[1]Einleitung
1. Kritik der Soziologie, S. 2. – 2. Methodologische Vorklärungen, S. 6. – 3. Grenznutzlehre, S. 13. – 4. „Energetische“ Kulturtheorien, S. 15. – 5. Simmel-Kritik, S. 17. – 6. Zwei Soziologentage: Diskussionsbeiträge, S. 34. – 7. Werturteilsfreiheit I, S. 39. – 8. Werturteilsfreiheit II, S. 44. – 9. Normative Ethik, S. 54. – 10. Ergänzendes, S. 58. – 11. Verstehende Soziologie, S. 60. – 12. Anstöße und Einflüsse, S. 77. – 13. Theorie, S. 84. – 14. Zur Anordnung und Edition, S. 91.
Der vorliegende Band der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) versammelt Texte höchst unterschiedlicher Art aus den Jahren 1908 bis 1917, die den Weg Max Webers in die Soziologie dokumentieren und erhellen. Die Einleitung wird diesen Weg am Leitfaden der Texte nachzeichnen. Dazu ist vorweg in gebotener Kürze die Ausgangslage zu beschreiben, von der der Weg seinen Anfang nimmt und bestimmt ist, und zwar zunächst (1.) in soziologiegeschichtlicher, dann (2.) in werkgeschichtlicher Hinsicht.
Der erste der auffällig wenigen Verweise auf die Soziologie in Webers frühen methodologischen Schriften betrifft die sehr grundsätzliche Kritik Wilhelm Diltheys an den umfassenden Erklärungsansprüchen, die von Auguste Comte, Herbert Spencer und den von ihnen inspirierten Soziologen mit dieser neuen Wissenschaft verbunden wurden. Zur Information über „Diltheys Stellung zur ,Soziologie‘“
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verweist Weber auf eine Abhandlung, in der Othmar Spann Diltheys Kritik eingehend darstellt und aus der Perspektive seiner eigenen Gesellschaftstheorie zurückweist.[1] Weber, Roscher und Knies II, S. 137, Fn. 1.
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Spann, Othmar, Zur soziologischen Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 59 Jg., 1903, S. 193–222 (hinfort: Spann, Dilthey); in gekürzter Form in Spann, Wirtschaft und Gesellschaft, „hineinverarbeitet“ (ebd., S. 37). Ganz ebenso verfährt Weber wenig später (Weber, Roscher und Knies II, S. 138, Fn. 2), indem er zur Auseinandersetzung mit Georg Simmels Äußerungen über den „Gesellschaftsbegriff und die Aufgaben der Soziologie“ auf die neueste Abhandlung Spanns verweist: Spann, Othmar, Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die Soziologie. Erster Teil: Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffes der modernen Soziologie. Dritter Artikel: Die realistische Lösung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 61. Jg., 1905, S. 302–344, insbes. S. 311 ff. Dies geschieht ganz ungeachtet dessen, daß nicht Simmels, wohl aber Spanns „Gesellschaftsbegriff“ in die von Dilthey (und dann auch von Weber selbst) kritisierte Denktradition gehört.
Dieser Seitenblick Webers auf die Soziologie spielt nur eine marginale Rolle im Zusammenhang der eingehenden Selbstprüfung und Selbstkritik, der er in seinen methodologischen Schriften die kultur- und sozialwissenschaftliche [2]Erkenntnis unterzieht. Ganz offensichtlich ist dieser Klärungsprozeß also nicht auf einen Übergang zur Soziologie hin angelegt. Wohl aber werden darin wichtige Voraussetzungen für diesen Schritt für Schritt vollzogenen Übergang geschaffen. So bildet der Ertrag der methodologischen und begrifflich-theoretischen Analysen den zweiten und konstruktiven Teil der Wendung zur Soziologie.
1. Kritik der Soziologie
In seiner Geschichte der Soziologie sagt Friedrich Jonas, in Deutschland sei die Soziologie aus einer „Kritik der soziologischen Erkenntnis“ hervorgegangen.
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Dies ist eine sehr richtige Beobachtung. Nach einer verbreiteten und auch gut begründeten Auffassung ist der originäre Entstehungs- und Motivationszusammenhang der Soziologie einer historischen Lage zuzuordnen, in der sich die Erfahrung einer „großen Krise“ (A. Comte) mit einem dieser Erfahrung entspringenden und sie zugleich verstärkenden Kritikbedürfnis verband. Nach Friedrich Jonas folgte auf diese erste Phase eine zweite, in der diese mit größter Entschiedenheit, höchstem Anspruch und beträchtlicher Wirkung begründete Soziologie auf eine ebenso entschiedene Ablehnung traf – und dies nicht nur bei den in ihrer angestammten Sicht- und Erklärungsweise herausgeforderten Wissenschaften, etwa der Philosophie und der Geschichtswissenschaft. Schärfste und ganz prinzipielle Ablehnung erfuhr sie vielmehr auf Seiten dezidiert empirisch, in einem theoretischen Bezugsrahmen und außerordentlich produktiv arbeitender Forscher, die in der Gesellschaft bzw. der sozialen Wirklichkeit ihr spezifisches Untersuchungs- und Erklärungsfeld sahen. Gerade sie hätten allen Grund haben können, sich als Soziologen und damit als Protagonisten der „scientia scientiarum“[2] Jonas, Friedrich, Geschichte der Soziologie, Band IV. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 7 (hinfort: Jonas, Soziologie); vgl. Wolf Lepenies: „In Deutschland beförderten die Anti-Soziologen die Soziologie“ (ders., Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. – München: Hanser 1985, S. 310).
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zu verstehen, oder, wie Franz Oppenheimer es noch 1909 sah, mit ihr zumindest auf dem „Herrenthron der Geisteswissenschaften“ zu sitzen. Wie Lester F. Ward, Reine Soziologie. Eine Abhandlung über den Ursprung und die spontane Entwicklung der Gesellschaft, 2 Bde. – Innsbruck: Wagner 1907 (hier zit. nach Jonas, Soziologie (wie oben, Anm. 3), S. 116), sie allen Ernstes nannte.
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Zit. nach Stölting, Erhard, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik. – Berlin: Duncker & Humblot 1986, S. 56.
Eine prinzipielle Weigerung, dieses Angebot anzunehmen, findet sich nicht nur in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, ist bei ihnen aber doch besonders [3]stark und bestimmend. Eben deshalb konnte Jonas mit gutem Grund behaupten, die Soziologie sei hier als eine Kritik soziologischer Erkenntnis begründet und in einer konzertierten Aktion herausragender Gelehrter auf den Weg gebracht worden. In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang spielt Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883)
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– „der erste groß angelegte Entwurf einer Logik des nicht naturwissenschaftlichen Erkennens“[3] Dilthey, Wilhelm, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte, Erster Band. – Leipzig: Duncker & Humblot 1883 (hinfort: Dilthey, Einleitung, 1883).
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– eine herausragende und auch für Max Weber sehr wichtige Rolle. Weber, Roscher und Knies II, S. 90.
„Wir stehen an der Grenze der bisher zur Ausbildung gelangten Einzelwissenschaften“, sagt Wilhelm Dilthey in dieser Einleitung,
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die den Untertitel Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte trägt. Gemeint ist die Grenze der Möglichkeiten derjenigen Einzelwissenschaften, die sich aus je eigener Perspektive der Erforschung der „geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit“ resp. „der Gesellschaft“ (ein auch von Dilthey durchgehend und im gleichen Sinne verwendeter Begriff) widmen. Gemeint ist aber zugleich eine Beschränkung, mit der die Selbstbesinnung geschichtlich handelnder Menschen sich nicht zufrieden geben und abfinden kann. Die von Comte u. a. der Soziologie zugewiesene Aufgabe ist also auch für Dilthey unabweisbar und von großer Dringlichkeit, doch ist sie weder auf herkömmliche Weise, in der Form einer materialen Geschichtsphilosophie, noch auf streng erfahrungswissenschaftliche Weise, also vermittels der Soziologie als Überwissenschaft, zu bewältigen. Der geschichtsphilosophischen Lösung steht nicht weniger als die historische Forschung entgegen, sofern sie die Vorstellung, daß es eine sinnvoll geordnete und voranschreitende, ihrer Vollendung zustrebende Geschichte gebe, als unhaltbar erwiesen habe, der soziologischen, daß sich das Ganze geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeiten jeder empirischen Beschreibung und Erklärung entziehe: „Philosophie der Geschichte und Sociologie sind keine wirklichen Wissenschaften“. Dilthey, Einleitung, 1883 (wie oben, Anm. 6), S. 108.
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Ebd., S. 108.
Die einzige Möglichkeit, die große Aufgabe – die Erhellung des „Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit“
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– zu bewältigen, besteht nach Dilthey im Rückgang in den einen und selben Erkenntnis-Grund aller empirischen „Einzelwissenschaften der Gesellschaft“ Ebd., S. 110.
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resp. des „geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens“, also in der Form der Erkenntnistheorie. Diese [4]hätte, zwar „in philosophischer Absicht“, Ebd., S. XV u.ö.
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aber im Durchgang durch die ungeheure Fülle der historischen Erfahrung und am Leitfaden der Begriffe einer „beschreibenden und zergliedernden“ Psychologie zu den „allgemeinsten Eigenschaften der menschlichen Natur“,[4] Ebd., S. 115.
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dem „ganzen Menschen“ als „wollend fühlend vorstellendem“ Wesen Ebd., S. 111.
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bzw. den der „inneren Erfahrung“ zugänglichen elementaren „Tatsachen des Bewußtseins“ Ebd., S. XVIII f.
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vorzustoßen. Ebd., S. XVI.
Diltheys Versuch, den gesuchten Einheitsgrund in einer „logischen Konstitution des Zusammenhangs der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Kultur“
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zu finden, ging weit über Max Webers Intentionen hinaus. Damit hängt zusammen, daß er es sehr früh unterließ, die zur Frage stehenden Wissenschaften als „Geisteswissenschaften“ zu bezeichnen; die umfassenden, auf die Erschließung der „Totalität“ des Lebens zielenden Vorstellungen, die Dilthey mit dem „Verstehen“ verband, teilte er durchaus nicht. Dilthey, Wilhelm, Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865–1880) (ders., Gesammelte Schriften, Band 28). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 64.
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Die Anerkennung der Bedeutung Diltheys für die Verstehensproblematik verbindet Weber, Roscher und Knies II, S. 130 f., mit dem ausdrücklichen Verzicht, darauf, wie auf Diltheys Beiträge zu einer „Theorie des ‚Verstehens‘“, näher einzugehen, weil man dabei zu leicht „ins Bodenlose“ gerate (ebd., S. 137). Das hält ihn nicht davon ab, auf drei in dieser Hinsicht beachtenswerte Abhandlungen Diltheys zu verweisen: Zur Entstehung der Hermeneutik, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem 70. Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. 185–202; Beiträge zum Studium der Individualität. Vorgetragen am 25. April 1895, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1896, 1. Halbband: Januar bis Juni, Stück XIII. – Berlin: Verlag der Königlichen Akademie der Wissenschaften 1896, S. 295–335, und Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Vorgetragen am 2. März 1905, in: ebd., Jg. 1905, 1. Halbband: Januar bis Juni, Stück XIV, ebd., 1905, S. 322–343. Auf die erstgenannte bezieht er sich wenig später (Weber, Roscher und Knies II, S. 139, Fn. 2). – Dieselbe Sorge, ins erkenntnistheoretisch oder sogar metaphysisch „Bodenlose“ zu geraten und die methodologische Zielsetzung aus dem Auge zu verlieren, hält Weber auch von einer intensiveren Auseinandersetzung insbesondere mit Gottl und Simmel ab.
Diltheys prinzipielle Kritik der „gigantischen Traumidee“
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dagegen, die Comte und viele andere neben und nach ihm mit der Soziologie verbanden, war auch die seine. Dilthey, Einleitung, 1883 (wie oben, S. 3, Anm. 6), S. 108.
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Das hat gewiß wesentlich dazu beigetragen, daß er [5]recht lange und ausdrücklich Distanz zu dieser neuen Wissenschaft gehalten hat. Spann, Dilthey (wie oben, S. 1, Anm. 2), auf dessen Abhandlung Weber, Roscher und Knies II, S. 137, Fn. 1, verweist, referiert diese Kritik sehr genau. Webers Zustimmung galt aber ebenso gewiß nicht dem „letzten Prinzip“, anhand dessen [5]Spann die Soziologie über Diltheys Kritik hinaus zu führen beanspruchte. Daß Weber „Diltheys vernichtende Kritik an der Soziologie des 19. Jahrhunderts“ (Lichtblau, Klaus, Soziologie und Anti-Soziologie um 1900. Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Max Weber, in: Merz-Benz, Peter-Ulrich und Wagner, Gerhard (Hg.), Soziologie und Anti-Soziologie. Ein Diskurs und seine Rekonstruktion. – Konstanz: UVK Universitätsverlag 2001, S. 17–35, Zitat: S. 24) wahrgenommen und geteilt habe, heben auch Rossi, Pietro, Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft (Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1985). – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 52 f., und Acham, Karl, Diltheys Bedeutung für die Soziologie, in: Scholz, Gunter (Hg.), Diltheys Werk und die Wissenschaften. Neue Aspekte. – Göttingen: V & R unipress 2013, S. 149–173 (hinfort: Acham, Bedeutung), hier S. 149 f., hervor.
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Im Zuge einer späteren Bearbeitung der Einleitung konnte sich Dilthey [6]die „Aussonderung“ eines als Soziologie zu bezeichnenden „wissenschaftlichen Gebietes“ (bzw. zurückhaltender: einer entsprechenden „Auffassungsweise“) vorstellen. Derartiges habe, so bemerkt er hier, Georg Simmel unternommen, und tatsächlich habe er selbst ja in der ursprünglichen Fassung der Einleitung mit der Abhebung der „äußeren Organisation der Gesellschaft“ eine Gebietsabgrenzung ähnlicher Art ins Auge gefaßt. Nicht in seinen frühen Publikationen, sondern in den Vorlesungen zur „Allgemeinen (‚theoretischen‘) Nationalökonomie“, die er viermal in Freiburg, zweimal in Heidelberg zu halten hat, bezieht sich Weber zum ersten Mal ausdrücklich auf die Soziologie. Das geschieht in dem Teil, der in dem für die Vorlesung erstellten und gedruckten „Grundriß“ (MWG III/1, S. 95 f.) und in den Vorlesungsnotizen (ebd., S. 364–370, hier S. 367 ff.) mit „Verhältnis der Wirtschaft zu den übrigen Kulturerscheinungen, insbesondere zu Recht und Staat“ überschrieben ist, außerdem in der „Einleitung“ (ebd., S. 191–193, wo es um die Verödung der Nationalökonomie im System der Wissenschaften geht). In dieser Passage (ebd., S. 368 f.) gibt Weber einen Überblick über die Etablierung der Soziologie durch Comte und Spencer und über ihre unterschiedlichen Ausprägungen bis zu Georg Simmel (Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Band 10, Heft 1). – Leipzig: Duncker & Humblot 1890; Das Problem der Sociologie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, N. F., 18. Jg., 1894, S. 1301–1307) und auch, jedenfalls in den Literaturangaben zum „Grundriß“, zu Ferdinand Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887). Webers Bemerkungen laufen auf die Feststellung hinaus, daß „noch keine Einigkeit über die Aufgaben der ‚Soziologie‘“ (ebd., S. 370) erreicht sei, daß es dazu im Rahmen der „wissenschaftl[ichen] Arbeitsteilung“ eines „Ausbau[s] neuer Methoden“ und der Erwartung „neue[r] Wahrheiten“ (vgl. auch ebd., S. 192 f.) bedürfe und daß die Soziologie deshalb so lange unmöglich resp. unergiebig sei, wie sie, am deutlichsten bei Comte, als allumfassende „Wiss[enschaft] vom menschl[ichen] Gemeinschafts-[…]Leben und dessen Phänomenen. Alles in einem Salat“ (ebd., S. 191), verstanden und beansprucht werde. – Weber begründet seine Zurückhaltung gegenüber der Soziologie demnach im Kern ganz ebenso, wie es Dilthey getan hatte. Bei seiner Hinwendung zur Soziologie im Umkreis der DGS-Gründung wird zunächst auch die – in den Vorlesungen wiederholt vorgebrachte – scharfe Unterscheidung von „erklärenden“ und „bewerthende[n]“ Urteilen (ebd., S. 195 f.; vgl. auch S. 123 und 566) sowie die Abgrenzung von naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen in bevölkerungstheoretischen und biologisch-anthropologischen Konzeptionen (ebd., S. 93–95, 323–344 und 347–362) im Vordergrund stehen. Bemerkenswert ist im übrigen, daß Weber in diesem Zusammenhang (ebd., S. 360) die Nationalökonomie und die „Geisteswissenschaften“ insgesamt insofern von den Naturwissenschaften absetzt, als sie auf das „Verstehen“ menschlichen Handelns abzielten. Weber verwendet hier einen wohl an Dilthey anschließenden, aber ganz unentwickelten Begriff des Verstehens (qua „nachempfinden“).
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Als „eine Methode, die von einem angenommenen Erklärungsprinzip aus möglichst viele Tatsachen ihrer Erklärung unterwirft“, sei die Soziologie „heuristisch nützlich“. Der „Name für eine Wissenschaft“ aber sei sie nicht.[6] Dilthey, Wilhelm, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (ders., Gesammelte Schriften, Band 1). – Leipzig und Berlin: Teubner 1922, S. 420 ff.
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Ebd., S. 423.
Diese nachträgliche Selbstinterpretation Diltheys ist plausibel, und deshalb ist es nicht ausgeschlossen, daß Weber auch bei der Ausarbeitung der eigenen Verstehenden Soziologie nicht nur von Simmels expliziter, sondern auch von Diltheys impliziter Soziologie
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zwar nicht ausdrücklich, aber doch erkennbar beeinflußt wurde. Die Ordnungen der „äußeren Organisation“ der Gesellschaft (i.e.S.) bezeichnet Dilthey, Einleitung, 1883 (wie oben, S. 3, Anm. 6), S. 102 ff., 139, terminologisch als „Verbände“, die der Kultur (Religion, Wissenschaft, Kunst) als „Systeme“. Das elementare, diese Ordnungen schaffende und tragende Geschehen des „geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens“ sind ihm „die psychophysischen Wechselwirkungen zwischen Individuen“. Das erste zeigt eine schwache Affinität zu Weber, das zweite eine deutliche, in den erwähnten Zusätzen zur Einleitung so auch festgestellte zu Simmel.
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Über Diltheys Verhältnis zur Soziologie und seine nachwirkende Bedeutung vgl. Hahn, Alois, Verstehen bei Dilthey und Luhmann, in: Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch, 8. Jg., 1992, Nr. 1, S. 421–430, und Acham, Bedeutung (wie oben, S. 5, Anm. 19).
2. Methodologische Vorklärungen
Unter den Einzelwissenschaften von der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt hob Dilthey in seiner Einleitung drei hervor: die Geschichte, die Nationalökonomie und die Jurisprudenz. Es sind dies genau die, in denen sich Max Weber vornehmlich akademisch qualifiziert und schon in jungen Jahren als höchst eigenständiger und produktiver Forscher hervorgetan hatte. In Freiburg und bald darauf in Heidelberg wurde er auf Lehrstühle für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft berufen, und als Nationalökonom hat er sich seitdem und bis zu seinem Tode in erster Linie verstanden. Und auch seine ausgedehnte und geradezu obsessive Beschäftigung mit methodologischen Problemen, die ihn in den ersten Jahren nach der schweren Erkrankung so [7]außerordentlich beansprucht, setzt er mit Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie bei den Debatten über die Ziele und die Methodik nationalökonomischer Erkenntnis an.
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Von Anfang an aber hat Weber dabei die methodologischen Besonderheiten und Schwierigkeiten aller Wissenschaften im Blick, die sich der Erforschung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit in empirischer und kausal erklärender Absicht widmen, sich also weder auf die „hermeneutische“ Auslegung beschränken noch auf eine wissenschaftliche Begründung von „praktischen“ Wertsetzungen abzielen. [7] Vgl. die konzentrierte, sehr informationsreiche Beschreibung dieses ,Methodenstreits‘ und seiner wichtigsten Protagonisten (nebst Überblick über die einschlägige ältere und neuere Forschung) in: Mommsen, Wolfgang J., Einleitung, in: MWG III/1, S. 1–51, hier S. 21–31. Zu Weber heißt es (ebd., S. 30 f.) zusammenfassend, er habe wie sein Freiburger Vorgänger Eugen von Philippovich die „abstrakte Theorie“ (Weber) durch eine „historische Betrachtungsweise ergänzen“ und damit „einer theoretisch angeleiteten historischen Nationalökonomie universalen Zuschnitts die Wege bahnen“ wollen.
Daß auch die von Weber später konzipierte und auf die Bahn gebrachte Verstehende Soziologie in den Umkreis dieser Wissenschaften gehört und darin gerade in methodologischer Hinsicht sogar eine systematisch wichtige Rolle spielt, wird sehr deutlich, wenn man diese vor-soziologischen (und in der erläuterten Hinsicht sogar anti-soziologischen) Abhandlungen rückblickend, aus der Perspektive der Verstehenden Soziologie und der mit ihr verfolgten Ziele, liest.
Im Folgenden seien deshalb in knapper Form die hauptsächlichen Klarstellungen und Festlegungen genannt, in denen Webers Auseinandersetzung mit vorgegebenen Auffassungen
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resultierte: Die Breite und Intensität der Auseinandersetzung Webers (von 1903 bis 1909, dem Gründungsjahr der DGS) mit den erkenntnistheoretischen und methodologischen (bzw. ,logischen‘) Arbeiten anderer Autoren ist ohne Parallele. Eigene Abhandlungen widmet er Roscher und Knies, Eduard Meyer, Rudolf Stammler, Lujo Brentano und Wilhelm Ostwald, ausführlich und wiederholt erörtert er Argumentationen von Friedrich Gottl, Emil Lask, Johannes von Kries, Gustav Radbruch, Hugo Münsterberg, Wilhelm Wundt, Georg Simmel, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert, kaum überschaubar ist die Zahl der darüber hinaus in diese Selbstbesinnung einbezogenen Autoren und Schriften.
– Die empirische, insbesondere die auf kausale Erklärung abzielende Tatsachenforschung ist aus rein logischen Gründen außerstande, mit ausschließlich eigenen Mitteln (also ohne Rekurs auf entsprechende „normative“ Voraussetzungen) praktische, etwa moralische, politische oder rechtliche, Wertsetzungen zu begründen oder einen Streit zwischen solchen Wertsetzungen wissenschaftlich zu entscheiden. Aus denselben Gründen folgt die Unmöglichkeit, von Wertentscheidungen auf die empirische Geltung von Tatsachenurteilen zu schließen.
[8]Der Kern der Argumentation, die Weber später immer aufs Neue vorgetragen hat (mit aller Ausführlichkeit in den beiden Abhandlungen zur Werturteilsfreiheit), findet sich also, nach später „vielfach unreif“ genannten Ansätzen in der Antrittsrede,
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vollkommen klar formuliert schon zu Beginn seiner methodologischen Selbstbesinnung, die auch der – tatsächlich notwendigen – Selbstdisziplinierung diente. [8] Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 367 mit Anm. 33.
– Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis ist in keiner Weise zur Absicherung eines umfassenden und absoluten Wissens imstande. Die Möglichkeit eines metaphysischen, das Sein und das Sollen („empirisch Seiendes“ und „dogmatisch Seinsollende[s]“)
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zugleich umfassenden und den „objektiven“ Sinn der Geschichte enthüllenden Wissens bleibt offen; Erfahrungswissenschaft hat darüber nicht zu befinden. Weber, Stammlers Überwindung, S. 131.
– Naturalistischen (biologischen, des Näheren erbbiologischen, evolutionstheoretischen und hirnphysiologischen) Erklärungsansprüchen gegenüber haben die Sozial- und Kulturwissenschaften ihre Leistungsfähigkeit offensiv zu vertreten. Die mit solchen Erklärungsansprüchen regelmäßig verbundenen praktisch-politischen Postulate sind (s. o.) als wissenschaftlich unbegründet zurückzuweisen.
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Weber, Roscher und Knies I, S. 10 f., 24 f., Fn. 5; dass. Il, S. 90, 144 f. u.ö.
– Die organologische resp. organizistische Auffassung und Deutung geschichtlich-gesellschaftlicher Einheiten (auch bei Roscher) entspricht, was die dabei verwendeten Begrifflichkeiten und Methoden angeht, den Anforderungen strikt empirischer Forschung ebenso wenig wie die damit einhergehenden „emanatistischen“
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Entwicklungstheorien. Die – auf ihre Art sehr eindrucksvolle – Hegelsche Geschichtsmetaphysik kann nicht erfahrungswissenschaftlich ‚aufgehoben‘ und womöglich sogar überboten werden. Weber, Roscher und Knies III, S. 119.
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Weber, Roscher und Knies I, S. 15 ff., 41.
– Weniger voraussetzungsvoll, aber ebenfalls unhaltbar ist die Hypostasierung von „Kollektivbegriffen“, also das Verfahren, soziale Kollektive als unhintergehbare und aus sich selbst heraus wirkende Akteure zu betrachten und zu Erklärungszwecken zu beanspruchen.
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Weber, Roscher und Knies II, S. 133.
In diesem Zusammenhang findet sich schon sehr früh (so in Roscher und Knies
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und in der Stammler-Kritik) Ebd.
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die für Webers Soziologie konstitutive Feststellung, daß unter dem Dasein resp. Bestehen sozialer Gruppen und Ordnungen aus empirischer (und nicht normativer, etwa juristischer) Sicht [9]nichts anderes verstanden werden könne als die „Chance“, daß ein entsprechend geregeltes „Zusammenhandeln“ stattfindet und beobachtbar ist. Weber, Stammlers Überwindung, S. 140, 146.
– Die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit ist demnach als eine von menschlichem Handeln geschaffene, erhaltene und fortlaufend umgebildete aufzufassen und zu konzeptualisieren. Handeln aber läßt sich, bei hinreichend genauer und gründlicher Betrachtung und Bestimmung, nur einzelnen Akteuren zuschreiben.
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[9] Weber, Roscher und Knies II, S. 93 ff.
Das hier gemeinte Handeln bestimmt Weber als „verständliches Handeln“.
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Dabei nimmt er offenbar eine Formulierung Gottls Weber, Roscher und Knies I, S. 145.
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auf, indem er sich zugleich gegen dessen Gleichsetzung von „verständlich“ mit „logisch“ oder gar „vernünftig“ wendet: Auch ein von Affekten motiviertes Handeln sei durchaus nicht als solches der sinnhaften Verständlichkeit entzogen. Friedrich Gottl wurde, ungeachtet prinzipieller Einwände, als Erkenntnistheoretiker und Methodologe – „einer der geistvollsten Methodologen“ (Brief Max Webers an Carl Neumann vom 3. Nov. 1906, MWG II/5, S. 174–176, hier S. 175) – von Weber sehr geschätzt, da er in ganz eigenständiger und ungewöhnlich gründlicher Weise der Frage nachging, wie sich im sozialwissenschaftlichen Erkennen das Idiographische mit dem Nomothetischen verbinde; vgl. die auf Webers Initiative hin im Archiv abgedruckte, dreiteilige Abhandlung: Gottl, Friedrich, Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung I. Umrisse einer Theorie des Individuellen, in: AfSSp, Band 23, 1906, S. 403–470; dass., II. Der Stoff der Sozialwissenschaft, ebd., Band 24, 1907, S. 265–326; dass., III. Geschichte und Sozialwissenschaft, ebd., Band 28, 1909, S. 72–100 (hinfort: Gottl, Begriffsbildung l–lll), und auch die darauf bezogenen, ausführlichen Briefe Webers an Gottl vom März und April 1906 (MWG II/5, S. 59 f., 62 f., 64–67, 69–72, 78 f.); als zusammenhängende und eingehende Darstellung der Wissenschaftslehre Gottls und ihres Verhältnisses zur Weberschen vgl. Morikawa, Takemitsu, Handeln, Welt und Wissenschaft.
N
Zur Logik, Erkenntniskritik und Wissenschaftstheorie für Kulturwissenschaften bei Friedrich Gottl und Max Weber. – Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2001, ders., Friedrich Gottl und Max Weber. Von der Kritik der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung zur Phänomenologie des Wirtschaftslebens, in: Wagner, Gerhard und Härpfer, Claudius (Hg.), Max Webers vergessene Zeitgenossen. Beiträge zur Genese der Wissenschaftslehre. – Wiesbaden: Harrassowitz 2016 (hinfort: Wagner/Härpfer, Webers vergessene Zeitgenossen), hier S. 193–212. MWG: Handeln, Wissen und Welt. Titelkorrektur in MWG digital.
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Handeln ist, auch schon als je individuelles, ein Verhalten, das sich seinem subjektiven Sinn nach immer auch auf sich selbst bezieht. Diese sinn-vermittelte Selbstbezüglichkeit ist die Voraussetzung sozialen (seinem subjektiv gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogenen) Handelns – wie dieses die Voraussetzung aller höherstufigen, komplexeren Formen der Selbstbezüglichkeit ist. Weber, Roscher und Knies II, S. 146.
Das mit Verständlichkeit Gemeinte erläutert Weber, indem er schon in diesen frühen Schriften
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von der „Kommunikabilität“ der zur Frage stehenden [10]Handlungsmotive und einer menschliches Handeln insgesamt kennzeichnenden „qualitativen Rationalität“ Weber, Roscher und Knies III, S. 95 f., Fn. 1, S. 99; vgl. dazu Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 149 f.
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spricht. Damit überschreitet er schon hier die Grenzen der im nationalökonomischen Kontext vor allem im Blick stehenden Zweck-(Mittel-)Rationalität (und einer entsprechenden „rationale[n] Konstruktion historischer Vorgänge“).[10] Weber, Roscher und Knies II, S. 114 f.
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Ebd., S. 145.
– Die Wirklichkeit menschlichen Handelns erschließt sich dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Erkennen über ein (Sinn-) „deutendes Verstehen“, das aber dem Zweck eines der Sache angemessenen kausalen Erklärens dient, und das kausale Erklären kann in diesen empirischen Wissenschaften nicht durch ein teleologisches ersetzt oder überboten werden. Deshalb richtet sich das Verstehen hier in der Hauptsache (aber keineswegs ausschließlich) auf die menschliches Handeln bestimmenden sinnhaften Motive.
Von einem „psychologischen“ Verstehen zu sprechen, ist mißverständlich, da es nicht um psychische Gegebenheiten und Abläufe als solche geht, sondern um von diesen ermöglichte und getragene, aber je konkrete, „qualitative“, sinnhafte Inhalte. Das – auch damals (so auch gegenüber der Protestantischen Ethik) – beobachtbare Ausgreifen der Psychologie (als vermeintlicher „Grundwissenschaft“ allen menschlichen Verhaltens) auf diese Sphäre und darüber hinaus auf das Gebiet des „Weltanschaulichen“ qualifiziert Weber als „Psychologismus“.
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Ebd., S. 63, Weber, Roscher und Knies III, S. 84 f. und S. 99, Fn. 1. – Dieser umfassende Anspruch gründet in der Vorstellung, daß geschichtlich-gesellschaftliche Handlungszusammenhänge und Entwicklungen sich in letzter Instanz von fundamentalen psychischen Faktoren und Gesetzmäßigkeiten (dieser oder jener Art) her erklären ließen. Im Blick auf diese Vorstellung als solche richtet sich Webers spätere Psychologismus-Kritik, so auch gegen Brentano wegen dessen Rekurses auf das Weber-Fechnersche Gesetz (Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 13. April 1909, MWG II/6, S. 93–96, hier S. 93; vgl. in diesem Zusammenhang: Weber, Roscher und Knies III, S. 107, Fn. 2) und gegen Eulenburgs „engen psychologistischen Standpunkt“ (Brief an Franz Eulenburg, nach dem 12. Juli 1909, MWG II/6, S. 172–175, hier S. 172). In einer methodologisch gewendeten, das Problem der (kulturwissenschaftlichen) Begriffsbildung betreffenden Weise formuliert Weber seine Kritik Gottl gegenüber: „Der Kern der Irrtümer Gottls“ entspringe der „allem Psychologismus so naheliegende[n] Verwechslung des psychologischen Hergangs bei der Entstehung sachlicher Erkenntnis mit dem logischen Wesen der Begriffe, in denen sie geformt“ werde (Weber, Roscher und Knies II, S. 142 f., Fn.2). Selbst wenn es zur „Erkenntnis der Zusammenhänge des ‚Handelns‘ […] psychologisch eigenartige[r] Wege“ bedürfe, stimme der „logische Charakter der Begriffe“ prinzipiell mit dem für alle Wissenschaften Geltenden überein. – Von „Psychologismus“ spricht Weber demnach, über die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Terminus hinweg, dann, wenn die in den jeweiligen „Zusammenhängen des Handelns“ motivierend wirksamen Sinngehalte nicht klar von ihren psychischen Entstehungs- und Existenzbedingungen unterschie[11]den, von diesen her vielmehr aufgefaßt und erklärt werden. Eben deshalb, so schreibt Weber später an Rickert (Brief vom 5. Nov. 1915, MWG II/9, S. 161–163, hier S. 163), sei Eduard Spranger ebenso wenig ein „einfacher ‚Psychologist‘ […] wie sein Lehrer Dilthey“ – auch wenn beiden „der leidenschaftliche Drang nach Klarheit und die erkenntnistheoretische Sicherheit“ fehle.
[11]Die wesentlichen Merkmale eines solchen sozial- und kulturwissenschaftlichen (also immer auch historischen) Verstehens sah Weber am besten bei Simmel entwickelt,
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bei dem allein er auch Ansätze zu einer „Theorie des Verstehens“ vorfand. Was die Abhebbarkeit der Sinngehalte von ihren psychischen Realisierungsbedingungen betrifft, verwies er vornehmlich auf Edmund Husserls Logische Untersuchungen. So hebt auch Gottl hervor, daß Weber in dieser Frage (der Frage nach dem „objektivierenden“ Charakter geschichtswissenschaftlichen Erkennens) ganz „im Geiste Husserls“ argumentiere; daß Weber auch ihm wie Wundt und Münsterberg Psychologismus vorwirft, weist er – zu Recht – zurück. Vgl. Simmel, Probleme2, S. 27 ff.
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Gottl, Begriffsbildung II (wie oben, S. 9, Anm. 37), S. 270.
– Die zur Frage stehenden Wissenschaften sind „Wirklichkeitswissenschaften“.
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Mit diesem von H. Rickert übernommenen Begriff wird, entgegen einer bis heute unter Soziologen anzutreffenden Meinung, ihr erfahrungswissenschaftlicher Charakter nicht so sehr bekräftigt als vielmehr problematisiert. Gemeint ist nämlich, daß diese Wissenschaften ihre Rückgebundenheit an das konkrete geschichtlich-gesellschaftliche Leben nicht hinter sich zu lassen, sondern bei der Entwicklung und Verwendung ihrer Begrifflichkeit und ihrer Methoden jederzeit zu bedenken und zu berücksichtigen haben. Weber, Roscher und Knies I, S. 4, dass., III, S. 87; Weber, Objektivität, S. 46 ff.
So bedeutet die Einsicht in den „idealtypischen“ Status von Begriffen und Theoremen,
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daß diese zwar der methodisch kontrollierten Beobachtung, Unterscheidung und Erklärung von geschichtlichen Wirklichkeiten dienen, dies aber so, daß sie ihre Distanz zu diesen Wirklichkeiten bewußt halten und zum Ausdruck bringen – und sich nicht in deren Subsumtion unter ein Allgemeines, Immergleiches oder Gesetzmäßiges bewähren. Weber, Roscher und Knies II, S. 133, dass., III, S. 91 f., und vor allem Weber, Objektivität, S. 64 ff.
– Die Behauptung, daß das erfahrungswissenschaftliche Verstehen und Erklären historischer Abläufe und Gestalten eine prinzipielle Grenze an der Irrationalität resp., „positiv“ gewendet, Kreativität menschlichen Handelns finde, beruht in der Regel nicht auf einem gründlichen Durchdenken der Probleme und Begriffe. So ist es auch nicht sachgemäß, Freiheit, und zwar ausschließlich oder in der Hauptsache, mit Irrationalität und Kreativität zusammenzubringen.
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Weber, Roscher und Knies II, S. 91 ff., 110.
[12]Einige über diese Klarstellungen hinausgehende und auf die Soziologie vorausweisende Festlegungen finden sich in der Abhandlung Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, ebenso in dem von allen Herausgebern gemeinsam im ersten Heft der Neuen Folge des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (1904) veröffentlichten Geleitwort. Mit dieser Neuen Folge verbinde sich eine Ausweitung des Problemhorizonts auf „die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung“,
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und das bedeute, daß über die Sozialökonomie hinaus mehrere „Nachbardisziplinen“ mitwirken müßten: so die allgemeine Staatslehre, die Rechtsphilosophie, die Sozialethik und die „gewöhnlich unter dem Namen Soziologie zusammengefaßten Untersuchungen“.[12] Jaffé, Edgar, Sombart, Werner, Weber, Max, Geleitwort, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. I–Vll (hinfort: Jaffé, Sombart, Weber, Geleitwort; MWG I/7), Zitat: S. V, Hervorhebung im Original. In der Abhandlung wird diese Aufgabe allgemeiner und zugleich enger beschrieben, nämlich als „wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung der sozial-ökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens und seiner historischen Organisationsformen“ (Weber, Objektivität, S. 40).
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Außerdem müsse sich der Schwerpunkt der Beiträge von der bloßen „Materialsammlung“ zu „wissenschaftlichen Synthese[n]“ verschieben, die einerseits von Seiten der Philosophie, andererseits vermittels „sozialer Theorie“ Jaffé, Sombart, Weber, Geleitwort (wie oben, Anm. 48), S. V.
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bereitzustellen wären. Die von solchen „Theorien“ zu erbringenden „Synthesen“ werden dabei unterschiedlich bestimmt – als Systeme von „klare[n] Begriffe[n]“ Ebd., S. VI.
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idealtypischen Charakters, aber auch als abstrakte Erklärungsmodelle (nach Art der „Grenznutztheorie“), die aber ebenfalls als idealtypische Konstruktionen zu verstehen seien Ebd.
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und nicht auf allgemeine „Gesetze und ihre Ordnung in generellen Begriffen“ abzielten. Dazu Weber, Objektivität, S. 64 ff.
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Ebd., S. 51, vgl. S. 54 f.
Besondere Beachtung verdient im gegebenen Zusammenhang, daß Weber in der programmatischen Abhandlung über die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis sehr dezidiert feststellt, eine „allgemeine Sozialwissenschaft“ könne es nicht geben.
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Dabei schließt er an das an, was er zuvor über den – nicht nur ökonomisch bedingte, sondern auch [13]ökonomisch relevante (etwa religiöse) Erscheinungen umfassenden – Problembereich der „Sozialökonomik“ gesagt hatte. Vgl. dazu vor allem: Kim, Duk-Yung, Georg Simmel und Max Weber. Über zwei Entwicklungswege der Soziologie. – Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 86 ff., sowie Ghosh, Peter, Max Weber and The Protestant Ethic: Twin Histories. – Oxford: Oxford University Press 2014, S. 45, 133. Weber hat diese Auffassung nie revidiert, und so wäre auch die Verstehende Soziologie sehr mißverstanden, wenn man darin eine „allgemeine Soziwissenschaft“ sähe. Wegen der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes und ihrer Erkenntnisinteressen bedarf auch sie bei der „Auswahl und Formung“ ihrer Untersuchungsobjekte der Beziehung auf – materiale und historisch wandelbare – „Kulturwerte“.
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Wie hier, so ergebe sich aus dem „Gesichtspunkt des ‚Sozialen‘ [sic; J.W.], also der Beziehung zwischen Menschen“ nur dann eine zur Abgrenzung wissenschaftlicher Probleme ausreichende Bestimmtheit, wenn dieser Gesichtspunkt mit „irgend einem speziellen inhaltlichen Prädikat“[13] Weber, Objektivität, S. 36 ff., Zitat: S. 41.
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versehen werde. Ebd., S. 41.
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Weder tauge die lange Zeit grenzenlos überschätzte, eben darum inzwischen vielfach unterschätzte „ökonomische Interpretation des Geschichtlichen“ als allgemeine Sozialwissenschaft, noch lasse sich eine solche auf irgendeine andere Weise konzipieren und betreiben. „Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des ‚Sozialen‘, der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezifisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich trägt; das ,[A]llgemeine‘ beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner ‚allgemeinen‘ Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische Gesichtspunkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte“ (ebd., S. 41 f.).
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Ebd., S. 43. Die materialistische „Geschichtsdeutung“ nimmt zwar die Gesellschaft als qualitativ (eben ökonomisch) bestimmte in den Blick, vermag deshalb auch vieles angemessen zu erklären, dies aber um den Preis, daß alle übrigen sinnhaften Bestimmungen (die religiöse, die philosophisch-ideologische, die rechtliche, moralische, ästhetische etc.) nur als aus dieser abgeleitet und „in letzter Instanz“ wirkungslos betrachtet werden. In der – selbst für Webersche Verhältnisse – überaus scharfen Kritik an Rudolf Stammlers – als Vollendung gemeinter – „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung ironisiert Weber, Stammlers Überwindung, S. 294 ff., das Vorhaben, indem er ihm eine rein „spiritualistische“, ausschließlich mit sozial-religiösen Letztursachen operierende allgemeine Sozialwissenschaft entgegenstellt.
3. Grenznutzlehre
Wie schon in seinen Vorlesungen zur theoretischen Nationalökonomie
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zeigte sich Weber auch in seinen Abhandlungen zum ‚Methodenstreit‘ von der Möglichkeit und Unverzichtbarkeit begrifflich-theoretischer Abstraktion (nach Art des homo oeconomicus im allgemeinen, der Grenznutzlehre im besonderen) in den Wissenschaften von der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit überzeugt. Zugleich trat er allen Bestrebungen entgegen, solche [14]Formen der Generalisierung durch Rekurs auf psychologische oder sogar psychophysische Theorien noch zu überbieten, weil damit sinnhaftes Verhalten nicht tiefer erfaßt, sondern im Ansatz verfehlt werde. Beides, die Vorstellung eines zwar begrenzten, aber doch unverzichtbaren methodischen Nutzens zweckrationaler Handlungs-Modelle ebenso wie die Ablehnung der Psychologie als „Grundwissenschaft“ wird Weber in die Soziologie als eine der Ökonomie besonders affinen Handlungslehre übernehmen. Vgl. dazu Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, mit der Einleitung von Wolfgang J. Mommsen, insbesondere S. 21–31; außerdem Kim, Duk-Yung, Max Weber und die Grenznutzenschule um Carl Menger. Zur Bedeutung der theoretischen Nationalökonomie für die Soziologieentwicklung, in: Sociologia Internationalis, Band 34, Heft 1, 1996, S. 41–66 (hinfort: Kim, Grenznutzenschule) und Mommsen, Wolfgang J., Max Weber als Nationalökonom. Von der theoretischen Nationalökonomie zur Kulturwissenschaft, in: ebd., Band 42, Heft 1, 2004, S. 3–36.
Zwar ist, wenn Weber in der Besprechung von Brentanos Abhandlung von „unsere[r] Disziplin“ spricht,
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die Nationalökonomie gemeint. Doch geht seine Argumentation über eine solche nach Gegenstand und Selbstzuordnung fachspezifische Perspektive hinaus: Generell gilt für ihn, daß bestimmte Einzelwissenschaften weder ihre Grundbegriffe noch ihre grundlegenden theoretischen Annahmen von anderen Einzelwissenschaften übernehmen können. So führt es nach Weber in die Irre, als Kultur- und Sozialwissenschaftler bei naturwissenschaftlichen oder naturwissenschaftlich verfahrenden Disziplinen Anschluß zu suchen – so wie es beispielsweise Lujo Brentano tat, indem er die Grenznutzlehre in der Ökonomie mit dem, „psychophysischen Grundgesetz[es]“[14] Weber, Grenznutzlehre, unten, S. 122.
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zu fundieren suchte. Was Weber vom Standpunkt der ökonomischen Theorie gegen einen derartigen Rekurs auf die Erklärungsebene der Psychophysik – und der Psychologie überhaupt – vorbringt, betrifft aus seiner Sicht alle die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeiten erforschenden Wissenschaften. Die Grenznutzlehre hat es wie die Nationalökonomie überhaupt mit dem Handeln von Menschen zu tun. Handeln aber ergibt und erklärt sich aus je bestimmten Wahrnehmungen, Erfahrungen, Bedürfnissen und Wertsetzungen, der Orientierung an „Vorausberechnung“ und Zweckmäßigkeit. Die relative Wichtigkeit oder Dringlichkeit konkurrierender Bedürfnisse ist keine Funktion allgemeiner psychischer oder psychophysischer Gesetze, sondern der „Bedeutung“ (sic), die ihnen von den Handelnden beigelegt werden: „Diese ,Bedeutung‘ ist nun ersichtlich nicht etwa mit einer durch physischen ,Reiz‘ erzeugten ,Empfindung‘ identisch“, Ebd., unten, S. 130.
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und sie ist nicht wie diese erfaßbar und meßbar, sondern zu „verstehen“ (sic). Ebd., unten, S. 123.
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Immer aufs Neue und nachdrücklich betont Weber, Ebd., unten, S. 127, vgl. S. 120. So bilde die „Geltung der logarithmischen Linie der Psychophysiker“ keineswegs die Grundlage für die „Sätze“ der ökonomischen Theorie, „ohne die sie nicht verständlich“ seien. Auch hier heißt „verständlich“: dem (sinnhaften) Verstehen zugänglich, in ihm gründend.
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daß solches Verstehen wie alles wissenschaftliche Erkenntnisstreben aus der „Alltagserfahrung“ erwächst. Tatsächlich beruhe, so bemerkt er, darauf das „Existenzrecht“ „aller [15]empirischen Einzeldisziplinen“, doch „überwinde“ und „sublimiere“ jede von ihnen die Alltagserfahrung „in anderer Weise und nach anderer Richtung“. Ebd., unten, S. 122 f.
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[15] Ebd., unten, S. 127.
Die unterscheidende und zentrale Bedeutung, die dem „Verstehen“ in dieser Hinsicht, also etwa hinsichtlich der „Begriffsbildungsprobleme, soweit sie auf unserem Wissensgebiet liegen“,
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zukommt, wird in dieser Abhandlung nicht erörtert, auf die genau darauf gerichteten Bemühungen von Friedrich Gottl und Othmar Spann nur verwiesen. Ebd., unten, S. 132.
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In der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Wilhelm Ostwalds „energetischer“ Theorie der Kultur kommt Weber auf die Problematik zurück. Ebd., unten, S. 133 mit Anm. 34 und 35.
4. „Energetische“ Kulturtheorien
Wie die Brentano-Rezension entstand auch die Auseinandersetzung mit den „energetischen“ Kulturtheorien im engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit Webers Engagement für die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und ihre erste Tagung. Auch hier ist, wenn Weber resümierend vom Nutzen der „energetischen Betrachtungsweise“ für „unsere Disziplin“ spricht,
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weiterhin die Ökonomie gemeint, und fast alle kritischen Argumente, die er gegen Ostwalds „energetische“ Grundlagen der Kulturwissenschaft vorbringt, hatte er nach dem oben Dargelegten im Kern schon vertreten, als er sich auf Distanz zur Soziologie als einer Disziplin eigenen Rechts gehalten hatte. Ostwald aber schließt, wie Weber bemerkt, „in hohem Maße“ Weber, Kulturtheorien, unten, S. 179.
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an die Bestrebungen des von Ernest Solvay gegründeten „Institut de Sociologie (Institut Solvay)“ an, in einer am „Comtismus und Queteletismus“ orientierten Weise eine „(vermeintlich) ‚exakte‘ soziologische Methode“ Ebd., unten, S. 150.
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und damit die Soziologie überhaupt als strenge Wissenschaft auf dem Felde der kulturwissenschaftlichen Forschung zu etablieren. Den damit verbundenen sehr weitreichenden kognitiven, aber auch sozial- und bildungspolitischen Ansprüchen begegnet Weber nicht, indem er sie der Soziologie als solcher zurechnet, sondern, ganz im Gegenteil, mit dem konfrontiert, was diese neue Disziplin zu leisten bestimmt sei. So unternimmt er es – vor allem in der ins Einzelne gehenden ersten Fußnote Ebd., unten, S. 150 f.
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– zu zeigen, welche „Wechselbälge“ sich ergeben, „wenn rein naturwissenschaftlich geschulte Technologen die [16]‚Soziologie‘ vergewaltigen“, Ebd., unten, S. 151–155, Fn. 1.
72
wie wenig sachgemäß und genau also eine Soziologie ist, die „mit energetischen Formeln auskommen muß“.[16] Ebd., unten, S. 151.
73
Die für die „energetische Betrachtungsweise“ wie für jeden „Naturalismus“ Ebd., unten, S. 153, Fn. 1.
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charakteristische „Vermengung von Werturteilen und empirischer Wissenschaft“ Ebd., unten, S. 179 und 181.
75
verrät nach Weber nicht nur einen prinzipiellen Mangel an methodologischer Reflexion. Sie habe auch eine völlig inadäquate, auf energetische Nutzenerwägungen reduzierte Auffassung der eigentümlichen Wirklichkeiten und Wirksamkeiten – „Gesellschaft“, Ebd., unten, S. 175.
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„Vergesellschaftung“, Ebd., unten, S. 172.
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„(soziale) Vergesellschaftung“, Ebd., unten, S. 168.
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„soziale Eigenschaften“ Ebd., unten, S. 150.
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–, die den spezifischen Gegenstands- und Erklärungsbereich der Soziologie ausmachten. Nur ihre Erforschung könne über die Entstehungsbedingungen und über den sozialen (oder ökonomischen) Nutzen und Nachteil von energetischem „Güteverhältnis“ und „Energiebilanzen“ Ebd., unten, S. 177.
80
im Besonderen, „technologische[r] Ideale“ Ebd., unten, S. 169.
81
im Allgemeinen aufklären. Ebd., unten, S. 178.
Ostwalds Programm einer Soziologie auf energetischer Grundlage nimmt Weber demnach nicht zum Anlaß, sich noch deutlicher als zuvor von jedem mit diesem – unglücklichen, vieldeutigen und seit Comte mit den überschwänglichsten Ansprüchen verbundenen – Namen belegten Unternehmen zu distanzieren. Vielmehr sieht er sich durch Ostwalds Programm herausgefordert, diesem Vorhaben eine eigene Bedeutung und Aufgabe im Zusammenhang der Kultur- und Sozialwissenschaften zuzuweisen.
Derart läßt Weber, von der Fragment gebliebenen und nicht veröffentlichten Simmel-Kritik abgesehen,
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in seiner Auseinandersetzung mit der energetischen Konzeption zum ersten Mal einen eigenen, obzwar nicht explizierten Begriff von Soziologie erkennen. Wenig später, im Umkreis der Gründung der DGS und der beiden ersten Soziologentage, wird er wesentliche Bestimmungsmerkmale dieses Begriffs programmatisch und ausdrücklich ins Spiel bringen, um sie dann im Kategorienaufsatz in einer ersten und im Kern gültig bleibenden Form im Zusammenhang zu entwickeln. Weber, Simmel, unten, S. 101–110. Dazu Kap. 5 dieser Einleitung, unten, S. 17–34.
Nicht speziell auf die Soziologie bezogen, sie aber doch wesentlich betreffend, ist Webers scharfe Ablehnung der von Ostwald modifiziert übernom[17]menen „Comtesche[n] Hierarchie der Wissenschaften“,
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aus der sich die Forderung der die für alle Wissenschaften maßgeblichen Bedeutung der „allgemeinsten“, d. h. physikalischen Begrifflichkeiten ergebe. Weber weist diese Forderung – wiederum – speziell für die ökonomische Theorie (als „Inbegriff gewisser hypothetischer, ,idealtypischer‘ Lehrsätze“) zurück,[17] Weber, Kulturtheorien, unten, S. 162.
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und zwar auch im Blick auf deren Fundierung durch die Psychologie Ebd., unten, S. 162 f.
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– die in Comtes „Hierarchie“ allerdings nicht vorkommt. Ebd., unten, S. 165 f.
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Alle Wissenschaften, so bemerkt Weber, verfolgten „gänzlich verschiedene Erkenntnisziele“, und wie die Nationalökonomie so gehe auch jede andere Wissenschaft von „gewissen unmittelbaren Alltagserfahrungen“ aus, um sie unter „ganz verschiedenen gänzlich selbständigen Gesichtspunkten“ zu „sublimieren und [zu] bearbeiten“. Eine eingehende Lektüre verrät Webers Handexemplar von Comte, Auguste, Der Positivismus in seinem Wesen und seiner Bedeutung. – Leipzig: R. Reisland 1894 (Diözesanbibliothek Aachen). Dabei handelt es sich um eine Übersetzung des „Discours préliminaire sur l’ensemble du Positivisme“ (zuerst 1848).
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Die Frage, wie sich das für die Soziologie, also für deren „gänzlich selbständige“ Zielsetzung und Rückbindung an „gewisse unmittelbare Alltagserfahrungen“, darstellt, läßt Weber in der Ostwald-Kritik unerörtert, und sie bleibt auch im Zuge der Ausarbeitung der Verstehenden Soziologie unbeantwortet. Weber, Kulturtheorien, unten, S. 164. Hier genau liegt der Einsatzpunkt von Gottl, Herrschaft des Worts, wie der im Archiv veröffentlichten großen Abhandlung Gottl, Begriffsbildung l–lll (wie oben, S. 9, Anm. 37).
5. Simmel-Kritik
Im Unterschied zur Nationalökonomie, Geschichtswissenschaft, Psychologie und Philosophie kommt die Soziologie mit ihren spezifischen Erkenntnisproblemen in Webers frühen methodologischen Schriften nur ganz am Rande vor,
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und in der Stammler-Kritik heißt das umstrittene, vornehmlich in seinem [18]Verhältnis zur Rechtswissenschaft erörterte Forschungsgebiet nicht Soziologie, sondern (allgemeine) Sozialwissenschaft. Nur dreimal spricht Weber in seinen frühen methodologischen Schriften von ,Soziologen‘ (Weber, Roscher und Knies II, S. 95), „so vielen modernen ,Soziologen‘“ (Weber, Roscher und Knies I, S. 11) resp. „manchen ,Soziologen‘“ (Weber, Roscher und Knies II, S. 100, Fn. 1), dies immer in Anführungszeichen und nur, um ihnen einen Mangel an methodologischer Klarheit vorzuhalten: hinsichtlich einer eigenständigen Erkenntnisbedeutung des historisch Individuellen (indem das Wesentliche mit dem Wiederkehrenden gleichgesetzt, „Massenerscheinungen“ als per se nicht-individuell betrachtet würden) sowie wegen der Annahme, „qualitative Veränderungen“ psychischer Art ließen sich nicht „wertfrei“ analysieren. Weber schreibt diesen ,Soziologen‘ also die Beschränkung auf ein nomothetisches Erkenntnisinteresse und, in Verbindung damit, auf quantifizierbare Erkenntnisgegenstände zu. – Der erste Kritikpunkt findet sich in ähnlicher Form auch noch in „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ [18](1908/09; in: MWG I/11, S. 162–380), wo sich Weber an zwei Stellen, beide Mal kritisch, „den Soziologen“ zuwendet. Der bei diesen „häufige Mißbrauch, alle (hypothetischen) Determinanten der konkreten Qualität eines Individuums glatt unter ‚Anlage‘ und ‚Milieu‘ aufzuteilen“, sei für die „Förderung der Arbeit äußerst wenig vorteilhaft“ (ebd., S. 365). Der „Milieu“-Begriff sei, wenn damit „konstante“, „universell verbreitete“ und deshalb „auf das ihnen zugehörige Individuum einwirkende Zuständlichkeiten“ gemeint seien, „offenbar gänzlich nichtssagend“ (ebd., S. 365 f.). Mit dem Begriff der „Anlage“ stehe es anders, „aber für unsre Zwecke dennoch ähnlich bedenklich“ (ebd., S. 366). Ohne Berücksichtigung der „individuellen Differenzen“ resp. der „individuellen Eigenart“ der Arbeiter (ebd., S. 363 f.) kann es für Weber keine sachadäquaten Kausalerklärungen geben. Das „individuelle Lebensschicksal“ sei entscheidend – „dies, und nicht der verschwommene Milieu-Begriff, ist der ‚Anlage‘ entgegenzusetzen“ (ebd., S. 364). Auch die Soziologie bedarf demnach einer „idiographischen“ Perspektive (vgl. Schluchter, Einleitung, ebd., S. 56), und zwar auf der Basis einer – damit keineswegs in eins zu setzenden – dezidiert „individualistischen“ Auffassung menschlichen Handelns. – Hier ergibt sich ein interessanter, aber sehr klärungsbedürftiger Bezug zu dem, was Weber in den Soziologischen Grundbegriffen (MWG I/23, S. 166) sagen wird: Man müsse wissen, was z. B. ein „König“, „Beamter“ etc. seinem „typischen“ Handeln nach „leistet“, um zu wissen, worauf sich die „Analyse“ – als „wichtig“ – zu richten habe (die Bemerkung, es gehe hier um „Wertbezogenheit“ i.S. Rickerts, verrät, wie wenig genau Weber es damit inzwischen nimmt). Erst so komme es zu dem, „was das soziologische Verstehen des Handelns von typisch differenzierten einzelnen Menschen (und: nur bei den Menschen) leisten kann und also: soll“ (ebd., S. 167). Mit dem „ungeheure[n] Mißverständnis“, „als ob eine ‚individualistische‘ Methode eine (in irgendeinem möglichen Sinne) individualistische Wertung bedeute“ (ebd.), habe das alles nichts zu tun. – Die hier von Weber angeführten ‚Soziologen‘ sind für die Entwicklung seines Begriffs der Soziologie also ex negativo wichtig und insofern Stammler vergleichbar, auch wenn dieser sich nicht als Soziologe ausgibt und von Weber auch zunächst nicht vom Standpunkt der (seiner) Soziologie (sondern eben: der empirischen Sozialwissenschaft) aus kritisiert wird.
Dem entspricht es, daß Weber, was Diltheys Verhältnis zur Soziologie betrifft, fürs erste auf eine einschlägige Abhandlung Othmar Spanns verwiesen und sich auf dieselbe Weise jeder eigenen Beschäftigung mit der Soziologie Georg Simmels enthalten hatte: Spanns einschlägiger Aufsatz informiere über die „in seinen verschiedenen Schriften verstreute[n] Äußerungen“ Georg Simmels über „den Gesellschaftsbegriff und die Aufgaben der Soziologie“,
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und er enthalte überdies Wichtiges zu einer – offenbar die Erkenntnis- und Geschichtstheorie Simmels insgesamt betreffenden – „logischen Kritik“. Von ihm selbst, sagt Weber, sei an gegebener Stelle eine „systematische Kritik von Simmels Standpunkt […] nicht beabsichtigt“, doch stellt er eine „wohl im Jaffé-Braunschen Archiv“ zu veröffentlichende Abhandlung über Simmel in Aussicht, in der er auf „manche seiner, wie immer, sachlich feinen und künstlerisch geformten Thesen“ zurückkommen werde. Weber, Roscher und Knies II, S. 138, Fn. 2.
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Ebd., S. 143, Fn. 1.
[19]Dieser Absicht verdankt sich offenbar der Fragment gebliebene Text Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft.
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Es ist unsicher, wann Weber mit seiner Niederschrift begann. Nach der Quellenlage spricht aber alles dafür, daß er zu diesem Zweck zunächst die 1908 erschienene „große Soziologie“ Simmels gründlich studierte und exzerpierte, außerdem die einschlägigen Teile von Spanns Buch Wirtschaft und Gesellschaft (1907), in das die oben genannten Zeitschriftenaufsätze über Simmel und Dilthey eingegangen waren.[19] Weber, Simmel, unten, S. 101–110.
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Das Nähere zu Art, Umfang, Entstehungskontext und Überlieferung des diesen Komplex betreffenden handschriftlichen Nachlasses findet sich im Editorischen Bericht zu Weber, Simmel, unten, S. 95–98.
Die in Exzerpten überlieferten Anmerkungen Webers zu Simmels Soziologie sind recht umfangreich (ca. 140 Zeilen auf gut 16 Seiten im Typoskript),
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detailliert und eingehend, beziehen sich aber nicht gleichmäßig auf das ganze Werk, sondern im Wesentlichen auf die Seiten 1–24, 27–45 (Exkurs), 50–168, 172–242, 403–474 und 556–562 der Erstausgabe von 1908. Ein großer Teil der Bemerkungen betrifft von Simmel zum Zwecke der Exemplifizierung resp. Analogisierung angeführte historische Fakten. Sie sind weit überwiegend kritischer Art, und sie zeugen nicht nur von Webers immensem, viele Epochen und Weltregionen einschließendem Tatsachenwissen, sondern auch davon, daß er die Soziologie zunächst und vor allem als strenge „Tatsachenforschung“ verstanden wissen wollte, der die methodologischen Reflexionen ebenso wie die begrifflich-theoretische Analytik zu dienen hatten. Diese i.e.S. empirische Kritik hat, jedenfalls in den handschriftlichen Exzerpten, nicht selten einen belehrenden Ton, und das gilt, wie ebenfalls wieder in den Diskussionsreden, auch für die zahlreichen Hinweise darauf, daß Simmel die Grenze zwischen analytischen und Tatsachenurteilen einerseits, Werturteilen andererseits nicht beachtet habe. Weber, Exzerpte Simmel, im Anhang, unten, S. 528–552.
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Ebd., unten, S. 529, 534 f., 541, 546, 550 u.ö.
Im vorliegenden Zusammenhang viel ergiebiger sind die Bemerkungen, in denen Weber die Simmelsche Soziologie nicht in ihrem strikt empirischen Charakter und Anspruch in Frage stellt, sondern als solche, als Soziologie. An ihnen nämlich läßt sich ablesen, worin Weber seinerseits die Notwendigkeit und die differentia specifica dieser ihm sehr lange sehr fragwürdigen Wissenschaft sehen wollte und, einige Jahre später, darzulegen unternahm.
Von einem „überwiegend antagonistischen Standpunkt aus Stellung zu nehmen“, sagt Weber hier, fühle er sich verpflichtet, weil er Simmels „Methodik in wichtigen Punkten“ ablehne,
1
seinen „sachlichen Ergebnisse[n] unge[20]mein häufig mit Vorbehalt, nicht selten negativ“ gegenüberstehe und von Simmels „Darstellungsart […] zuweilen fremdartig und häufig wenigstens nicht congenial angemuthet“ werde. Auf der folgenden Seite ist in dieser Hinsicht von den „erkenntniskritischen und methodischen Grundlagen“ die Rede.
2
Ein derart deutlicher „antagonistischer Standpunkt“ wäre auf interessierter Seite nicht dadurch ausgeglichen worden, daß Weber im gleichen Zuge hervorhebt, ein wie herausragender, gedankenvoller Gelehrter mit feinster Beobachtungs- und „schlechthin glänzend[er]“ Darstellungsgabe Simmel sei. In fast allen seinen Arbeiten enthielten „nicht nur die richtigen, sondern selbst die falschen Ergebnisse eine Fülle von Anregungen zum eignen Weiterdenken […], der gegenüber die Mehrzahl auch der achtbarsten Leistungen andrer Gelehrter oft einen eigentümlichen Geruch von Dürftigkeit und Armuth zu tragen scheinen“.[20] Weber, Simmel, unten, S. 101.
3
Ebd.
Angesichts dessen sieht sich Weber vor die Frage gestellt, wie sich dieser Widerspruch zwischen höchst Bedeutendem und durchaus nicht Überzeugendem erkläre: „Vermittelst der Kritik von Simmels wissenschaftlicher Eigenart an seinen beiden soziologischen Hauptschriften möchten die nachfolgenden Darlegungen einen Beitrag zu deren Beantwortung und zur Beurteilung von Simmels in so vieler Hinsicht eigentümlich problematischer wissenschaftlicher Stellung liefern“.
4
Auf die durchgehend unsachgemäße, oft sehr scharfe und auch gehässige Kritik (insbesondere der Philosophie des Geldes) in Kreisen der Philosophie und der Nationalökonomie will Weber sich nicht einlassen, Ebd., unten, S. 102.
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ebenso wenig darauf, daß es „auch sehr ernst zu nehmende Gelehrte in den an Simmel’s soziologischen Arbeitsbezirk angrenzenden Disziplinen“ gebe, die Simmel zwar Anerkennung im Einzelnen zollten, ihn im Ganzen aber ebenfalls ablehnten. Der in diesen Kreisen keinem „aufmerksamen Beobachter“ entgehende „Unterton von Animosität“ gegenüber Simmel lasse sich, meint Weber (ebd., unten, S. 105), nicht zureichend mit dem „lächerliche[n] Sich-Bekreuzigen vor dem Namen der Soziologie“ erklären, „unter dem in Deutschland auch andere Gelehrte bei unbestrittensten Leistungen ersten Ranges doch dauernd zu leiden hatten und haben“. Zu diesen „anderen Gelehrten“ zählte für Weber gewiß Ferdinand Tönnies, womöglich aber auch Othmar Spann. – Im Übrigen ist diese Nebenbemerkung deshalb nicht uninteressant, weil es bei Weber selbst auffällig lange zwar kein „Sich-Bekreuzigen“, wohl aber eine deutliche Distanz gegenüber „dem Namen der Soziologie“ gab und weil deren Spuren sogar seine Wendung zur Soziologie (in eben diesen Jahren) überdauern und sich bis in seinen allerletzten Äußerungen zum eigenen soziologischen „System“ finden. Die sehr wesentliche Frage, warum Weber selbst die Philosophie des Geldes als eine der soziologischen „Hauptschriften“ Simmels auffaßt, läßt sich auf der Grundlage des unten edierten Fragments und der überlieferten Exzerpte nicht beantworten.
6
Ganz unerörtert sollen schließlich auch die allzu offenkundigen Gründe bleiben, warum Simmel das längst verdiente [21]Ordinariat versagt geblieben sei. Ohne Rücksicht auf alle diese feststehenden und kaum zu erschütternden Urteile soll es vielmehr darum gehen, Simmels „soziologische Arbeitsweise an seinen beiden soziologischen Hauptwerken methodisch und sachlich zu prüfen“. Weber, Simmel, unten, S. 104.
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[21] Ebd., unten, S. 108.
Weber sieht „an sich“ keinen Grund, sich näher mit Simmels eigenen Darlegungen zum „Wesen der Soziologie und den Sinn seiner soziologischen Methode“ zu befassen, statt die entsprechenden Vorstellungen an Simmels „Art der Behandlung der Einzelprobleme“, d. h. hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf seine konkreten soziologischen Analysen, zu erörtern. Weil aber auch von „sehr ernst zu nehmenden Soziologen“ (zu denen Weber in einer – offenbar nachträglich eingefügten – Fußnote im Simmel-Fragment vor allem Othmar Spann rechnet)
8
die Definition des Gesellschaftsbegriffs zur wichtigsten, wenn nicht einzigen Aufgabe der „Gesellschaftslehre“ erklärt worden sei, Ebd., unten, S. 108 f., Fn. 1.
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wendet sich Weber zu Beginn seiner kritischen Auseinandersetzung der Simmelschen Lösung dieser Aufgabe, also dessen Grund-Begriff der „Wechselwirkung“, zu. Ebd., S. 108.
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Die knapp einseitige und ihrerseits unabgeschlossene Erörterung dieser Problematik bildet den Schlußteil des Textfragments. Genau dazu und zu den anderen Hauptpunkten der Weberschen Kritik läßt sich Ergänzendes den Exzerpten zu Simmel, Soziologie, und Spann, Wirtschaft und Gesellschaft, entnehmen.
Simmels Begriff von „Gesellschaft“ steht im größtmöglichen Gegensatz zu jedem substantiellen, also „wesenhaften“ Verständnis und insbesondere zu einem solchen, bei dem damit das übergreifende, mehr oder minder geschlossene Ganze eines geschichtlich-gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs gemeint ist. „Gesellschaft“ bedeutet für ihn dasselbe wie „Vergesellschaftung“, diese verstanden sowohl als Geschehen wie als Zustand, und sie ist überall gegeben, wo sich „‚Wechselwirkungen‘ zwischen Individuen“ (Μ. Weber)
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vollziehen. Insofern sagt Spann in seiner von Weber geschätzten und genutzten Simmel-Kritik sehr zu Recht, daß es bei diesem keinen eigentlichen Begriff von Gesellschaft als der einen fundamentalen, alles übergreifenden und zu einer organischen Einheit verbindenden Wirklichkeit gebe, damit aber, meint Spann, auch keine wirklich soziologische, sondern nur eine psychologische Betrachtungs- und Erklärungsweise. Weber, Simmel, unten, S. 109, und Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 528.
Obwohl es sich bei Weber in diesem Punkt sehr ähnlich (und grundsätzlich anders als bei Spann) verhält, erscheint auch ihm der Begriff der Wechselwirkung als Grundbegriff der Soziologie ganz unbrauchbar: Angesichts dessen, daß „Wechselwirkung“ auch in den Naturwissenschaften als eine elementare und ubiquitäre Gegebenheit gelte – derart, daß man ihr „generelles [22]Bestehen sogar zu den ‚Axiomen‘ hat zählen wollen“ –,
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werde damit durchaus nicht die spezifische Differenz zwischenmenschlicher Verhältnisse bezeichnet. Darüber hinaus werde das von Simmel[22] Weber, Simmel, unten, S. 109 mit Anm. 16.
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als zwischenmenschliche Wechselwirkung Definierte so weit gefaßt, daß auch eine nur potentielle oder „rein ‚einseitige‘, d. h. nicht irgend ein Moment von ‚Wechselwirkung‘ enthaltene Beeinflussung eines Menschen durch einen Andern“ So zu Beginn des Dritten Kapitels „Über- und Unterordnung“ von Simmel, Soziologie, S. 134.
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nicht ausgeschlossen sei. Weber, Simmel, unten, S. 110.
Während sich zu diesem ersten Kritikpunkt zusätzliche Notizen in Webers Soziologie-Exzerpten finden,
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lassen sich die weiteren nur aus diesen herauslesen, das aber mit hinreichender Deutlichkeit. Das gilt zunächst für Webers Beurteilung des Umstandes, daß Simmel das unterscheidende Erkenntnisinteresse der Soziologie darin sieht, die vielfältigen Formen zwischenmenschlicher Wechselwirkung zu identifizieren und zu analysieren. Zwar seien, so bemerkt Simmel, diese Formen in der „Wirklichkeit […] jedes sozialen Seins und Geschehens“ Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 528 f.
16
untrennbar – in einer „unlösbare[n] Einheit“ Simmel, Soziologie, S. 6; das Handexemplar Max Webers mit Randbemerkungen, An- und Unterstreichungen befindet sich in der Diözesanbibliothek Aachen.
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– mit je konkreten „Inhalten“ (Interessen, Zwecken, Motiven, Gefühlen etc.) verbunden, doch gewönnen diese Inhalte nur durch „eine Form oder Art der Wechselwirkung unter den Individuen […] gesellschaftliche Wirklichkeit“. Ebd., S. 9.
18
Die eigene „Legitimation des soziologischen Problems“ (soll sagen: die Legitimation der Soziologie) aber liege in der „Feststellung, systematische[n] Ordnung, psychologische[n] Begründung und historische[n] Entwicklung der reinen Formen der Vergesellschaftung“. Ebd., S. 6 f.
19
Ebd., S. 9.
In Webers Exzerpt werden diese Darlegungen Simmels teils wörtlich, teils sinngemäß zitiert. Der Kern seiner Kritik äußert sich zunächst nur darin, daß er die Untrennbarkeit der Formen von den Inhalten durch Unterstreichung betont,
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ebenso Simmels Rede von „reinen Formen“. An späterer Stelle des Exzerpts Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 529 f.
21
aber spricht er, unzweideutig kritisch-ablehnend, von „Simmels Formalismus“ und notiert: „Die Inhalte entscheiden doch“. Ebd., unten, S. 537.
22
Vgl. die ganz entsprechende Formulierung an etwas späterer Stelle (ebd., unten, S. 542): „Die Inhalte, nicht die Form entscheide[n]“; ähnlich: ebd., unten, S. 541 (unter Bezug auf Simmel, Soziologie, S. 153) und ebd., unten, S. 549 (zu Simmel, Soziologie, nach S. 442).
[23]Zu einer Passage, in der Simmel im Blick auf Umbildungsprozesse in den Zünften des ausgehenden Mittelalters sagt, die „Herauslösung dessen, was wirklich die reine Vergesellschaftung ist, aus der komplexen Gesamterscheinung“ sei, „nicht logisch zu erzwingen“,
23
bemerkt Weber: „Entscheidende Schwierigkeiten selbst [d. h. von Simmel] hervorgehoben […] Form u. Inhalt nicht zu trennen, weil historisch“.[23] Simmel, Soziologie, S. 15.
24
Im selben Sinne widerspricht er an anderer Stelle der Behauptung, am „Charakter der für beliebige Inhalte sich bietenden Form“ könne z. B. auch in dem Falle festgehalten werden, daß „Phänomene der Über- und Unterordnung für den Untergeordneten ganz entgegengesetzte Folgen“ Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 531.
25
hätten: „S[immel]’s Ansicht, er habe die anscheinend inhaltlich bedingten Unterschiede des Schicksals der Unterworfenen in formal bedingte aufgelöst“, sei „nicht richtig“. Simmel, Soziologie, S. 182.
26
Als schlicht „unrichtig“ gilt Weber schließlich auch das Argument, mit dem Simmel die Beschränkung der Soziologie auf die „reinen Formen“ der Vergesellschaftung wesentlich begründet. Es lautet in Webers (zutreffender) Formulierung, eine „Wissenschaft, welche s[ich] mit den Inhalten der Vergesellschaftung abgeben wollte, würde nichts (!) als e[ine] Zusammenfassung der Einzelwissenschaften sein“. Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 544.
27
Die Einzelwissenschaften, setzt Weber dagegen, „erschöpfen den Umkreis des Gesellschaftlichen nicht!“ Ebd., unten, S. 551, unter Bezug auf Simmel, Soziologie, S. 9. Dort heißt es, „daß eine Soziologie, die die Totalität dieser Erscheinungen, mit ihrer Ineinsbildung von Form und Inhalt, umfassen wollte, sich als nichts anderes ergeben konnte, denn als eine Zusammenfassung jener Wissenschaften“.
28
Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 551.
Mit dieser Kritik am „Formalismus“ Simmels sind zwei weitere, im gegebenen Zusammenhang wichtige Kritikpunkte verbunden. Der eine betrifft Simmels unzulänglichen Begriff des soziologischen Verstehens, der andere das Verhältnis von Soziologie und Psychologie.
29
Sie sind insofern miteinander (und eben mit der Form-Inhalt-Problematik) verknüpft, als Weber behauptet, Simmel begreife das Verstehen als ein psychologisches, und es sei ihm grundsätzlich nicht gelungen, eine genuin soziologische Gegenstandsauffassung und Erklärungsweise von einer psychologischen (resp. sozialpsychologischen) zu unterscheiden und abzugrenzen. Zur Vieldeutigkeit und zum Bedeutungswandel des Simmelschen Psychologiebegriffs vgl. Kitagawa, Sakiko, Die Geschichtsphilosophie Georg Simmels. Phil. Diss., Freie Universität Berlin, 1982, o.V., S. 9 ff.
Die Soziologie hat es – für Simmel wie für Weber – mit der Wirklichkeit und Wirksamkeit des Sozialen zu tun. Weber bestreitet jedoch, daß sich diese Wirklichkeit und Wirksamkeit in den reinen oder abstrakten Formen des Sozia[24]len (Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Arbeitsteilung, Vertretung etc.)
30
finde und nicht, wie Weber annimmt, in diesen als jeweils „inhaltlich“, d. h.: sinnhaft und damit historisch, bestimmten. Aus der richtigen Beobachtung, daß, wie Weber einen entsprechenden Satz Simmels zusammenfaßt,[24] Simmel, Soziologie, S. 8.
31
die gleiche Form sich mit verschiedenen Inhalten verbinde und vice versa, sei durchaus nicht zu schließen, daß die jeweilige Form der Wirkung resp. Wechselwirkung der „einzig mögliche“ Ebd., S. 8.
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oder auch nur, so ist zu ergänzen, ein zureichender Gegenstand der Soziologie sei. Webers oben zitierte Feststellung, „die Inhalte, nicht die Form entscheide[n]“, Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 530, unter Bezug auf Simmel, Soziologie, S. 7.
33
besagt, daß ein auf kausales Erklären zielendes, also motivationales Verstehen mehr oder minder geformte soziale Orientierungen in ihrem Sinngehalt zu erfassen habe. Die Form-Inhalt-Unterscheidung sei zwar analytisch nützlich, könne aber auch in die Irre führen, und zwar insofern, als die jeweilige Formung wechselseitigen sozialen Handelns keinesfalls jenseits der Sphäre des Sinnhaften, also deutend zu Verstehenden, angesiedelt sei. Vgl. oben, S. 22, Anm. 22.
34
Den „reinen Formen“ einen zumindest quasi-apriorischen Status zuzuschreiben und sie auf diese Weise von ihrer jeweiligen sinnhaft-geschichtlichen Konkretion zu unterscheiden, erscheint Weber methodologisch resp. „erkenntniskritisch“ unangemessen. Dem darin liegenden residualen „Kantianismus“ setzt er die Konzeption der Idealtypen entgegen. Diese liefern klare und präzise begriffliche Unterscheidungen („Formen“), die, und dies auch in ihrer soziologischen Verwendung, von geschichtlichen Wirklichkeiten zwar abstrahieren, so aber, daß sie damit deren „gedanklicher Ordnung“ zu dienen vermögen. Auf Webers gelegentliche Bemerkungen zu Simmels Verwendung des Idealtypusbegriffs (Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 533, bzgl. Simmel, Soziologie, S. 27 f., Exkurs „Wie ist Gesellschaft möglich?“; Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 541, bzgl. Simmel, Soziologie, S. 150) wird hier nicht eingegangen.
Das soziologische Verstehen richtet sich nach Weber auf denjenigen „subjektiv gemeinten Sinn“, dem gemäß sich Handelnde auf das Verhalten anderer beziehen. Im Simmel-Fragment, wie schon in den frühen methodologischen Arbeiten und auch noch in der „Vorbemerkung“ zu den Soziologischen Grundbegriffen, moniert Weber,
35
daß Simmel, und dies sogar absichtsvoll, diese Restriktion nicht beachte und immer wieder den subjektiven mit einem als objektiv gültig unterstellten (und tatsächlich einer wertenden Stellungnahme entspringenden) Sinn vermenge. Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 148.
Die in den Exzerpten zu Simmels Soziologie wiederholt geübte Kritik ist fundamentaleren Charakters. Nicht daß Simmel den empirisch konstatier[25]baren Sinn gelegentlich mit einem vermeintlich objektiven Sinn zusammenbringt oder verwechselt, ist das eigentliche Problem, sondern daß sich das von ihm gemeinte soziologische Verstehen überhaupt nicht auf motivierende Sinngehalte menschlichen Zusammenhandelns, sondern auf dabei aktivierte psychische Vermögen oder Vollzüge beziehe und insofern durchaus kein sinndeutendes, sondern eben psychologisches Verstehen sei.
Allerdings ist die Position Simmels in dieser sehr wichtigen Frage offenbar nicht von hinreichender Klarheit, und auch Weber tut sich schwer damit, das von Simmel Gemeinte nachzuvollziehen. So hält er es für „schief“ ausgedrückt,
36
wenn Simmel im Blick auf soziale Erscheinungen von einem „objektiv geistigen Inhalt“ spricht, „der nichts Psychologisches mehr ist“ – „so wenig wie der logische Sinn eines Urteils“.[25] Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 538.
37
Schief ist das für ihn offenbar, weil bei einer solchen Disjunktion von logischer (resp. „geistiger“ oder „ideeller“) Objektivität einerseits, empirisch-psychologischer Gegebenheit andererseits das (nach Weber) für eine soziologische Betrachtungsweise Entscheidende, nämlich die Wirklichkeit und Wirksamkeit sinnhafter „Inhalte“ (als solcher, nicht als psychischer Gegebenheiten oder Faktoren) im sozialen Handeln, aus dem Blick gerät. Weber selbst wird erst in der überarbeiteten Fassung seiner Überlegungen zur Wertfreiheit ein in dieser Hinsicht zumindest mißverständliches „rein logisch“ durch „rein sinnhaft“ ersetzen. Simmel, Soziologie, S. 559.
38
Weber, Wertfreiheit, unten, S. 473 mir textkritischer Anm. f.
Weber hält hier der psychologischen Perspektive Simmels vor, das „Rationale“ zu unterschätzen und nicht scharf vom „Psychologischen“ abzugrenzen oder (so angesichts der Interessen der Tories an Arbeitsschutzgesetzen) zu einer „psychologisierende[n] Umdeutung eines rationalen Verhältnisses“ zu verleiten.
39
Daß Simmel das „Machtverhältnis“ als einen „psychische[n] Vorgang“ Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 537, unter Bezug auf Simmel, Soziologie, S. 112 f.
40
betrachte, zeige, daß er den Gegensatz von „rationaler u. ‚psycholog[ischer]‘ Erkenntnis“ verwische. Bei Simmel, Soziologie, S. 23: „seelischer Vorgang“.
41
Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 552. In einem Brief an Lujo Brentano, zweite Aprilhälfte 1909, kennzeichnet Weber mit dieser Unterscheidung seine eigene Position: „Unsre ‚Theorie‘ ist ‚rational‘, nicht ‚psychologisch‘ fundamentiert“ (MWG II/6, S. 108).
Die bei Simmel zu beobachtende „Ausschaltung der Inhalte“ geht demnach mit einer „Ausschaltung des Rationalen“
42
einher. Indem Weber so das Inhaltliche eng mit dem Rationalen verbindet und auf diese Weise dem Psychischen entgegensetzt, scheint er selbst mit einer Disjunktion zu operieren, [26]die der bei Simmel kritisierten (ideell, geistig, logisch versus psychisch) zumindest nahe kommt. Dieser Anschein verschwindet aber, wenn geprüft wird, in welchem Sinne Weber im gegebenen Zusammenhang die Termini „rational“ oder „Rationalität“ verwendet. In dieser Hinsicht helfen die stichwortartigen Notizen im Exzerpt nicht weiter, wohl aber das Wissen, daß Weber schon in seinen frühen methodologischen Abhandlungen die sinnhafte Verständlichkeit menschlichen Handelns nicht nur mit dem Begriff der „Kommunikabilität“ erläutert, Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 546, unter Bezug auf Simmel, Soziologie, S. 219 f.
43
sondern, und zwar im selben Sinne, von einer „qualitativen Rationalität“ solchen Handelns spricht.[26] Weber, Roscher und Knies III, S. 99 und S. 95, Fn. 1 (unter Bezug auf Münsterberg).
44
„Rational“ heißt hier also: sinnhaft verständlich und kommunikabel, seinem motivierenden Sinn nach intersubjektiv mitteilbar, damit auch – im Prinzip – interpretierbar, begründbar, überprüfbar etc. Weber, Roscher und Knies II, S. 114.
Diese sehr elementare Bestimmung dessen, was „rational“ heißen soll, gilt a fortiori für die besondere Form von Rationalität, die Weber später terminologisch als „Zweckrationalität“ fassen wird. In ihr kommt in einer sonst nicht erreichbaren Weise zur Ausprägung, was Rationalität überhaupt, also auch schon auf jener elementaren Ebene, kennzeichnet: sinnhafte Durchsichtigkeit, Verständlichkeit und Kommunikabilität, und das begründet den – ausschließlich methodischen – Sonderstatus, den Weber ihr im Kategorienaufsatz und dann in den Grundbegriffen zuspricht.
45
Vgl. Weiß, Johannes, Max Webers Grundlegung der Soziologie, 2., überarb. und erw. Aufl. – München u. a.: K. G. Saur 1992, S. 51, 57 f. (hinfort: Weiß, Grundlegung). Die Bestimmung von Rationalität (resp. Vernünftigkeit) als Kommunikabilität kann hier nicht näher begründet werden. Zwei Hinweise mögen ihrer Plausibilität dienen: Kant glaubte, einen empirisch brauchbaren Begriff von Vernunft zureichend als „allgemeine Mitteilbarkeit“ und „allgemeine Beistimmung“ bestimmen zu können (Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft. – Hamburg: Felix Meiner 1963, S. 143 ff. (S. 153 ff. nach der Originalausgabe von 1790)), und Jaspers kam in seinen späten Jahren (Jaspers, Karl, Von der Wahrheit (Philosophische Logik, Band 1).
N
– München: Piper 1947) zum Ergebnis, daß sich Vernunft überhaupt nur vermittels des Begriffs der Kommunikation definieren lasse (nach Henrich, Dieter, Einführung, in: Jaspers, Karl, Max Weber, Gesammelte Schriften. – München, Zürich: Piper 1988, S. 21). MWG: Philosophische Logik. Titelkorrektur in MWG digital.
Aus dem Simmel-Fragment und den zugehörigen Exzerpten geht unzweideutig hervor, daß die Konfrontation und Auseinandersetzung mit Simmels Soziologie sowohl Webers Wendung zur Soziologie als auch seine eigene Konzeptualisierung dieser Wissenschaft stark beeinflußt haben. Daß er diesen Einfluß auch nach Simmels Tod – also vor allem in den Soziologischen Grundbegriffen – nicht einmal ansatzweise zur Sprache bringt, ist nicht leicht zu erklären. Eine sehr grundlegende und keineswegs selbstverständliche Übereinstimmung liegt in dem, was Weber später im Blick auf Spanns Sim[27]mel-Kritik die „individualistische Methode“ nennt
46
– und entschieden gegen Spanns „universalistische“ (d. h. organologische und funktionale) Methode als die der Soziologie einzig mögliche vertritt.[27] Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 166 f.
47
Neben Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, dessen „Gedankengang“ er zumindest „in Auszügen skizziert“ hatte (Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies vom 29. Aug. 1909, MWG II/6, S. 237 f.), und Georg Simmels Werken, hat Weber auch Othmar Spann, Wirtschaft und Gesellschaft, rezipiert, wie das überlieferte Exzerpt „Spann gegen Simmel“, unten, S. 553–557, belegt. (Ein Handexemplar ist nicht überliefert.) Das ist bemerkenswert, weil seine Stellung zu Spanns Gesellschaftstheorie zweifellos „antagonistischer“ ist als zu Simmels Soziologie. Zwar folgt er Spanns Kritik an Simmels – von den konkreten sozialen Sinngehalten abstrahierendem und insofern nur psychologischem – Grundbegriff der „Wechselwirkung“ in allen Punkten. „Ganz richtig“ bemerkt Weber, Exzerpt Spann, unten, S. 556, – auf sein eigenes Urteil im Exzerpt zu Simmel, Soziologie, S. 7, verweisend – zu der Feststellung von Spann, Wirtschaft, S. 216, Wechselwirkung werde bei Simmel durch („natürlich unbewußte“) „Erschleichung“ „zur ‚Form‘ eines ‚Inhaltes‘“. „Richtig“ erscheint es Weber (ebd., unten, S. 556) auch, wenn Spann, Wirtschaft, S. 219, konstatiert, „Gesellschaft“ könne für Simmel nur ein „Sammelname“ sein. Spann selbst formuliert, jedenfalls an dieser Stelle, etwas vorsichtiger: Sie gelte Simmel „mehr im Sinne eines Sammelnamens“. Die diesen Punkt betreffende „Polemik“ Spanns allerdings hält Weber für „nicht überzeugend“, und tatsächlich steht er in dieser sehr wesentlichen Frage Simmel viel näher als Spann. Schon in seinen frühen methodologischen Schriften, insbes. in Roscher und Knies, bilden organizistische Gesellschafts- und Entwicklungstheorien einen Hauptgegenstand seiner Kritik. Zwar gilt ihm Spanns „funktionale“ Einordnung einzelner „Objektivationssysteme“ (Spann, Wirtschaft, S. 228) resp. „funktionelle[r] Teilsysteme“ (S. 225) in das „Ganze der Gesellschaft“ (ebd.), das „Gesamtsystem des sozialen Körpers“ (S. 225), hier wie auch noch in den Soziologischen Grundbegriffen (im Sinne einer „funktionalen Vorfragestellung“; MWG I/23, S. 166) als methodisch zulässig und hilfreich, doch wendet er sich am – ganz Spann gewidmeten – Ende des Exzerpts scharf gegen dessen Resümee, der „funktionelle Aufbau der Gesellschaft“ zu einem „einheitlichen System“ (ebd., S. 228) lasse sich „am besten vorstellen“, indem man „den Begriff des höchsten Zieles oder ‚höchsten Gutes‘“ einführe: „Höchstes Gut nötig pp. Stammlerei!“ (Weber, Exzerpt Spann, unten, S. 557). Dazu paßt das zuvor (in Bezug auf Spann, Wirtschaft, S. 224) angemerkte allgemeine Urteil: „Ganz falsche Behauptungen über den Werth!!“ (Weber, Exzerpt Spann, unten, S. 557).
Vieles spricht dafür, daß Weber seinen Grundbegriff der „sozialen Beziehung“, der für die Definition aller höherstufigen, komplexen und überdauernden sozialen Ordnungen konstitutiv ist, im Anschluß an und in Absetzung von Simmels Grundbegriff der „Wechselwirkung zwischen Individuen“ [Hervorhebung; J.W.] entwickelt hat.
48
Der Behauptung einer Simmel und Weber [28]gemeinsamen „individualistischen Methode“ steht nicht entgegen, daß diese „Methode“ von beiden unterschiedlich begründet wird und daß Simmel eingehender als Weber der Frage nachgeht, wie das Individuelle im Vergesellschaftungsgeschehen bestimmend ins Spiel kommt. In einer späteren, von Weber offenbar nicht mehr zur Kenntnis genommen Publikation erörtert Spann den Begriff der Wechselwirkung als unvermeidlichen Grundbegriff aller soziologischen Konzeptionen, die „universalistischen“ Gesellschaftstheorien diametral entgegenstehen und von ihm als „formalistisch“, „empiristisch“, oder „individualistisch“ (insofern auch psychologisch) charakterisiert und kritisiert werden. Dabei verweist er auf Simmel und, als an ihn anschließend, Alfred Vierkandt und Leo[28]pold von Wiese, darüber hinaus auch auf den biologischen, physikalischen und psychologischen Gebrauch des Begriffs. Vgl. Spann, Othmar, Gesellschaftslehre (zuerst 1914), 4., durchges. Aufl., eingerichtet von Horst Kitzmantel. – Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1969, S. 51 ff. und 68 ff. (hinfort: Spann, Gesellschaftslehre).
Unter den nicht wenigen zustimmenden, immer wieder auch sehr zustimmenden Anmerkungen Webers ragt die heraus, die genau diese ganz fundamentale Frage betrifft: Von „wunderschöne[n] Ausführungen“ spricht Weber da,
49
wo Simmel bemerkt, die Soziologie habe sich „im ganzen […] eigentlich auf diejenigen gesellschaftlichen Erscheinungen beschränkt, bei denen die wechselwirkenden Kräfte schon aus ihrem unmittelbaren Träger auskristallisiert“ Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 531.
50
seien, etwa zu „Staaten und Gewerkvereine[n], Priesterschaften und Familienformen, Wirtschaftsverfassungen und Heerwesen, Zünfte[n] und Gemeinden, Klassenbildung und industrielle[r] Arbeitsteilung“. Simmel, Soziologie, S. 18.
51
Dabei seien die elementaren, sich unablässig vollziehenden Prozesse der „Vergesellschaftung unter den Menschen“ (als „Individuen“) ausgeblendet worden, bei denen es sich „gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials“ handle, „die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet und hypostasiert“. Ebd., S. 18.
52
Es seien diese „nur der psychologischen Mikroskopie zugängigen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen“. Ebd., S. 19.
53
Ebd., S. 19. Ungeachtet seiner geradezu enthusiastischen Zustimmung in der Sache stecken für Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 532, „zahlreiche Dunkelheiten“ in der von Simmel selbst (Simmel, Soziologie, S. 21) aufgeworfenen Frage, ob die „psychologische Mikroskopie“ (in Webers Handexemplar, Diözesanbibliothek Aachen, unterstrichen) etwas anderes als ein „Kapitel der Psychologie, allenfalls der Sozialpsychologie“ sein könne – in der Frage also, die Weber der Simmelschen Soziologie insgesamt kritisch entgegenhält. „Es fehlt eben eine Behandlung der Grundfrage[n]: inwieweit rational, inwieweit erlebbar, inwieweit physiologisch bedingt, u. wie sie zusammenwirken“ (zu Simmel, Soziologie, S. 21). Im zweiten Durchgang (und Exzerpt) werden Simmels einschlägige Erörterungen (Soziologie, S. 21–23) als „Lauter Törichtes!“ (Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 552; zu S. 22), am Rande derselben Seite des Handexemplars als „Unsinn!“ qualifiziert.
[29]Daß die „individualistische Methode“ in Gestalt des sinnhaften Verstehens nicht auf psychische Gegebenheiten, Abläufe oder gar Gesetzmäßigkeiten abstellt, ist ein cantus firmus der Weberschen Methodologie von den frühen Abhandlungen bis zu den Soziologischen Grundbegriffen, so auch im Exzerpt zu Simmels Soziologie.
54
Auch das Urteil, die „Bemerkungen z[um] Problem des Individuellen“ seien „wenig zutreffend“ (zu S. 33 der Soziologie),[29] Vgl. Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 528.
55
läßt sich auf diesen Kritikpunkt beziehen. Zugleich ist sie aber insofern erstaunlich, als Weber selbst sich mit diesem Problem weit weniger intensiv beschäftigt als Simmel. Im Zweifel strikt an den Bedürfnissen der „Tatsachenforschung“ orientiert, teilt er durchaus nicht Simmels Bedürfnis, dem Wesen der Individualität, und zwar im Sinne der Einzelnheit und Singularität eines jeden Menschen, philosophisch oder gar „metaphysisch“ auf den Grund zu gehen. Ebd., unten, S. 533.
56
Dieses Bestreben durchzieht das Simmelsche Denken, es erklärt seine Absetzung von der Soziologie in seinen späten Jahren. In der Überzeugung, daß eine Theorie menschlichen Handelns sich der „individualistischen Methode“ bedienen müsse, sah sich Weber von der theoretischen Nationalökonomie, insbesondere in Gestalt der subjektiven Wertlehre Carl Mengers, sehr bestärkt (vgl. Kim, Grenznutzenschule (wie oben, S. 13, Anm. 59); Mommsen, Wolfgang J., Einleitung, in: MWG III/1, S. 1–51, hier S. 21 ff.). Das war aber kein Grund, über die Voraussetzungen dieser Methode nicht weiter nachzudenken, erst recht nicht angesichts der Weberschen Ablehnung eines generalisierten Modells zweckrationalen Handelns.
57
Zugleich aber ist Individualität in diesem prinzipiell außersoziologischen Sinne von elementarer Bedeutung für die Konstitution von „Gesellschaft“, und so auch für deren angemessene Erkenntnis. Diese konstitutive Bedeutung formuliert Simmel im Exkurs als zweites Apriori: „daß der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist, bildet die positive Bedingung dafür, daß er es mit andern Seiten seines Wesens ist: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins“. Insbes. in: Simmel, Georg, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. – München, Leipzig: Duncker & Humblot 1918.
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Das gelte in besonderer Weise, aber keineswegs nur für gesellschaftlich marginalisierte Menschen-Typen (Fremder, Feind, Verbrecher, Armer etc.), sondern „in unzähligen Modifikationen, für jegliche individuelle Erscheinung“. Gesellschaften seien „Gebilde aus Wesen […], die zugleich innerhalb und außerhalb ihrer stehen“. Damit aber erzeuge die Gesellschaft „vielleicht die bewußteste, mindestens die allgemeinste Ausgestaltung einer Grundform des Lebens überhaupt: daß die individuelle Seele nie innerhalb einer Verbindung stehen kann, außerhalb deren sie nicht zugleich steht, daß [30]sie in keine Ordnung eingestellt ist, ohne sich zugleich ihr gegenüber zu finden. Dies geht von den transszendenten und allerallgemeinsten Zusammenhängen bis zu den singulärsten und zufälligsten“. Simmel, Soziologie, S. 36. Die – triviale – Umkehrung dieses Grundsatzes interessiert Simmel nicht; sie beschreibt das, was üblicherweise allein als soziologisch relevant und faßbar erscheint.
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[30] Ebd., S. 38.
Max Weber übergeht diese Passagen keineswegs, kann ihnen aber offenbar wenig für die Soziologie Bedeutsames abgewinnen. So paraphrasiert er Simmels schon entschärfend-synthetisierendes Resümee
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folgendermaßen: „Das Individuum ist nicht geteilt in e[ine] soziale u. e[ine] ‚eigne‘ Sphäre, sondern ist beides zugleich, e[ine] Einheit, die einerseits so, andrerseits so begriffen werden will“. Ebd., S. 41.
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Das wirkt wie eine bewußt trivialisierende und auch leicht ironisierende Wiedergabe; jedenfalls macht sie das für die Soziologie Herausfordernde an Simmels zweitem Apriori unkenntlich. Dazu paßt, daß Weber zu Simmels Exemplifizierung jener „Grundform des Lebens“ am Gottesverhältnis eines religiösen Menschen bemerkt, daran zeige sich, daß Simmel „nicht nur Soziologie treibt, daß seine Kategorien nicht nur soziologische sind“ – weil, so Webers keineswegs zwingende Begründung, das religiöse Verhältnis „kein soziol[ogisches]“ sei. Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 534; Webers Hervorhebungen.
62
Ebd.
Webers Bedürfnis darzutun, daß sich Simmel nicht an die Grenzen des soziologisch Möglichen und Gebotenen halte, äußert sich also im Kontext seiner Anmerkungen zum zweiten Apriori besonders deutlich.
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Das ist von der Sache her verständlich und doch sehr unbefriedigend, weil, um eine Webersche Unterscheidung zu verwenden, dies zwar keine soziologische, aber doch in hohem Maße „soziologisch relevante“ Sache ist. Die Motive für Webers Zurückhaltung sind nicht identisch, konvergieren aber doch mit denen, die ihn davon abgehalten haben, sich, ungeachtet einer wiederholt bekundeten hohen Wertschätzung, eingehend mit Friedrich Gottls Analysen zu befassen, Wenn man dieses Apriori, wie naheliegend, in eine Wertbeziehung umdeutet, ergibt sich eine enge Beziehung zu dem, was Weber zur gleichen Zeit in der Abhandlung „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (MWG I/11, S. 363 f.) sagt: Die Soziologie müsse die „individuelle Differenz“ resp. „individuelle Eigenart“ der Arbeiter und ihrer Lebensbedingungen in ihre Erklärungen einbeziehen, statt sie durch einen Allgemeinbegriff wie „Milieu“ zu neutralisieren. Vgl. dazu auch, oben, S. 17 f., Anm. 88.
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und aus denen auch die prinzipielle Ablehnung Hugo Münsterbergs und seiner Idee einer „subjektivierenden Methode“ entspringt. Gerade dazu hätte er sehr gute Ansatzpunkte in Othmar Spanns Buch (Spann, Wirtschaft, S. 86 ff.) gefunden, sofern sich darin (ebd., S. 85–90) auch eine klare und verständnisvolle Darstellung der Intentionen Gottls findet.
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Ein schlechter Einfluß Münsterbergs auf Simmel („Münsterbergiana“) wird von Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 533, angemerkt. Zur „‚subjektivierende[n]‘ Methode“ [31]und der Auseinandersetzung mit Münsterberg vgl. Weber, Roscher und Knies II, S. 117 und 130 ff.
[31]Dem ist an dieser Stelle nicht weiter nachzugehen. Wohl aber ist noch eine wichtige Problematik anzusprechen, die auch, obzwar zur anderen Seite hin, die Grenzen soziologischer Erkenntnis betrifft und bei der Weber und Simmel vollständig übereinstimmen und sich sehr deutlich anderen Begründern der Soziologie entgegenstellen.
Trotz des beschriebenen Dissenses hinsichtlich der Form-Inhalt-Unterscheidung und der damit eng verknüpften methodischen Fragen (scil. nach dem Gegenstand des soziologischen Verstehens) gilt für Weber wie Simmel, daß die „qualitativen“ (etwa religiösen, politischen, ökonomischen, ästhetischen) Sinngehalte sozialer Beziehungen und Ordnungen grundsätzlich nicht in gesellschaftlichen Bedingungen, Wirkungen oder Funktionen aufgehen, sich nicht aus diesen „ableiten“ und erklären lassen.
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Diesem Grundsatz steht nicht entgegen, daß in vielen konkreten Fällen solche Sinngehalte de facto nur im Kontext sozialer Funktionen und Folgen, Interessen und Konflikte entstehen und bestehen können. Den von ihm selbst und von Weber gleichermaßen entschieden abgelehnten Anspruch auf absorptive Erklärung bezeichnet und beschreibt Georg Simmel gelegentlich als „extremen Soziologismus“: „Der extreme Soziologismus […] macht das Individuum zum bloßen Schnittpunkt von Fäden, die die Gesellschaft vor ihm und neben ihm gesponnen hat, zum Gefäß sozialer Einflüsse, aus deren wechselnden Mischungen die Inhalte und die Färbung seiner Existenz restlos herzuleiten sind.“ Hier, wie auf jeweils eigene Art in einer ausschließlich theologischen Selbstdeutung des Menschen einerseits, der „naturalistische[n] Weltanschauung“ andererseits, sei „das Individuum sozusagen eine Illusion“, könne „der Mensch nicht ,von innen heraus leben‘, weil sein ‚Inneres‘ als solches eben keine Produktivkräfte entfaltet“ (Simmel, Georg, Goethe. – Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1913, S. 144 f.).
Die Anerkennung des Eigensinns und Eigenrechts qualitativer Inhalte erscheint aus Simmels Perspektive nach dem Gesagten sogar einleuchtender als bei Weber: Da den Inhalten nach seiner Auffassung keine eigenständige kausale (d. h. motivationale) Bedeutung zukommt, sich das Verstehen auch nicht auf sie selbst, sondern auf die ihnen korrespondierenden psychischen Zustände oder Abläufe richtet, bleiben sie weitgehend unberührt vom Zugriff soziologischen Erklärens.
Bei Weber, der die motivationale Wirkung sozialer Beziehungen und Ordnungen immer an ihre qualitative Bestimmtheit gebunden sieht, verhält es sich in diesem Punkt anders. Und doch darf nach seiner Auffassung aus dem Umstand, daß soziale Kausalität nur als sinnhaft bestimmte existiert und wirkt, nicht geschlossen werden, Sinnhaftigkeit erschöpfe sich in Kausalität, sei also nicht aus je konkreten sozialen Bedingungsverhältnissen ablösbar, in ihrer Eigenbedeutung und Eigengeltung verstehend zu erfassen, zu interpretieren und zu kommunizieren. Ganz ebenso wie mit der Singularität und Eigenart [32]des Menschen verhält es sich auch mit dem Eigensinn der qualitativen „Inhalte“: Sie sind eine konstitutive Voraussetzung und eine prinzipielle Grenze aller Vergesellschaftung zugleich. Von beiden Grenzen aus gesehen zeigt sich, was Vergesellschaftung in concreto bedeutet und leistet – aber auch, warum sie dahin tendiert, eben das in seiner Eigenständigkeit (durch Instrumentalisierung oder Ideologisierung) zu schwächen, was ihre Lebendigkeit und Kraft zur Veränderung begründet.
Daß Weber bei der Wiederaufnahme und Intensivierung der Auseinandersetzung mit Simmels Soziologie die Simmel-Kritik Othmar Spanns zu Hilfe nimmt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.
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Eher von marginaler Bedeutung, aber doch (auch für Weber) erwähnenswert, ist der Umstand, daß diese Kritik ein Jahr vor Simmels umfangreichem soziologischem Hauptwerk publiziert wurde. Das mag insofern folgenlos erscheinen, als sich Spann auf Grundlagenprobleme erkenntnistheoretischer und kategorialer Art konzentriert, zu denen Simmel in seinen vorhergehenden Arbeiten schon alles Wesentliche gesagt hatte. Gerade auf diese Probleme aber läßt sich Weber, wie zitiert, nur widerstrebend ein. Auch das ließe sich verstehen, wenn deren Behandlung durch Spann für ihn besonders instruktiv und überzeugend wäre. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Zwar konvergiert das, was Spann über die Unbrauchbarkeit des Grundbegriffs der Wechselwirkung zu sagen hat, mit Webers Urteil. Doch läuft Spanns Kritik an diesem Grundbegriff auf einen Gesellschaftsbegriff hinaus, der Weber ebenso unhaltbar erscheint wie Spanns Behauptung, mit einem solchen Gesellschaftsbegriff (organizistischer Art) stehe und falle die Soziologie.[32] Daß Weber das Buch Spanns überhaupt zu Rate zieht, ist dagegen verständlich: Es handelt sich um einen sehr kenntnisreichen Überblick über die vielfältigen, von Comte und Spencer bis zur Gegenwart reichenden Versuche, die Soziologie als Wissenschaft eigenen Rechts zu begründen.
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Und zwar stimmt Weber Spann darin zu, daß soziale Beziehungen nicht von „psychische[n] Einheiten“ (O. Spann) Spann behauptet, daß Simmel jeder Begriff von Gesellschaft qua „gesellschaftliche[r] Gesamtzusammenhang“ fehle; ohne einen solchen Begriff aber gebe es keine Soziologie. Tatsächlich spielten Simmels „Beweisgründe“ in Verbindung mit seiner „realistischen, empiristischen oder psychologischen“ und insofern auch „individualistischen“ Position denen in die Hände, die das Existenzrecht der Soziologie bestritten (Spann, Wirtschaft, S. 216 ff., Zitat: S. 218). Weber, Exzerpt Spann, unten, S. 556, nennt diese „Polemik“ von Spann, Wirtschaft, S. 218 ff., „nicht überzeugend“. Tatsächlich bestimmt Spann, Wirtschaft, S. 139, die „Gesellschaftslehre oder Soziologie“ im prinzipiellen Gegensatz zu Weber als „allgemeine Theorie des Sozialen“ und als „die Wissenschaft, welche nach dem Wesen und der Eigenart des gesellschaftlichen Ganzen als solchen fragt“.
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gebildet und getragen würden, doch findet sich bei Spann keinerlei Ansatzpunkt für die Vorstellung, in dem seinem subjektiv gemeinten Sinn nach auf[33]einander bezogenen Handeln von Individuen, und nur darin, finde sich die Wirklichkeit des Sozialen. Spann, ebd., S. 190.
Spanns Simmel-Kritik bestärkt Weber so zwar einerseits in seiner skeptischen Haltung, was Simmels Grundbegriff der Wechselwirkung, seinen „Formalismus“ und seine Neigung zu einer psychologischen Erklärungsweise angeht. Andererseits aber stehen Webers eigene Überlegungen im Grundsätzlichen doch eindeutig Simmels „individualistischer“ Position näher als Spanns „Universalismus“. Die Argumentation Spanns hat Weber genötigt, die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Sozialen genauer zu bestimmen und stärker hervorzuheben, so jedoch, daß dabei, ganz im Sinne Simmels und nicht Spanns, seine Substanzialisierung vermieden wurde.
Simmels Hauptwerk hat Weber mehr als alles andere herausgefordert und dazu gebracht, sich selbst nach langer Zurückhaltung auf die ‚Soziologie‘ einzulassen, und zwar nicht nur, wie noch primär im Umkreis der DGS-Gründung, aus forschungspraktischen und forschungsorganisatorischen Gründen, sondern auch hinsichtlich der spezifischen Fragestellung, Begrifflichkeit und Methodik dieser in vielem so fragwürdigen neuen Wissenschaft. Als er sich etwa fünf Jahre später, nach seiner Abwendung von der DGS, daran machte, seinen Begriff der Soziologie in einer ersten, systematischen Form darzustellen, hätte er viel Anlaß gehabt, auf diesen „Anstoß“, diese produktive Herausforderung durch Simmel hinzuweisen und dabei weniger das „Antagonistische“ als das ihn mit Simmel auf einer fundamentalen Ebene Verbindende hervorzuheben. Darauf hat er verzichtet
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– womöglich auch deshalb, weil [34]Simmel in der Zwischenzeit das vordringliche Interesse an der Soziologie abhanden gekommen war.[33] Vgl. die knappen und Simmels Soziologie nicht einmal nennenden Verweise sowohl in Weber, Kategorienaufsatz, unten, S. 389, Fn. 1, als auch in der „Vorbemerkung“ zu Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 147 f. – Das steht in sehr auffälligem Gegensatz zu Webers intensiver, obzwar abgebrochener Auseinandersetzung mit Simmels soziologischem Hauptwerk und auch zu der Bedeutung, die ihm in der Fachwelt beigemessen wurde. Darin sei, so bemerkt Leopold von Wiese in seiner im Archiv abgedruckten Literatur-Übersicht, „mit allen Ansprüchen auf enzyklopädisch-universelle Geltung der Soziologie“ ebenso „aufgeräumt“ wie mit der „Erstreckung der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise auf die Tatsachen der menschlichen Gesellschaft“ (Wiese, Leopold von, Neuere soziologische Literatur, in: AfSSp, Band 31, 1910, S. 882–907, hier S. 898). Das gilt, jedenfalls in dem hier entscheidenden Punkt, auch hinsichtlich dessen, was David Koigen in seiner (im selben Archiv-Band veröffentlichten) Besprechung über die „tieferen Motive“ sagt, die „theoretischer und philosophisch-persönlicher Natur“ seien und Simmel bei der Abfassung des Werks geleitet hätten: Simmel habe die „noch immer zu den problematischen Disziplinen“ zählende Soziologie zwar auf die Bahn einer „mathematisch-exakten Wissenschaft“ bringen wollen, ohne aber dabei „die menschliche Persönlichkeit, ihren schöpferischen Trieb […] von der soziologischen Gesetzgebung völlig umschlossen zu wissen“ (Koigen, David, Soziologische Theorien, in: ebd., S. 908–924, Zitat: S. 908). Indem Simmel den „Ansprüchen der Sozialwissenschaft“ Grenzen setze, erweise er sich als „Soziologe der Differenzen und der Differentiale“ (ebd., S. 915, 921).
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[34] Vgl. die Erläuterung zu Weber, Simmel, unten, S. 107, Anm. 13.
6. Zwei Soziologentage: Diskussionsbeiträge
Die Idee zur Gründung der DGS stammt nicht von Max Weber. Nachdem er sich aber entschieden hatte, Simmels Einladung zu folgen und an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mitzuwirken, nahm er bestimmenden Einfluß auf deren Zielsetzung, Programm und Organisation sowie, insbesondere hinsichtlich der Themen und Referenten, auf die Vorbereitung des Ersten und auch, obzwar in geringerem Maße, des Zweiten Deutschen Soziologentags. Aus seinen brieflichen Äußerungen, dem 1910 vorgetragenen Geschäftsbericht und den Diskussionsreden geht deutlich hervor, was ihn zu dieser sehr aktiven Mitwirkung bewegte: das Bedürfnis nach einer „Arbeitsgemeinschaft“,
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die der inhaltlichen, methodischen, organisatorischen und auch finanziellen Förderung einer streng empirischen, sich einer präzisen Begrifflichkeit befleißigenden und aller vermeintlich wissenschaftlichen praktisch-wertenden Stellungnahmen sich enthaltenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu dienen hätte. Trotz seiner fortbestehenden, im Geschäftsbericht (und auch weiterhin) einbekannten reservatio mentalis gegenüber diesem „Namen“ schien es ihm nunmehr, in Ermangelung einer besseren Alternative, angebracht, das diese Bestrebungen Verbindende und – nach innen und außen – Kennzeichnende „Soziologie“ zu nennen. Im Unterschied zu anderen Mitbegründern der DGS, insbesondere zu Tönnies und Simmel, Weber, Geschäftsbericht der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Rede auf dem Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main am 20. Oktober 1910, MWG 1/13, S. 256–286, Zitat: S. 260.
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verknüpfte Weber zu diesem Zeitpunkt mit diesem Begriff also noch nicht die Vorstellung einer – als solche schon etablierten oder allererst zu konzipierenden und auf die Bahn zu bringenden – Fachwissenschaft sui generis. Tönnies legte sein Soziologieverständnis in seinem programmatischen Eröffnungsvortrag beim Ersten Deutschen Soziologentag dar (Tönnies, Ferdinand, Wege und Ziele der Soziologie, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 17–38; hinfort: Tönnies, Soziologie), Simmel in exemplifizierender Weise vermittels des Vortrags über Geselligkeit am Vorabend (Simmel, Georg, Soziologie der Geselligkeit, ebd., S. 1–16).
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Die Enttäuschung der mit der Gründung der DGS und den Soziologentagen verbundenen Erwartungen hat wesentlichen Anteil daran, Webers [35]Denken dann doch in diese Richtung zu lenken – und nicht, wie vielleicht zu erwarten, von der Soziologie wieder ganz abzubringen. Im Rückblick erkennt man gerade in Webers Diskussionsbeiträgen auf den Soziologentagen keine Hinweise auf eine Neigung, die Wendung zur Soziologie auf halbem Wege wieder abzubrechen. Als solche, nicht als Überwissenschaft Comtescher Prägung, sondern in immerhin ernst zu nehmender und insofern kritikwürdiger Form sah Weber die deutschsprachige Soziologie damals außer durch Tönnies und Simmel auch durch Spann und Vierkandt repräsentiert.
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[35] In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß Webers Wendung zur Soziologie nichts mit der Entdeckung oder Aufdeckung des Sozialen oder der Gesellschaft als einer Realität und Kausalität sui generis wie bei Durkheim und anderen zu tun hat. Die Wirklichkeit des Sozialen und Gesellschaftlichen (etwa in Gestalt von familiären Gemeinschaften oder Klassenverhältnissen und -konflikten) stand ihm seit jeher so deutlich im Blick, daß es ihm nicht einfallen konnte, diese Wirklichkeit für die Zwecke einer spezifisch soziologischen Erklärung rein als solche zu isolieren und zu beanspruchen. In dieser sehr wichtigen Hinsicht ist der Übergang zur Soziologie offenbar von keinem Umdenken, keiner Umstellung oder Generalisierung der Erklärungsperspektive motiviert. Wäre es anders, hätte Weber bei seinem Verleger gewiß nicht darauf gedrungen, die von 1904 bis 1917 verfaßten „Aufsätze zur Methodologie der Sozialwiss[enschaft]“ in einem „Sonderband“ herauszubringen (Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 24. Mai 1917, MWG II/9, S. 648 f.), in den auch der Kategorienaufsatz „in etwas geänderter (gemeinverständlicherer) Form“ (Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 1. Dez. 1917, ebd., S. 829) aufgenommen werden sollte. Die Verstehende Soziologie gehört demnach in den Zusammenhang dieser „Methodologie der Sozialwissenschaft“ als ihr wesentlicher konstruktiver Ertrag.
In diesen Diskussionsreden spricht Weber überwiegend über die sehr vielfältigen Sachprobleme. Insofern äußert er sich also als Fachmann auf dem Gebiete der Nationalökonomie sowie der (Wirtschafts-, Sozial-, Kultur-, Religions- und Rechts-)Geschichte. Daneben geht sein Bestreben, ganz im Sinne des im Geschäftsbericht Vorgetragenen, dahin, bei jedem sich bietenden Anlaß die Aufgaben und Grenzen der empirischen und „rein wissenschaftlichen“ Forschung zu bezeichnen und zu bekräftigen.
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Weber, Geschäftsbericht, MWG I/13, S. 259.
Als „Soziologie“ oder „soziologisch“ haben demnach kultur- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen nur dann – aber auch schon dann – zu gelten, wenn sie diesen Vorgaben entsprechen, nicht zuletzt also dem Erfordernis der „Werturteilsfreiheit“ entsprochen wird. So schlägt Weber in einer an Sombarts Vortrag „Technik und Kultur“ sich anschließenden und ihm ganz unergiebig erscheinenden Kontroverse über den „sogenannte[n] Geschichtsmaterialismus“ vor, diesen zum Gegenstand künftiger Verhandlungen zu machen,
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bei denen vor allem die Vermengung von erfahrungswissenschaftlichen Argumentationen mit weltanschaulichen Präferenzen oder moralisch-politischen Postulaten zuverlässig zu unterbinden wäre. Dieselbe Konsequenz zieht er aus dem Vortrag von Alfred Ploetz (Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme) und der darauf [36]bezogenen Debatte. Weber, Technik und Kultur, unten, S. 228.
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Neben Tönnies hatte Weber die bei Weitem schärfste, grundsätzlichste Kritik am Vortragenden geübt: an dessen ganz unzulänglich geklärter Begrifflichkeit (darunter beide Leitbegriffe: „Rasse“ und „Gesellschaft“) ebenso wie an den vielen spekulativen, empirisch unbewiesenen, unplausiblen oder widerlegten Kausalerklärungen[36] Weber, Die Begriffe Rasse und Gesellschaft, unten, S. 243–260.
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und der daraus abgeleiteten, also vermeintlich wissenschaftlich begründeten „Rassen- und Gesellschaftshygiene“. Weil Weber zugleich aber in bestimmten biologischen Theorien, insbesondere in Vererbungstheorien, eine große, unabweisbare Herausforderung des Erklärungsanspruchs der Soziologie erkannte, erschien es ihm notwendig, für „die fachmäßige Pflege und Diskussion dieser Probleme“ in der DGS früher oder später eine „spezielle Abteilung“ („Gesellschaftsbiologie“) einzurichten. Damit bezog sich Weber vor allem auf die Art und Weise, in der Ploetz die (Klassen-)Lage der Schwarzen in den USA rassenbiologisch zu erklären versucht hatte; vgl. dazu auch Weber, Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung, unten, S. 308 f., und Weber, Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie, unten, S. 322–325.
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Weber, Die Begriffe Rasse und Gesellschaft, unten, S. 260. Der Gebrauch des Gesellschaftsbegriffs durch die „Gesellschaftsbiologie“ veranlaßt Weber zu einer grundsätzlichen Feststellung: Der Begriff „Gesellschaft“ (sic) sei „rein konventionell“ und in der Wissenschaft durch „gesellschaftliche Beziehungen und gesellschaftliche Institutionen“ zu ersetzen (ebd., S. 247). Prozesse der „Vergesellschaftung“ seien beim Menschen, anders als bei der „Tiervergesellschaftung“, vermittelst der „Möglichkeit, rationales Handeln der einzelnen menschlichen Individuen geistig nacherlebend zu verstehen“ (ebd., S. 251), zu erforschen. Das weist auf die „besondere Art“ von Soziologie voraus, die Weber einige Jahre später in Gestalt der Verstehenden Soziologie konzipieren wird.
Wie die strengste Beachtung der Werturteils- resp. Weltanschauungsenthaltung wird auch das bewußte, angestrengte und systematische Bemühen um klare und genaue Begriffe (d. h. um „soziale Theorie“ in einem sehr allgemeinen Sinne) von Weber nunmehr als eine vornehmlich von der Soziologie zu erfüllende Aufgabe verstanden. Diese Vorstellung durchzieht alle seine Diskussionsbeiträge, in besonderem Maße und in einer besonderen Hinsicht aber die, bei denen es um die Unterscheidung einer empirischen, also historischen und/oder soziologischen, von einer juristischen Behandlung von Problemen des Rechts geht (wie in den Vorträgen von Andreas Voigt und Hermann Kantorowicz beim Ersten Soziologentag).
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Auch weil genuin juristische Termini häufig und nicht ohne guten Grund auf außerrechtliche Gegebenheiten übertragen werden, ist bei ihrer empirischen Verwendung auf die methodische Neutralisierung ihres normativen Gehalts in dem Sinne zu ach[37]ten, daß aus ihnen weder empirische Kausalitäten noch die forschenden Subjekte betreffende Verbindlichkeiten abgeleitet werden. Weber, Wirtschaft und Recht, unten, S. 264–272, und Weber, Rechtswissenschaft und Soziologie, unten, S. 278–291.
Die von Weber und einigen anderen vertretene Soziologie unterscheidet sich von den insbesondere auf Marx, aber auch auf Durkheim zurückgehenden Konzeptionen durch eine weitere, sehr wesentliche Selbstbeschränkung. Sie wird besonders deutlich in der Debatte über Ernst Troeltschs Vortrag (Das stoisch-christliche und das moderne profane Naturrecht) auf dem Ersten Soziologentag zum Thema. Troeltsch war zum Ergebnis gekommen, daß genuin religiöse Ideen und Ideale von sich her einen starken Einfluß auf profane gesellschaftliche, ökonomische und rechtlich-politische Ordnungen ausüben könnten, also keineswegs nur als deren Folge und Funktion zu erklären seien.
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Dem stimmte Max Weber in der Debatte nachdrücklich zu. Es führe in die Irre, „die religiöse Entwicklung als Reflex von irgend etwas anderem, von irgendwelchen ökonomischen Situationen“ aufzufassen.[37] Vgl. Troeltsch, Emst, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 166–192. Eben dies hatte, unter Verweis auf die historisch-materialistische Theorietradition, Ferdinand Tönnies behauptet, der schon in seiner Eröffnungsrede (Tönnies, Soziologie (wie oben, S. 34, Anm. 73), S. 26) die Religion überhaupt mit „abergläubischen Vorstellungen“ und „erdichteten Wesen“ zusammengebracht hatte. In einem Schreiben an Tönnies vom 19. Februar 1909 (MWG II/6, S. 63–66) hatte Weber sich gegen dessen Vorstellung gewandt, zwischen politischen (oder anderen) Wertpräferenzen lasse sich wissenschaftlich entscheiden, und der Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen sei auch dann als unhaltbar zu erweisen, wenn er nicht im Gegensatz zu den Prinzipien und Ergebnissen wissenschaftlicher Erkenntnis stehe. Ein „metaphysisch-naturalistisch orientiertes Anti-Pfaffentum“ erscheint Weber intellektuell unredlich, die Haltung eines „liberale[n]“ (sic) katholischen oder protestantischen Theologen, selbst wenn sie sich „inkonsequent, konfus u.s.w.“ präsentiere, „menschlich unendlich wertvoller und interessanter als der intellektuelle (im Grunde: billige) Pharisäismus des Naturalismus, […] in dem (je nachdem natürlich!) weniger Leben ist als in jenem“ (ebd., S. 65 f.). Dieses Urteil ergibt sich für Weber aus der – zuvor eingestandenen – „Attitüde“, sich selbst zwar als „religiös absolut ‚unmusikalisch‘“, aber „weder antireligiös noch irreligiös“ zu empfinden, „auch in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit – um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen – abzufinden“ (ebd., S. 65). Ähnlich argumentiert Max Weber auch noch in Wissenschaft als Beruf (MWG I/17, S. 110).
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Georg Simmel spitzte das Argument noch weiter – und in einer die andere, ihm vor allem wichtige Grenze der Soziologie mit einbeziehenden Weise – zu: Zumindest das christliche Gottesverhältnis verhalte sich, weil es auf die unvertret[38]bare Individualität des Menschen abhebe, letztlich indifferent gegenüber allen sozio-politischen Ordnungen. Weber, Das stoisch-christliche und das moderne profane Naturrecht. Diskussionsbeiträge auf dem Ersten Deutschen Soziologentag am 21. Oktober 1910, MWG I/9, S. 741–764, Zitat: S. 752.
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[38] Simmel, Georg, Diskussionsbeitrag zu Troeltsch, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 204–206, hier S. 205. Wie es mit der Übereinstimmung Webers, Troeltschs und Simmels in Fragen der Religion im Übrigen steht, ist hier nicht zu erörtern. In seiner Besprechung von Simmel, Georg, Die Religion (Die Gesellschaft, 2. Band). – Frankfurt a.Μ.: Rütten und Loening 1906, erhebt Troeltsch den Vorwurf des „Psychologismus“, und darin kommt ein prinzipieller Dissens zum Ausdruck (Troeltsch, Ernst, Zur modernen Religionsphilosophie, in: Deutsche Literaturzeitung, 28. Jg., Nr. 14 vom 6. April 1907, Sp. 837–841; dass., in: ders., Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan (KGA, Band 4). – Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004, S. 521–526).
In Webers Diskussionsreden auf dem Zweiten Soziologentag wiederholen sich, in konzentrierter und auch zugespitzter Form, die schon zwei Jahre zuvor verwendeten Argumentationsfiguren. So führt Weber in den Debatten über alle Vorträge (von Paul Barth, Ferdinand Schmid und Franz Oppenheimer, sowie, am Rande, von Ludo Moritz Hartmann und Robert Michels) eine Fülle empirischer, näherhin historischer Tatsachen an, denen mit ganz unzureichend geklärten Begriffen wie Nation und Nationalität einerseits, Rasse andererseits und damit operierenden Theorien nicht beizukommen sei. Webers Unterscheidungsbemühungen laufen so auf die Feststellung hinaus, daß unter „Nationalgefühl“ (jenseits des Wunsches nach einem eigenen, selbständigen Staat) empirisch kaum „etwas Einheitliches, spezifisch Gesondertes“
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zu verstehen sei. Und der unter „Rassenfanatikern“ übliche Rekurs auf Rassenmerkmale und andere erbliche Eigenschaften sei begrifflich viel zu ungenau, als daß daraus auf „mystische Wirkungen“ statt auf irgendwelche überprüfbare Kausalzusammenhänge geschlossen werden könnte. Weber, Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung, unten, S. 311.
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Erst recht sei der Versuch, eine Rassentheorie resp. „Rassemystik“ Ebd., unten, S. 308. Nicht einmal diejenigen Voraussetzungen, unter denen Rassentheorien „überhaupt diskutabel“ wären, sind nach Weber, Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie, unten, S. 326, erfüllt.
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in den Rang einer „Geschichtstheorie“, etwa zur Erklärung des Untergangs des römischen Reiches, zu erheben, nicht nur ganz und gar unhaltbar, sondern nicht weniger als ein „wissenschaftliches Verbrechen“. Weber, Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung, unten, S. 312.
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Weber, Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie, unten, S. 323.
Das sind selbst für Webers Verhältnisse sehr starke Worte, mit denen er in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit begründet, sich alledem entgegenzustellen und auf die „freilich weit schwierigere soziologische Analyse“
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einzulassen. „Soziologische Analyse“ heißt hier wie auch sonst: strikte Tatsachenforschung, die Verwendung präziser und zugleich empirisch trennscharfer Begriffe und die Enthaltung von praktisch-wertenden Stellungnahmen, [39]darüber hinaus aber, und zwar mit besonderer Deutlichkeit ausgesprochen: die Suche nach Kausalfaktoren „sozialen Charakters“, etwa angesichts der Diskriminierung der „Neger“ in den Vereinigten Staaten, Ebd., unten, S. 324.
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resp. nach den „eigentlich soziologischen Bedingungen“, aus denen sich z. B. die Entstehung einer „einheitlichen Literatursprache“ erklärt.[39] Weber, Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung, unten, S. 308 f.
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Ebd., unten, S. 310.
Soziologische Analysen, wie Weber sie versteht, setzen sich vornehmlich dem Erklärungsanspruch naturalistischer Theorien entgegen, doch können sie sich ihnen gegenüber keineswegs mit dem Aufweis der bedingenden Rolle von „Kulturelementen“ oder „Kulturgüter[n]“ begnügen
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und den oftmals bestimmenden Einfluß ökonomischer Interessen außer acht lassen – sei es in Gestalt „kapitalistische[r] Erwerbsinteressen“ oder der regelmäßig auch materiellen Interessen von Intellektuellen. Ebd., unten, S. 309 f. Es gebe, bemerkt Weber, „keinen soziologisch eindeutigen genetischen Begriff von Nation und Nationalität, der an den Begriff ‚Kultur‘ anknüpft“ (ebd., unten, S. 312).
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Ebd., unten, S. 311.
Offenbar hat sich Weber hier einer soziologischen Betrachtungsweise im engeren, zwar (noch) nicht disziplinär, aber doch begrifflich-theoretisch ausdifferenzierten Sinne angenähert, wie er sie nur ein Jahr später, jedenfalls in ihren Grundbegriffen und Grundzügen, der Fachwelt präsentieren wird. Kurz davor hatte Weber, in seinem Rechenschaftsbericht zum Zweiten Deutschen Soziologentag, davon gesprochen, daß der „soziologischen Wissenschaft“, dieser „früher mit einem gewissen Recht verschrien gewesenen Disziplin“, angesichts ihrer „jetzigen Leistungen“ der ihr „gebührende Platz und Rang“ an den deutschen Universitäten zugestanden werden müsse.
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Weber, Rechenschaftsbericht für die abgelaufenen beiden Jahre. Rede auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag in Berlin am 21. Oktober 1912, MWG I/13, S. 411–417, hier S. 417.
Mit diesem Soziologentag beendet Weber seine Mitwirkung in der DGS als soziologischer „Arbeitsgemeinschaft“, um die „soziologische Wissenschaft“ nach seinen eigenen Vorstellungen zu konzipieren und zu betreiben. Bevor die Erörterungen darauf zurückkommen, wenden sie sich der Problematik zu, die Weber schon seit längerem und in enger Verbindung mit seiner Annäherung an die Soziologie beschäftigte – der Problematik der Werturteilsfreiheit nebst einigen damit verknüpften Fragen.
7. Werturteilsfreiheit I
Im zum Ersten Deutschen Soziologentag vorgelegten Geschäftsbericht und in vielen seiner Diskussionsbeiträge auf beiden Soziologentagen wird das [40]Gebot der „Wertfreiheit“ von Weber so auffällig hervorgehoben, daß der Eindruck entsteht, die Soziologie sei vor allem anderen durch dessen Beachtung definiert, in ihr gründe, jedenfalls in der Hauptsache, ihr Zweck und ihre Notwendigkeit. So hat Weber die Durchsetzung eben dieses Gebots auch mehr als alles andere zum entscheidenden Maßstab des Erfolgs der DGS-Gründung gemacht – und ihr Scheitern zum Anlaß genommen, sich sehr bald wieder von der Gesellschaft zu distanzieren.
Tatsächlich ist die ausdrückliche Forderung nach Werturteilsenthaltung (immer: im Sinne Webers) hinsichtlich der empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften genau deshalb besonders dringlich, weil sie hier ebenso konstitutiv, aber sehr viel schwerer zu erfüllen und in ihrer Mißachtung viel schwerer zu erkennen ist als in den Naturwissenschaften. Das von den Sozial- und Kulturwissenschaften zu erforschende Handeln ist von Wertsetzungen, Wertentscheidungen und normativen Erwartungen bestimmt und motiviert und damit einer wertneutralen, objektivierenden Beobachtung und Erklärung vermeintlich schwer zugänglich.
In die von der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu einem guten Teil aufzunehmenden lebensweltlichen oder auch juristischen Begriffe sind sehr häufig bestimmte Wertentscheidungen gleichsam eingebaut. Eine wesentliche Aufgabe erfahrungswissenschaftlicher Begriffsbildung und Begriffsverwendung liegt deshalb darin, diese Wertvorgaben wahrzunehmen und außer Kraft zu setzen. Und es ist genau diese Aufgabe, die Weber der Soziologie, wie er sie im Zusammenhang der DGS-Gründung versteht, als deren vorrangige ratio essendi zuschreibt. So kommt er auch im vorletzten seiner Beiträge zu den Soziologentagen noch einmal auf den Unterschied zwischen „empirischer kausaler Erklärung und wertender Betrachtung“
1
zu sprechen. Wie man bei der (in der Debatte u. a. erörterten) „Gunst der Frauen“ als einem „kausale[n] Moment soziologischer Erscheinungen“ und ihrer Wertschätzung scharf unterscheiden müsse, so erst recht bei Begriffen wie „Nation“ oder „nationaler Staat“, bei denen eine „Wertdiskussion“ die „sachliche Erkenntnis“ durchaus nicht gefördert, sondern „ein allgemeines Chaos gegenseitiger nationaler Rekriminationen“ herauf beschworen hätte. Eben darum werde er auf der „Durchführung“ des einschlägigen (auf Weber zurückgehenden) „Statutenparagraph[en], welcher derartiges verbietet“, beharren, „so lange er besteht“.[40] Weber, Die Nationalität in ihrer soziologischen Bedeutung, unten, S. 314.
2
Ebd., unten, S. 314 f.
Weber war es auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, daß er sich mit dieser prinzipiellen Trennung strikt erfahrungswissenschaftlicher, näherhin soziologischer Begriffe von Werten nicht in Übereinstimmung mit Rickert befand. Am 7. Februar 1913 wird er Rickert ermuntern, sich an der Debatte [41]des Vereins für Sozialpolitik (VfSp) zu beteiligen, indem er die Fragen nennt, die dort „für die eigne (nationalökonomisch-soziologische) Disziplin und für Geschichte und Philosophie zur Diskussion“ gestellt werden sollen.
3
Das bezieht sich auf die dem nächsten Brief vom 23. März[41] Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 7. Febr. 1913, MWG II/8, S. 83–85, hier S. 84.
4
beigefügte „Beilage“ Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 23. März 1913, MWG II/8, S. 140.
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des Vorstands des VfSp. Weber beschreibt eine (die erste) dieser Fragen als „Wertung und Wertbeziehung als Objektsabgrenzung“ Rundschreiben von Schmoller, Herkner, Boese und Geibel „An die Herren Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik“ vom November 1912, abgedruckt in: MWG II/8, S. 141 f.
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und bemerkt, daß seine (Rickerts) Mitwirkung „schon sehr gut“ wäre: „Denn die Confusion ist gewaltig. Und Sie könnten da ja Alles, was Sie neulich mir mündlich entgegenhielten (übrigens war ich an dem Tage in der That wenig ‚up to date‘), mit sagen. Sie stecken ja doch ganz in den Sachen grade jetzt!“ Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 7. Febr. 1913, MWG II/8, S. 84.
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Ebd., S. 85. Daß Rickert „doch ganz in den Sachen grade jetzt“ stecke, bezieht sich offensichtlich auf Rickert, Vom System der Werte, in: Logos, Band 4, Heft 3, 1913, S. 295–327 (hinfort: Rickert, System der Werte), zu dem sich Weber in einem späteren Brief (ca. Ende November 1913, MWG II/8, S. 408–410) freundlich, in der Sache aber kritisch-distanziert äußert. Der Brief enthält, soweit bekannt, die einzige eingehende und grundsätzliche Stellungnahme Webers zu Rickerts „Wertphilosophie“.
Rickert soll also, jedenfalls nicht zuletzt, die kurz zuvor mündlich vorgebrachte Kritik an Webers Position vortragen. Es liegt sehr nahe anzunehmen, daß es dabei um die Frage ging, ob die „Wertbeziehung als Objektsabgrenzung“ einer fundierenden „Wertung“ bedürfe, um die „Objektivität“ (qua Sachgemäßheit, Wahrheitsgeltung) der Erkenntnis zu gewährleisten.
Einige Jahre später und aus gegebenem Anlaß wird Weber (in seinem Brief an Rickert vom 26. April 1920)
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diese Nichtübereinstimmung mit großer Klarheit und Entschiedenheit konstatieren. Damit aber gibt er mit einiger Verspätung auch Franz Eulenburgs genau diesen Punkt betreffender Rickert-Kritik recht, Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 26. April 1920, MWG II/10, S. 1040 f.
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die er zunächst scharf zurückgewiesen hatte: Eulenburg, so hatte er bereits am 12. März 1906 an Ladislaus von Bortkiewicz und gegen dessen abweichende Sicht geschrieben, „hat Rickert einfach nicht verstanden“. Eulenburg, Franz, Gesellschaft und Natur. Akademische Antrittsrede, in: AfSSp, Band 21, 1905, S. 519–555.
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Brief Max Webers an Ladislaus von Bortkiewicz vom 12. März 1906, MWG II/5, S. 45–47, Zitat: S. 46. Eulenburg hatte angemerkt, daß sich seine Kritik mit derjenigen decke, die Bernhard Schmeidler besonders überzeugend in seinem Aufsatz (Schmeidler, Über Begriffsbildung und Werturteile in der Geschichte, in: Annalen der Naturphilosophie, hg. von Wilhelm Ostwald, Leipzig, 3. Band, 1904, S. 24–70) dargelegt habe. Tatsächlich ist Schmeidlers Kritik insofern gründlicher, als sie sich gegen Rickerts Annahme wendet, die „objektive Gültigkeit“ (ebd., S. 28) historischer resp. [42]kulturwissenschaftlicher Erkenntnis ergebe sich daraus, daß sie sich bei der Begriffs- und Gegenstandsbildung von unbedingt allgemeingültigen Werten bestimmen lasse – derart, daß das empirisch Wahre nach Rickert eine Funktion des normativ absolut Richtigen sei. Dieser Einwand ist ebenso treffend wie Schmeidlers Feststellung, daß Rickert in keinem einzigen Fall die Geltung solcher allgemeingültigen Werte aufgezeigt und bewiesen habe (ebd., S. 45), so daß an deren Stelle am Ende „persönliche Werturteile“ (ebd., S. 31) fungierten. – Weber hat in dieser fundamentalen, seine prinzipielle Unterscheidung von Wert- und Tatsachenurteilen betreffenden Frage nie Rickerts erkenntnistheoretische Prämissen geteilt, aber darauf verzichtet, dies ausdrücklich zu sagen und sich damit prinzipiell von Rickert abzusetzen. Mit Webers Verständnis von „Wirklichkeitswissenschaft“ und der von ihm gemeinten und praktizierten Methode der Wertbeziehung haben sich Schmeidler und auch Eulenburg offenbar ebenso wenig befaßt wie mit seinen Vorstellungen vom idealtypischen Charakter historischer Begriffe (soweit sich Weber bis 1905, also bis zum Objektivitätsaufsatz, dazu geäußert hatte). Diese Unkenntnis spricht aus Schmeidlers Fazit, daß auch die historische Begriffsbildung „durchaus auf das Allgemeine“ (ebd., S. 49), d. h.: auf die „dauernden und stets gleichbleibenden Seiten der Menschennatur“ (ebd., S. 42) und also auf ein „nach Prinzipien der Naturwissenschaft gebildetes Begriffssystem“ abziele. Deshalb und in genau diesem Sinne sei auch die Geschichte eine „Begriffs-, keine Wirklichkeitswissenschaft“ (ebd., S. 58). – Von der von Schmeidler herangezogenen Literatur ist, im Blick auf die Weber vorgegebene Diskussionslage, besonders erwähnenswert: die scharfe, den Kern der Sache aber nicht treffende Rickert-Kritik von Ferdinand Tönnies, Zur Theorie der Geschichte (Exkurs), in: Archiv für systematische Philosophie, Band 8, 2. Heft, 1902, S. 1–38, Rickerts direkte Antwort darauf (Rickert, Über die Aufgabe einer Logik der Geschichte, in: ebd., S. 137–163), schließlich, vor allem wegen seiner Darlegungen zur soziologischen Begriffsbildung: Kistiakowski, Theodor, Gesellschaft und Einzelwesen. Eine methodologische Studie. – Berlin: Liebmann 1899, hier S. 46–59.
[42]Zu einem sehr gedrängten und doch die meisten wichtigen Punkte berührenden Abriß der Werturteilsproblematik nutzt Weber die Rezension, die er im Umkreis der DGS-Gründung der nur 77-seitigen Schrift von Adolf Weber widmet. Die „methodologische“ (sic) Position des Verfassers sei „augenscheinlich noch nicht endgültig geklärt“,
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und das betrifft neben einer der Eulenburgschen ähnlichen Mißdeutung Rickerts auch die Art und Weise, in der der Autor sich in einigen Passagen auf ihn, Max Weber, bezieht. Die von Adolf Weber aufgenommene, verbreitete Kritik an den „Kathedersozialisten“ und deren Verknüpfung der historischen und sozioökonomischen Forschung mit einer bestimmten sozialpolitischen Zielsetzung veranlaßt Max Weber festzustellen, wie unglaubwürdig und undurchdacht sich diese Kritik angesichts der wirtschaftspolitischen Interessenbindung ihrer Protagonisten darstellt. Sie veranlaßt ihn deshalb, sich sogar „mit doppeltem Stolz“ diesem Kreis zuzurechnen sowie auf seinem „staatsbürgerlichen Recht“ zu bestehen, sich entsprechend in öffentliche Debatten einzumischen. Weber, Rez. Adolf Weber, unten, S. 196.
In diesem Kontext macht Weber, eher nebenbei, zwei Bemerkungen, die über das hier wie auch sonst gegen eine „Vermischung des Werturteiles mit [43]der Tatsachendarstellung“
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Gesagte hinaus gehen, damit sogar unvereinbar zu sein scheinen. Die erste dieser Bemerkungen hebt hervor, daß Gelehrte durch die Beschäftigung mit „praktischen Tagesproblemen“ durchaus nicht von der Forschung abgebracht, sondern genötigt würden, „scheinbar eindeutige Begriffe in ihrer Vieldeutigkeit zu enthüllen“ derart, daß durch „aktuelle rein praktische Fragen dem Interesse für rein wissenschaftliche Erkenntnis“ der Weg gewiesen werde.[43] Ebd., unten, S. 193.
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Diesem Übergang komme, wie auch Adolf Weber anerkenne, die „Natur eines großen Teiles unseres Begriffsschatzes“ entgegen, sofern es sich dabei um „,wertbezogene‘ Gebilde“ handle. Ebd., unten, S. 194 f.
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Daß die damit angesprochene Bedeutung der „Wertbeziehung“ für die sozial- und kulturwissenschaftliche Gegenstands- und Begriffsbildung mit der strikten Unterscheidung der sich so ergebenden Begriffe von „Wertbegriffen“ (als Maßstäben der wertenden Beurteilung) einher gehen müsse, war Max Weber immer klar – sehr lange jedoch nicht, daß er sich damit im Gegensatz zu Rickert befand. Ebd., unten, S. 195.
Die zweite, eher nebensächlich erscheinende Bemerkung zielt in eine andere, die Möglichkeit resp. Notwendigkeit einer begründeten, also keineswegs ganz „subjektiven“ Unterscheidung zwischen praktischen Wertsetzungen betreffende Richtung: Die „Ethik“ (sic) des Kathedersozialismus „und dessen ganze Denkrichtung[,] einschließlich ihrer größten Sünden“, habe doch, insbesondere gegenüber dem Manchestertum, „einen Fortschritt zu so unermeßlich universelleren Gesichtspunkten“ bedeutet, „daß wir heutigen Epigonen, gleichviel welcher ‚Richtung‘, gar nicht genug dafür dankbar sein können“.
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Ebd., unten, S. 193 f.
Das hier angeführte Kriterium der Universalisierbarkeit – notabene nicht einer (wie wiederum bei Rickert) unvordenklich geltenden Universalität – wird von Weber auch, obzwar regelmäßig ohne nähere Erläuterung, da ins Spiel gebracht, wo er von den (qua „Wertbeziehung“) zu wählenden Wertgesichtspunkten spricht.
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Darüber hinaus ist dies gewiß ein Kernstück der von Weber wiederholt angesprochenen, aber nicht einmal in Umrissen ausgearbeiteten Ethik. Vgl. dazu Weiß, Grundlegung (wie oben, S. 26, Anm. 45), S. 24 ff., 33 ff.
Thematisch und zeitlich gehört die Adolf Weber-Rezension – neben den Diskussionsbeiträgen zu Rudolf Goldscheids Vortrag (1908), zur Debatte des Vereins für Sozialpolitik über den Begriff der Produktivität (Wien 1909) und zu den einschlägigen Kontroversen auf beiden Soziologentagen – in den Kontext, aus dem schließlich Webers ausführlicher, das gesamte Problemfeld übergreifender Beitrag zur „Werturteildiskussion“ im Ausschuß des Vereins für [44]Sozialpolitik hervorging. Weber hatte sich nur widerstrebend auf diese Veranstaltung eingelassen, und die spätere, von diesem konkreten Diskussionszusammenhang abgelöste, jedoch eng an den Beitrag anschließende und als „Wertfreiheits“-Aufsatz veröffentlichte Überarbeitung erklärt sich daraus, daß er sich durch jene Werturteilsdiskussion in seiner Skepsis nachdrücklich bestätigt fand.
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Der im selben Jahr (1913) und im Blick auf eine in seinen Augen insgesamt unergiebige Debatte veröffentlichte Entwurf seiner Soziologie entsprang der Absicht, die Möglichkeit, die Zielsetzung und die Umrisse einer verstehenden und kausal erklärenden, strikt empirischen, zwar historischen und wertbezogenen, zugleich aber im geforderten Sinne „wertfreien“ Sozialwissenschaft darzulegen. [44] So kommt auch Nau, Heino Heinrich, Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (1913). – Marburg: Metropolis-Verlag 1996, zu dem Ergebnis, daß Weber wie schon in den vorangegangenen Debatten – in Mannheim 1905 und in Wien 1909 – auch 1913 mit seinen Argumenten nicht habe durchdringen können.
8. Werturteilsfreiheit II
Es versteht sich für Weber, daß im Verein für Sozialpolitik „Fragen der ‚Weltanschauung‘, genauer praktisch-politische ‚Wertungen‘ ihre Stätte haben sollen“.
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Aber gerade wegen dieser Aufgabe ist gründlich zu klären, in welcher Weise und innerhalb welcher Grenzen die empirischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in sie einbezogen und – mit ihrer „spezifische[n] Voraussetzung: gelehrte Fachkenntnis der Tatsachen“ – ihr dienlich sein können, und zwar ungeachtet dessen, daß diese Fachkenntnis als solche nicht als „spezifische Vorzugsqualität für die praktisch wertende Stellungnahme“ gelten kann. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 336.
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Ebd., unten, S. 337.
Recht ausführlich beschäftigt sich Weber mit Fragen, die er ausdrücklich „nicht diskutieren“ will. Das ist besonders auffällig, weil er den harten Kern seiner Argumentation kurz und knapp vorträgt, dies unter wiederholtem Verweis auf zuvor und immer wieder Vorgebrachtes
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und unter ausdrücklichem Verzicht auf im gegebenen Zusammenhang überflüssige methodologische Erörterungen. Der harte Kern – das ist „ausschließlich […] die an sich höchst triviale Forderung: daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des ‚wertenden‘ Verhaltens der von ihm untersuchten Menschen) und seine praktisch wertende, d. h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger zum Objekt einer Untersuchung gemachten ‚Wer[45]tungen‘ von handelnden Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, Stellungnahme auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt“. Ebd., unten, S. 348 f., 357 f., 361 und 375 f.
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Dieser Forderung sei, so bemerkt Weber mit nachvollziehbarer Ungeduld, nur auf eine Weise zu widersprechen: durch den Nachweis, daß die Behauptung der „absolute[n] logische[n] Heterogenität beider Arten von Fragen“[45] Ebd., unten, S. 350.
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falsch sei. Ebd., unten, S. 357.
Weber also erscheint, im gegebenen Zusammenhang, nicht diese „an sich höchst triviale“ Einsicht und Forderung vor allem diskussionswürdig, sondern die Frage, wie das Zusammenspiel von Wertsetzungen oder Wertbindungen einerseits und Tatsachenforschung andererseits zu verstehen und nach beiden Seiten hin fruchtbar zu machen sei. Die sich hier eröffnenden Möglichkeiten und Aufgaben sind vielfältig und weitgespannt. Sie reichen von der logischen oder hermeneutischen „Wertdiskussion“ und „Wertinterpretation“
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über die Klärung des Verhältnisses zwischen aktueller Wertung und bloß „theoretischer“ Wertbeziehung und die Kritik des „allerverwerflichste[n]“ aller Mißbräuche, deren sich die (in der Kritik am Verein für Sozialpolitik sich besonders hervortuenden) „pseudowertfreie[n] Prophet[en] der materiellen Großinteressenten“ Ebd., unten, S. 354, 359 und 361.
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schuldig machen. Darüber hinaus geht es um die empirische Erforschung der Entstehungs- und Realisierungsbedingungen sowie der Realisierungsfolgen bestimmter ethischer oder politischer Wertsetzungen einerseits, Ebd., unten, S. 348, vgl. auch Weber, Rez. Adolf Weber, unten, S. 195.
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der problemerhellenden Kraft entsprechender Wertbindungen andererseits. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 357 f.
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Ebd., unten, S. 344–347.
Was diesen letzten Punkt betrifft, so ist tatsächlich auffällig, wie nachdrücklich Weber hier die unverzichtbare, produktive Bedeutung auch radikaler Formen moralischer oder politischer Kritik für die empirische Forschung betont. Zwar schade die Vermischung normativer und empirischer Argumentationen bei der „Professoren-Prophetie“
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oder der „Kathederwertung“, Ebd., unten, S. 341.
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auch in Gestalt der prominent von Schmoller vertretenen „,ethischen‘ Nationalökonomie“, Ebd., unten, S. 340.
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auf Dauer dem Ansehen und der Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften. Doch könne es der Forschung, ihrer Sachnähe und ihrem Unterscheidungsvermögen, zugute kommen, wenn Professoren sich auch als „Staatsbürger“ verstehen und nach Kräften betätigen – ganz so, wie Weber es für sich selbst beansprucht. Ebd., unten, S. 347.
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Ebd., unten, S. 342.
[46]Eher am Rande zwar, aber doch deutlich, stellt Weber schon in diesem Beitrag zur Werturteilsdiskussion des Vereins für Sozialpolitik,
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durchgehend dann im „Wertfreiheits“-Aufsatz von 1917, den Bezug zu seiner Soziologie her. Diese Soziologie heißt „verstehend“, weil das Explanans ihrer kausalen Erklärungen das sinnhaft motivierte und als solches verständliche soziale Handeln ist. Damit aber zielt diese Soziologie auf genau die Ebene der Selbst- und Weltorientierung von Menschen, auf der – nicht ausschließlich, aber vornehmlich – Sympathie und Antipathie, Übereinstimmung und Dissens, Freundschaft und Streit, Zuneigung und Ablehnung, Verstoßen und Verzeihen, positives und negatives Bewerten etc. ansetzen. Das soziologische Verstehen hat die Nötigung zum Für und Wider nicht zum Verschwinden zu bringen, wohl aber „auszuhängen“, also vorübergehend und im Rahmen des nur Möglichen außer Kraft zu setzen, methodisch und begrifflich zu neutralisieren. Genau darin, in einer durchaus ‚künstlichen‘ und weder auf Dauer zu stellenden noch zu verallgemeinernden Bewertungsaskese, liegt nach Weber seine Bedeutung und Leistung für die „Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen“.[46] Ebd., unten, S. 336, 353 f. und 381 f.
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Je gründlicher, genauer und bewertungsneutraler solches Verstehen seine Aufgabe erfüllt, desto besser dient es auf seine Weise praktischer Wertsetzung und Wertbindung, im gegebenen Falle auch in der Form des Verzeihens. Weber, Objektivität, S. 26.
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Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 354.
Diese nur mittelbare, aber oft sehr große Bedeutung empirischer und insbesondere soziologischer Erkenntnis für die Beantwortung normativer Fragen betrifft nicht nur konkrete Entscheidungen, sondern auch die sie bestimmenden, etwa ethischen Prinzipien. Eine „realistische“, also erfahrungswissenschaftlich begründete Ethik ist nach Weber zwar logisch ebenso ausgeschlossen
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wie die Widerlegung moralischer und politischer Überzeugungen oder die Entscheidung über die „Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer normativen Ethik“ Ebd., unten, S. 353.
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überhaupt auf empirischer Basis. Das ist nach Weber im gegebenen Zusammenhang nicht zu erörtern, zweierlei aber stellt er, wie ähnlich schon im Objektivitätsaufsatz, sehr nachdrücklich klar: Normative, vor allem ethische Wertsetzungen besitzen eine eigene „Dignität“ Ebd., unten, S. 356.
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und eigene Formen der Begründung, sind also nicht mit „subjektive[n] Geschmacksurteile[n]“ Ebd., unten, S. 352.
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und auch nicht mit „Kulturwertungen“ Ebd.
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bzw. „Kulturidealen“ Ebd., unten, S. 340.
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gleich zu setzen. Und die verbreitete Behauptung, aus einer Ethik nach Art [47]der Kritik der praktischen Vernunft Kants ergäben sich bestenfalls „‚formale‘ […] Wahrheiten“ Ebd., unten, S. 354.
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ohne inhaltlichen, also praktisch-konkreten Nutzen, sei kenntnislos und falsch. [47] Ebd., unten, S. 354.
Ausführlicher als im Beitrag zur Werturteilsdiskussion im Verein für Sozialpolitik läßt sich Weber auf das Problem einer „normativen Ethik“ in der zweiten, an die wissenschaftliche Öffentlichkeit gerichteten Fassung seiner Überlegungen ein. Bei der Bearbeitung für die Zeitschrift Logos habe er, bemerkt Weber,
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nach Möglichkeit alles nur auf die „interne Diskussion“ im Verein für Sozialpolitik Bezogene weggelassen, dafür aber den 1913 ausdrücklich kurz gehaltenen „allgemeinen methodologischen Betrachtungen“ mehr Raum gewährt. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 445, Fn. 1.
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Das trifft die Sache, ist aber zu präzisieren und zu ergänzen. Im Zuge der vertieften Beschäftigung mit „methodologischen Betrachtungen“ beschränkt sich Weber keineswegs auf „allgemeine“ oder prinzipielle Probleme. Vielmehr unternimmt er es, in concreto darzulegen, welche Folgen sich aus seiner methodologischen Position für die empirische Erforschung desjenigen sehr wichtigen und umfassenden Sachkomplexes ergeben, den Weber auch am Ende des Diskussionsbeitrags und zu gleicher Zeit, in etwas anderer und – in diesem Kontext – auch überraschender Wendung, zum Abschluß des Kategorienaufsatzes angesprochen hatte. Es handelt sich um die Entwicklungsdynamik der „modernen“ Gesellschaft, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Frage, ob und in welchem Sinne sie als ein Prozeß fortschreitender Rationalisierung beschrieben werden könne. Ebd., unten, S. 446, Fn. 1. Offenbar hat jene „interne Diskussion“, der veröffentlichte Beitrag des „geschätzten Philosophen“ Eduard Spranger eingeschlossen, nichts ergeben, auf das in irgendeiner Weise einzugehen Weber bei der Darlegung des „eigenen Standpunkt[s]“ angebracht erscheint.
Dies ist für Weber keine beliebige Problemstellung zur Exemplifizierung allgemeiner methodologischer Argumentationen, sondern der wichtigste Grund und die größte Herausforderung für die Soziologie, wie Weber sie auf die Bahn zu bringen und auszuarbeiten wünschte. Sie ist, wie alle neuzeitliche Wissenschaft, ein wesentliches Produkt und eine bestimmende Triebkraft jenes Prozesses, der aber in ihr, wie zuvor in der Philosophie, dann in der Ökonomie, zugleich reflexiv, also selbstbezüglich, selbst-problematisierend und selbst-kritisch wird. Und für Weber lautet die alles entscheidende Frage, ob und wie dieser Prozeß im Rahmen strikter Erfahrungswissenschaft erforscht und, unter Beachtung des Gebots der Werturteilsenthaltung, als Fortschrittsprozeß beurteilt werden könne.
Von diesem Problemkomplex her lassen sich die von allgemeinen und auch fundamentalen „methodologischen Betrachtungen“ motivierten Veränderungen und Ergänzungen im Logos-Aufsatz verstehen: die ausführliche und [48]differenzierte Exemplifizierung eines Fortschrittsbegriffs, mit dem zu arbeiten den empirisch-historischen Wissenschaften (als interpretierenden oder kausal erklärenden) möglich und sogar unvermeidlich ist, an der Geschichte der Musik, des gotischen Kirchenbaus und der bildenden Kunst;
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die vergleichsweise knappen, von Windelband angeregten Bemerkungen zur grundlegenden Bedeutung dieses Begriffs für das Verständnis der spezifischen Entwicklung der modernen Kultur; die gegenüber dem Diskussionsbeitrag erweiterte Erörterung der grundlegenden Frage, wie die „soziologischen und ökonomischen Disziplinen“ mit „jenen rationalen ,Fortschritts‘-Begriffen“[48] Erweitert sind auch die vorangehenden Bemerkungen zur Differenzierung des Gefühlslebens vornehmlich als Folge einer „zunehmende[n] Rationalisierung und Intellektualisierung [1913: Individualisierung; J.W.] aller Lebensgebiete“ (Weber, Wertfreiheit, unten, S. 484). Die Kritik an Simmel, der dies Geschehen (in: Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche: Ein Vortragszyklus. – Leipzig: Duncker & Humblot 1907) „mit bedingungslos positivem Wertvorzeichen versehen“ (Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 368) habe, ist gestrichen. Mit einiger Ausführlichkeit legt Weber nun dar, wie gegensätzlich der „Fortschritt der Differenzierung“ (sic) bewertet werden könne: Eine eindeutige Wert-Mehrung lasse sich „zunächst nur in dem intellektualistischen Sinn der Vermehrung des zunehmend bewußten Erlebens oder der zunehmenden Ausdrucksfähigkeit und Kommunikabilität“ behaupten (Weber, Wertfreiheit, unten, S. 485). Die Rede von „Kommunikabilität“ (im Sinne einer elementaren Bestimmung von Rationalität) ist auffällig, aber weder hier noch an anderer Stelle terminologisch.
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umzugehen haben; die aus dem Diskussionsbeitrag übernommenen, aber nun in diesen größeren Kontext eingeordneten Analysen zur Rolle „rationaler“ begrifflich-theoretischer Konstrukte in diesen Disziplinen überhaupt; die abschließenden Ausführungen zur zunehmenden Wirkungsmacht des Staates; schließlich die gegenüber dem Diskussionsbeitrag auffällig starke, die neuen Teile Ebd., unten, S. 492.
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durchziehende Hervorhebung der Soziologie mit ihrer besonderen Sicht- und Erklärungsweise. Ebd., zum Beispiel vor allem ebd., unten, S. 487 ff., aber in der Form kurzer Einschübe.
Hinsichtlich dieses letzten Punktes ist zu beachten, daß Weber den Begriff der technischen Rationalisierung zwar einer nicht bewertenden, sondern historischen und als solcher „empirisch-kausalen“,
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aber gerade nicht soziologischen Betrachtungs- und Erklärungsweise zuordnet. Ebd., unten, S. 490 f.
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Allerdings kann [49]eine historisch angemessene Erklärung sich nicht auf die kunstimmanente und „technisch rationale“ Entwicklungsdynamik beschränken. Die Aufgabe der „empirische[n] Kunstsoziologie“ Insofern wird der nicht von Weber stammende Titel Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik dem (im Kern wohl schon 1911 oder 1912 entstandenen) musik-,soziologischen‘ Fragment Webers durchaus gerecht. Dies umso mehr, als es sich fast ausschließlich auf Probleme der „Musikrationalisierung“ (Weber, Zur Musiksoziologie, MWG I/14, S. 145) auf kompositorischer und instrumententechnischer Ebene beschränkt und nur einige Hinweise zu Ansatzpunkten historisch-soziologischer Erklärungen enthält. Die Herausgeber des betreffenden Bandes der MWG (I/14) haben sich für die – von Weber selbst wiederholt verwendete – Bezeich[49]nung „Musiksoziologie“ entschieden, obwohl Weber (so in einem Brief an seine Schwester Lili vom 5. Aug. 1912, MWG II/7, S. 638 f.) den musikhistorischen Charakter der Untersuchung betont habe und das Überlieferte nach dem Urteil der Herausgeber am treffendsten mit „Rationale und (instrumental-)technische Grundlagen der Musik“ überschrieben wäre (Braun, Christoph und Finscher, Ludwig, Einleitung, in: MWG I/14, S. 1–139, hier S. 139).
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besteht eben darin, deren gesellschaftliche Entstehungs- und Randbedingungen zu erforschen, so etwa „in starkem Maße soziologisch und religionsgeschichtlich bedingte Gefühlsinhalte“, „soziologisch mitbedingte Änderungen des Aufgabenbereiches der Architektur“, Weber, Wertfreiheit, unten, S. 486.
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„konkrete, soziologisch und religionshistorisch bedingte, Eigentümlichkeiten der äußeren und inneren Lage der christlichen Kirche im Okzident“. Ebd., unten, S. 487.
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Ebd., unten, S. 488.
Weber glaubt, seine Überlegungen voranzubringen, indem er sich Windelbands Lehrbuch der Geschichte der Philosophie zuwendet.
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Darin erörtert Windelband die Frage, ob im Blick auf die Geschichte der europäischen Philosophie von einem Erkenntnis-Fortschritt und nicht nur von einer heterogenen Vielfalt inkommensurabler Weltdeutungen zu sprechen möglich sei. Eine solche Möglichkeit sieht er vor allem darin begründet, daß eine „pragmatische“ Betrachtungsweise (im Unterschied zur ebenfalls gebotenen „kulturgeschichtlichen“ und „psychologischen“) auf einen harten Kern von Sachproblemen – „die ewig gleichen Probleme der Wirklichkeit und der auf ihre Lösung gerichteten Vernunft“ Windelband, Geschichte der Philosophie4, S. 8.
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– stoße. So erbringe die Geschichte der Philosophie „im ganzen“ einen „Grundriß allgemeingültiger Begriffe der Weltauffassung und Lebensbeurteilung“, in dem der „wissenschaftliche Sinn“ Ebd., S. 12.
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resp. der „Fortschritt“ Ebd., S. 12.
54
der historischen Entwicklung faßbar werde. Ebd., S. 15.
Windelbands Beschränkung auf die Geschichte der europäischen Philosophie erscheint Weber zu eng, weil seine Schlußfolgerungen nicht für alle Philosophie gelten dürften, zur anderen Seite hin aber auch deshalb, weil er damit eine Übertragung solcher Überlegungen auf „jede ‚Geschichte‘ überhaupt“
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ausdrücklich ausschließen wolle. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 492.
Weber wendet sich deshalb den „soziologischen und ökonomischen Disziplinen“ und dem „europäisch-amerikanische[n] Gesellschafts- und Wirtschaftsleben“ zu. Dessen fortschreitende „Rationalisierung“ zu erforschen, [50]stelle „eine der Hauptaufgaben“ dieser („unserer“) Disziplinen dar.
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Darin liege zwar auch eine Beschränkung, doch werde so „diese[r] Begriff des ‚rationalen‘ Fortschritts“ nicht nur im Blick auf den „Sonderfall“ der Kunst-, Religions- und Philosophiegeschichte, sondern auf seinem „eigensten“ Gebiet und als „sehr universelle[r]“ Tatbestand thematisiert.[50] Ebd., unten, S. 492.
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Damit komme man auch zum Kern der Frage, was „die Bezeichnung eines Vorgangs als eines ‚rationalen Fortschritts‘ denn eigentlich besagen will“. Ebd., unten, S. 491.
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Ebd., unten, S. 492.
Allerdings geht nur der erste, kürzere und gegenüber 1913 wenig veränderte Teil der abschließenden Überlegungen dieser Frage nach, während der zweite, wesentlich erweiterte zwar in doppelter Hinsicht die Problematik des Rationalen in den fraglichen Disziplinen behandelt, dies aber nicht unter dem Gesichtspunkt eines rationalen Fortschritts.
Prozesse der technischen Rationalisierung können im Rahmen der „soziologischen und ökonomischen“ Wissenschaften ganz ebenso wie in der Kunstgeschichte ohne von außen herangebrachte Wertmaßstäbe dann als Fortschritt gedeutet werden, wenn sie im Dienste vorgegebener, clare et distincte definierter Zwecke stehen. Diese Bedingung sei aber auf diesem, von höchst unterschiedlichen Zwecksetzungen und Interessenlagen
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bestimmten „Gebiet“ regelmäßig nicht erfüllt, ganz abgesehen davon, daß eben letzte Wert- und Zwecksetzungen (und damit sozio-ökonomische „Vorgänge“ als ganze) eben nicht an einem erfahrungswissenschaftlich begründeten Fortschrittsmaßstab gemessen werden könnten. Weber folgert daraus, daß die Rede von Fortschritt in diesen Zusammenhängen oft unklar und irreführend sei und deshalb als „sehr inopportun“ Hier wie an anderer Stelle bezieht sich Weber in der früheren Fassung konkreter und deutlicher als 1917 auf materielle Interessen und Klassenlagen.
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zu gelten habe. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 499; Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 375.
Im letzten, stellenweise gekürzten, insgesamt aber erweiterten Teil des „Wertfreiheits“-Aufsatzes wendet sich Weber von der Frage „der ‚praktischen‘ Wertungen“
61
ab und, wie es nun heißt, der „Stellung des Rationalen innerhalb empirischer Disziplinen“ Ebd.
62
zu. Das hier gemeinte „Rationale“ wird des Näheren, in einem nicht zureichend geklärten Begriffsgebrauch, als „das normativ Gültige“, Weber, Wertfreiheit, unten, S. 499.
63
„das normativ ‚richtig‘ Geltende“ resp. „normativ ‚Richtige‘“ Ebd.
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bezeichnet. Solches ist, etwa in Gestalt logischer oder mathematischer Normen, eine konstitutive Voraussetzung, ein „Apriori aller und jeder empirischen [51]Wissenschaft“ Ebd., unten. S. 502 und 505.
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einerseits, ein mehr oder minder konsequent beachteter Bestimmungsgrund faktischen, von den fraglichen empirischen Disziplinen rein als solches untersuchten menschlichen Handelns andererseits. Von dieser auf der Objektebene ins Spiel kommenden und in seiner Handlungswirksamkeit zu beachtenden Rolle des „Rationalen“ schlägt Weber eine – 1917 ausformulierte[51] Ebd., unten, S. 501.
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– Verbindung zu den besonderen Möglichkeiten des sinnhaften Verstehens und der Begriffsbildung in den Wissenschaften vom „menschlichen Sichverhalten“ Ebd., unten, S. 501 f.
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im Allgemeinen, in der „soziologischen Erkenntnis“ Ebd., unten, S. 501.
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im Besonderen – aber auch zu einer damit einher gehenden spezifischen „Problemvermischung“ resp. „Problemverschlingung“. Ebd., unten, S. 502.
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Diese Problemverschlingung besteht in der undurchsichtigen, gelegentlich auch interessierten Umdeutung idealtypischer, für „die empirische Erforschung des Seienden“ Ebd., unten, S. 507 f.
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brauchbarer Konstrukte rationalen Handelns in praktische Postulate oder Beurteilungsmaßstäbe. Die in dieser Hinsicht an der „radikale[n] Freihandelsschule“ (insbesondere innerhalb des Vereins für Sozialpolitik) geübte Kritik erscheint Weber sehr berechtigt, nicht aber die Ablehnung einer „rein ökonomische[n] Theorie“ mit ihrer („individualistischen“) „rationale[n] Pragmatik“ als solcher, die vielmehr als „methodisches Hilfsmittel“ ganz unverzichtbar sei. Ebd., unten, S. 508.
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Ebd., unten, S. 507 f.
Wenn etwas „normativ Gültige[s]“
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resp. „normativ Richtige[s]“, Ebd., unten, S. 499.
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z. B. ein logisches oder mathematisches Schlußverfahren, als Vorlage für eine idealtypische Begriffskonstruktion verwendet wird, fungiert es nicht als normatives und objektiv richtigkeitsrationales „Apriori“ wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern besitzt denselben methodologischen Status wie andere in „rationale ldealtyp[en]“ umgebildete Normen, „Maximen“ oder irgendeine „in eine möglichst rationale Form gebrachte ‚Wertung‘, welcher Art immer“. Ebd., unten, S. 501.
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Tatsächlich sei, bemerkt Weber, die Funktion aller so gebildeten (rationalen) Idealtypen als „Mittel des ‚Verstehens‘“ sogar „genau die gleiche“, wie die zur „verstehende[n] Erkenntnis“ „logisch irrationale[r] Gefühls- und Affekt-Zusammenhänge“ Ebd., unten, S. 505.
75
gebildeten Begriffe. Ebd., unten, S. 501.
[52]Wenn Weber an dieser letzten Stelle das „rein psychologische Einfühlen“ als „Mittel des ‚Verstehens‘“
76
neben die (rationalen) Idealtypen stellt, wird deutlich, daß er in diesem Punkt über vorangehende Klärungs- und Unterscheidungsbemühungen (vgl. die Darlegungen zur Simmel-Kritik oben und zum Kategorienaufsatz unten) noch nicht hinausgekommen ist. So bleibt auch hier die Unterscheidung von rationalen und irrationalen Motiven sowie der entsprechenden „Mittel des Verstehens“ unbefriedigend – wegen der ganz überwiegenden Gleichsetzung des Rationalen mit dem Logischen (auch Mathematischen) einerseits, dem Zweckrationalen andererseits und wegen der Tendenz, das Irrationale mit dem bloß Affektuellen oder Emotionalen zu identifizieren. [52] Ebd., unten, S. 501.
Das führt zu einem weiteren, von Weber wiederholt angesprochenen, aber nicht hinreichend geklärten Punkt. Gerade weil die idealtypische Begriffsbildung bei normativen Setzungen oder „Wertbegriffen“ unterschiedlicher Art ansetzt, um sie in Mittel empirischer Erkenntnis umzuformen, betont Weber umso nachdrücklicher die u.U. sehr feine, aber immer prinzipielle und – von Seiten der empirischen Disziplinen – keinesfalls zu überschreitende Grenzlinie zwischen Idealtypen und Idealen.
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Zugleich aber gilt, daß eine so entwickelte idealtypische Begrifflichkeit und eine von ihr bestimmte Sicht- und Erklärungsweise faktisch Gegebenes in einem Horizont divergierender und abgestufter Möglichkeiten in den Blick nimmt, der auch dem Bedürfnis nach (empirisch aufgeklärten) praktisch wertenden Unterscheidungen, also nach „Kritik“, und der Suche nach Handlungsoptionen sehr entgegenkommt. Am 29. August 1909 schreibt Weber an Tönnies, er zweifle, „ob der Begriff des ,Wesenswillens‘ […] als empirischer Begriff und dann: – als ,ldeal-Typus‘[,] wie ich zu sagen pflege, anzusehen ist oder ob Wertungen in ihn eingeschlossen sind“ – was Tönnies ja „eigentlich“ ablehne. Das lasse sich auf der Basis der von ihm erstellten Exzerpte nicht endgültig klären, er müsse „noch einmal das Original von A bis Z durcharbeiten“ (MWG II/6, S. 237–239, hier S. 237 f.).
Als bedeutenden und sich aufdrängenden Anwendungsfall seiner Analysen wählt Weber am Ende der Abhandlung nicht den Krieg, wohl aber den Staat, seine durch die „moderne, rationalisierte, Betriebsform“ ermöglichte unerhörte Leistungsfähigkeit und sein daraus erwachsendes und durch den Krieg – „die beispiellosen Geschehnisse, deren Zeugen wir jetzt sind“
78
– noch einmal „gewaltig“ gesteigertes Prestige. Der Vorstellung, daß der Staat deshalb über die Sphäre des Politischen hinaus als „der letzte ,Wert‘“ oder jedenfalls als „Eigenwert“ Weber, Wertfreiheit, unten, S. 510.
79
zu gelten habe, setzt Weber die empirische Einsicht entgegen, daß der Staat „gewisse Dinge“, darunter auch alles entscheidende, „nicht kann“ – vor allem aber die Feststellung, daß, wie immer es mit den „Tatsachen der Seinssphäre“ stehe, deren Umdeutung in „Normen der Wer[53]tungssphäre“ ganz unzulässig sei. Ebd., unten, S. 510 f.
80
Es ist nicht paradox, sondern sehr einleuchtend, daß Weber einer solchen Umdeutung genau deshalb entgegentritt, weil er den Staat als die einzig verbliebene aller „sozialen Gemeinschaften“ definiert, der „heute ‚legitime‘ Macht über Leben, Tod und Freiheit zugeschrieben“ werde.[53] Ebd., unten, S. 510.
81
Dieser soziologische Begriff des Staates ist, wie Weber wenige Jahre später Rickert gegenüber zu konstatieren Grund hat, Ebd.
82
durchaus kein „Wertbegriff“, doch ist er so gebildet, daß er einen Denkraum für grundlegende praktische Wertunterscheidungen und Wertsetzungen eröffnet. Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 26. April 1920, MWG II/10, S. 1040 f.
Weil es sich so verhält, schließt Weber seine Abhandlung mit einem Appell an die „berufsmäßigen ‚Denker‘“, gegenüber den „jeweilig herrschenden Idealen, auch den majestätischsten, einen kühlen Kopf […] zu bewahren“.
83
Weber, Wertfreiheit, unten, S. 511.
Am Ende des Diskussionsbeitrags von 1913 hatte Weber einige Grundbegriffe seiner eigenen, der Verstehenden Soziologie vorgestellt.
84
Das geschah ohne zwingenden sachlichen Grund, sollte aber dartun, daß er über das Postulat einer wirklichkeitswissenschaftlichen, wertbezogenen und „pragmatischen“, zugleich aber strikt empirischen, kausal erklärenden und eben „wertfreien“ Soziologie hinaus gekommen war und eine solche Soziologie auf die Bahn gebracht hatte. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 379 ff.
Die betreffende Textpassage ist 1917 gestrichen, stattdessen enthält der Text zusätzliche Hinweise auf die Eigenart und Notwendigkeit einer soziologischen Betrachtungsweise. Dabei kommt unvermeidlich das Verhältnis der Soziologie zu benachbarten Wissenschaften zur Sprache, so zur Geschichte, zur Wirtschaftspolitik, am Rande auch zur Psychologie. Was die besonders engen Beziehungen zur Ökonomie angeht, so fehlt im überarbeiteten Text
85
der Satz, „die systematische Nationalökonomie“ dürfe „(mit einigen Vorbehalten)“ als „Spezialfall“ (sic) der Soziologie (als „verstehender Soziologie“) betrachtet werden. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 506 f., textkritische Anm. g.
86
Diese Streichung ist nicht als solche bemerkenswert, wohl aber hinsichtlich der von Weber nie hinreichend geklärten Frage nach der Stellung und Funktion der Soziologie im Gefüge der Sozial- und Wirtschafts- und Kulturwissenschaften. Im Text von 1917 unterscheidet Weber, was diesen Problemkomplex angeht, zwei gegenläufige und einander ergänzende Betrachtungs- und Erklärungsweisen: eine „die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen“ auf die Wirksamkeit „ökonomische[r] Ursachen“ hin erforschende „ökonomische Geschichts- und Gesellschaftsdeutung“ [54]einerseits, eine „die Bedingtheit der Wirtschaftsvorgänge und Wirtschaftsformen durch die gesellschaftlichen Erscheinungen“ untersuchende „Geschichte und Soziologie der Wirtschaft“ andererseits. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 381.
87
[54] Weber, Wertfreiheit, unten, S. 509.
9. Normative Ethik
Die von Weber gemeinte Werturteilsfreiheit erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis spricht, was die Klärung der Gründe und der Verbindlichkeit moralischer Urteile angeht, nicht gegen, sondern für die Eigenständigkeit und auch für die Wünschbarkeit einer „normativen Ethik“. Über deren Möglichkeit und Argumentationsweise aber ist auf der Basis und aus der Perspektive empirischer Wissenschaft nichts zu sagen, und deshalb empfiehlt Weber, diese Problematik im gegebenen Zusammenhang nicht zu erörtern. Doch ist ihm die Sache wichtig genug, um sich schon im Diskussionsbeitrag, ausführlicher dann im Aufsatz von 1917 auf einige in diese Richtung gehende Klarstellungen einzulassen.
Daß Ethiken aller Art, nicht zuletzt religiös fundierte, in ihren geschichtlich-gesellschaftlichen Bezügen einen höchst wichtigen Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung bilden können, versteht sich für Weber von selbst und wird an einigen Beispielen aus der eigenen Forschung (protestantische Ethik,
88
Konfuzianismus Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 353 mit Anm. 13.
89
und buddhistische Ethik Ebd., unten, S. 363 mit Anm. 27.
90
) konkretisiert. Eine derartige „‚realistische‘ Wissenschaft vom Ethischen“ Ebd., unten, S. 374.
91
aber muß als solche auf jeden normativen Anspruch verzichten. Ebd., unten, S. 353; Weber, Wertfreiheit, unten, S. 464.
Eine zweite Form erfahrungswissenschaftlich zulässiger und relevanter Thematisierung von Ethiken kommt in der von Weber in diesen Texten der Sache nach eingeführten Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik
92
zum Ausdruck. Solange diese beiden (eventuell auch weitere) [55]Ethiken in ihrer prinzipiellen Verschiedenheit, und zwar in ideeller Hinsicht wie hinsichtlich ihrer „praktischen“ Implikationen, geklärt und idealtypisch kontrastiert, nicht aber ihrerseits ethisch bewertet oder normativ verwendet werden, sind sie Gegenstand einer wissenschaftlichen – logischen, hermeneutischen (sinn-interpretierenden) oder auch empirischen, so auch soziologischen – Analyse. Deren Ergebnis kann – und soll – Wertentscheidungen im Sinne der einen oder anderen Ethik durchaus beeinflussen. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 467 f., 478 f.; im Kern schon 1913: Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 363. Die terminologische Unterscheidung findet sich erst in „Politik als Beruf“ (vgl. MWG I/17, S. 248–250). Im Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 363 f., werden die Begriffe „Erfolgswert“, „Gesinnungswert“ und „Gesinnungsethik“ verwendet, im Wertfreiheitsaufsatz (unten, S. 468) setzt Weber der Gesinnung die Verantwortung entgegen. Zu der begründeten Annahme, daß er zu dem Begriff „Gesinnungsethik“ (ohne den Gegenbegriff „Erfolgsethik“) von dem befreundeten Philosophen Paul Hensel (ders., Hauptprobleme der Ethik. Sieben Vorträge. – Leipzig: B. G. Teubner 1903, S. 49) inspiriert wurde, vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Distanz aus Nähe. Einige Anmerkungen zum „Weber-Paradigma“ in Perspektiven der neueren Troeltsch-Forschung, in: Albert, Gert, Bienfait, Agathe, Sigmund, Steffen und [55]Wendt, Claus (Hg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm. – Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 234–251, hier S. 246.
Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, eine „normative Ethik“ der einen oder anderen Art darüber hinaus rational, also in einem auf allgemeine Zustimmung zielenden Verfahren zu begründen, läßt Weber ausdrücklich unerörtert,
93
damit auch die Frage, ob dabei auf „metaphysische“ Gründe zurückgegangen werden müsse und könne. Als bleibendes Vorbild gilt Weber die Ethik Kants. Sehr nachdrücklich wendet er sich Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 351 f., 355 f.; Weber, Wertfreiheit, unten, S. 462.
94
gegen den sehr üblichen, auch von Gustav Schmoller unternommenen Versuch, sie mit der Behauptung abzutun, mit ihrer Hilfe ließen sich nur „formale“, also in praxi nichtssagende und unbrauchbare Maximen gewinnen. Wie auch in anderen, außermoralischen Handlungszusammenhängen (Simmel-Kritik) erscheint ihm die Unterscheidung formaler und inhaltlicher Sinngehalte unzureichend durchdacht und unhaltbar. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 354 f.; Weber, Wertfreiheit, unten, S. 466 f.
Tatsächlich ist es falsch zu behaupten, ein ethischer Imperativ, der „kategorisch“, also un-bedingt, fordert, daß Menschen einander nie bloß als Mittel gebrauchen, sondern immer auch in ihrem Selbstwert anzuerkennen haben, sei nur formal. So schwerwiegend und weitreichend die aus ihm sich ergebenden „inhaltlichen“ Konsequenzen aber auch sind, so wichtig erscheint Weber die Einsicht in die jeder normativen Ethik gesetzten Grenzen. Nicht von ungefähr exemplifiziert er diese Einsicht in seinem Beitrag zur VfSp-Debatte
95
am Problem der Gerechtigkeit auf dem Felde der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Zwar ist die Forderung nach einer gerechten Einkommens- oder Vermögensverteilung ethisch wohlbegründet und zwar nennt der zitierte – von Weber paraphrasierte – Imperativ das auch in dieser Hinsicht absolut Unerlaubte. Die Entscheidung über die unter den gegebenen Bedingungen allein gerechte, weil ethisch gebotene Verteilung aber würde jede Ethik überfordern. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 355 f.; vgl. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 467.
In dieser und jeder vergleichbaren Lage mag sich die Umstellung von einer gesinnungs- auf eine verantwortungsethische Perspektive nahelegen, weil sie [56]die je konkreten Bedingungen und nichtintendierten, ethisch negativen Folgen des Handelns in den Blick zu nehmen nötigt. Damit aber werden die Grenzen einer ethischen Bewertung nicht aufgehoben, sondern nur verschoben, weil es nach Webers (nachdrücklich in Politik als Beruf ausgesprochenem) Urteil keine gesinnungslose Verantwortung gibt und sich die Wahl zwischen dem einen und dem anderen Prinzip nicht ihrerseits ethisch begründen läßt.
Ganz ähnlich wie bei der Erörterung der Rationalitäts- und Fortschrittsproblematik
1
wendet sich Weber auch am Ende der Überlegungen zu den Grenzen der Ethik, in einer 1917 eingefügten längeren Passage des „Wertfreiheits“-Aufsatzes,[56] Weber, Wertfreiheit, unten, S. 498; Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 375.
2
einer ganz elementaren, existentiellen Dimension menschlicher Selbsterfahrung und Lebensführung zu. In drei dialektisch verknüpften Gedankenschritten verweist er zunächst darauf, daß noch so klare und unbestreitbare ethische Maximen auf eine alles beherrschende (nicht a-, sondern außermoralische) Leidenschaft stoßen könnten, die zu beschreiben „der Ausdruck ‚Wert‘“ völlig inadäquat sein würde. Sodann lenkt er den Blick auf die Vielfalt heterogener „Wertsphären“, aus der unausweichlich eine „Wertkollision“ (resp., mit John Stuart Mill gesprochen, ein „Polytheismus“) erwachse, der auch die Ethik als Wertsphäre eigener Art nicht enthoben sei. Diese Wertekollision ist nicht nur unausweichlich, sondern auch prinzipiell, d. h. auf der Ebene des Sinns und der Logik der jeweiligen „Werte“, unaufhebbar, jedenfalls für Menschen, die vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen haben. Weber, Wertfreiheit, unten, S. 467–470 mit textkritischer Anm. b.
3
Anders als dem im „Verflachende[n] des ‚Alltags‘ […] dahinlebende[n] Mensch[en]“, dem es unmöglich ist, sich die „Vermengung todfeindlicher Werte“ bewußt zu machen, bleibt dem erkennenden Menschen nur eine Möglichkeit: „um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele, wie bei Platon, ihr eigenes Schicksal: – den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das – wählt“. Zitate aus Weber, Wertfreiheit, unten, S. 470. Dieser Problematik wendet sich Weber zunächst in der Zwischenbetrachtung erneut zu und dann, mit größtem Nachdruck, in Wissenschaft als Beruf: An die Stelle des „Einen, das not tut“ sei im „religiöse[n] ‚Alltag‘“ der „unlösliche Kampf“ möglicher „praktische[r] Stellungnahmen“ resp. „verschiedener Wertordnungen“ getreten, ein „Polytheismus“, der nach John Stuart Mill vom Standpunkt der „reinen Erfahrung“ gesehen nur konsequent sei (MWG I/17, S. 101, 99). „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf“ (ebd., S. 101).
4
Weber, Wertfreiheit, unten, S. 470.
[57]Diese Überlegungen beschränken sich nach Weber auf das einer erfahrungswissenschaftlichen Analyse (unter Einbezug logischer und hermeneutischer Verfahren) Zugängliche, und er charakterisiert sie als „werttheoretische Ausführungen“.
5
Die mit erfahrungswissenschaftlichen Mitteln nicht zu beantwortende Frage nach der eigenen „Dignität“,[57] Ebd., unten, S. 471.
6
also nach den außerempirischen Rechtsgründen einer „normative[n] Ethik“, überträgt er dagegen Ebd., unten, S. 462.
7
auf eine – noch zu schaffende – „Wertphilosophie“. Ebd., unten, S. 465.
8
Eine solche „echte Wertphilosophie“, so sagt er nun, Ebd., unten, S. 462. Eine solche Wertphilosophie hätte nicht zuletzt die normative „Dignität“ der Menschenrechte zu klären – und zu fragen, wie Webers Satz von der Lebensnotwendigkeit gewisser „Errungenschaften aus der Zeit der ‚Menschenrechte‘“ (Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, MWG I/15, S. 421–596, hier S. 466) sich damit verträgt, in den „Menschenrechten“ ein Beispiel für „extrem rationalistische Fanatismen“ (Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 151), zu sehen.
9
werde zu dem Ergebnis kommen, daß es zwischen den zur Frage stehenden „Werten“ keine „Rangfolge“ (wie nach kirchlichem Dogma) Weber, Wertfreiheit, unten, S. 469.
10
und auch keine „Relativierungen und Kompromisse“ geben könne. Ebd., unten, S. 471.
11
Deshalb sei es auch ganz falsch, uneinsichtig oder Ausdruck einer „besonders gearteten (‚organischen‘) Metaphysik“, Ebd., unten, S. 469.
12
wenn den „Vertreter[n] der Wertkollision“ Relativismus vorgeworfen werde. Ebd., unten, S. 470.
13
Ebd.
Ob in diesen Fragen die von Weber hier avisierte, aber nicht einmal ansatzweise entwickelte „Werttheorie“ und eine darüber hinausgehende, von ihm nur angezielte „Wertphilosophie“ weiter geführt hätte, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Daß sie sich in allen grundsätzlichen Fragen von Rickerts Auffassungen absetzen müßte, macht Weber in seinem kritischen Kommentar zu dessen Abhandlung „System der Werte“
14
sehr deutlich. Rickert, System der Werte (wie oben, S. 41, Anm. 7).
15
Rickert selbst kommt auf diese prinzipielle Ablehnung der im „System der Werte“ entwickelten Vorstellungen in der Vorrede zur 3. und 4. Auflage der Grenzen zu sprechen: Weber habe von der „wissenschaftlichen Philosophie“ „eigentlich nur“ die „Logik“ (sic) gelten lassen; so habe er auch Rickerts „Plan einer universalen wissenschaftlichen Weltanschauungslehre auf Grund eines umfassenden Systems der Werte […] in ähnlicher Weise“ skeptisch gegenüber [58]gestanden wie „einst in Freiburg meinem Plan einer Logik der Geschichte […]. Es ist mir nicht vergönnt gewesen, ihn […] zu überzeugen“. Brief Max Webers an Heinrich Rickert, ca. Ende November 1913, MWG II/8, S. 408–411.
16
[58] Rickert, Heinrich, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften, 3. und 4. verb. und erg. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1921, S. XX f.; vgl. dazu: Tenbruck, Friedrich H., Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von Harald Homann. – Tübingen: Mohr Siebeck 1999, S. 57.
10. Ergänzendes
Einige weitere der im vorliegenden Band edierten Texte sind wegen ihrer thematischen Affinität an dieser Stelle anzusprechen: Webers Diskussionsbeiträge auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik (Wien 1909) und zu einem Vortrag von Rudolf Goldscheid (1909), seine Besprechung der Sexualethik von Christian von Ehrenfels (1908) und das bisher nur gekürzt veröffentlichte Fragment einer kritischen Stellungnahme zu einem Ethik-Entwurf von Hellmuth Kaiser.
Die beiden Diskussionsbeiträge sind vergleichsweise frühe Dokumente des Weberschen Bestrebens, seine Vorstellungen von Wertfreiheit vor allem in der Nationalökonomie sowie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik darzulegen und durchzusetzen. Die Vergeblichkeit dieses Bemühens, die Webers Wendung zur Soziologie (d. h. zunächst: seine Mitwirkung an der Gründung der DGS) wesentlich motivierte, mag schwer verständlich erscheinen angesichts der Klarheit und Bestimmtheit, mit der er argumentierte. Insbesondere der Wiener Debattenbeitrag erklärt
17
die konstitutive Bedeutung von Wertbeziehungen, die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen (logischen und empirischen) Wertdiskussion und den Sinn der dennoch geforderten Wertfreiheit in einer sehr durchsichtigen, kaum widerlegbaren und vor Ort offenbar auch nicht einmal im Ansatz problematisierten Weise. Dennoch drang Weber mit seiner Argumentation nicht durch, und zwar auch nicht bei von ihm so geschätzten Gelehrten wie Liefmann, von Wieser und von Philippovich. Das erklärt sich, was Weber angeht, zu einem guten Teil wohl daraus, daß er nicht nur das „Hineinmengen eines Seinsollens in wissenschaftliche Fragen“ Weber, Produktivität, unten, S. 208 f. und 213 f.
18
beim Umgang mit höchst vieldeutigen Leitbegriffen wie „Volkswohlstand“ – in dem „alle Ethik der Welt“ stecke Ebd., unten, S. 208.
19
– oder „volkswirtschaftliche Produktivität“, einem der „allerschlimmsten“ Begriffe dieser Art, Ebd., unten, S. 206.
20
scharf kritisiert. Noch wichtiger erscheint, daß Weber die insbesondere von Philippovich vertretenen Wertbin[59]dungen – „Lebenserhaltung und Lebensförderung“, „Lage der arbeitenden Klassen“, Ebd., unten, S. 209. Auf ihn kommt Weber so auch 1913 (Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 360 mit Anm. 21) noch einmal zurück, 1917 dann nicht mehr.
21
Ablehnung einer „Unterwerfung des Persönlichen unter das Objekt“[59] Philippovich, Eugen von, Diskussionsbeitrag zu „Über die Produktivität der Volkswirtschaft“, in: Verhandlungen VfSp 1909, S. 607–615, hier S. 610.
22
– nicht aufnimmt, obwohl sie ihm, in ihrer Funktion als Wertbeziehungen, sehr akzeptabel und mit der geforderten „Umkehr und Einkehr“ Ebd., S. 614.
23
in Fragen des politisch-moralischen Engagements vereinbar erscheinen mußten. Tatsächlich stehen sie ja, nach ihrem Sinn und Zweck, der Begründung nahe, mit der Weber es ablehnt, ein Problem von „größter ideeller Tragweite“ einer „Fachdisziplin“ zu überantworten und zu einer „technisch-ökonomische[n] ,Produktivitäts‘-Frage“ Weber, Produktivität, unten, S. 214.
24
zu machen – und auf diese Weise „dem Stigma unserer Menschenwürde“ zu entkommen, das darin liege, „in einer Zeit ohnehin subjektivistischer Kultur“ die Ideale „aus der eigenen Brust holen“ zu müssen. Ebd., unten, S. 210 f.
25
Solches zu sagen, überschreitet für Weber offenbar nicht die Grenzen einer Wertdiskussion oder werttheoretischen Erwägung, sprengt also auch nicht den Rahmen einer wissenschaftlichen Debatte. Ebd., unten, S. 212.
Daß Weber die kurz gefaßte „Sexualethik“ des Philosophen Christian von Ehrenfels einer Besprechung für wert hält, ist verständlich, viel weniger aber, daß er sich fast ausschließlich auf ein recht detailliertes, nüchternes Referat des Inhalts beschränkt, und zwar einschließlich aller empirisch höchst fragwürdigen Behauptungen und sozial- resp. bevölkerungspolitischen, also normativen Deduktionen. Dazu gehört auch die Behauptung, beim Manne sei, anders als bei der Frau, in sexuellen Dingen die Übereinstimmung von „Sein und Sollen“
26
ein empirisches Faktum. An der Autorschaft Webers ist offenbar nicht zu zweifeln, und so hat man sich damit zu begnügen, daß er seine kritische Distanz in eher ironischer Form zum Ausdruck bringt, wenn er von einem „biologisch orientierte[n] Moralismus des Verfassers“ spricht, Weber, Rez. Ehrenfels, unten, S. 139, Ehrenfels referierend.
27
der von von Ehrenfels selbst doch ganz unverblümt als „Zeugungs- und Züchtungsidealismus von rücksichts- und bedingungsloser Zielstrebigkeit“ Ebd., unten, S. 141.
28
ausgegeben werde. Was von einem solchen Idealismus wissenschaftlich zu halten ist, hatte Weber an früherer Stelle sehr deutlich gesagt, um es auf den Soziologentagen nachdrücklich zu bekräftigen. Ebd., unten, S. 142, hier Ehrenfels zitierend.
Sehr grundsätzlicher Natur ist dagegen das nur fragmentarisch überlieferte Stück einer offenbar nicht zur Veröffentlichung bestimmten Kritik, die Weber dem nicht überlieferten Ethik-Entwurf von Hellmuth Kaiser gewidmet hat. Hier geht es nicht um einen biologisch, also der Absicht nach streng empirisch [60]begründeten „Moralismus“, sondern um den von allen materialen Fragen abstrahierenden Versuch der Beschränkung auf eine rein formale Ethik, einen „ethischen Formalismus“.
29
Es ist dies eine in der heute üblichen Terminologie „analytisch“ zu nennende Art ethischer Argumentation, die ihre Erkenntnisse durch die Explikation passend definierter Begriffe (in Webers Beispiel: Schuld) gewinnt oder dadurch, daß ein Problem (bei Kaiser beispielhaft wie bei von Ehrenfels ausschließlich: das der „Geschlechtlichkeit“) aus dem Zusammenhang „materialer Wertkonflikte“ herauslöst und in die „Sphäre“ und Sprache des „juristisch Formalen“ verlagert.[60] Weber, Über Ethik, unten, S. 301.
30
Weder läßt sich auf diese Weise ein Widerstreit zwischen ethisch gebotenen Zwecken und ethisch verwerflichen Mitteln oder Nebenfolgen des Handelns auflösen noch entscheiden, ob ein von der „Verantwortlichkeit“ für das faktisch erwartbare „Resultat“ oder von „der Reinheit der eigenen Absicht“ bestimmtes Handeln ethisch höher zu bewerten sei. Ebd., unten, S. 300.
31
Schon auf „ethischem Gebiet selbst“ also versagt ein solcher „Formalismus“ bei der Begründung „materiale[r] Entscheidungen“, erst recht aber bei Konflikten zwischen dem „ethische[n] Gebiet“ und den anderen „Wertsphären“ (und zwar keineswegs nur der Sphäre der „Geschlechtlichkeit“ resp. Erotik). Ebd., unten, S. 299. Hier bezieht sich Weber auf die fast gleichzeitig im „Diskussionsbeitrag“ von 1913 angeführte und im Aufsatz von 1917 terminologisch als Opposition von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bestimmte Problematik.
32
Weber, Über Ethik, unten, S. 300.
Es ist hervorzuheben, daß Weber in dieser letzten Hinsicht, also bei „ethisch-irrationalen Konflikte[n] der verschiedenen Wertsphären“
33
auch den „Kantischen lmperative[n]“ ein entsprechendes Unvermögen zuschreibt, Vielleicht aber sogar hinsichtlich der beiden zuvor genannten?
34
an anderer Stelle aber, mit Blick auf innerethische Wertkonflikte, dezidiert der Auffassung entgegentritt, daß auch die Kantische Ethik nur zu „formalen“ Normsetzungen tauge. Weber, Über Ethik, unten, S. 300.
35
Vgl. dazu oben, S. 47 mit Anm. 40 und S. 55 mit Anm. 94.
11. Verstehende Soziologie
Im Kategorienaufsatz
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unternimmt es Weber, seine Vorstellung von der Soziologie in grundsätzlicher und zusammenhängender Form darzulegen. In diese zwar vorläufigen, aber systematisch angelegten Darlegungen fließen ein: erstens wesentliche Ergebnisse der vor der Wendung zur Soziologie publizierten methodologischen Arbeiten, zweitens diejenigen expliziten und [61]‚positiven‘ Bestimmungsmerkmale soziologischer Erkenntnis, die sich in den seit 1908 veröffentlichten methoden- und begriffskritischen Schriften (vornehmlich Rezensionen), in der unvollendeten und nicht publizierten Simmel-Kritik und in den Beiträgen zur Etablierung und Formierung der Soziologie im Rahmen der DGS finden, drittens schließlich das Bedürfnis nach begrifflich-theoretischer Fundierung und Ordnung, das sich ihm bei der – nicht von Anfang an der Soziologie zugeordneten – Ausarbeitung für das Handbuch der politischen Ökonomie aufdrängte. Weber, Kategorien, unten, S. 389–440.
In dieser Abhandlung vollzieht Weber also den eigentlichen Übergang zur Soziologie, diese nicht in irgendeinem vorgegebenen oder allgemeinen Sinne verstanden, sondern als von Weber zum Zwecke eben dieses Übergangs konzipierte Verstehende Soziologie.
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Im Kategorienaufsatz ist sie in terminologisch vorläufiger und nicht abschließend geklärter, im Kern aber bleibend gültiger Weise konzipiert. Zuvor, im Kontext des Handbuch-Beitrags entwickelte Begrifflichkeiten werden in diesen ersten Umriß einbezogen, die schon vorliegenden Teile dieses Beitrags von Weber nachträglich (vor allem in den 1913 an Paul Siebeck geschriebenen Briefen) zu seiner – ganz neuartigen und weitgehend ausgearbeiteten – ‚Soziologie‘ erklärt. Die ab 1913 geschriebenen, 1915 bis 1920 in Aufsatzform veröffentlichten Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen werden als „Religionssoziologische Skizzen“ (in der Buchpublikation von 1920: „Vergleichende religionssoziologische Versuche“)[61] Daß es sich dabei nicht um die Soziologie, sondern um eine „besondere Art von Soziologie“ (resp. „des Betriebes der Soziologie“) handelt, hebt Weber in seinem „Beitrag“ zur VfSp-Debatte hervor, der in enger Verbindung mit dem Kategorienaufsatz entstand und in dem sowohl vom „Gemeinschaftshandeln“ als auch, allerdings noch nicht terminologisch, vom „sozialen Handeln“ gesprochen wird. Die „besondere Art“ sieht Weber vornehmlich in der Affinität zur ökonomischen Theorie: „Denn die Nationalökonomie, speziell auch die historische, ist eine menschliches Handeln in seinen Motiven und Konsequenzen ‚verstehende‘ Wissenschaft, eben daher intim verknüpft mit der ‚verstehenden Soziologie‘“. Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 381 f.
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qualifiziert. Die vorliegenden Teile von „Wirtschaft und Gesellschaft“ und diese Untersuchungen machten also bei der Wiederaufnahme der Arbeit nach Webers Selbstverständnis seine Soziologie aus – die „Grundriß“-Beiträge allerdings erst, nachdem die Vorkriegsfassung einer umfassenden Über- und Ausarbeitung unterzogen wäre. Den Kategorienaufsatz wünschte er, „in etwas geänderter (gemeinverständlicherer) Form“ in einen von ihm herausgegebenen „Sonderband“ mit methodologischen Schriften aufzunehmen. Weber, Einleitung, MWG I/19, S. 83–127, hier S. 83 mit textkritischer Anm. b.
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Daß er keinen Grund sah, sich in der Sache vom Kategorienaufsatz und dem darin vollzogenen Übergang zu distanzieren, bringt er auch [62]in der „Vorbemerkung“ zu den – den Aufsatz ersetzenden – Soziologischen Grundbegriffen Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 24. Mai 1917, MWG II/9, S. 648 f., hier S. 648, und Brief an Werner Siebeck vom 1. Dezember 1917, ebd., S. 829.
40
zum Ausdruck. [62] Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 147.
Der Kategorienaufsatz vermittelt den Eindruck, unter Zeitdruck fertig gestellt und in den Druck gegeben worden zu sein.
41
Dafür spricht ein gelegentlicher Mangel an begrifflicher Kohärenz und argumentativer Durchsichtigkeit, vor allem aber der Umstand, daß der Text aus – mindestens – zwei Teilen besteht, Wie sehr Weber auf ein baldiges Erscheinen des Aufsatzes drängte, geht aus drei Briefen Max Webers an Heinrich Rickert (3. Juli, nach dem 3. Juli, 5. Sept. 1913, MWG II/8, S. 260, 261, 318) und sechs Karten bzw. Briefen an Paul Siebeck (25. Sept., 1. Okt., 3. Okt., 9. Nov., 11. Nov. (2x) 1913, MWG II/8, S. 333, 334, 336, 370, 375, 377) hervor. Einen strategischen Grund für die Eile nennt er Rickert im Brief vom 5. September 1913 (MWG II/8, S. 318): „An sich ist objektiv wohl das Erscheinen des Ganzen und zwar jetzt – vor den Erörterungen des V[ereins] f[ür] Sozialpolitik über die ‚Werturteile‘ und andren Arbeiten Anderer – das Richtige“. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, unten, S. 384.
42
die zusammengefügt, aber nicht zureichend miteinander verknüpft wurden. In der ersten Fußnote gibt Weber den Hinweis, daß „der zweite Teil des Aufsatzes […] ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung“ sei, die „der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen“, darunter auch der Beitrag zum Handbuch, dem späteren Grundriß, zu dienen bestimmt waren, von der andere Teile „wohl anderweit gelegentlich“ publiziert werden würden. Der dritte wäre das zeitdiagnostische Schlußstück zur Problematik der Rationalisierung, sofern es jedenfalls nicht zur eigentlichen Zweckbestimmung des Aufsatzes paßt.
43
Was es mit diesem Hinweis auf sich hat, ist nicht ohne weiteres verständlich. Das betrifft die – nicht überlieferte, von Weber später nicht mehr erwähnte – „Darlegung“ insgesamt und insbesondere die Frage, was genau der von Weber gemeinte „zweite Teil“ ist. In dieser doppelten Hinsicht verschaffen auch Webers Auskünfte in zwei Briefen an Rickert keine völlige Klarheit, Weber, Kategorien, unten, S. 391, Fn. 1.
44
doch helfen sie, die Entstehung und Geschichte jener Darlegung und dieses zweiten Teils zu rekonstruieren. In einem Brief an Heinrich Rickert vom 3. Juli 1913 (MWG II/8, S. 260) äußert Weber den Wunsch, einen Aufsatz im Logos zu publizieren, der den Titel „Zur Methodik der verstehenden Soziologie“ trage und „eine ziemlich kurze Sache“ sei. Der Titel und die Kürze könnten darauf hindeuten, daß es sich bei diesem Aufsatz im Wesentlichen noch um den in der ersten Anmerkung gemeinten „zweiten Teil“ handelt. Am 5. September 1913 (ebd., S. 318) schreibt Weber, der Aufsatz sei „in seinem ursprünglichen Teil schon seit ¾ Jahren“ fertig und werde mit einigen methodischen Bemerkungen eingeleitet, dies aber unter „absoluter ‚Minimisierung‘ […] alles rein Logischen“. Die Rede von „¾ Jahren“ meint sehr wahrscheinlich dasselbe wie das „vor längerer Zeit“ in der ersten Fußnote, ist also, auch wegen des Plurals, als „seit 3–4 Jahren“ zu lesen. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 385.
[63]Ein ursprünglich für das I. Buch (unter IV Wirtschaftswissenschaften) des Handbuchs der politischen Ökonomie geplanter, später für eine separate Veröffentlichung vorgesehener Text, den Weber „für sich reserviert“ hatte,
45
wird von ihm schon 1909 als „Methodologie“ (sic) bezeichnet resp. avisiert.[63] Mommsen, Wolfgang J., Zur Entstehung von Max Webers hinterlassenem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, in: European Centre for Comparative Government and Public Policy, Discussion Paper, No. 42, Juni 1999, S. 1–54 (hinfort: Mommsen, Entstehung), hier S. 19.
46
Im „Stoffverteilungsplan“ für das Sammelwerk vom Mai 1910, der gegenüber den Autoren noch bis 1912 verwendet wurde, lautet der Titel „Objekt und logische Natur der Fragestellungen“, Brief Max Webers an Paul Siebeck, nach dem 20. April 1909, MWG II/6, S. 103–106, hier S. 105 f.
47
im Blick auf die separate Veröffentlichung spricht Weber aber schon Ende März 1910 von „Logik u. Methodologie“ (bzw. kurz: „Methodik“). Vgl. „Vorbemerkung zum Stoffverteilungsplan“ für das „Handbuch der politischen Ökonomie“, MWG I/24, S. 142–173, hier S. 146, dazu auch Schluchter, Entstehungsgeschichte, ebd., S. 28.
48
In einem Brief an Siebeck vom 1. Mai 1910 – mit einem anderen Grund für die Nichtpublikation im Handbuch: „nach Lage des Raums“ untunlich – ist dann von „meine[m] Artikel über die Logik der Sozialwiss[enschaften]“ die Rede. Brief Max Webers an Paul Siebeck, vor oder am 28. März 1910, MWG II/6, S. 446 f., hier S. 447.
49
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG II/6, S. 484 f., hier S. 485.
Der an zweiter Stelle genannte, zunächst für das Handbuch vorgesehene, dann ausgegliederte Text taucht nach Mommsen
50
im von Weber verfaßten „Vorwort“ zum Grundriß der Sozialökonomik (2. Juni 1914; von „Schriftleitung und Verlag“ unterzeichnet) in der Form wieder auf, daß Weber den Verzicht auf eine „systematische Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften“ feststellt. Die Begründung lautet, daß es keinen „gemeinsamen methodischen Standpunkt der einzelnen Mitherausgeber“ (d.i.: aller Autoren), keine „‚Einheit‘ in der Methodik“ (wie erst recht in der „praktischen Stellungnahme“) gebe. Mommsen, Entstehung (wie oben, S. 63, Anm. 45), S. 31 f.
51
Deshalb sei die „Erkenntnistheorie“, „ebenso wie die materiale ökonomische Kultursoziologie, einem besondern Beiheft vorbehalten“. Grundriß der Sozialökonomik. „Vorwort“ und „Einteilung des Gesamtwerkes“, MWG I/24, S. 163–173, hier S. 164 f.
52
Ebd., S. 164. Diese „materiale ökonomische Kultursoziologie“ ist offenbar identisch mit der Ende 1913 Siebeck gegenüber (Brief vom 30. Dez. 1913, MWG II/8, S. 450) als noch auszuarbeiten genannte „Soziologie der Cultur-Inhalte“, und sie weist zurück auf den im „Stoffverteilungsplan“ für das „Handbuch der politischen Ökonomie“ vom Mai 1910, „Erstes Buch. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft“, unter „III. Wirtschaft, Natur und Gesellschaft“, „4. Wirtschaft und Gesellschaft“, aufgeführten, von Weber zu verfassenden Abschnitt „c) Wirtschaft und Kultur (Kritik des historischen Materialismus)“ – ganz ebenso wie die „systematische Erkenntnistheorie“ [64]von 1914 auf den dort unter „IV. Wirtschaftswissenschaft“ sich findenden Abschnitt „1. Objekt und logische Natur der Fragestellungen“ (vgl. MWG I/24, S. 145 f.).
[64]Der ursprünglich vorgesehene, unterschiedlich betitelte oder bezeichnete, sich in seiner Zweckbestimmung aber wohl durchhaltende Text war für das Ganze des Handbuchs und die darin behandelten „Fragestellungen“ gedacht. Dieses Ganze heißt „Politische Ökonomie“, aber auch „Wirtschaftswissenschaft“ (oder, wie in Webers Rundschreiben von 1913 erwogen, „Volkswirtschaftslehre“),
53
später dann „Sozialökonomik“, gelegentlich auch: „Sozialwirtschaft“ sowie „Sozialwissenschaften“. Es schließt – natürlich – die Weberschen Texte ein, die von ihm erst 1913 als seine „Soziologie“ qualifiziert werden. Rundschreiben an die Mitherausgeber des „Handbuchs der Sozialökonomik“, MWG I/24, S. 186–190.
Angesichts der Zweckbestimmung und der verschiedenen, aber konvergenten Bezeichnungen spricht viel für die Annahme, daß Weber, wenn nicht diesen, so einen in enger zeitlicher und thematischer Beziehung zu ihm stehenden Text meint, wenn er von einer „schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung“ spricht, die der „methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen“ zu dienen bestimmt gewesen sei.
54
Dazu paßt, daß sich diese „Darlegung“ auch auf Webers Beitrag beziehen, nicht aber im Rahmen des Handbuchs publiziert werden sollte. Daß er im Ganzen und in seinen Teilen nicht auf die „methodische Begründung“ der Soziologie abzielte, versteht sich schon deshalb, weil Weber seinen Beitrag zum Handbuch erst parallel zum Kategorienaufsatz zu seiner weitgehend ausgearbeiteten Soziologie erklärte. Das zur Einfügung in diesen Aufsatz verwendete Teilstück („Fragment“) wäre demnach nicht vor 1912 entsprechend überarbeitet und an diese Zweckbestimmung, d. h. des Näheren: an den neu geschriebenen einleitenden Teil (Kap. I–III), im Rahmen des Möglichen angepaßt worden. Weber, Kategorien, unten, S. 391, Fn. 1; sowie oben, S. 62, Anm. 43.
Wie der ursprüngliche Text zielt auch der Kategorienaufsatz auf die „methodische Begründung sachlicher Untersuchungen“, nunmehr auf dem Felde der Verstehenden Soziologie – in Gestalt ihrer systematischen Ausarbeitung im Handbuch und ihrer materialen, vor allem religionssoziologischen Arbeiten.
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An dieser Stelle sei festgehalten, daß die Verstehende Soziologie in methodologischer Hinsicht kaum Besonderheiten gegenüber den anderen empirisch-historischen, im Rahmen des Möglichen vergleichend und verallgemeinernd verfahrenden Wissenschaften, der Ökonomie zumal, aufweist. Die methodologischen Klärungen, Regeln und Konzepte, die nahezu ausschließlich aus der „präsoziologischen“ Zeit (von 1903 bis etwa 1908, also die Stammler-Kritik einschließend) stammen und eingangs kurz resümiert wurden, gelten allesamt auch, vielfach sogar a fortiori, für die Verstehende Soziologie (und werden deshalb zwischenzeitlich schon als „soziologisch“ qualifiziert). Das vor allem hinzukommende und für die Verstehende Soziologie allerdings konstitutive, unterscheidende Merkmal liegt in ihrem „spezifischen Objekt“ [65]und den daraus sich ergebenden – vor allem begrifflich-theoretischen – Konsequenzen.
[65]Der von Weber im Brief an Rickert vom 3. Juli 1913 zunächst genannte Titel lautet „Zur Methodik der verstehenden Soziologie“.
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Hinsichtlich des neuen Teils (I–III) spricht Weber im Brief an Rickert vom 5. September 1913 von einigen einleitenden „‚methodischen‘ Bemerkungen“. Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 3. Juli 1913, MWG II/8, S. 260, vgl. auch oben, S. 62, Anm. 44.
57
Der schließlich gewählte Titel („Über einige Kategorien…“) widerspricht dem nicht, hebt aber doch einen besonderen, eher im zweiten Teil angesiedelten Schwerpunkt hervor. Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 5. Sept. 1913, MWG II/8, S. 318–320, hier S. 318.
An diesen Titel könnte die Frage angeschlossen werden, wie sich der Kategorienaufsatz zum ersten Punkt des Weberschen Beitrags zum Grundriß der Sozialökonomik verhält, der in der „Einteilung des Gesamtwerkes“ von 1914 überschrieben ist: C.I.1. Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen.
58
Die Antwort liegt vermutlich nicht darin, daß Weber vorübergehend den Inhalt des Kategorienaufsatzes für diesen einleitenden Punkt vorgesehen hätte. Wohl aber ist nicht ausgeschlossen, daß er, bevor er den Kategorienaufsatz mit seiner besonderen Bestimmung zu verfassen und zu publizieren sich entschied, für diesen ersten Punkt in irgendeiner Weise auf den alten Text zurückgreifen wollte, wie es dann – im anderen, neuen Zusammenhang – im Kategorienaufsatz geschieht. Grundriß der Sozialökonomik. „Vorwort“ und „Einteilung des Gesamtwerkes“, MWG I/24, S. 168 f.
59
Von der vorangestellten, mit der im ersten Teil gegebenen nicht in allem übereinstimmenden Definition des Objekts der Verstehenden Soziologie abgesehen, handelt dessen zweiter Teil ja in der Hauptsache von Kategorien gesellschaftlicher Ordnungen. Webers Auskunft in der ersten Fußnote des Kategorienaufsatzes ist wohl so zu verstehen, daß ihm die „schon vor längerer Zeit geschriebene Darlegung“ 1913 noch im Ganzen vorlag. Er stellt ja in Aussicht, „andre Teile wohl anderweit gelegentlich“ zu publizieren (vgl. unten, S. 391, Fn. 1).
60
Und das sind genau die Begrifflichkeiten, die Weber bei der späteren Umarbeitung des Kategorienaufsatzes zu den Grundbegriffen weitgehend beiseite lassen wird. An dieser Stelle käme auch der Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ (vgl. dazu unten, S. 85, Anm. 66). Wenn er als Teil des Beitrags zum Handbuch gedacht war, hätte er seinen Platz am ehesten in demselben Punkt C.I.1. gefunden, und zwar im unmittelbaren Anschluß an das über „Kategorien der sozialen Ordnung“ Gesagte.
In diesen Problemzusammenhang gehört der Tatbestand, daß der Grund-Begriff und damit der eigentümliche Gegenstand der Verstehenden Soziologie im Kategorienaufsatz zweimal, im ersten Teil (Kap. I) und dann noch einmal im zweiten (Kap. IV) bestimmt wird. Daran ist zunächst beachtenswert, [66]daß diese Bestimmung (nebst ihren wichtigsten methodologisch-theoretischen Implikationen) von Weber überhaupt zweimal, in sehr ähnlicher Weise, im selben Text und kurz hintereinander vorgetragen wird. Vom Aufbau der Abhandlung her betrachtet erscheint dies redundant und nur den Bedingungen geschuldet, unter denen Weber die Abhandlung – offenbar in Eile – komponierte. Gerade deshalb darf nicht übersehen werden, daß die beiden Bestimmungen durchaus nicht in jeder wichtigen Hinsicht übereinstimmen.
Sie unterscheiden sich erstens, was die konstitutiven Elemente der jeweiligen Definition angeht – und zwar derart, daß sich daraus eine überzeugende, wohl nur von Wolfgang Schluchter
61
gesehene und hinsichtlich aller Implikationen bedachte Antwort auf die Frage nach dem älteren „zweiten Teil“ ergibt: Die zu Beginn von Kapitel IV gegebene Definition des Grundbegriffs „Gemeinschaftshandeln“[66] Schluchter, Wolfgang, Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt. – Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, S. 183 f. (hinfort: Schluchter, Individualismus).
62
muß aus einer früheren Bearbeitungsphase stammen als die – dieselbe Begriffsebene betreffende – Bestimmung des „für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige[n] Handeln[s]“, die sich zu Beginn des Abschnitts I und damit der gesamten Abhandlung findet. Weber, Kategorien, unten, S. 406.
63
Sie kommt, im Unterschied zur Definition von „Gemeinschaftshandeln“, in ihrer Dreigliedrigkeit der mehrteiligen Definition des sozialen Handelns in den Grundbegriffen Ebd., unten, S. 393.
64
schon sehr nahe. Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 149.
65
Im Fehlen des Grundbegriffs „Gemeinschaftshandeln“ sieht auch Orihara, Hiroshi, From „a Torso with a Wrong Head“ to „Five Disjointed Pieces of a Carcass“? Problems of Editorial Policies for the Max Weber Gesamtausgabe I/22 (Old Manuscript Known as „Part II“ of the Economy and Society, Working Paper No. 8). – Takenoyama: Sugiyama Jogakuen University 2002, S. 19, das entscheidende Indiz für die spätere Abfassung der ersten drei Abschnitte. Er übersieht aber, daß deshalb der Kategorienaufsatz insgesamt nicht der „Kopf“ des Handbuch-Beitrags sein kann. Das dritte Bestimmungselement in der ersten Definition hebt, wie die in den Grundbegriffen gegebene, auf die Frage der ursächlichen Erklärbarkeit ab; außerdem wird bei ihr (wiederum: wie in den Grundbegriffen) zum Handeln auch ausdrücklich das „Unterlassen“ und „Dulden“ gerechnet. Weitere Überlegungen zur Zweiteilung des Kategorienaufsatzes werden im Editorischen Bericht, unten, S. 385 ff., vorgebracht. Die Diskussion darüber, welches der „zweite Teil des Aufsatzes“ ist, müßte sich schon dadurch erledigen, daß Weber ihn (in der ersten Fußnote) eben so nennt. Mit dieser Formulierung kann unmöglich der erste Teil (des Aufsatzes) gemeint sein. Ob dies die Kapitel I–III oder, wie gelegentlich angenommen wird, I–IV sind, sollte auch nicht fraglich sein: Im letzteren Fall würde Weber das „spezifisch wichtige“ bzw. „primäre“ Objekt der Verstehenden Soziologie sogar im selben Teil zweimal, und dazu nicht ganz identisch, definieren.
Auch hinsichtlich dieser Frage, vor allem aber im Hinblick auf eine fundamentale theoretische Besonderheit und Problematik der Verstehenden Sozio[67]logie ist eine andere, eher unauffällige Differenz der beiden Bestimmungen bedeutsam. Sie zeigt sich in der unterschiedlichen Entschiedenheit, mit der sie formuliert werden: Das Gemeinschaftshandeln wird als „das primäre Objekt einer ‚verstehenden‘ Soziologie“ bezeichnet, zugleich aber wird gesagt, daß „nicht etwa nur Gemeinschaftshandeln“ für die „soziologische Kausalzurechnung wichtig“ sei.
66
Bei der neuen, dreiteiligen Definition dagegen wird das „für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln“ ohne jede Einschränkung als deren „spezifisches Objekt“ bezeichnet.[67] Weber, Kategorien, unten, S. 406.
67
Ebd., unten, S. 393.
Mit großem Nachdruck wird im neuen Teil hervorgehoben, daß alle „Arten menschlichen Zusammenhandelns“ von dieser Soziologie „auf ‚verständliches‘ Handeln[,] und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen“ zu „reduzieren“ seien.
68
Im älteren Teil wird zwar ganz ähnlich vom Gemeinschaftshandeln gesagt, daß es aus der Sicht der Verstehenden Soziologie ein „Sichverhalten von Einzelnen zum aktuellen oder zum vorgestellten potentiellen Sichverhalten anderer Einzelner“ sei. Ebd., unten, S. 404.
69
Zugleich aber wird an etwas späterer Stelle ein „bloßes“ resp. „einfaches“ Gemeinschaftshandeln, Ebd., unten, S. 407.
70
das nur von „den ‚Erwartungen‘ des Verhaltens des oder der Anderen“ motiviert ist, Ebd., unten, S. 411, 417 und 423 f.
71
von anderen, dem Einverständnishandeln zugerechneten Formen unterschieden, Ebd., unten, S. 423.
72
bei denen „die Beteiligten ihr eigenes Handeln nicht bloß an den Erwartungen des Handelns der Anderen“, sondern an, ihrer „subjektive[n] Ansicht“ nach, verbindlichen „Ordnungen“ orientieren. Der Webersche Gedankengang läßt leicht übersehen, was er selbst hervorhebt: Das Gesellschaftshandeln gilt ihm „lediglich“ als „durch Satzung geordnete[r] Spezialfall“ (ebd., unten, S. 426) des Einverständnishandelns. Vgl. dazu Hermes, Siegfried, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft: Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus. – Berlin: Duncker & Humblot 2003, S. 64 (hinfort: Hermes, Soziales Handeln) und Jean-Pierre Grossein, Introduction, in: Weber, Max, Concepts fondamentaux de sociologie. Textes choisis, traduits de l’allemand et introduits par Jean-Pierre Grossein. – Paris: Gallimard 2016, S. 84 (hinfort: Grossein, Introduction).
73
Weber, Kategorien, unten, S. 411. Dem entspricht die von Weber in diesem Zusammenhang (ebd., S. 407) eingeführte Unterscheidung von „erwartungsorientiert[em]“ und „wertorientiert[em]“ Handeln (vgl. dazu Schluchter, Wolfgang, Die Entzauberung der Welt. Sechs Studien zu Weber. – Tübingen: Mohr Siebeck 2009, S. 122), sofern das erste auf andere Akteure als solche, das zweite auf gemeinsame resp. als gemeinsam unterstellte Verbindlichkeiten abhebt.
Im Blick auf diese Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen, vermittelten Formen des Gemeinschaftshandelns spricht Weber von einer historisch oft anzutreffenden „Stufenleiter der Entwicklung von der Gelegenheits[68]vergesellschaftung ausgehend und fortscheitend zum perennierenden ‚Gebilde‘“.
74
Und im selben Kontext stehen auch die ausführlichen und differenzierten Darlegungen, die er in den Kapiteln V und VI dem Bestehen und der empirischen Geltung solcher Ordnungen verschiedener Art („gesatzte“ resp. „vereinbarte“ Ordnung, Einverständnis, Anstalt, Verband) widmet,[68] Weber, Kategorien, unten, S. 417.
75
indem er die Faktoren analysiert, welche die „Chance“ (oder „Wahrscheinlichkeit“) ihrer faktischen Beachtung und Befolgung durch die Handelnden beeinflussen. Ebd., insbes. S. 408–418 (Kap. V) und S. 421–431 (Kap. VI).
76
„Als normalen Ausdruck der empirischen ‚Geltung‘ einer Ordnung werden wir […] die Chance ihres ‚Befolgtwerdens‘ ansehen“ (ebd., S. 411), bzw. zuvor (Kap. III), noch entschiedener: „Dies ist die begriffliche soziologische Bedeutung der empirischen ‚Geltung‘ eines ‚Rechtssatzes‘“ (ebd., S. 405). Das ist, wie bemerkt, die Auffassung Webers nicht erst im Umkreis der Verstehenden Soziologie, sondern schon in „Roscher und Knies“, in der Stammler-Kritik sowie, mit Verweis darauf, in den Diskussionsbeiträgen zu den Referaten von Andreas Voigt und Hermann Kantorowicz auf dem Ersten Soziologentag (vgl. unten, S. 269 f. und 281 f.).
Wolfgang Stegmüller hat bemerkt, daß Weber in diesem Zusammenhang von „Chance“ in einem doppelten Sinne spreche – erstens im Sinne „dispositioneller Merkmale“ auf Seiten der Handelnden, zweitens in dem Sinne, „dass sie nur probabilistische Aussagen […] über mutmaßliches Verhalten gestatten“.
77
Allerdings scheint Weber jedenfalls im zweiten, älteren Teil des Kategorienaufsatzes zwischen einer auf Seiten des Handelnden „subjektiv vorliegende[n]“ Chancen-Erwartung und einer vom Forscher „unter Berücksichtigung der wahrscheinlichen Kenntnisse und Denkgepflogenheiten der Beteiligten zu kalkulierende[n]“ und insofern „objektiv[en]“ Chance zu unterscheiden. Stegmüller, Wolfgang, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Band 2, 8. Aufl. – Stuttgart: Kröner 1987, S. 83 f.; zit. nach dem (seinerseits Gerhard Wagner folgenden) Hinweis von Treiber, Hubert, Zum Staatsverständnis bei Max Weber, in: Sociologia Internationalis, 52. Band, Heft 1, 2014, S. 1–40, hier S. 31.
78
Im neuen Teil Weber, Kategorien, unten, S. 409, vgl. auch ebd., S. 406.
79
wäre, im Sinne der Bemerkung von Stegmüller, die Zweispaltung aufgegeben, der („objektive“) wissenschaftliche Probabilismus gründet, indem er sich des Konstrukts der „objektiven Möglichkeit“ bedient, im Probabilismus, der subjektiven Chancen-Abschätzung, auf Seiten der Akteure. Vgl. ebd., unten, S. 404 f.
80
In diesem Sinne argumentiert, insbesondere im Blick auf den Kategorienaufsatz, auch Lübbe, Weyma, Der Normgeltungsbegriff als probabilistischer Begriff. Zur Logik des soziologischen Normbegriffs, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 44, 1990, S. 583–602, bes. S. 596 f.; vgl. auch Lübbe, Weyma, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1990, S. 40, 169 f., 172. Vgl. Anter, Andreas, Max Weber’s Theory of the Modern State. Origins, Structure and Significance. – Lon[69]don: Palgrave Macmillan 2014, S. 88 ff., sowie Weiß, Grundlegung (wie oben, S. 26, Anm. 45), S. 88 ff.
[69]Das entspräche der Überwindung der Zweiteilung zwischen einem „bloßen“, an anderen Einzelakteuren orientierten Gemeinschaftshandeln und einem Einverständnishandeln, das sich an (als geltend unterstellten und insofern „objektiven“) Ordnungen orientiert.
Dazu paßt die Art und Weise, in der Weber sich am Ende des III. Kapitels im direkten Anschluß an die dezidiert „individualistische“ Bestimmung des Handlungsbegriffs auf dieselbe Problematik (hinsichtlich der empirischen Geltung von Rechtssätzen, aber auch von Staaten) einläßt. Bei der Bearbeitung der Grundbegriffe wird er in derselben Weise verfahren. So allerdings, daß er es bei dem – einfachen, also in keiner Weise in sich differenzierten – Grundbegriff des sozialen Handelns beläßt und die „soziale Beziehung“, definiert als „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“,
81
als begriffliches Verbindungsglied zwischen dem sozialen Handeln und den sozialen Ordnungen einführt. Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 177. „Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte ,soziale Gebilde‘, wie ,Staat‘, ,Kirche‘, ,Genossenschaft‘, ,Ehe‘ usw. handelt, ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird.“ (ebd.)
82
So auch Hermes, Soziales Handeln (wie oben, S. 67, Anm. 72), S. 62 ff., und Grossein, Introduction (wie oben, S. 67, Anm. 72), S. 86, und auch Norkus, Zenonas, Handeln, soziale Ordnungen und sozialwissenschaftliche Erklärung: Max Weber und Rational Choice, in: Lichtblau, Klaus (Hg.), Max Webers ,Grundbegriffe‘. Kategorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung. – Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006 (hinfort: Lichtblau (Hg.), Grundbegriffe), hier S. 47–90, bes. S. 70 f., im Unterschied zu Lichtblau, Klaus, Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung. – Wiesbaden: Springer VS 2011, S. 283 f. (hinfort: Lichtblau, Begriffsbildung). Lichtblau ordnet diese Stelle und Funktion in den Grundbegriffen offenbar dem Begriff der „legitimen Ordnung“ zu – jedenfalls insofern, als er wie der Begriff des Einverständnisses resp. Einverständnishandelns im Kategorienaufsatz auf die spezifische Existenz- und Bestandsvoraussetzung sozialer Ordnungen abhebt. Für eine solche Interpretation wären Formulierungen Webers im Kategorienaufsatz heranzuziehen wie die, „daß die Beteiligten ihr eigenes Handeln nicht bloß an den Erwartungen des Handelns der Anderen orientieren, sondern je mehr bei ihnen die subjektive Ansicht in relevantem Maß verbreitet ist, daß die (subjektiv sinnhaft erfaßte) ,Legalität‘ gegenüber der Ordnung ,verbindlich‘ für sie sei“ (Weber, Kategorien, unten, S. 411). Besonders eingehend und differenziert wird, im Blick auf die Grundbegriffe, das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung bei Greshoff, Rainer, „Soziales Handeln“ und „Ordnung“ als operative und strukturelle Komponenten sozialer Beziehungen, in: Lichtblau (Hg.), Grundbegriffe, S. 257–291, vor allem S. 275 ff., analysiert, der, Weber folgend, zwischen einfachen, zweckrational oder traditional motivierenden Ordnungen und als „legitim“ geltenden unterscheidet, deren dauerhafte Motivationskraft an wertrationale „Maximen“ gebunden ist. Bei alledem ist für Greshoff die Annahme leitend, daß die Eigenständigkeit von sozialen Beziehungen [70]„nichts jenseits der gegenseitigen Einstellungen und Erwartungen sowie der dadurch orientierten gegenseitigen Handlungen der beteiligten Akteure ist“ (ebd., S. 274).
[70]Das soweit zur Genese, zum inneren Aufbau und zu gewissen Disparatheiten im Kategorienaufsatz Gesagte verweist darauf, daß er deutliche Spuren eines Übergangs an sich trägt. Er beschreibt das fortan unter „Soziologie“ zu Verstehende hinsichtlich des schon Geleisteten, aber er weist zugleich über den erreichten Stand hinaus.
83
„Der Kategorienaufsatz“, bemerkt Wolfgang Schluchter, „ist zweifellos ein Schlüssel. Die Frage ist nur, zu welchem Schloß“. „It signals a turnabout in Weber’s sociological theory“ (Mommsen, Wolfgang J., Max Weber’s Grand Sociology. The Origins and Composition of „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, in: History and Theory, vol. 39, 2000, S. 364–383, hier S. 383).
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Warum sollte er, um im Bild zu bleiben, nicht auf das alte Schloß einigermaßen, besser aber auf das erst noch zu schaffende passen, das diesem Schlüssel, insbesondere seinem ersten, neueren Teil, allererst anzumessen war? Schluchter, Entstehungsgeschichte, MWG I/24, S. 59.
Größere Schwierigkeiten macht das im selben Zusammenhang von Hiroshi Orihara verwendete Bild von Kopf und Körper:
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Der Kategorienaufsatz kann in der gegebenen Form nicht als „Kopf“ und überhaupt nicht als integraler und wesentlicher Teil des „dicke[n] alte[n] Manuskript[s]“ Orihara, Hiroshi, Max Webers Beitrag zum „Grundriß der Sozialökonomik“, in: KZfSSp, 51. Jg., 1999, S. 724–734; vgl. auch unten, S. 74, Anm. 10, dort einiges Weitere zur Problematik.
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gelten, von dem Weber zur gleichen Zeit als seiner Soziologie zu sprechen beginnt. Wenn er den Aufsatz so verstanden wissen wollte, hätte Weber keinen Grund gehabt, es zu verschweigen. In Wahrheit ist er ein Dokument des Übergangs, das eben deshalb als Ganzes nicht einem festgeschriebenen Zustand der sich herausbildenden „geschlossenen Theorie und Darstellung“ korrespondiert, sondern sich zumindest ambivalent oder janusköpfig zur Ausgangslage und zum Ergebnis dieses Übergangs verhält. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 27. Okt. 1919, MWG II/10, S. 826.
Webers Verweise auf früher Geschriebenes sind, wo sie sich überhaupt finden, in der Regel sehr kurz und wenig bestimmt. Jedenfalls aber ist das, was er über das Verhältnis der Soziologischen Grundbegriffe zum Kategorienaufsatz sagt, nicht geeignet, die These zu stützen, der Kategorienaufsatz sei als „Kopf“ zum Handbuch-Beitrag in der 1913 vorliegenden Form gedacht gewesen: Im Wesentlichen sei nunmehr nur „die Terminologie tunlichst vereinfacht und daher auch mehrfach verändert [worden], um möglichst leicht verständlich zu sein“.
87
Das ist gewiß untertrieben, vor allem hinsichtlich des Verzichts auf die Grundbegriffe des Gemeinschafts-, Gesellschafts- und insbesondere des Einverständnishandelns sowie auf die Systematik der daran anschließenden Ordnungsbegriffe. Dieser Verzicht könnte aber im Sinne [71]Webers durchaus mit „Zweckmäßigkeitsgründen“ erklärt werden. Für den ersten Teil des Kategorienaufsatzes und insbesondere für die dort gegebene, am deutlichsten auf die Grundbegriffe vorausweisende Bestimmung des „spezifischen Objekts“ der Verstehenden Soziologie wäre das nicht vorstellbar. Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 147.
Zum Abschluß dieser Erwägungen sei eine nach Lage der Dinge etwas spekulative, aber nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisende Vermutung geäußert. Danach hätte Max Weber zunächst auf der Basis eines „vor längerer Zeit“ geschriebenen, der Methodik und Begrifflichkeit der Analyse sozialer Ordnungen gewidmeten Textes und der für das Handbuch geschriebenen Teile seinen Begriff der Soziologie darlegen wollen. Dazu habe er 1912/13 einen Vorspann verfaßt, in dem „Gemeinschaftshandeln“ als Grundbegriff der Soziologie eingeführt wird. Diesen Grundbegriff aber habe er dann in einem weiteren Schritt präziser und differenzierter bestimmt, in seinen Implikationen bekräftigt und die so fundierte Verstehende Soziologie in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Werturteilsfreiheit von der Psychologie einerseits, der Jurisprudenz andererseits abgesetzt. Dieser zuletzt geschriebene Text sei dem bis dahin Vorliegenden (und noch einmal Überarbeiteten) wiederum vorangestellt worden.
In den soweit behandelten Fragen hat Weber seine Einsichten und Bestimmungen im Kategorienaufsatz so rekapituliert und präzisiert, sein Verständnis von Soziologie in einer Weise geklärt und festgelegt, daß er daran auch bei der späteren Überarbeitung in der Sache nichts zu ändern oder in substantieller Hinsicht hinzuzufügen hatte. Das stellt sich, was den Grad an begrifflicher Klarheit und Unterscheidung angeht, nur bei einem speziellen, aber doch höchst wichtigen Problemkomplex etwas anders dar – bei der Bestimmung, Abgrenzung und Binnendifferenzierung des „(subjektiv) gemeinten Sinns“, der „sinnhafte[n] Bezogenheit“ sozialen Handelns.
88
[71] Vgl. Weber, Kategorien, unten, S. 393 und 419.
Die sinnhafte Verständlichkeit menschlichen Verhaltens ermöglicht dem soziologischen Erklären eine „spezifische“, nämlich „qualitative“ (das heißt: den jeweiligen Sinngehalt betreffende), aber keineswegs immer gleiche, sondern „sehr verschieden große“ Evidenz.
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Am größten sei, bemerkt Weber, diese Evidenz im Falle „zweckrationalen“ Verhaltens, erst recht dann, wenn das Verstehen sich an einem „rationalen idealtypischen Grenzfall absoluter Zweck- und Richtigkeitsrationalität“ Ebd., unten, S. 390.
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zu orientieren vermöge. Angesichts dieses, obzwar ausdrücklich nur methodischen Vorrangs der zweckrationalen und insbesondere richtigkeitsrationalen „Deutung“ verwendet Weber die Termini „zweckrational“ und „rational“ unterschiedslos. Daß mit „rational“ nicht immer „zweckrational“ gemeint ist, ergibt sich aus dem Kontext, aber auch [72]daraus, daß Weber gelegentlich von einem spezifisch „zweckirrationalen“ Verhalten spricht, Ebd., unten, S. 396.
91
aber auch ein dem sinnhaften Verstehen überhaupt entzogenes Verhalten „irrational“ nennt. [72] Ebd., unten, S. 397.
Weber verzichtet darauf, zur Entwirrung dieses Sprachgebrauchs seine viele Jahre zurückliegenden Bemerkungen zur „qualitativen Rationalität“ sinnhaft verständlichen Handelns aufzunehmen und von daher die methodische Sonderstellung des zweckrationalen Handelns zu begründen. Dem hier liegenden Klärungs- und Differenzierungserfordernis begegnet er in den Grundbegriffen mit der Typologie sinnhaften Verhaltens, insbesondere mit der terminologischen Einfügung eines zweiten Idealtyps rationalen Verhaltens, aber auch mit der gleichberechtigten Aufnahme von – ebenfalls im Kategorienaufsatz vorkommenden
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und schon in früheren Schriften angeführten Ebd., unten, S. 392.
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– „Affekthandlungen“ und des traditionalen Handelns. Doch wird er sich auch in den Erläuterungen zu dieser Typologie weder auf den die Unterscheidung zwischen den rationalen und den nichtrationalen Typen ermöglichenden Rationalitätsbegriff noch auf den umfassenderen Begriff „qualitativer Rationalität“ einlassen, obwohl seine Deutung der Sinnhaftigkeit als „Kommunikabilität“ in diese Richtung weist. Vgl. oben, S. 9 mit Anm. 38.
Mit diesem Problemkomplex ist Webers Abgrenzung der Soziologie von der Psychologie im Kapitel II eng verknüpft. Immer wieder, besonders nachdrücklich in der Auseinandersetzung mit Simmel,
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hatte er das soziologische Verstehen dadurch vom psychologischen unterschieden, daß es nicht auf psychische Zustände und Abläufe, sondern auf „das Rationale“ ziele, und mit diesem Rationalen waren die vom psychischen Geschehen abhebbaren und als solche verstehbaren, sinnhaften, „qualitativen“ Bestimmungsgründe menschlichen, auf das Verhalten Anderer bezogenen Verhaltens gemeint. Vgl. dazu oben, S. 28 mit Anm. 53.
Die Auffassung, daß „die verstehende Soziologie […] nicht Teil einer ‚Psychologie‘“ sei, wird im Kategorienaufsatz bekräftigt.
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Allerdings wird hier [73]dem Psychischen oder Psychologischen das „Rationale“ nicht ohne nähere Bestimmung, sondern im Hinblick darauf entgegengesetzt, daß ein Handeln desto weniger „durch irgendwelche psychologischen Erwägungen überhaupt sinnhaft verständlicher“ werde, je eindeutiger es zweckrational, gar „dem Typus der Richtigkeitsrationalität entsprechend“ orientiert sei. Weber, Kategorien, unten, S. 396. Seit Roscher und Knies, sehr entschieden auch in den Antikritiken zur Protestantischen Ethik, stellt sich Weber der verbreiteten Auffassung entgegen, daß die kultur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnis einer psychologischen Fundierung bedürfe, ihre Erklärungen sich also letztlich psychologischer Begriffe und Theoreme bedienen müßten. Besonders einflußreich war in dieser Hinsicht Wilhelm Dilthey, der diese Rolle allerdings einer nicht (nach naturwissenschaftlichem Vorbild) „erklärenden“, sondern „beschreibenden und zergliedernden“ Psychologie zuschrieb. Auch diese verstehende Psychologie ist nicht mit einer – durchaus von Dilthey, daneben vor allem von Husserl beeinflußten, von Heidegger zuerst, und zwar auch im Blick auf die Grundlagenprobleme wissenschaftlicher Erkenntnis, ausgeführten – Hermeneutik gleichzusetzen (vgl. Gadamer, Hans-Georg, Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule, in: ders., Gesammelte Werke, Band 10. – [73]Tübingen: Mohr Siebeck 1995, S. 185–205 (hinfort: Gadamer, Hermeneutik), hier S. 188). Hier wäre die Frage anzuschließen, ob nicht Webers Kritik der Sache und auch seiner Argumentationsweise nach in die Richtung einer Hermeneutik der geschichtlichen, lebensweltlichen Faktizität weist und genau darin Anschlußmöglichkeiten bei Gottl findet (dessen Wertschätzung als eines besonders gründlichen und klarsichtigen Methodologen Weber zwar äußert, aber nicht mit einer solchen Konvergenz erklärt).
96
Weber, Kategorien, unten, S. 396.
In seiner derart noch einmal bekräftigten Position sah sich Weber im Kategorienaufsatz vor allem durch die Notwendigkeit herausgefordert, das Verhältnis seiner verstehenden Soziologie zu einer verstehenden Psychologie zu klären, deren Gegenstandsbereich gerade nicht die „nackt psychischen“,
1
also „absolut unverständlichen psychischen Gegebenheiten“ sind. Ebd., unten, S. 394 und 395.
2
Eine solche Psychologie hatte Karl Jaspers, wesentlich beeinflußt von Webers methodologischen Reflexionen, neuerdings ausgearbeitet. Webers – ausdrücklich vorläufige – Erörterungen heben so auch weniger auf eine klare Abgrenzung ab als darauf, was von einer solchen „verstehend psychologischen Arbeit“, Ebd., unten, S. 397. Von diesen „Gegebenheiten“ werden von Weber in einer eher beiläufigen, bei ihm auch sonst ungebräuchlichen Formulierung „sinnhaft verstandene seelische Zusammenhänge“ (ebd., unten, S. 401) unterschieden.
3
unter Berücksichtigung der Psychopathologie und „gewisse[r] Teile der Arbeit der sog. Psychoanalyse“, Ebd., unten, S. 398.
4
im Hinblick auf den Umkreis bzw. die Abstufungen Ebd.
5
eines „sinnhaft verständlichen“ Sichverhaltens zu lernen und, [74]als jedenfalls „soziologisch relevant“, Weber führt in diesem Zusammenhang (ebd., unten, S. 400) den – später nicht mehr verwendeten – Begriff „Richtigkeitstypus“ ein, definiert als „faktische objektive Richtigkeitsrationalität“ (unten, S. 398). Er fungiert als oberster in einer absteigenden 6-stufigen Skala, in der an unterster Stelle „die ganz unverständlichen psychischen oder physischen Tatbestände ,in‘ und ,an‘ einem Menschen“ stehen (unten, S. 400). Diese am Grad sinnhafter Verständlichkeit orientierte Typologie wird in keiner Weise in die Grundbegriffe übernommen, sondern vollständig aufgegeben und durch die logisch ganz anders angelegte Systematik der vier Typen sozialen Handelns ersetzt. Jene Skala erweckt zumindest den Anschein, es gehe um Abstufungen ein und derselben Verständlichkeitsanforderung, und zwar auch deshalb, weil Weber bemerkt, die nächsthöhere Stufe könne als Idealtypus für die folgende fungieren. In den Grundbegriffen handelt es sich dagegen um vier sinnhaft klar unterschiedene Motivationstypen mit je eigenen Konstruktions- und Verständlichkeitsanforderungen, und das gilt, ungeachtet einer gewissen methodischen (resp. heuristischen) Sonderstellung, auch für den zweckrationalen Typus.
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in den Erklärungshorizont der Verstehenden Soziologie einzubeziehen wäre.[74] Weber, Kategorien, unten, S. 395.
7
Demnach gehören in diesen Umkreis nicht nur zwar (subjektiv) unbewußte, aber dem psychologischen (und so auch dem soziologischen) Verstehen zugängliche sinnhafte Motive und Formen einer Verknüpfung von subjektiv oder objektiv Rationalem und Irrationalem, sondern auch psychische Faktoren wie der „Geschlechtstrieb“ Das psychologische Verstehen – im Sinne von Karl Jaspers, nicht der gegen Simmel gerichteten Unterscheidung von (nur) psychologischem und „rationalem“ Verstehen – ist ganz wie das soziologische ein sinnhaftes und „motivationales“ Verstehen, dies aber unter Ausblendung der Sinndimension der Sozialität, also dessen, was aus soziologischer Perspektive im „subjektiv gemeinten Sinn“ als (sinnhafter) Bezug „auf das Verhalten anderer“ vorkommt und kausal wirksam ist. Psychologisches Verstehen dieser Art verhält sich also zum soziologischen wie Handeln tout court zum sozialen Handeln. – Zur Affinität und zur – vor allem die Rolle von „Einfühlung“ betreffenden – Differenz der Auffassung des psychologischen Verstehens bei Weber und Jaspers sowie zum Einfluß der (antipsychologistischen) Phänomenologie Edmund Husserls vgl. Frommer, Sabine und Frommer, Jörg, Der Begriff des psychologischen Verstehens bei Max Weber, in: Psychologie und Geschichte, 2. Jg., Heft 1, 1990, S. 37–44. Ihre Unterscheidung des psychologischen als eines „irrational motivationsmäßigen erklärenden“ Verstehens von einem „rational-motivationsmäßig erklärenden“ entspricht einem bei Weber vorzufindenden Wortgebrauch. Sie läßt sich aber wie bei Weber nicht problemlos mit der zutreffenden Feststellung verbinden, daß die gemeinten „irrationalen“, d. h. affektuellen Motive wie die „rationalen“ anders als psycho-physische Faktoren „bewußtseinsfähig“ (ebd., S. 40 f.) und auf ihre Weise hinsichtlich ihres (sinnhaften) „Inhalts“ (ebd.) sogar in „voller Evidenz“ (ebd., S. 38) verstehbar seien.
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oder bestimmte „‚Charakter‘-Qualitäten“. Weber, Kategorien, unten, S. 397.
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Ebd., unten, S. 401.
Die im zweiten Teil eingeführten und erläuterten Handlungs- und Ordnungsbegriffe korrespondieren teilweise der im „alten Manuskript“ von Wirtschaft und Gesellschaft verwendeten Terminologie.
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In dem von Weber noch für die [75]Publikation bearbeiteten ersten Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“, den Grundbegriffen, finden sich die Handlungsbegriffe gar nicht, die Ordnungsbegriffe („Verband“ und „Anstalt“) an anderer, und zwar nachgeordneter Stelle (§§ 12, 15) im Begriffssystem, während einige eher am Rande getroffene begriffliche Unterscheidungen (Sitte und Konvention im Verhältnis zum Recht, Kampf, offene und geschlossene Vergesellschaftung) in dessen ‚Unterbau‘ (§§ 4, 6, 8, 10) eingegliedert werden. Dem steht nicht entgegen, daß die meisten der vielen Unterscheidungen der Sache nach ihre Zweckmäßigkeit und Gültigkeit auch dann zu behalten vermögen, wenn sie sich auf der terminologischen Ebene nicht mehr wiederfinden. Zur im Kategorienaufsatz zusammenhängend dargelegten und in den Texten des „alten Manuskripts“ – nicht durchgehend und gleichmäßig – vorkommenden Begrifflichkeit vgl. Mommsen, Entstehung (wie oben, S. 63, Anm. 45), und Lichtblau, Begriffsbildung (wie oben, S. 69, Anm. 82), insbes. S. 261–265. Die letztgenannte Abhandlung ist außerdem sehr instruktiv, was die Klärung und Ordnung dieser Begrifflichkeit sowie die Art und Bedeutung der in den „Grundbegriffen“ vollzogenen Veränderungen angeht; vgl. zu diesem ganzen Problemkomplex darüber hinaus die Untersuchungen von Schluchter, Wolfgang, Max Webers Beitrag zum „Grundriss der Sozialökonomik“. Editionsprobleme und Editionsstrategien, in: KZfSSp, 50. Jg., Heft 2, 1998, S. 327–343, und Orihara, Hiroshi, Eine Grundlegung zur Rekonstruktion von Max Webers ,Wirtschaft und Gesellschaft‘. Die Authentizität der Verweise im Text des ,2. und 3. Teils‘ der 1. Auflage, in: ebd., 46. Jg., 1994, S. 103–121; ders., Max Webers Beitrag zum „Grundriss der Sozialökonomik“, in: ebd., 51. Jg. 1999, S. 724–734. – In diesem Kontext wendet sich Lichtblau, Begriffsbildung, S. 264 f., auch, in Übereinstimmung mit Schluchter (1998), gegen die von Orihara (1999 u.ö.) vertretene Annahme, beim Kategorienaufsatz handele es sich um den „Kopf“ des „alten Manuskripts“.
Noch stärker als im ersten Teil des Kategorienaufsatzes und in deutlicher Differenz zu der in den Grundbegriffen bestimmenden Definitionslogik orientiert sich die Begriffsbildung in diesem zweiten Teil an der Frage resp. am Kriterium der Rationalität.
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Das in dieser Hinsicht indifferente „Gemeinschaftshandeln“ zerfällt in den „lediglich […] durch Satzung geordneten Spezialfall“ des (insofern „rationalen“) Gesellschaftshandelns einerseits,[75] In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß Weber, wie bereits oben, S. 68, Anm. 73, erwähnt, im Kategorienaufsatz eher beiläufig zwischen „erwartungsorientiert[em]“ (vor allem im Sinne von „zweckrationalem“) und „wertorientiert[em]“ Handeln unterscheidet, und zwar ganz im Sinne der späteren Definition von „wertrational“.
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das eine zwanglose Übereinstimmung und Kommunikabilität im als ob-Modus unterstellende „Einverständnishandeln“ andererseits. Weber, Kategorien, unten, S. 426.
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Ganz analog unterscheiden sich auch Anstalt und Verband. Bei ersterer ist wegen der Orientierung an einer „zweckrational gesetzten“, Ebd., S. 417 f.
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obzwar nicht, wie beim „Zweckverein“, Ebd., unten, S. 409.
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freiwillig übernommenen, sondern verbindlich vorgegebenen bzw. „oktroyierten“ Ebd., unten, S. 412 („Zweckverein“) und S. 432 („Anstalt“).
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Ordnung der (zweck-)rationale Charakter der Gemeinschaft und des „subjektiv gemeinten“ Handlungssinns per definitionem explizit und konstitutiv. Demgegenüber orientiert sich das „Verbandshandeln“ an einem mehr oder minder bewußten „Einverständnis“, das eine Ordnung nicht nur geregelt und insofern berechenbar, sondern – wie im sehr wichtigen Fall eines Herrschafts- oder Legitimitäts-Einverständnisses – auch wohlbegründet und gültig erscheinen läßt. Ebd., unten, S. 435.
Weber wird hier wie auch sonst durchgängig nicht müde zu betonen, daß die begrifflichen Unterscheidungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit „flüssig“, Mischformen und unmerkliche Übergänge die Regel seien.
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Das [76]die begrifflich (d. h. immer idealtypisch) unterschiedenen Handlungsformen Verbindende, damit aber auch die Übergänge zwischen ihnen in spezifischer Weise Ermöglichende und Befördernde ist ihre Sinnbezogenheit, also der Umstand, daß hier Handeln sinnhaft auf anderes Handeln bezogen und daran in seinem Ablauf orientiert ist. Allerdings beziehe sich, bemerkt Weber, erwartungsgeleitetes Handeln auch auf sinnhaft Unverstehbares (Naturobjekte, Säugling). Das „an Erwartungen sinnhaften Handelns orientierte Handeln“ sei insofern nur der „rationale Grenzfall“. Ebd., unten, S. 426. Das zeigt sich beispielhaft an der Unterscheidung zwischen Gemeinschaftshandeln überhaupt, „einfachem“ oder „bloßem“ Gemeinschaftshan[76]deln, „einverständnisbedingte[m] Gemeinschaftshandeln“ (ebd., S. 425) und Einverständnishandeln überhaupt. Nimmt man die (schon zitierte) Bemerkung (ebd., S. 426) hinzu, daß das Gesellschaftshandeln „lediglich“ ein „Spezialfall“ des Einverständnishandelns sei, sowie den Umstand, daß an anderer Stelle (ebd., S. 411) auch gesagt wird, es könne eine Form annehmen, in der es zum „absolute[n] Grenzfall“ des „bloßen Gemeinschaftshandeln[s]“ werde, drängt sich die Frage auf, ob es sich hier überhaupt um zweckmäßige begriffliche Unterscheidungen handelt. Offenbar hat Weber sie in den Grundbegriffen nicht zuletzt wegen mangelnder Zweckmäßigkeit und Trennschärfe aufgegeben und mit Hilfe anderer Unterscheidungskriterien ersetzt. Dabei wird die Typologie der vier Hauptformen sinnhaft-verständlicher Motivation vorrangig wichtig, so bei der neuen Unterscheidung von „Vergesellschaftung“ und „Vergemeinschaftung“ (Weber, Soziologische Grundbegriffe § 9, MWG I/23, S. 194–198) oder der Disjunktion „offene und geschlossene Beziehungen“ (ebd., § 10, S. 198–202).
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Weber, Kategorien, unten, S. 407.
Nicht nur unausgesprochen wie sonst vielfach, sondern explizit setzt Weber damit „rational“ in einem sehr elementaren Sinne mit „sinnhaft motiviert“ und insofern „sinnhaft verständlich“ gleich. Diese zwar ausdrückliche, aber auch an dieser Stelle in den Grundbegriffen nicht thematisierte Gleichsetzung erklärt sich wie im ersten Teil des Kategorienaufsatzes und auch sonst bei Weber zunächst mit der Orientierung am handelnden Menschen und mit der daraus sich ergebenden methodischen Sonderstellung der Zweckrationalität. Tatsächlich aber ist diese im zweiten Teil weniger leitend als ein anderer, allgemeinerer Begriff von Rationalität, und zwar ein solcher, bei dem „rational“, wenn nicht rechtlich oder rechtsförmig, so doch rechtsähnlich bedeutet derart, daß eine rechtliche oder rechtsförmige Orientierung oder Ordnung zur Annäherung an faktisch Gegebenes dienen kann – auf Seiten der Akteure wie der (etwa soziologischen) Beobachter.
Der größere Problem- und Arbeitszusammenhang, in dem der Kategorienaufsatz entstand, läßt auch verstehen, warum Weber sich in zwei Passagen auf historisch auffällige Prozesse der Rationalisierung einläßt und dabei unter Rationalisierung eine zunehmende Umstellung auf zweckrationale Ordnungsformen und eine damit eng verknüpfte, aber nicht identische, zunehmende Verrechtlichung versteht.
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Das betrifft zunächst die in der Geschichte „oft“ [77]zu beobachtende „Stufenleiter“ von der „Gelegenheitsvergesellschaftung“ zu „perennierenden ,Gebilde[n]‘“ mit dem durch die „Vereinbarung genereller Regeln“ und die „Existenz eigener Verbands organe“ ausgezeichneten Zweckverein als terminus ad quem („rationalem Idealtyp“). Lichtblau, Begriffsbildung (wie oben, S. 69, Anm. 82), S. 266, bemerkt, daß die „Marktvergesellschaftung“ (oder auch, gleichbedeutend: „Marktvergemeinschaf[77]tung“) im Kategorienaufsatz wie auch im „alten Manuskript“ noch nicht als zweite, eigenständige Form rationaler Ordnung im Blick stehe.
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Damit aber konvergiert nach Weber ein gleichsam von der anderen Seite, vom verbandsförmig geordneten Einverständnishandeln ausgehendes und den „Verlauf der für uns übersehbaren geschichtlichen Entwicklung“ betreffendes Geschehen: Zwar gebe es keinen „Ersatz“ (sic) des Einverständnishandelns durch Vergesellschaftung, wohl aber sei „eine immer weitergreifende zweckrationale Ordnung des Einverständnishandelns durch Satzung und insbesondere eine immer weitere Umwandlung von Verbänden in zweckrational geordnete Anstalten zu konstatieren“. Weber, Kategorien, unten, S. 417, 415 und 412 (zum Idealtypus).
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Ebd., unten, S. 437.
Daß Weber die „einigen Kategorien der verstehenden Soziologie“ gewidmete Abhandlung in dieser Weise beschließt, hat gewiß mit den angesprochenen Begleitumständen ihrer Abfassung zu tun. Die Einsicht in die Dialektik der sozio-ökonomischen und kulturellen Rationalisierung aber findet sich sehr viel früher, so im Umkreis von Webers Aktivitäten für den Evangelisch-sozialen Kongreß („Verunpersönlichung“) und dann in der Protestantischen Ethik („stahlhartes Gehäuse“), und sie gehört zu den zwar unausgesprochenen, aber wesentlichen Motiven der Wendung zur Soziologie. Im „spezifisch gearteten ,Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“ erkennt er eine bestimmende Thematik und Herausforderung seiner Soziologie.
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Ihr ist nur im Bezugsrahmen einer (zu entwerfenden) „Typologie und Soziologie des Rationalismus selbst“ Weber, Vorbemerkung, MWG I/18, S. 101–121, hier S. 116.
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zu entsprechen, und zwar auch in Gestalt einer Selbstthematisierung der Soziologie, welche die Rationalisierung qua „Verwissenschaftlichung“ und deren Dialektik nicht nur beobachtet, sondern nolens volens auch befördert. Weber, Zwischenbetrachtung (zuerst 1915), MWG I/19, S. 479–522, hier S. 481.
12. Anstöße und Einflüsse
In der ersten Fußnote des Kategorienaufsatzes gibt Weber Hinweise auf Autoren und Arbeiten, denen er Anregungen verdankt. Diese Hinweise sind nach Zahl, Umfang und Art durchaus zurückhaltend, und sie werden im Text kaum aufgenommen. Darüber hinaus beziehen sie sich in ihrer Mehrheit auf erkenntnistheoretische und methodologische Fragen (Simmel, Rickert, Jas[78]pers, Gottl, Radbruch sowie, wenn auch nur „indirekt“ in Betracht kommend, Husserl und Lask). Hinsichtlich der besonderen Anlage und Zielsetzung der Verstehenden Soziologie besteht Weber, „teilweise abweichend von Simmels Methode“, auf der scharfen Scheidung des subjektiv gemeinten vom objektiven Sinn, hinsichtlich der (vor allem abweichenden) Begrifflichkeit verweist er auf Tönnies und „Arbeiten A[lfred] Vierkandts und Anderer“ sowie auf Stammler und die von ihm angerichtete Begriffsverwirrung.
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[78] Weber, Kategorien, unten, S. 390, Fn. 1. Ausdrückliche Bezüge zu anderen soziologischen Konzeptionen finden sich im Text des Kategorienaufsatzes so gut wie gar nicht. Gelegentlich (unten, S. 420 f.) wendet sich Weber allerdings dagegen, Sozialität im ganz elementaren und allgemeinen Sinne als „Gleichartigkeit“ des Handelns oder als „Nachahmung“ (wie bei Gabriel Tarde, Les lois de l’imitation, 1890; Les lois sociales. Esquisse d’une sociologie, 1898, deutsche Ausgabe Leipzig 1907; die französische Ausgabe hatte Simmel in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Band 2, 1891, S. 141 f., besprochen) zu bestimmen – oder eben als „Wechselwirkung“, wie es vor allem Georg Simmel, aber nicht er allein, getan hatte.
Diese Bemerkungen vermitteln den Eindruck, daß Weber, als er sich der Entwicklung der Verstehenden Soziologie zuwandte, fast vollständig auf Inspirationen, Vorgaben oder produktive Herausforderungen von Seiten anderer Soziologen verzichten mußte. Das deckt sich mit der Selbsteinschätzung, die er, vornehmlich bezogen auf seinen Handbuch-Beitrag, im Laufe des Jahres 1913 in mehreren Briefen an Paul Siebeck zum Ausdruck brachte und den noch weiter reduzierten Angaben in der „Vorbemerkung“ zu den Grundbegriffen,
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aber auch mit der Beobachtung, daß die Fachwelt ihrerseits dem Kategorienaufsatz So wird Vierkandt nicht mehr genannt, stattdessen Spanns „universalistische[r] Methode“ (MWG I/23, S. 166) ein zumindest heuristischer Nutzen (in der Form einer „funktionalen Vorfragestellung“) zugesprochen.
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ebenso wie den Grundbegriffen mit auffällig wenig Verständnis und kaum erkennbarer Anschlußbereitschaft begegnete. Auf eine der – offenbar spärlichen – Reaktionen bezieht sich Weber in seinem Brief an Hermann Kantorowicz vom 29. Dezember 1913, MWG II/8, S. 442 f., hier S. 442: „‚Verstehende Soziologie‘ – unverständlich? und Ihnen? – ‚wenn das am grünen Holz geschieht‘, – wie miserabel muß ich formuliert haben!“
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Wie wenig die Eigenart und Tragweite der Verstehenden Soziologie Webers auch nach seinem Tod begriffen und anerkannt wurde, läßt sich an der (Nicht-)Behandlung ablesen, die sie in Alfred Vierkandts Handwörterbuch der Soziologie (1931) findet, vor allem an den Beiträgen zu „Hauptrichtungen, Aufgaben, Verfahren“ (Theodor Geiger) der Soziologie und zu ihrer Geschichte (Hans Lorenz Stoltenberg); dieselbe Einsicht vermittelt auch: Thurnwald, Richard (Hg.), Soziologie von heute. Ein Symposion der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie. – Leipzig: C. L. Hirschfeld 1932. Die von Melchior Palyi schon 1923 herausgegebene, zweibändige „Erinnerungsgabe für Max Weber“ (Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, 2 Bände. – München, Leipzig: Duncker & Humblot 1923; hinfort: Erinnerungsgabe I–II) ist dagegen noch von einer lebendigen, intensiven Auseinandersetzung mit Webers Werk bestimmt; vgl. im gegebenen Zusammenhang vor allem die Beiträge von Gerhart von Schulze-Gaevernitz (Max Weber als Nationalökonom und Politiker, ebd. I, [79]S. XIII–XXII), Hermann Kantorowicz (Der Aufbau der Soziologie, ebd. I, S. 73–96) und Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld (Freiheit vom Worte, ebd. I, S. 97–152).
[79]Georg Simmel wird von Weber weder 1913 noch 1920 als bedeutender, beispielhafter oder jedenfalls (theoretisch) ernst zu nehmender Soziologe angeführt, und doch ist, wie gezeigt wurde, die von ihm ausgehende Herausforderung außerordentlich, und sie wirkt durchaus nicht nur ex negativo. Daß Weber, wie er 1909 Herkner geschrieben hatte,
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„auch Simmel“ zusammen mit Lamprecht, Ostwald, Stammler und Vierkandt zu denen rechnete, deren Soziologie-Verständnis er nur mit entschiedener „wissenschaftliche[r] Kritik“ begegnen zu können glaubte, erscheint durch den Ertrag der näheren Beschäftigung mit Simmels Soziologie nicht gedeckt. Brief Max Webers an Heinrich Herkner vom 11. Mai 1909, MWG II/6, S. 121–123, hier S. 121.
Tatsächlich gibt es nur einen Gelehrten, den Weber als Soziologen ausdrücklich, unzweideutig und dauerhaft hoch schätzte: Ferdinand Tönnies. Das hatte, wie er bemerkt, seinen Grund in dessen „dauernd wichtigem Werk“,
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aber gewiß auch in seinen Verdiensten um die Entwicklung und Verwendung statistischer Verfahren. Weber, Kategorien, unten, S. 389 f., Fn. 1; vgl. dazu die oben, S. 27, Anm. 47, bereits zitierte Bemerkung im Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies vom 29. August 1909, daß er den „Gedankengang“ dieses Werks für sich wenigstens „in Auszügen skizziert“ habe. Auch bedankt er sich dort für das Büchlein „Die Sitte“ (Frankfurt a.Μ.: Rütten und Loening 1909), das er mit „Interesse und Belehrung“ gelesen habe. Dieses Handexemplar „mit einigen Anstreichungen“ befindet sich in der Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München.
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Von einer tiefreichenden Einwirkung auf die Konzeption und Ausarbeitung der Verstehenden Soziologie ist aber hier nicht zu sprechen, jedenfalls weniger als bei Georg Simmel. Der direkte Einfluß von Tönnies beschränkt sich im Wesentlichen auf die Gemeinschaft-Gesellschaft-Dichotomie. Vgl. dazu den Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies vom 2. Juni 1914, MWG II/8, S. 699 f.; Weber bezieht sich auf den Vortrag „Über eine Methode moralstatistischer Forschung“, den Tönnies auf dem Heidelberger Internationalen Kongreß für Philosophie 1908 gehalten und den Weber in einem Brief an Edgar Jaffé (am oder nach dem 4. September 1908, MWG II/5, S. 654 f., hier S. 654) als „das beste“ bezeichnet hatte, das er „außer ‚Gemeinschaft u. Gesellschaft‘“ von Tönnies kenne.
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Im Kategorienaufsatz wird sie aber gerade nicht im Sinne einer eindeutigen begrifflichen Disjunktion und Opposition verwendet, obzwar deren – für Tönnies wichtige – entwicklungsgeschichtliche Mitbedeutung der Sache nach von Weber thematisiert wird. In die Grundbegriffe dage[80]gen nimmt Weber die im Anschluß an Tönnies bestimmte Unterscheidung Vergemeinschaftung-Vergesellschaftung auf, dies jedoch an nachgeordneter Stelle und ohne entwicklungsgeschichtliche Konnotation und Zuordnung. Vgl. dazu Mommsen, Entstehung (wie oben, S. 63, Anm. 45), S. 25 ff. Im Blick darauf bemerkt Weber so auch in seinen Exzerpten zu Simmels Unterscheidung unpersönlicher von persönlichen Unterordnungsverhältnissen (Soziologie, S. 197 f., mit Marginalien im Handexemplar): „Hier hätte S[immel] Tönnies berücksichtigen sollen“ (Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 544). Dieselbe begriffliche Disjunktion ist offenbar gemeint, wenn Weber an späterer Stelle (zu S. 451) nur den Namen „Tönnies“ vermerkt (ebd., unten, S. 550).
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[80] Eine implizite und mittelbare Übernahme der Unterscheidung kann man, mit Lichtblau, Begriffsbildung (wie oben, S. 69, Anm. 82), darüber hinaus darin sehen, daß sich je zwei der Weberschen Typen des Handelns unter Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung subsumieren lassen.
Dem Hinweis Webers auf eine Bedeutung Vierkandts für die Verstehende Soziologie entsprechen keinerlei erkennbare Spuren. Tatsächlich zeigen die kurz nach Webers Tod veröffentlichten Arbeiten Vierkandts sehr deutlich, daß sein Verständnis von „formaler Soziologie“ als einer „Lehre von den Eigenschaften der Gruppe oder als Theorie der Wechselwirkungen“
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nichts mit der Verstehenden Soziologie gemeinsam hat. In Vierkandts Literaturhinweisen kommt Weber nicht vor, in Fragen der „Begriffsbildung und der Terminologie“, bemerkt er, sei Weber „der Gefahr des Dilettantismus nicht ganz entronnen“. Insbesondere: Vierkandt, Alfred, Hauptprobleme der philosophischen Soziologie. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1923, S. 11, 13 ff., 33 f.
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Ebd., S. 11.
Was die erkenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen und die begrifflich-theoretische Anlage der Verstehenden Soziologie angeht, wird hinsichtlich der Verstehensproblematik auf Simmel, sowie, aus den beschriebenen Gründen,
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auf Karl Jaspers verwiesen. In diesem Zusammenhang auffällig ist dagegen der Hinweis auf Rickerts „Bemerkungen“ in der 2. Auflage der Grenzen. Er bezieht sich auf die darin eingefügten Darlegungen über „Sinn“, und „Verstehen“. Vgl. oben, S. 74 mit Anm. 7.
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In der „Vorbemerkung“ zu den Grundbegriffen werden sie zutreffend als „einige Bemerkungen“ qualifiziert, Rickert, Grenzen2, S. VII, 181 ff., 516 ff.
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doch hätten sie Weber immerhin veranlassen können, sich im Kategorienaufsatz einerseits auf Rickerts scharfe Trennung „psychischer Wirklichkeiten“ von den „an ihnen haftenden Sinngebilden“ Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 147.
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und das auf sie gerichtete „historische Verstehen“ Rickert, Grenzen2, S. 518.
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zu beziehen, andererseits aber auch auf Rickerts Behauptung, diese „Sinngebilde“ hätten nur „wegen ihrer Wertbezogenheit einen für uns verständlichen Sinn“. Ebd., S. 521 f.
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Die hier bestehende Differenz der Auffassungen wäre noch deutlicher hervorgetreten, hätte Weber, Rickerts Hinweis folgend, auch dessen Überlegungen über die „Deutung“ des – als „drittes Reich“ neben den Wirklichkeiten und den Werten eingeführten – Sinns berücksichtigt, die Rickert [81]schon in der Abhandlung „Vom Begriff der Philosophie“ Ebd.
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entwickelt hatte. Es ist ganz offensichtlich, daß Weber im Umkreis der Entwicklung der Verstehenden Soziologie keinen Grund resp. keine Möglichkeit sah, die Nähe zu Rickerts Erkenntnis- und Wissenschaftslehre besonders hervorzuheben.[81] Rickert, Heinrich, Vom Begriff der Philosophie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für die Philosophie der Kultur, Band 1, 1910/11, S. 1–34.
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Zu Webers letztem – und vergeblichem – Versuch, Heinrich Rickert von der Möglichkeit und Eigenart seiner Verstehenden Soziologie und ihrer Begriffsbildung zu überzeugen, vgl. seinen Brief vom 26. April 1920, MWG II/10, S. 1040 f. Henrich, Dieter, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1952, S. 4 bezweifelt, daß sich Weber „je mit seiner [Rickerts] Erkenntnislehre eingehender befaßt“ habe, die Grundlage seiner Methodologie liege vielmehr in seiner „Anthropologie“ (ebd., S. 3). Diese Auffassung übernimmt Hennis, um sie zum Dreh- und Angelpunkt seiner Weber-Deutung zu machen (vgl. insbes.: Hennis, Wilhelm, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1996, S. 10 ff., und ders., Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, ebd. 1987, S. 113. – Zur jedenfalls begrenzten und mit der Zeit weiter abnehmenden Bedeutung Rickerts nicht nur in philosophischer, sondern auch in methodologischer Hinsicht: Bruun, Hans Henrik, Weber and Rickert. From Value Relation to Ideal Type, in: Max Weber Studies, I.2, 2001, S. 138–161; dort auch, S. 157–159, Abdruck des einschlägig wichtigen „Nervi-Fragments“; vgl. Bruun, Hans Henrik, Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology. New Expanded Edition. – Aldershot: Ashgate 2011, S. 28, und Bruun, Hans Henrik and Whimster, Sam, Introduction, in: Max Weber. Collected Methodological Writings. – London, New York: Routledge 2014, S. XI–XXVIII, hier S. XVIII ff. Ähnlich argumentiert auch Scholz, Oliver R., Heinrich Rickert und Max Weber. Von der Logik der historischen Wissenschaften zur Wissenschaftslehre der Soziologie, in: Wagner/Härpfer, Webers vergessene Zeitgenossen (wie oben, S. 9, Anm. 37), S. 161–192. – Demgegenüber wird die tatsächliche Bedeutung der wertphilosophischen Erkenntnistheorie Rickerts für Weber von Guy Oakes (Max Weber und die Südwestdeutsche Schule: Der Begriff des historischen Individuums und seine Entstehung, in: Mommsen, Wolfgang J. und Schwentker, Wolfgang (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 595–612) sehr überschätzt, damit auch die schädlichen Folgen ihrer – sehr zu Recht konstatierten – Unklarheit und Unhaltbarkeit für Webers Methodologie. Das von Oakes (ebd., S. 602–604) über Lasks Bedeutung für Weber Gesagte leidet darunter, daß er dabei nur das Fichte-Buch zu Rate zieht.
Das Verhältnis der Rickertschen Logik qua „Geltungsphilosophie“ zu deren Aus- und Umarbeitung durch Emil Lask ist im gegebenen Zusammenhang nicht zu erörtern.
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Die von Rickert so nachdrücklich vertretene „Prioritätsleh[82]re“, Eine gründliche Beschäftigung mit Lasks Werk spricht aus den vielen An- und Unterstreichungen nebst (wenigen) Randnotizen, die sich in Webers Handexemplaren (Diözesanbibliothek Aachen) von Lask, Emil, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911 (hinfort: Lask, Logik; Marianne und Max Weber von Emil Lask persönlich gewidmet), und, in geringerem Maße, ders., Fichtes Idealismus und die Geschichte, ebd. 1902, finden. „Fichtes Idealismus“ hatte Weber, Roscher und Knies I, S. 16, als „vorzügliche Arbeit eines sehr begabten Schülers von [82]Rickert“ angeführt. Nur „Max Webers Versuche, ähnliches für Struktur und Aufbau der Sozialwissenschaften zu leisten“, könnten, urteilt Georg Lukács, mit Lasks „Unternehmen […] parallelisiert werden“ (Lukács, Georg, Emil Lask. Ein Nachruf, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift, 22. Band, 1918, S. 349–370, hier S. 352). Im übrigen werden von Lukács grundlegende Abweichungen von Rickerts „Wertphilosophie“ in Lasks späteren Schriften (zumal der Logik der Philosophie) hervorgehoben (z. B. ebd., S. 353, 363, 365), Bezüge zur Phänomenologie angedeutet (ebd., S. 359).
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also die Lehre vom Vorrang des Sollens vor dem Sein, des Werts vor dem Sinn, teilt Lask durchaus nicht. Damit übernimmt er genau das nicht, was für Rickert die differentia specifica seiner Logik gegenüber allen anderen transzendentalphilosophischen Konzeptionen und auch gegenüber Edmund Husserl ausmacht: Nur er, Rickert, habe aus dem gemeinsamen Antipsychologismus die Konsequenz gezogen, daß „das ‚Unwirkliche‘ auch auf theoretischem Gebiet nicht in einer Seinslehre, sondern in einer Wertlehre philosophisch behandelt“, das „Wesen der Logik als Wertwissenschaft“ aufgefaßt werden müsse. Lask, Logik (wie oben, S. 81, Anm. 43), S. 43; zum Sinn- und Geltungsbegriff: ebd., S. 15, 33 ff.
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Rickert, Heinrich, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, 6., verb. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1928, S. 270 f.
Webers Hinweis auf die, „wenn auch mehr indirekt[e]“ Bedeutung Husserls und Lasks in der Fußnote zum Kategorienaufsatz
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macht deutlich, daß er sich ihnen in diesen erkenntnistheoretischen Grundfragen (mit ihren weitreichenden methodologischen Implikationen) verpflichtet sieht. Weber, Kategorien, unten, S. 390, Fn. 1.
Edmund Husserls Bedeutung liegt, wie schon in den frühen methodologischen Arbeiten, vor allem in der höchst einflußreichen Kritik des „Psychologismus“, die Husserl zuerst mit großer Ausführlichkeit in Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik,
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in konzentrierter Form in Philosophie als strenge Wissenschaft, Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. – Halle: Max Niemeyer 1900. Besonders wichtig war für Weber wohl der zweite Teil: dass. Zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, ebd. 1901, vor allem Kap. V (Über intentionale Erlebnisse und ihre ‚Inhalte‘).
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vorgetragen hatte. Als herausragende Vertreter einer sich ausbreitenden „naturalistischen Axiologie und Praktik, darunter die Ethik“ überhaupt, Husserl, Edmund, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos, Band 1, 1910/11, S. 289–341.
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gelten ihm Ernst Häckel und Wilhelm Ostwald, an einer durchgreifenden „Naturalisierung des Bewußtseins“ resp. „Naturalisierung der Ideen“ und einem entsprechenden „wissenschaftlichen Fundament“ für „Logik und Erkenntnistheorie, Ästhetik, Ethik und Pädagogik“ [83]arbeiteten die „psychophysische und ganz besonders die experimentelle Psychologie“. Ebd., S. 295.
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[83] Ebd., S. 295, 297. Webers über die Kritik des Psychologismus hinausgehende Rezeption Husserls und der Phänomenologie wäre, wie Grossein, Introduction (wie oben, S. 67, Anm. 72) bemerkt, einer eigenen Untersuchung wert und bedürftig. Nicht von ungefähr wird diese Rezeption vor allem in Verbindung mit der unterschätzten Bedeutung Diltheys und dem ambivalenten Verhältnis zu Rickert thematisiert; vgl. dazu z. B. Rossi, Pietro, Weber, Dilthey und Husserls Logische Untersuchungen, in: Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner und Heinz Zipprian. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 199–223, und Gadamer, Hermeneutik (wie oben, S. 73, Anm. 95). – Ein instruktiver Beitrag zur damaligen Debatte ist: Linke, Paul F., Das Recht der Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung mit Th. Elsenhans, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift, 21. Band, 1917, S. 163–221.
Besonders bemerkenswert ist Webers Verweis auf Friedrich Gottl. Zwar hatte er ihn immer als herausragenden Ökonomen und auch als scharfsinnigen Methodologen bezeichnet, sich aber zugleich, und dies ausdrücklich, in erkenntnistheoretischer und methodologischer Hinsicht von ihm in keiner Weise beeindrucken und beeinflussen lassen, und es ist nicht erkennbar, daß sich dies im Umkreis der Verstehenden Soziologie geändert hätte.
Unter Bezug auf „einige polemische Ausdrücke über Friedrich Gottl“ in Franz Eulenburgs Aufsatz über neuere Arbeiten zur Geschichtsphilosophie
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schreibt Weber diesem am 1. November 1907: „Mit Gottl befinde ich mich im entschiedensten Gegensatz, nicht nur mit den ‚Grenzen‘, sondern auch mit der ‚Herrschaft des Wortes‘ und seinen jetzigen Aufsätzen“. Vgl. Eulenburg, Franz, Neuere Geschichtsphilosophie: Kritische Analysen I., in: AfSSp, Band 25, Heft 2, 1907, S. 283–337.
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Im Brief an Rickert vom 3. November 1907 Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 1. Nov. 1907, MWG II/5, S. 412 f., hier S. 412, dort, Anm. 2, auch eine Zusammenstellung der Aufsätze Gottls im Archiv 1906 und 1907.
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verbindet Weber Lasks Begriff der „Cultur-Realitäten“ Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 3. Nov. 1907, MWG II/5, S. 414–418, hier S. 416 (auch die nachfolgenden Zitate).
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mit den „gänzlich ungelöste[n] Pobleme[n]“, „in die sich Gottl verbissen hat“. Er, Weber, könne „da vorerst nicht mit“, wo es um „Produkte ‚vorwissenschaftlicher‘ Auslese“ Lask, Emil, Rechtsphilosophie, in: Windelband, Wilhelm (Hg.), Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. – Heidelberg: Winter 1907, S. 296–320, hier S. 309.
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gehe. Man komme da, wie Gottl wolle, Bezug Webers ist Lask, ebd., S. 311.
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„zur doppelten Art der Objektivierung in einem dem Münsterberg’schen angenäherten Sinn“. Gemeint ist: Gottl, Begriffsbildung II (wie oben, S. 9, Anm. 37).
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Vgl. Münsterberg, Hugo, Grundzüge der Psychologie, Band I: Allgemeiner Teil, die Prinzipien der Psychologie. – Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1900, S. 65 ff.
[84]Bei allen Unterschieden in der Auffassung und Durchführung verbindet Gottl, Lask und Münsterberg – und auch, so ist zu ergänzen, Simmel, bei dem Weber „Münsterbergiana“
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moniert – das Bestreben, die wissenschaftliche Erfahrungsform in eine systematisch durchdachte Beziehung zur vor- und außerwissenschaftlichen Lebenswirklichkeit zu setzen. Auf dieses Fundierungsproblem will Weber sich, jedenfalls bis auf weiteres, nicht einlassen. Edmund Husserl dagegen und, ihm folgend und auf die Verstehende Soziologie abzielend, Alfred Schütz nehmen es auf. [84] Weber, Exzerpte Simmel, unten, S. 533.
Gottl, in seinem Beitrag zur „Erinnerungsgabe für Max Weber“,
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bezieht sich seinerseits auf die in „Die Herrschaft des Wortes“, „Die Grenzen der Geschichte“ und dem großen Archiv-Aufsatz „Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung“ vorgetragene „Erkenntniskritik“, verstanden als „Revision des Grundbegreifens“, nicht nur der Grundbegriffe. Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von, Freiheit vom Worte, in: Erinnerungsgabe I (wie oben, S. 78, Anm. 27), S. 97–152.
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Diese Erkenntniskritik richte sich gegen die völlige Abstraktion sozial- und insbesondere wirtschaftswissenschaftlicher Begriffsbildung und Theorie von der geschichtlichen Wirklichkeit „menschliche[n] Zusammenleben[s]“ Ebd., S. 100.
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und damit von der „Erfahrung“ im Sinne dessen, „was uns alle als Alltag umgibt, was also jedermann in irgendeinem Grade schlechthin bekannt ist“. Ebd., S. 125, 128.
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In der Verstehenden Soziologie Max Webers sieht Gottl die Möglichkeit, diese Erfahrungslosigkeit zu überwinden und so auch, bei Wahrung der fachlichen Spezialisierung, die „innere Einheit aller Wissenschaften vom menschlichen Zusammenleben“ Ebd., S. 100.
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zu gewährleisten – derart, daß sich nicht zuletzt die nationalökonomische Theorie zu einer „Theorie im soziologischen Geiste“ Ebd., S. 125.
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resp. „im Geiste Max Webers“ Ebd., S. 118.
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läutere. Ebd., S. 152.
13. Theorie
Während seiner Mitwirkung an der Gründung und der Arbeit der DGS (1909–1912) diente Weber der Begriff „Soziologie“ zur Bezeichnung des Vorhabens, auf dem Gebiet der Sozial- und Kulturwissenschaften die streng empirische, deshalb auch entschieden „werturteilsfreie“ Forschung durch gemeinsame Anstrengung (qua „Arbeitsgemeinschaft“) voranzubringen. Mit der Wertur[85]teilsfreiheit aufs engste verbunden war für ihn das Bemühen um eine präzise und von allen normativen Konnotationen freie Begrifflichkeit.
Der im Kategorienaufsatz von Weber definitorisch festgelegte Begriff der – seiner – Soziologie steht in dieser Linie und in direkter Verbindung mit seinem Versuch, das unter „Werturteilsfreiheit“ zu Verstehende so gründlich und systematisch wie möglich darzulegen.
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Zugleich aber bringt er insofern eine [86]wesentliche Veränderung zum Ausdruck, als Weber die Soziologie, wie er sie verstanden wissen will, nunmehr ausdrücklich als eigene Disziplin mit fachspezifischem Objekt und eigener Erklärungsperspektive, das aber heißt: mit einer ganz eigenen, systematisch auszuarbeitenden „geschlossenen […] Theorie“, vertritt.[85] Die Wendung zur Soziologie vollzieht sich nicht unvorbereitet. Bis zu einem gewissen Grade läßt sich der Übergang an den Texten zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ für das Handbuch nachvollziehen, die Weber in den Jahren zuvor geschrieben hatte. Sie waren zunächst durchaus nicht als Teile der Soziologie aufgefaßt, werden aber, wenn auch keineswegs gleichmäßig, sekundär ausdrücklich einem soziologischen Bezugsrahmen zugeordnet. Das geschieht auf zweifache Weise: durch kurze, offenbar nachgetragene Zusätze wie „soziologisch betrachtet“ (MWG I/22-1, S. 193), „wirklich exakte soziologische Untersuchung“ (ebd., S. 184), „soziologische Kasuistik“ (ebd., S. 246) oder „soziologische Struktur“ (ebd., S. 270) einerseits, durch die wohl ebenfalls zumeist nachträgliche Einbeziehung von Teilen der soziologischen (Grund-)Begrifflichkeit, die sich im zweiten Teil des Kategorienaufsatzes in systematischer Form findet, andererseits. Dies geschieht, wie gesagt, in unterschiedlichem Maße, besonders ausgeprägt (und zwar in seiner doppelten Gestalt) im MWG-Band I/22-1 (aus dem die Zitate stammen) sowie in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ (in: MWG I/22-3), sehr deutlich durch die Betonung des soziologischen Status, aber kaum durch Verwendung der fraglichen Begrifflichkeit in den Texten zu den religiösen Gemeinschaften (MWG I/22-2) und zur Herrschaft (I/22-4). – Vermutlich läßt sich der Gang der Dinge am besten an „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ nachvollziehen, auch weil ein Skriptum dieses Textes überliefert ist. Es wurde zunächst (vielleicht schon 1910) als Typoskript verfaßt, dann wiederholt handschriftlich überarbeitet, mit Einschüben versehen und vermutlich erst „Anfang/Mitte 1913 bis spätestens Frühjahr 1914“ (Editorischer Bericht zu I/22-3, S. 188) abgeschlossen. – Die explizite Anknüpfung an den Stammler-Aufsatz würde dazu passen, daß die Argumentation erst sekundär, dann aber nachdrücklich als eine „soziologische“ qualifiziert wird (vgl. den gelegentlichen Bezug auf die „Sozialökonomik“, ebd., S. 192, resp., S. 227, die „ökonomische Theorie“). Was die – im großen Umfang eingefügte – Begrifflichkeit angeht, so gibt es guten Grund zu vermuten (vgl. Schluchter, Individualismus (wie oben, S. 66, Anm. 61), hier S. 204), daß sie aus dem Kontext derjenigen „methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags (‚Wirtschaft und Gesellschaft‘) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk“ stammt, die Weber in der ersten Fußnote des Kategorienaufsatzes als „schon vor längerer Zeit geschriebene Darlegung“ erwähnt. Wesentlicher Gegenstand dieser Überlegungen dürfte eine Begrifflichkeit zur Untersuchung gesellschaftlicher Ordnungen gewesen sein. Da weder das Handbuch insgesamt noch – zu diesem Zeitpunkt – Webers eigener Beitrag der Soziologie zugerechnet ist, wird die Begrifflichkeit wohl erst in einem zweiten, nur auf diesen Beitrag bezogenen Schritt ausdrücklich als soziologische ausgewiesen, und zwar auch durch Hinzufügung des soziologischen Grundbegriffs „Gemeinschaftshandeln“. Erst danach werden die Begriffe in die Handbuch-Beiträge Webers übernommen, wohl parallel zu deren ausdrücklicher, wenn auch nicht gleichmäßiger Kennzeichnung als „soziologisch“. – Die als ein „Fragment“ der älteren „Darlegung“ in den Kategorienaufsatz übernommene Begrifflichkeit kommt schon in der im selben Jahr (1913) von Weber ausgearbeiteten Herrschaftssoziologie nicht mehr vor, von der, umgekehrt, in [86]diesem Aufsatz noch keine Rede ist. „Über die auf Stammler bezogene Bildung soziologischer Begriffe war Weber 1913 bereits hinaus“ (Schluchter, ebd., S. 183). Auch hier zeigt sich der Übergangscharakter des Kategorienaufsatzes.
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Zwar hatte er die Soziologie schon im Objektivitätsaufsatz wegen ihrer theoretischen Leistungen ernsthaft in Betracht gezogen, das Theoretische dabei aber hauptsächlich in einer präzisen und differenzierten [87]Begrifflichkeit gesehen, nicht in einer spezifischen Erklärungsweise. Eine in diesem engeren Sinne verstandene theoretische Konzeption der Soziologie hatte Weber auch weder bei den Vorklärungen zur Übernahme des „Schönberg“ noch im Zuge der Mitwirkung an der DGS Am 3. November 1913 schreibt Weber an Paul Siebeck, er habe seinen Beitrag „zu einer Soziologie ausgearbeitet“, habe daran aber „noch zu thun“ (MWG II/8, S. 343 f., hier S. 344). Wenige Tage später (Brief an Paul Siebeck vom 6. Nov. 1913, ebd., S. 348 f.) heißt es, der Beitrag Friedrich Gottls bringe „prinzipiell ganz Neues“ und so auch „meine ‚Soziologie‘“ (sic) – „denn dazu wird der Abschnitt annähernd, obwohl ich ihn nie so nennen könnte“ (ebd., S. 349). Das ist deutlich zurückhaltender formuliert als zuvor. Im Brief an Siebeck vom 30. Dezember 1913 (ebd., S. 448–450) aber drückt Weber sich noch dezidierter aus als am 3. November. Nach Hervorhebung der von Gottl gelieferten „geschlossene[n] Theorie der Technik“ schreibt er, er habe seinerseits „eine geschlossene soziologische Theorie und Darstellung ausgearbeitet“. Sie setze „alle großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung […]: von der Familie und Hausgemeinschaft zum ‚Betrieb‘, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Tröltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, nur wesentlich knapper)[,] endlich eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre“ (ebd., S. 449 f.). Darüber hinaus stellt Weber noch „eine Soziologie der Cultur-Inhalte (Kunst, Litteratur, Weltanschauung)“ in Aussicht, die als „selbständige[r] Ergänzungsband“ im Rahmen des Grundrisses oder auch „außerhalb dieses Werkes“ zu veröffentlichen wäre (ebd., S. 450). – Wie abgeschlossen die „geschlossene […] Theorie und Darstellung“ Ende 1913 war, läßt sich nicht sagen – wohl aber, daß Weber, als er die Arbeit daran wieder aufnehmen konnte, noch sehr viel Arbeit vor sich sah. Daß die in den Briefen an Siebeck wiederholt beklagte Unzulänglichkeit des von Bücher gelieferten Beitrags („Minderleistung“) zwar ein möglicher, vielleicht sogar willkommener Anlaß, gewiß aber kein zureichender Grund für Webers Ausarbeitung war, steht hingegen fest. Sehr selbstbewußt, aber auch sehr zutreffend sagt Weber ja, es gebe „noch nichts dergleichen […], auch kein ‚Vorbild‘“ (ebd., S. 450). – Schwer zu deuten und einzuordnen, jedenfalls nicht allein mit editionspolitischen Motiven zu erklären, sind Webers Äußerungen in seinem „Rundschreiben an die Mitherausgeber“ vom Dezember 1913: Wegen unregelmäßig oder gar nicht gelieferter Beiträge habe er selbst, „unter Opferung anderer, mir weit wichtigerer Arbeiten“, eine „ziemlich umfassende soziologische Erörterung“ zu liefern sich entschieden, um durch dieses „anderweitige Äquivalent“ die „Eigenart“ des Handbuchs zu „heben“. Damit habe er eine „Aufgabe“ erfüllt, die er „sonst in dieser Art niemals übernommen hätte“. (Rundschreiben an die Mitherausgeber des „Handbuchs der Sozialökonomik“. Dezember 1913, MWG I/24, S. 186–190, hier S. 189). Wie auch immer diese Erklärung zu verstehen ist: Sie schließt aus, daß Weber schon Jahre vorher erwogen hätte, den Handbuch-Beitrag im Sinne einer „geschlossenen soziologischen Theorie“ aufzufassen und auszuarbeiten.
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entwickelt. [87] Vor allem in Gestalt der beiden Projektentwürfe zur Presse- und Vereinsenquete und der Diskussionsbeiträge.
Im Blick auf den neuen „Schönberg“ erwartet Weber, indem er zugleich einige mögliche Autoren (von Wieser, Lexis und seinen Bruder Alfred) nennt, in erster Linie eine gründliche Behandlung der (ökonomischen) „Theorie“: „Der Centralpunkt ist die Art der Unterbringung der Theorie“.
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Daneben sei ein „Abriß der Wirtschaftsgeschichte“, und zwar von Gothein, zu erwägen, „sodann“ sei zu klären, „in welchem Maße ‚Soziologie‘ [sic!] hineinzuziehen wäre“, schließlich sei – für Band II – die „Sozialpolitik“, obzwar in „ganz andre[r] Behandlung u. Stellung“, in Betracht zu ziehen. „Aber gegen die Frage der Theorie ist das Alles eine Kleinigkeit“ – also auch das Hineinziehen der ,Soziologie‘. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 26. Dez. 1908, MWG II/5, S. 705 f., hier S. 705.
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Siebeck ist mit der herausgehobenen Stellung des „theoretischen Teil[s]“ ganz einverstanden und bringt dafür seinerseits Joseph Schumpeter ins Spiel, der „auch nach der Soziologie hin orientiert [sei], die wir, glaube ich, nicht beiseite lassen dürfen“. Ebd., S. 705. In einem Brief an Paul Siebeck, nach dem 20. April 1909 (MWG II/6, S. 103–106), berichtet Weber von einer Unterhaltung mit Karl Bücher: auch diesem scheine „die Zuteilung des Art[ikels] ‚Theorie‘ das Wichtigste“ (ebd., S. 103).
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Brief von Paul Siebeck an Weber vom 28. Dez. 1908, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), A0703, Mappe 14; zitiert in: MWG II/6, S. 17, Hg.-Anm. 4.
Die von Weber geäußerten inhaltlichen Erwartungen werden, was die Rolle der Soziologie angeht, von Richard Swedberg
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wohl überinterpretiert, und so auch von Wolfgang Schluchter, wenn er bemerkt, daß aus Webers Sicht „für die Neugestaltung des Handbuchs Wirtschaftstheorie und Soziologie eine zentrale Rolle spielen sollten“. Swedberg, Richard, Max Weber and the Idea of Economic Sociology. – Princeton: Princeton University Press 1998, S. 158 f.
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„Darum vor allem sollte es in dem ersten Band des auf zwei Bände angelegten neuen Handbuchs gehen“. Schluchter, Entstehungsgeschichte, MWG I/24, S. 13. Deutlich vorsichtiger heißt es kurz danach, die „neue[n] Inhalte“ seien für Weber „mit Wirtschaftstheorie und Soziologie verbunden“ gewesen (ebd., S. 13 f.).
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Das ist zwar gewiß „keine bloße Spekulation“, Ebd., S. 14.
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doch findet sich eine gleichrangige Hervorhebung von ökonomischer Theorie und Soziologie (qua Theorie) nicht in der zitierten Korrespondenz Webers mit Siebeck. Anders steht es damit allerdings im „Vorwort“ zum „Grundriß der Sozialökonomik“ vom Juni 1914. [88]Hier hebt Weber die, „entsprechend der veränderten wissenschaftlichen Lage, veränderte Stellung zur Theorie und Soziologie“ hervor. Ebd., S. 15.
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Dabei ist zunächst wiederum die ökonomische Theorie gemeint, nun aber gewiß auch die Soziologie als theoretische Disziplin sui generis.[88] Grundriß der Sozialökonomik. „Vorwort“ und „Einteilung des Gesamtwerkes“, MWG I/24, S. 167. Dabei hat Weber womöglich auch die „allgemeine Gesellschaftstheorie“ von Wiesers (vgl. unten, S. 89), bestimmt aber seinen eigenen, mittlerweile gegenüber Siebeck zur „geschlossene[n] soziologische[n] Theorie“ erklärten Beitrag im Blick.
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Friedrich von Wieser wurde von Weber als ein der „Österreichischen Schule“ angehörender und der Soziologie zugewandter Wirtschaftstheoretiker sehr bevorzugt und schließlich auch mit der Abfassung des Beitrags zur ökonomischen Theorie beauftragt. Nachdem er nach langem Bemühen eine grundsätzliche Zusage von Wiesers erreicht und dieser ihn auch über Inhalt und Aufbau des Beitrags informiert hatte, Trotzdem wird Webers Beitrag zum Grundriß nicht in diesem „Vorwort“, aber auch nicht in der „Einteilung des Gesamtwerkes“ von 1914 explizit der so hervorgehobenen Soziologie zugerechnet. In der nachfolgenden Korrespondenz Webers mit dem Verleger setzt sich, unter dessen auffälligem Betreiben, der (Kurz-)Titel „Soziologie“ für diesen Beitrag jedoch durch.
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äußerte Weber gegenüber Siebeck, von Wieser habe „eigentlich jetzt soziologisch arbeiten“ wollen, dies aber wegen der Mitwirkung am Handbuch zurückgestellt. Vgl. die Briefauszüge Friedrich von Wiesers an Max Weber in: MWG II/6, S. 183, Hg.-Anm. 1.
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Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 15. Juli 1909, MWG II/6, S. 183–185, hier S. 184.
Als der Beitrag 1914 vorlag,
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war Weber, ganz anders als bei Karl Büchers Beitrag, insgesamt sehr beeindruckt. Wieser, Friedrich von, Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, in: Grundriß der Sozialökonomik, I. Abt.: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, bearbeitet von Karl Bücher, Joseph Schumpeter, Friedrich Freiherrn von Wieser. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1914, S. 125–444 (hinfort: Wieser, Theorie).
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Nur in einem Punkt sah er sich in seinen – auf vorhergehende Werke von Wiesers gestützten – Erwartungen enttäuscht: in der fehlenden Behandlung der „soziologische[n] Probleme“. Mit zunehmender Lektüre wird Webers Urteil in den Briefen an Siebeck immer positiver: „Wieser ist gut“ (Karte Max Webers an Paul Siebeck vom 21. März 1914, MWG II/8, S. 573 f., hier S. 574), in weiten Teilen „ganz vortrefflich und erstklassig, sehr erfreulicherweise“ (Brief vom 2. April 1914, ebd., S. 586–588, hier S. 587); der Beitrag habe, wie der Gottls, „nur einzelne schwächere Partien“ und sei „im Ganzen […] ausgezeichnet, grade für Lehrzwecke“ (Brief vom 15. April 1914, ebd., S. 623 f., hier S. 623).
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Viel spricht für Wolfgang Schluchters Vermutung, Weber habe genau die Verknüpfung der Wirtschaftstheorie mit der Soziologie vermißt, für die er von Wieser am besten qualifiziert gesehen hatte. Dieses Manko habe Weber selbst dann mit seinen „Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens“ [89]ausgeglichen. Brief an Max Webers an Paul Siebeck vom 2. April 1914, ebd., S. 587.
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Umso erstaunlicher ist es aber, daß Weber weder 1914 noch später von Wiesers – ausdrücklich als ganz vorläufig bezeichnete – Überlegungen zu einer „allgemeinen Gesellschaftstheorie“ erwähnt, obwohl sie seinen Auffassungen sehr nahe kommen – näher als alles, was zu Webers Lebzeiten von irgend einem anderen Autor – Tönnies, Vierkandt, auch Simmel und erst recht Spann eingeschlossen – in dieser Sache geschrieben wurde.[89] Dieser Vermutung folgt Morlok, Christoph, Rentabilität und Versorgung. Wirtschaftstheorie und Wirtschaftssoziologie bei Max Weber und Friedrich von Wieser. – Wiesbaden: Imprint Springer VS 2013.
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Die grundlegende Übereinstimmung der theoretischen Prämissen der Verstehenden Soziologie mit einer so angelegten „allgemeinen Gesellschaftstheorie“ kann Weber nicht entgangen sein und ihn höchstens insofern überrascht haben, als von Wieser gerade in diesem Punkt über das 1909 in Aussicht Gestellte hinaus geht. Wie von Wieser war er der Auffassung, daß das Modell des homo oeconomicus für die Soziologie „zu eng“ sei, Für von Wieser ist die klassische Wirtschaftstheorie der „vorgeschobene Posten“ der allgemeinen Gesellschaftstheorie (Wieser, Theorie (wie oben, S. 88, Anm. 80), S. 234). Allerdings sei der Individualismus in dieser Theorie nicht als „methodisches Hilfsmittel der Idealisierung“ (ebd., S. 235) betrachtet, sondern übertrieben und oft auch normativ aufgefaßt worden. Deshalb seien in ihr insbesondere Probleme der Macht (Überordnung und Unterordnung, Führerschaft, soziale Schichtung und Klassen) sehr vernachläßigt worden. Mit seiner – nur in den Grundzügen und vorläufig umrissenen – „Theorie der wirtschaftlichen Gesellschaft“ (S. 232–243) will von Wieser dennoch allen „organischen“ Erklärungen entgegen treten, „welche die Gesellschaft als solche, losgetrennt von den Individuen, zum Subjekt des Handelns machen“ (S. 236). Sie seien „offenbar durchaus verfehlt“. Es müsse bei dem „Grundgedanken“ bleiben, daß „die Individuen die Subjekte des gesellschaftlichen Handelns“ (ebd.) seien. – Von Soziologie ist weder in dieser ersten noch in der textidentischen zweiten Auflage von 1924 die Rede, deren Literaturverzeichnis nun aber zahlreiche soziologische Autoren nennt, darunter auch Max Weber.
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und ebenso war von Wiesers Entwicklung der „Gesellschaftstheorie“ als allgemeine Theorie sozialen Handelns ganz in seinem Sinne. Vgl. Schluchter, Entstehungsgeschichte, MWG I/24, S. 20 ff., und Schluchter, Wolfgang, Grundlegungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht, Band I. – Tübingen: Mohr Siebeck 2006, S. 237 ff., auch im Blick auf das dazu schon in der Stammler-Kritik Gesagte.
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Womöglich bezog sich seine Unzufriedenheit mit dessen Beitrag – wenn nicht zuvörderst, so doch auch – darauf, daß von Wieser diese Verallgemeinerung selbst noch wirtschaftstheoretisch, nämlich mit dem Übergang von der Theorie der einfachen Wirtschaft zur Theorie der Tausch- resp. Volkswirtschaft, begründete. In seinem Beitrag zur Werturteilsdiskussion im Verein für Sozialpolitik ging Weber ja, wie zitiert, so weit, den Gedanken zu erwägen, daß die „Wirtschaftstheorie“ resp. „systematische Nationalökonomie“, wenn auch „mit einigen Vorbehalten“ als ein „Spezialfall“ der „verstehenden Soziologie“ (sic) gelten könne (Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion, unten, S. 381; sowie oben, S. 53).
[90]Von seinem fortbestehenden, ganz eigenen Interesse an der ökonomischen Theorie, verbunden mit dem Bedauern, zu deren Entwicklung (auch wegen der vordringlichen Beschäftigung mit der „Wirtschafts-Soziologie“) nicht wie beabsichtigt beigetragen zu haben, wird Weber in seinem Brief an Robert Liefmann vom 9. März 1920 sprechen.
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Dieses – kritische, die Entgegensetzung von „historischer“ und „theoretischer“ Denkrichtung hinter sich lassende – Interesse hatte er auch in der zusammen mit Werner Sombart 1917 im Archiv abgedruckten „Erklärung“ zu Edgar Jaffes Kritik bekundet.[90] Brief Max Webers an Robert Liefmann vom 9. März 1920, MWG II/10, S. 946–954, in dem sich Weber auf Liefmann, Robert, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Band 1: Grundlagen der Wirtschaft. – Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1917, bezieht. Liefmann hatte in Freiburg bei Max Weber studiert und habilitiert als einer seiner „tüchtigsten Schüler“, vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 73 mit Hg.-Anm. 4.
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Weber, Sombart, Erklärung, unten, S. 515, mit Editorischem Bericht.
Max Weber hatte Liefmann den hier zitierten Brief zuvor angekündigt
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und legt ihm nun die spezifische Motivation und Zielsetzung seiner Verstehenden Soziologie dar: Er verstehe Liefmanns Kritik an den „soziologischen Nationalökonomen“, die vor allem die „soziale Bedingtheit“ des wirtschaftlichen Handelns betonten. Brief Max Webers an Robert Liefmann vom 12. Dez. 1919, MWG II/10, S. 862. Zur Kritik Liefmanns an Othmar Spanns Soziologie bemerkt Weber dort, daß ihm „diese Art Soziologie […] fürchterlich“ sei. „Sie werden schon sehen warum!“ (ebd., S. 862).
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Er, Max Weber, aber sei „wesentlich“ deshalb Soziologe geworden, um zu zeigen, daß auch die Soziologie „nur durch Ausgehen vom Handeln des oder der, weniger oder vieler Einzelner, strikt ‚individualistisch‘ in der Methode also, betrieben werden“ könne. Das „schreibe und lehre“ er „seit Jahren“, und auch Liefmanns eigene, „ganz altväterliche Ansichten“ vom Staat seien damit nicht vereinbar. Zu Liefmanns Kritik vgl. die Hg.-Anm. 4 zum Brief Max Webers an Robert Liefmann vom 9. März 1920, MWG II/10, S. 946.
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Brief Max Webers an Robert Liefmann vom 9. März 1920, ebd., S. 946 f. Der Staat ist für Weber nicht nur irgendein, sondern das wichtigste Objekt der Entzauberung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt durch die Soziologie. Zu den „wesentlichen Anregungen“, die er Georg Jellinek verdanke, gehöre „die Prägung des Begriffs der ‚sozialen Staatslehre‘ für die Klärung der verschwimmenden Aufgaben der Soziologie“, sagt Weber in seiner Gedenkrede auf Georg Jellinek, vgl. Weber, Max, Tischrede auf der Hochzeit von Dora Busch, geb. Jellinek, am 21. März 1911, MWG I/13, S. 247–255, hier S. 252.
Mit der schon im Kategorienaufsatz nachdrücklich vertretenen und in ihren Implikationen erläuterten „individualistischen Methode“, mit der gleichzeitig in der Debatte des Vereins für Sozialpolitik und dann im Logos-Aufsatz ausführlich und gründlich in ihrem Sinn, ihren Voraussetzungen und Grenzen bestimmten Werturteilsfreiheit, mit der begrifflich-theoretischen Systematisierung des Beitrags zum Grundriß und mit seinen religionssoziologischen Untersuchungen hat Weber seine Vorstellung von der Soziologie als dem – begriff[91]lich-theoretisch und methodologisch – harten Kern empirischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnis dargelegt, ausgearbeitet und erprobt. Die so verstandene Soziologie ist das nicht intendierte, aber folgerichtige Ergebnis jener in der Sache rücksichtslos zu betreibenden „wissenschaftlichen Kritik“, die Weber 1909 als den eigentlichen Sinn und Zweck seiner Mitwirkung an der Arbeit der DGS bezeichnet hatte.
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[91] Brief Max Webers an Heinrich Herkner vom 11. Mai 1909, MWG II/6, S. 121–123, hier S. 121. Die Soziologie habe sich, schreibt er nun Paul Siebeck, den „Dilettanten-Leistungen geistreicher Philosophen“ entgegen zu stellen (Brief vom 8. Nov. 1919, MWG II/10, S. 833 f., hier S. 833); bevor sie im Zuge ihrer Etablierung an den Universitäten in „Dilettanten-Hände“ falle, hatte er einige Monate zuvor in einem Brief an Walther Lotz vom 21. Februar 1919 (ebd., S. 472 f.) gesagt, nehme er sie „in die meinigen“ (ebd., S. 472).
Die Soziologie ist nach Webers Einsicht in einen umfassenden Prozeß der Rationalisierung aller Lebensverhältnisse einbezogen – als dessen Hervorbringung und Träger, aber auch als Ort seiner Selbstaufklärung und bewußten Selbstbeschränkung. Deshalb steht die Verstehende Soziologie mit ihren Leistungen ebenso wie mit ihren Grenzen als erste der ihm „nächstliegenden Disziplinen“
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im Blick, wenn Weber, in Wissenschaft als Beruf (1917/1919), davon handelt, wie der Mensch sich zu den „unbequeme[n] Tatsachen“ und „gewaltige[n] Lebensproblem[en]“ Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 95.
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verhalten könne, mit denen ihn jene Rationalisierung konfrontiert – nicht als homo sociologicus, sondern als je Einzelner in der unvertretbaren Verantwortung, sein Leben bewußt zu führen. Ebd., S. 98, 100.
14. Zur Anordnung und Edition
Die im Band edierten Texte aus dem Zeitraum 1908 bis 1917 sind unter dem inhaltlichen Aspekt „Verstehende Soziologie und Wertfreiheit“ ausgewählt. Das betrifft vor allem die Auswahl der Rede- und Diskussionsbeiträge Max Webers auf den beiden ersten Deutschen Soziologentagen 1910 und 1912. Seine Beiträge zur institutionellen Konstituierung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie finden sich dagegen in Band MWG I/13 „Hochschulwesen und Wissenschaftspolitik“.
Die Abfolge der Texte innerhalb des Bandes folgt dem Chronologieprinzip, das sich bei gedruckten Texten und Redebeiträgen nach dem Erscheinungsdatum richtet. Bei den undatierten Manuskripten – den Fragmenten über „Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft“ und „Über Ethik“ – wurde der mutmaßliche Abfassungszeitraum zugrunde gelegt. Bei Texten mit mehreren Fassungen wird diejenige letzter Hand ediert und die Varianten [92]im textkritischen Apparat nachgewiesen. So bei den auszugsweise überlieferten Korrekturstadien zur Rezension Adolf Webers und zum Beitrag zur Werturteildiskussion. Eine Ausnahme wird bei Max Webers Beitrag zur Werturteildiskussion im Verein für Sozialpolitik (1913) und dessen überarbeiteter Aufsatzfassung „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ (1917) gemacht. Beim „Wertfreiheits“-Aufsatz handelt es sich um den Text letzter Hand, weshalb auch die Abweichungen zum früheren Beitrag textkritisch nachgewiesen werden. Die Überarbeitung Max Webers ist allerdings sehr detailliert und aufwendig, sie setzt neue Akzente und wendet sich an ein breiteres akademisches Publikum, so daß der Charakter eines vereinsinternen Positionspapiers vollständig zurückgenommen wird. Wegen der unterschiedlichen Kontexte und der Bedeutung des frühen Textes für die Werturteilsdiskussion in den nationalökonomischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen entschieden sich die Editoren, den früheren Text vollständig abzudrucken und ihn damit sichtbar zu erhalten und lesbar zu machen.
Im ersten Teil des Bandes Schriften und Reden werden die Manuskripte Max Webers, die von ihm autorisierten Aufsätze, Rezensionen und Redebeiträge ediert, im zweiten Teil der nicht-autorisierte Bericht über einen Diskussionsbeitrag beim Internationalen Kongreß für Philosophie in Heidelberg 1908. Ergänzt wird der Band durch die im Anhang abgedruckten und bislang weitgehend unbekannten Exzerpte Max Webers zur Erstausgabe von Simmels „Soziologie“ 1908 und einem Aufsatz Othmar Spanns, der die begrifflichen Grundlagen von Simmels Soziologie kritisiert.
Die Mehrzahl der im Band edierten Texte weist keinen Originaltitel auf, so daß der Editor insbesondere im Fall der Diskussionsbeiträge (beim Verein für Sozialpolitik und bei der Deutschen Gesellschaft für Soziologie) Titel einfügen mußte. Diese sind in der Regel an die Vortragstitel angelehnt, auf die sich Max Webers Äußerungen bezogen, und als editorischer Zusatz in eckige Klammern gestellt.
Zur Entlastung des Sacherläuterungsapparats sind biographische Informationen zu von Max Weber genannten Personen sowie die ausführlichen bibliographischen Angaben zu von ihm genannten Titeln in die beiden Verzeichnisse am Ende des Bandes aufgenommen.