt, – was mit tüchtigen fachwissenschaftlichen Leistungen (es muß dies heutzutage gegenüber dem Übermaß von Methodologie immer wieder betont werden) ganz ebensogut vereinbar ist, wie scharfe Augen mit mangelhafter Kenntnis der Augen-Physiologie. Logisch wirklich durchgreifende Einteilungsprinzipien können nicht (S.
g
[196] Klammer fehlt in A; sinngemäß ergänzt.
17) „der Individualität des Forschers Rechnung tragen“: hier [B 619]scheint der übrigens auch von einem so vortrefflichen Gelehrten wie Eulenburg
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Weber bezieht sich offenbar vornehmlich auf Franz Eulenburgs Leipziger Akademische Antrittsrede vom 15. Juli 1905, abgedruckt als: Eulenburg, Franz, Gesellschaft und Natur, in: AfSSp, Band 21, Heft 3, 1905, S. 519–555. Hier wendet sich Eulenburg (S. 523 ff.) sehr scharf und grundsätzlich gegen die Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre Heinrich Rickerts, vor allem gegen die von Windelband übernommene Unterscheidung zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften.
immer wieder vorgetragene Irrtum obzuwalten, als wolle (oder könne) eine Unterscheidung der logischen Eigenart der wissenschaftlichen Erkenntnisziele irgend jemand hindern, auf „Grenzgebieten“ zu arbeiten oder aber in einer wissenschaftlichen Leistung, ja selbst in einem Satzgefüge zusammengefaßt, Wahrheiten auszusprechen, die, logisch analysiert, z. B. teils nomothetischen („naturwissenschaftlichen“, im logischen Sinn des Worts), teils idiographischen
h
A: ideographischen
(„historischen“, im logischen Wortsinn) Charakters sind. – Die Mißhandlung der Jurisprudenz S. 36 kann ich nicht mitmachen. Der Verf. beurteilt die Eigenart dieser Disziplin unzutreffend, ebenso wie Gustav Cohn
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Weber, Adolf, Aufgaben, S. 36, gibt zu bedenken, daß die Jurisprudenz als Wissenschaft nicht in so hohem Ansehen stehe wie die Nationalökonomie, zumal heute auch die Ansicht verbreitet sei, daß ein Jurist ohne nationalökonomische Kenntnisse eine privatrechtliche Norm nicht richtig in ihren Zusammenhang einzuordnen wisse. Der Nationalökonom Gustav Cohn, der an dieser Stelle auch von Adolf Weber erwähnt wird, sagt in einem Aufsatz: „Wir tun die eigentliche wissenschaftliche Arbeit für die Juristen und sobald diese ihren positiven Boden verlassen haben, ist bei ihnen alles ebenso schwankend wie bei uns.“ Cohn, Gustav, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie, in: AfSSp, Band 20, Heft 3, 1905, S. 461–478, Zitat: S. 476.
(und vor diesem Lorenz v. Stein mit seinem die [197]Juristen so sehr entrüstenden Diktum).
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[197] Der Staatsrechtler Lorenz von Stein meinte, eine auf das römische Recht begrenzte Rechtswissenschaft könne die Probleme der Gegenwart nicht lösen. Den Inhalt des Rechts vermöge nur eine Wissenschaft zu vermitteln, die die rechtswirksamen Kräfte der gesellschaftlichen und sozialen Gegenwart kennt: „Ich soll daher das Recht nicht in dem studiren was es ist und was es gilt; das kann ich dem Gedächtniß überlassen und Paragraphen lernen um sie zu vergessen, sondern ich lerne das Recht wissen in dem was dasselbe erzeugt. Die wissenschaftliche Einheit dieser Lehren von den Kräften aber, welche die menschlichen Lebensverhältnisse aller Art und mit ihnen und durch sie das Recht erzeugen, ist die Staatswissenschaft.“ Stein, Lorenz von, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands. – Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1876, S. VII.
Die Juristen freilich haben sich solche Urteile insofern selbst zuzuschreiben, als der Ressortpatriotismus mancher von ihnen geneigt ist, aus ihrer Unentbehrlichkeit als „Techniker“ auf einen spezifischen Beruf gerade des Juristen als solchen zu schließen: aus eigenen, ihrer Fachkenntnis entsprungenen und aus ihr begründbaren Werturteilen heraus auch de lege ferenda das maßgebende Wort zu sprechen, während ihre Fachkenntnis doch nur die Mittel zum Zweck erkennen zu lassen berufen ist.
Endlich hat den Verf. sein, gerade bei einem Dozenten an einer Handelshochschule besonders wertvoller Protest gegen die Wertung der Wissenschaft lediglich nach dem Maßstab: savoir pour pouvoir, wie sie sich z. B. gelegentlich bei Ostwald
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Kultureller Fortschritt bedeutet für den Chemiker Wilhelm Ostwald das Herstellen eines optimalen Güteverhältnisses zur Nutzung vorhandener Energien. Auf Ostwalds technologische Einstellung zur Wissenschaft verweist Weber in seiner Besprechung von dessen Buch „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“ von 1908, vgl. Weber, Kulturtheorien, oben, S. 178.
und den Chemikern und Technologen überhaupt findet, zu einer etwas schiefen Charakteristik des sog. „Pragmatismus“ in den freilich nur kurzen Bemerkungen (S. 52/3) geführt. Die Konfusion, welche zu den Grundqualitäten dieser antiphilosophischen „Philosophie“ gehört, hat in der Tat den Begriff „cash value“
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Max Weber bezieht sich mit dem Begriff „cash value“ auf William James und den von ihm geprägten Pragmatismus. Dieser fragt nicht, was Wahrheit ist, sondern wie sie sich „praktisch“ zeige und bewähre: „What experiences will be different from those which would obtain if the belief were false? What, in short, is the truth’s cash-value in experiential terms?“, vgl. James, William, Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking. Popular Lectures on Philosophy. – New York u. a.: Longmans, Green, and Co. 1907, hier: Lecture VI: Pragmatism’s Conception of Truth, S. 197–236, Zitat: S. 200. Vor allem gegen Kant charakterisiert James „the great English way of investi-gating a conception“ durch folgende Fragen: „What is it known as? In what facts does it result? What is its cash-value, in terms of particular experience?” vgl. ders., Philoso[198]phical Conceptions and Practical Results, in: University Chronicle, vol. 1, 1898, S. 287–310, hier zitiert nach: The Works of William James, ed. by Frederick H. Burkhardt, Fredson Bowers, Ignas K. Skrupskelis, vol. 1. – Cambridge and London: Harvard University Press 1975, Appendix I, S. 255–270, hier S. 268 (Hervorhebung von James).
als Maßstab für den Wahr[198]heitsgehalt vielfach auch rein praktisch-utilitarisch gewendet. Allein bei W[illiam] James hat der Begriff zum mindesten nicht nur diesen Sinn, sondern mindestens auch den andern: Wert für die (im Sinne Kirchhoffs) „einfachste Beschreibung“ empirischer Tatsachen, deren Erkenntnisgehalt
i
[198] A: Erkenntniswerten; A1: Erkenntnisgehalt
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Der Physiker Gustav Kirchhoff sah die Aufgabe der Naturwissenschaften darin, die Vorgänge „zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.“ Vgl. Kirchhoff, Gustav, Vorlesungen über mathematische Physik, Band 1: Mechanik. – Leipzig: B. G. Teubner 1876, S. III (Hervorhebung von Kirchhoff).
unser (wissenschaftliches) „Interesse“ gilt, und praktisch ist sie für ihn ganz ersichtlich dadurch von Bedeutung, daß die Ablehnung des Postulats eines einheitlichen Weltbildes den Platz frei machen soll für seine religiösen, mystisch orientierten, Annahmen.
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Weber verweist auf James, William, The Varieties of Religious Experience. – London: Longmans, Green & Co 1902, wie auch schon 1905 in seiner Studie Weber, Protestantische Ethik II: Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, MWG I/9, S. 222–425, hier S. 285, Fn. 48. Lawrence A. Scaff schreibt, daß Weber auf seiner Amerikareise 1904 William James bei einem privaten Treffen im Haus von Hugo Münsterberg in Boston im Oktober 1904 getroffen habe, vgl. Scaff, Lawrence A., Max Weber in America. – Princeton and Oxford: Princeton University Press 2011, S. 4, 146–151. Scaff bezieht sich bei der Beschreibung von Webers Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus und dessen Wahrheitsbegriff u. a. auf die hier kommentierte Textstelle Max Webers, vgl. ebd., S. 151–160, bes. S. 157. Wie Eduard Baumgarten schreibt, habe die deutsche Übersetzung von James, The Varieties of Religious Experience (von 1907, nicht wie Baumgarten angibt, von 1910), zahlreiche handschriftliche Marginalien von Webers Hand aufgewiesen, vgl. Baumgarten, Eduard, Max Weber, Werk und Person. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1964, S. 313. Die überlieferte Handbibliothek Max Webers enthält kein Buch von William James.
Sicherlich ist es kein Zufall, daß der Hauptsitz dieser Ansichten Amerika und – mindestens ebenso – England ist, aber doch aus anderen als den vom Verf. anscheinend vermuteten Gründen.
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Weber, Adolf, Aufgaben, S. 53, ist davon überzeugt, daß der Idealismus den deutschen Forscher davor bewahre, die „hastige Jagd“ des Pragmatismus nach Fakten und Erfolg mitzumachen, so käme er nie in die Versuchung, „in der Wahrheit nur ein Instrument zum Handeln zu erblicken“.
Die Lehre von der mehrfachen Wahrheit hat seit den Zeiten des Nominalismus und Bacons
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Francis Bacon gilt als Vordenker der neuzeitlichen, auf Erfahrungserkenntnis und Weltbemächtigung zielenden Wissenschaft. Dabei vertrat er die Lehre von der „doppelten Wahrheit“, der Wahrheit der menschlichen Vernunft und der Wahrheit der Offenbarung.
stets einen [199]ihrer Hauptsitze in England gehabt und dort abwechselnd bald der Freiheit der empirischen wissenschaftlichen Forschung gegenüber der dogmatischen Gebundenheit, bald der Sicherung religiöser Bedürfnisse gegenüber dem Vormarsch der Naturwissenschaft dienen müssen. Früher genügte es diesem Zweck, wenn die religiöse Wahrheit, als das absolut Irrationale, gänzlich getrennt neben die empirische Wissenschaft gestellt und so von jeder Komplikation und allen Konflikten mit dieser entfernt gehalten wurde. Heute genügt das nicht mehr, und die absolute Irrationalität alles Erkenntnissinns – nicht etwa nur: der als „Objekt“ gedachten „Welt“ – muß hinzutreten, um den nötigen Raum für die religiösen Interessen zu schaffen. – Natürlich ist dies bei James wirksame Motiv in dieser Art heute nicht allgemeingültig. Der „Pragmatismus“ hat vielmehr normalerweise, neben noch anderen Wurzeln, ein sicherlich sehr starkes Fundament in ganz bestimmten Eigentümlichkeiten der in England und Amerika (im Gegensatz zu Frankreich und – bis auf Mach
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[199] Wissenschaft ist für den Physiker und Naturphilosophen Ernst Mach gleichbedeutend mit „Ökonomie des Denkens“. Aus der Mannigfaltigkeit der Naturvorgänge aufgefundene Elemente sind nach Gleichartigkeit zu beschreiben, in der „Ökonomie der Mitteilung und Auffassung“ sind möglichst viele der bereits gemachten Beobachtungen zusammenzufassen, so daß neue Erfahrungen mit diesen Elementen und ihren bereits erkannten Wirkzusammenhängen unnötig werden, vgl. Mach, Ernst, Die Mechanik in ihrer Entwickelung. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1883, bes. S. VI und 5 f.
– Deutschland) seit langem eingebürgerten physikalischen Denkweisen, wie sie z. B. auch bei Maxwell
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James Clerk Maxwell, Begründer der Elektrodynamik und der kinetischen Gastheorie, wies nach, daß Licht eine Form elektromagnetischer Strahlung ist. Zu seiner Erwähnung im vorliegenden Zusammenhang vgl. die nachfolgende Anmerkung.
charakteristisch hervortreten: z. B. der Verwendung unter einander rational unvereinbarer, aber höchst sinnlich-anschaulicher
k
[199]A, A₁: höchst-sinnlich anschaulicher
Demonstrationsmethoden, die doch niemals den Anspruch erheben konnten, das „Sein“ des Vorganges repräsentieren zu sollen. Auch diese Behandlungsweise, welche z. B. Duhem
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Der Physiker Pierre Duhem unterscheidet in seiner Beschreibung, nach welchen Prinzipien physikalische Theorien ausgearbeitet werden, zwei Arten des Denkens: Der phantasievolle Denker überblickt eine große Anzahl ungleichartiger Einzelheiten, eine jede wird erkannt und eingruppiert, der abstrakte Denker führt Tatsachen auf Gesetze und diese wiederum auf Theorien zurück. Der erste hat Probleme mit allgemeinen Begriffen und Urteilen, dem zweiten erscheinen große Mengen ungruppierter Tatsachen als Chaos. Dem „englischen Geist“ ordnet Duhem die umfassende phantasievolle Denkart ohne Abstraktionsfähigkeit zu, dem „französischen Geist“ dagegen das [200]Abstraktions- und Verallgemeinerungsvermögen. Vgl. Duhem, Pierre, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. – Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1908, S. 67–86, bes. S. 79 ff.
hübsch in ihrem Gegensatz gegen die [200]autochthon kontinentale geschildert hat und welche die Gedankengänge der pragmatischen „Denkökonomie“ besonders nahe legte, führt in ihren Wurzeln bis über die Anfänge der modernen Naturwissenschaft hinaus zurück; doch ist hier nicht der Ort, dies Thema weiter zu verfolgen. Interessant an einer solchen Untersuchung, die nur ein Fachmann leisten könnte, wäre wesentlich die Erkenntnis, daß die so oft betonte „Internationalität“ der „Kultur“ selbst auf dem Gebiete [B 620]intellektueller Leistungen ihre (im wesentlichen aus der historischen Kulturtradition erklärbaren, aber daneben vielleicht in ihrer Richtung durch „Anlagen“ oder geographische Bedingungen mitbeeinflußten) Schranken hat. – Daß der „Pragmatismus“ historisch uns „erklärlich“ wird, verbessert natürlich seine philosophische Bewertung nicht, in der ich dem Verf. in der Hauptsache zustimme.
c
[200] c(ab S. 187: Da der Verfasser)c Petitdruck in A, A1, B.
m
In B folgt: (Max Weber.)