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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[579][B 779]Staat und Hierokratie.
a
[579] In B geht der Überschrift voran: Kapitel XI. In B folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht.

Wie die Ohnmacht des – durchschnittlichen – parlamentarischen Königs in erster Linie die Basis für die Legitimität der Herrschaft der Parteichefs ist, so hat die Ohnmacht des inkarnierten, „eingekapselten“ Monarchen
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[579] Der Ausdruck „eingekapselter“ Monarch konnte nicht belegt werden; zum Vorgang der Internierung des „inkarnierten“ Monarchen vgl. die Ausführungen oben, S. 560 mit Anm. 50.
entweder die Konsequenz der Priesterherrschaft
b
A: Priesterherrschaft,
oder die andere, daß die reale Macht sehr oft in die Hände eines von den charismatischen Pflichten des Herrschers freien Geschlechtes übergeht, welches den wirklichen Herrscher (Hausmeier, Shogun) stellt. Die formelle Konservierung des offiziellen Herrschers ist auch hier um deswillen unentbehrlich, weil nur sein spezifisches Charisma die für die Legitimität der politischen Gesamtstruktur, einschließlich der Stellung des realen höchsten Machthabers, unentbehrliche Verbindung mit den Göttern gewährleistet. Man kann ihn dann, wenn die Herrschaft echt charismatisch, d. h. das Charisma ein ihm persönlich eigenes, nicht ein von einer anderen Gewalt abgeleitetes ist, nicht so beseitigen, wie dies bei der Merowingerherrschaft geschehen konnte, weil hier für die Legitimierung des neuen Herrscherhauses eine charismatisch qualifizierte Instanz im Papsttum gefunden wurde.
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Nachdem der dem Haus der Arnulfinger entstammende Pippin III. im Jahr 751 den letzten König der Merowingerdynastie, Childerich III., vom fränkischen Thron verdrängt hatte, ließ er sich, nach seiner Wahl in Soissons, zunächst von fränkischen Bischöfen, dann auch vom Papst in St. Denis salben. Vgl. dazu Kern, Gottesgnadentum (wie oben, S. 514, Anm. 75), S. 74–78, 89 f., der in diesem Zusammenhang vom „Charisma der Salbung“ sprach (ebd., S. 122).
Bei einer genuin charismatischen Herrschaft eines leibhaftigen Gottes oder Göttersohnes, wie z. B. der Mikado es ist,
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Der Mikado – so der von Fremden verwendete Titel für den japanischen Kaiser – wird im Shintōismus als menschgewordenes Geistwesen verehrt. Nach der japanischen Mythologie stammt der Kaiser von der Sonnengöttin Amaterasu Ōmikami ab. Vgl. Yoshida, Staatsverfassung (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 49.
würde der Versuch der Entthronung nicht des einzelnen Herrschers – die natürlich in irgendeiner gewaltsamen oder friedlichen Form immer möglich ist –, sondern des ganzen charismatisch [580]qualifizierten Hauses die Infragestellung der Legitimität aller Herrschaftsgewalten und also die Erschütterung alles traditionellen Haltes für die Obödienz der Gewaltunterworfenen bedeuten; sie pflegt daher von allen Interessenten der bestehenden Ordnung auch bei den denkbar schärfsten Gegensätzen aus guten Gründen ängstlich vermieden zu werden, und es wird sich fragen, ob sie selbst unter Verhältnissen, wo die herrschende Dynastie als Trägerin einer Fremdherrschaft empfunden wurde, wie jetzt in China,
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[580] Gemeint ist die nationalrevolutionäre Bewegung der chinesischen Intelligenz, die nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg (1894/95) entstand. Sie forderte die Beseitigung des Mandschu-Kaisertums (als „fremde Usurpation des chinesischen Thrones“), die Errichtung einer Republik, parlamentarische Institutionen und eine Agrarreform. (Vgl. dazu die Interpretation von Franke, Ostasiatische Neubildungen (wie oben, S. 59, Anm. 62), Zitat: S. 196). Die Unzufriedenheit entlud sich seit 1911 in Revolten, die schließlich zum Sturz und der Abdankung des letzten Kaisers der Qing-Dynastie am 12. Februar 1912 führten. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 567.
dauernd durchzuführen ist.
Der erwähnte Fall
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Siehe oben, S. 579.
der Bestätigung der Karolingerherrschaft durch den Papst gibt den Typus für jene zahlreichen Fälle, in denen der Herrscher entweder nicht selbst ein Gott ist oder jedenfalls seine „Legitimität“ nicht aus eigenem, eindeutig [B 780]durch Erbordnung oder andere Regeln feststehendem
c
[580]B: feststehenden
Charisma genügend begründen kann, sondern der Legitimierung von einer anderen – naturgemäß einer priesterlichen – Instanz bedarf, wie dies zu geschehen pflegt, wo immer die Entwicklung der religiösen Charismen zur Priesterqualität eine hinlänglich starke und zugleich in ihren Trägern von der politischen Gewalt verschiedene war. Der qualifizierte Träger des königlichen Charisma wird dann von Gott, d. h. den Priestern beglaubigt oder holt doch diese Beglaubigung nach, der als Inkarnation eines Gottes geltende Herrscher wird von ihnen als den fachmäßigen Kennern der Göttlichkeit anerkannt. Die Priesterschaft befragte im Reiche Juda das Losorakel über den König,
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Seit 622 v. Chr. mußten sich die durch das assyrische Reich außenpolitisch stark geschwächten judäischen Könige der städtischen Priesterschaft Jerusalems unterwerfen und deren Losorakel als göttliche Entscheidungen anerkennen. Vgl. oben, S. 522 mit Anm. 2.
die Priesterschaft des Ammon verfügte nach der Niederwerfung der Nachfahren des Ketzer[581]königs Echnaton tatsächlich über die Krone,
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[581] Der ägyptische Pharao Echnaton (vgl. den Eintrag im Personenverzeichnis, unten, S. 762) ersetzte die ägyptische, durch eine Vielzahl von Göttern charakterisierte Religion gegen den Widerstand der in Theben wirkenden Priesterschaft des Reichsgottes Ammon durch den monotheistischen Kult um den Sonnengott Aton. Der König verlagerte seine Residenz von Theben nach Mittelägypten und errichtete dort dem Aton einen Tempel, als dessen einzig wahren Sohn er sich präsentierte. Nach dem Ende seiner Regierungszeit gelang es der Ammon-Priesterschaft, Einfluß auf die jeweils nur kurze Zeit regierenden Nachfolger Echnatons zu gewinnen und den Ammon-Kult wiederherzustellen. Weber folgt hier offenbar Meyer, Eduard, Geschichte des Alterthums, Band 1, 1. Aufl. – Stuttgart: J. G. Cotta 1884, S. 272 f., der behauptet, daß der unmittelbare Nachfolger des Echnaton durch den „Priester Ai“ gestürzt worden sei und daß dieser die Residenz des Königs nach Theben zurückverlegt und die „Ketzerei“ des Aton-Kultus wirksam bekämpft habe.
der König von Babel faßt die Hände des Reichsgottes
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Die Könige von Babylon ergriffen „die Hände Marduks“, der Statue des Reichsgottes, um eine rituelle Bestätigung ihrer Macht zu erhalten. Dieses Ritual vollzogen auch noch die Assyrer- und Perserkönige, die über Babylon herrschten. Vgl. Meissner, Bruno, Babylonien und Assyrien (Kulturgeschichtliche Bibliothek I,3). – Heidelberg: Carl Winter 1920, S. 64, Zitat: S. 31, sowie Winckler, Hugo, Geschichte Babyloniens und Assyriens (Völker und Staaten des alten Orients, Band 1). – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1892, S. 63.
usw., bis zu dem großen Musterbeispiel des römisch-deutschen Reiches.
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Krönung und Weihe der mittelalterlichen Kaiser erfolgten durch den Papst in Rom (zuletzt 1452). Trotz zahlreicher Abweichungen, namentlich im Spätmittelalter, wurde die Zeremonie in der Regel in St. Peter vollzogen, wo der Papst dem Monarchen gegen ein Schutzversprechen die Herrschaftsinsignien übergab.
Zwar gilt in all diesen Fällen prinzipiell: daß die Legitimation den charismatisch wirklich Qualifizierten gar nicht versagt werden darf: dies galt auch für die römische Kaiserkrone des Mittelalters, und die Resolution des Kurvereins von Rhense
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Das in Rhense 1338 versammelte Wahlkollegium der Kurfürsten erklärte, daß der von ihnen einstimmig oder mehrheitlich Gewählte das Recht zur Herrschaftsausübung und zum Führen des Titels „Römischer König“ auch dann habe, wenn eine Billigung der Wahl durch den Papst nicht erfolge.
brachte eben dies in Erinnerung. Denn ob sie vorliegt oder nicht, ist Frage des Urteils, nicht der Willkür. Dennoch besteht zugleich der Glaube, daß erst die Manipulationen
d
[581] Veraltet für: kunstgerechter Gebrauch der Hände; hier im Sinn von: rituellen Handlungen
der Priester die volle Wirkung des Charisma verbürgen, und insoweit findet auch hier eine „Versachlichung“ des Charisma statt. Die Verfügungsgewalt über die Krone, welche damit in die Hände der Priesterschaft gelegt ist, kann sich im Grenzfall bis zu einem förmlichen Priesterkönigtum, bei welchem der Chef der geistlichen Hierarchie als solcher [582]auch die weltliche Gewalt ausübt, steigern, wie dies in einigen anderen Fällen tatsächlich eingetreten ist.
In anderen Fällen ist umgekehrt die hohepriesterliche Stellung durch das weltliche Herrscheramt unterworfen, wie dies im römischen Prinzipat, in China, im Khalifat und in der Stellung vielleicht schon der arianischen,
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[582] In der zeitgenössischen Diskussion hatte der Heidelberger Kirchenhistoriker Hans von Schubert 1909 und noch prononcierter 1912 die These aufgestellt, daß die arianischen Herrscher mit „der starken Hand auch über die Kirche“ geherrscht hätten. (Vgl. den Glossar-Eintrag „arianisch“, unten, S. 781, sowie Schubert, Hans von, Das älteste germanische Christentum oder der sogen. „Arianismus“ der Germanen. Vortrag. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1909, Zitat: S. 28). Er ging davon aus, daß die germanisch-arianischen Stämme mit der Reichsbildung im Westen ein starkes Königtum ausgebildet hätten und der König auch die Bischöfe ernannt hätte. Der Arianismus sei in seiner verfassungsrechtlichen Struktur als Stammes- und Staatskirchentum durch die Vermittlung des fränkischen Königs Chlodwig für das gesamte germanische Christentum prägend geworden. Die These, daß der Arianismus als „das älteste Christentum auf germanischem Boden“ anzusehen sei (ebd., S. 1), hatte viele Forscher provoziert, u. a. Ulrich Stutz, der das genossenschaftliche Element bei den Germanen höher einschätzte und deshalb Bischofswahlen vermutete. (Vgl. Stutz, Ulrich, Arianismus und Germanismus. Eine kritische Studie, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 3. Jg., 1909, Sp. 1561–82, 1615–22, 1633–48; hier: Sp. 1635 f.). An der Replik von Hans von Schubert, Staat und Kirche in den arianischen Königreichen und im Reiche Chlodwigs. Mit Exkursen über das älteste Eigenkirchenwesen. – München, Berlin: R. Oldenbourg 1912 (hinfort: v. Schubert, Staat und Kirche), wird jedoch sehr deutlich, daß es an direkten Quellenbelegen für die Priester- und Bischofsernennungen in den arianischen Reichen fehlte und von Schubert über Analogie- und Rückschlüsse zu seiner These gelangt war, was sich in Max Webers zurückhaltender Formulierung „vielleicht schon“ niederschlägt. Vgl. auch den Editorischen Bericht, oben, S. 565 f.
jedenfalls der anglikanischen, lutherischen, russischen, griechisch-katholischen Herrscher zur Kirche der Fall war und teilweise noch ist. Dabei können die Machtbefugnisse des weltlichen Herrschers über die Kirche sehr verschieden weit gehen, von bloßen Vogteirechten
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Die frühmittelalterlichen Kirchenvögte vertraten Geistliche oder kirchliche Institutionen nach außen in weltlichen Rechtsangelegenheiten. Als Laien konnten sie Eide für die Kirche schwören. Zudem leisteten sie Beistand bei gerichtlichen Prozessen oder unterzogen sich stellvertretend dem gerichtlichen Zweikampf. Bereits im fränkischen Reich bedurfte es einer Erlaubnis des Königs, damit Äbte sich im Prozeß von einem Vogt vertreten lassen konnten. Die karolingischen Könige schließlich führten einen „allgemeinen Vogtzwang“ ein. Obwohl die Vögte keine öffentlichen Amtsträger waren, konnte sie der König durch einen Treueeid verpflichten. Vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II (wie oben, S. 34, Anm. 28), S. 302–311.
bis zu der bei den byzantinischen Monarchen bekannten Einflußnahme auf die Dogmenbildung
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Die byzantinischen Kaiser beeinflußten durch selbst verfaßte theologische Traktate, wie etwa bereits Kaiser Justinian (527–565), bis in das 15. Jahrhundert hinein die Her[583]ausbildung der orthodoxen Dogmen. Auch veranlaßten sie die Einberufung von Synoden, um lenkend in theologische Streitfragen einzugreifen, beispielsweise in den Nestorianischen Streit des 5. Jahrhunderts oder in den Bilderstreit im 8. und 9. Jahrhundert. Vgl. Gelzer, Heinrich, Abriß der byzantinischen Kaisergeschichte, in: Krumbacher, Karl, Geschichte der byzantinischen Litteratur von Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches (527–1453), 2. Aufl. – München: C. H. Beck 1897, S. 911–1067, hier: S. 937 f., 962 (hinfort: Gelzer, Byzantinische Kaisergeschichte).
und bis [583]zur Funktion des Herrschers als Prediger, wie im Khalifenreich.
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Die Kalifen waren gemäß sunnitischer Auffassung nach dem Tod Mohammeds (632) – als ,Stellvertreter des Gesandten Gottes‘ – die Nachfolger des Propheten in der politischen Herrschaft über die muslimische Gesamtgemeinde und zugleich deren religiöse Leiter oder Vorbeter (Imame). Nach Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 81), S. 216, verfügte der Kalif damit über eine „theokratische Herrscherwürde“.
Jedenfalls ist die Beziehung der politischen zur kirchlichen Macht 1. beim priesterlich, sei es als Inkarnation, sei es als gottgewollt[,] legitimierten, 2. beim priesteramtlichen, also als Priester auch die Königsfunktionen versehenden – die beiden Fälle der „Hierokratie“ – und endlich
e
[583]B: und endlich – die beiden Fälle der „Hierokratie“ –
N
In MWG-Druckfassung irrtümlich Sigle A (statt B); Korrektur in MWG digital.
3. beim weltlichen, cäsaropapistischen, d. h. kraft Eigenrechts auch die höchste Macht in kirchlichen Dingen besitzenden weltlichen Herrscher sehr verschieden. Die „Hierokratie“ in diesem Sinne – eigentliche „Theokratie“ ist nur der zweite Fall – hat, wo immer sie auftrat, sehr nachhaltige Wirkungen auf die Struktur der Verwaltung. Sie muß die Entstehung emanzipationslustiger weltlicher Mächte verhindern: wo also neben oder unter ihrer Macht ein König besteht, hindert sie ihn an selbständiger Machtentfaltung: so an der Aufspeicherung des für alle Könige älterer Zeit unentbehrlichen Königshortes (Thesauros) und begrenzt seine Leibwache, um die Schaffung einer selbständigen Militärmacht des Königs zu unterbinden (bereits so in Juda unter Josia).
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Nachdem die Könige Judas durch tributäre Abhängigkeit vom assyrischen Reich politisch geschwächt worden waren, gelang es der städtischen Priesterschaft Jerusalems, im Jahr 622 v. Chr. die Macht im Staate zu gewinnen und eine Reform nach dem Vorbild des mosaischen Gesetzes zu erzwingen. So galt König Josia zwar als legitimer ,davidischer‘ Herrscher, mußte aber sowohl auf den Königshort als auch auf eine berittene Gefolgschaft verzichten. Vgl. auch Weber, Agrarverhältnisse 3 , S. 93.
Sie hemmt ferner nach Möglichkeit das Aufsteigen eines selbständigen rein weltlichen Kriegsadels, weil dieser ein Rivale ihrer Alleinherrschaft wäre, und begünstigt infolgedessen sehr häufig das (relativ) friedliche Bürgertum. Die allgemeine Wahlverwandtschaft zwischen bürgerlichen und religiösen Mäch[584]ten, welche einem bestimmten Stadium in der Entwicklung beider typisch ist, kann sich dann, wie ziemlich oft im Orient und ebenso in der Zeit des Investiturstreits in Italien,
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[584] Gemeint ist die antikaiserliche Partei in den ober- und mittelitalienischen Städten, die seit etwa 1215 als Partei der Guelfen bezeichnet wurde. Vgl. dazu Webers nähere Ausführungen, unten, S. 618.
zu einem förmlichen Bündnis beider gegen die feudalen Gewalten steigern. Dieser Gegensatz gegen das politische Heldencharisma hat die Hierokratie überall den Erobererstaaten als ein Mittel der Domestikation unterworfener Völker empfohlen. So ist die tibetanische wie die jüdische und die spätägyptische Hierokratie von der Fremdherrschaft [B 781]teils gestützt, teils geradezu geschaffen worden, und so wären nach allen historischen Anzeichen auch in Hellas die Tempel, vor allem der delphische Gott, zu einer ähnlichen Rolle im Falle des Sieges der Perser bereit gewesen. Hellenentum und Judentum sind, scheint es, in ihren wichtigsten Zügen Produkte der Abwehr der Perserherrschaft auf der einen Seite, der Unterwerfung auf der andern.
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Vgl. dazu Webers nähere Ausführungen, unten, S. 614 f.
Wie weit die Domestikation durch die hierokratischen Mächte gehen kann, zeigt das Schicksal der Mongolen, welche, nachdem sie anderthalb Jahrtausende lang in immer neuen Vorstößen gegen die ihnen vorgelagerten befriedeten Kulturländer den Bestand der Kultur in Frage gestellt hatten, vornehmlich durch den Einfluß des Lamaismus der offensiven Virulenz ihres kriegerischen Geistes fast gänzlich entkleidet worden sind.
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Im 13. Jahrhundert wurde der Mongolenherrscher und Eroberer Chinas Kublai Khan (1215–1294) von den Lamas des Saskya-Klosters bekehrt, die aufgrund ihrer Schriftkundigkeit für die Verwaltung des nomadischen Mongolenreiches eine herausragende und privilegierte Stellung einnahmen. Die hier von Max Weber vertretene These, daß die allmähliche Bekehrung der Mongolenstämme zu ihrer Befriedung geführt habe, war in der zeitgenössischen Forschung von Albert Grünwedel, Buddhismus (wie oben, S. 60, Anm. 71), S. 193, vertreten worden (vgl. auch dessen namentliche Erwähnung in: Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 451, Fn. 119). In der Tat unterblieben die auf Raub und Plünderungen zielenden Kriegszüge der Mongolen, nachdem unter Khan Timur (ca. 1328–1405) ein letzter Feldzug gegen China fehlgeschlagen war.
Das, nicht immer, im offenen Kampf sich äußernde Ringen zwischen Kriegs- und Tempeladel, zwischen Königsgefolgschaft und priesterlicher Gefolgschaft ist überall an der Prägung von Staat und Gesellschaft am Werk gewesen. Es hat in der gegenseitigen Stellung der Priester- und der Kriegerkaste in Indien, in den teils offenen, [585]teils latenten Kämpfen zwischen Militäradel und Priesterschaft schon in den ältesten mesopotamischen Stadtstaaten, in Ägypten, bei den Juden, in der völligen Auslieferung der Priestertümer in die Gewalt der weltlichen Adelsgeschlechter in der hellenischen Polis und vollends in Rom, in dem Ringen beider Mächte im Mittelalter und auch im Islam mit ihren für den Orient und Okzident so ganz verschiedenen Ergebnissen für die Kulturentwicklung entscheidende Züge und Unterschiede hervorgebracht. Der extreme Gegensatz gegen jede Hierokratie, der Cäsaropapismus: die völlige Unterordnung der priesterlichen unter die weltliche Gewalt, ist historisch in ganz reiner Form streng genommen nicht nachweisbar: nicht nur der chinesische, russische, türkische, persische, sondern ganz ebenso der mit dem Summepiskopat bekleidete englische und deutsche Herrscher ist cäsaropapistischen Charakters, überall aber findet diese Gewalt irgendwo ihre Schranken an der Selbständigkeit eines kirchlichen Charisma: religiöse Glaubensinhalte und Normen eigener Schöpfung zu oktroyieren hat der byzantinische Basileus und haben vor ihm der Pharao, indische und chinesische Monarchen und auch protestantische summi episcopi wiederholt, aber meist vergeblich, versucht, für sie alle sind gerade solche Versuche stets äußerst gefährlich abgelaufen. Am vollkommensten gelungen ist die Unterwerfung der priesterlichen unter die Königsgewalt im allgemeinen da, wo die religiöse Qualifikation noch vornehmlich als ein magisches Charisma ihrer Träger funktionierte und nicht zu einem eigenen bürokratischen Apparat mit einem eigenen Lehrsystem (was beides meist zusammenhängt) rationalisiert worden war, vor allem aber im religiösen Bewußtsein der Typus der ethischen oder der „Erlösungsreligion“ noch nicht erreicht oder wieder verlassen worden ist. Wo dieser Typus herrscht, ist die Widerstandskraft der hierokratischen Mächte gegen die weltliche Gewalt oft unüberwindlich und hat diese keine Wahl[,] als ein Kompromiß einzugehen. Dagegen ist es der antiken Polis am vollständigsten, ziemlich weitgehend aber auch den ostasiatischen feudalen (Japan) und patrimonialen (China) Gewalten und wenigstens leidlich gut auch dem byzantinischen und russischen bürokratischen Staat gelungen, die Herrschaft über vornehmlich magisch-rituell orientierte religiöse Mächte zu gewinnen. Überall aber, wo dies religiöse Charisma ein Lehrsystem und einen eigenen Amtsapparat entwickelt hatte, ist auch im cäsaropapistischen Staat ein stark hierokratischer Einschlag enthalten.
[586]Regelmäßig ist das priesterliche Charisma ein, meist stillschweigendes, zuweilen aber auch in „Konkordaten“ festgelegtes Kompromiß mit der weltlichen Gewalt eingegangen, welches beiden ihre Machtsphäre sicherte, jeder gewisse Einflüsse in der Machtsphäre der andern[,] z. B. der weltlichen auf die Ernennung gewisser kirchlicher Beamten, der geistlichen auf die staatlichen Erziehungsanstalten, beließ, um Interessenkollisionen zu vermeiden, und sie im übrigen einander gegenseitig zu Hilfsdiensten verpflichtete: so in der geistlich-weltlichen Organisation des ziemlich weitgehend cäsaropapistischen Karolingerreichs,
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[586] Vgl. dazu oben, S. 579, Anm. 2.
ebenso des heiligen römi[B 782]schen Reichs, welches etwa unter den Ottonen und ersten Saliern ähnliche Züge aufwies, und in den vielen weitgehend cäsaropapistischen protestantischen Ländern, in anderer Machtverteilung als auch in den Gebieten der Gegenreformation, der Konkordate und Zirkumskriptionsbullen.
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Zirkumskriptionsbullen waren päpstliche Erlasse, die zur Umschreibung (circumscriptio) der Grenzen von Kirchenprovinzen dienten. Mit dem Zeitalter des Absolutismus mußte die kirchliche Gebietseinteilung den Staatsgrenzen zunehmend Rechnung tragen und einvernehmlich mit den Fürsten vereinbart werden. Insbesondere in den protestantischen Ländern wurde im 19. Jahrhundert – im Unterschied zu den quasi völkerrechtlichen Konkordaten – die neue Gebietseinteilung zwar durch den Papst verfügt, aber erst durch die Veröffentlichung in staatlichen Gesetzesblättern rechtsverbindlich gemacht, etwa durch die Zirkumskriptionsbullen für Preußen (De salute animarum, 1821), für die oberrheinische Kirchenprovinz (Provida sollersque, 1821) und für Hannover (Impensa Romanorum Pontificum, 1824).
Die weltliche Gewalt stellt der geistlichen für die Erhaltung ihrer Machtstellung, mindestens aber für die Beitreibung der Kirchensteuern und anderer materieller Subsistenzmittel die äußeren Zwangsmittel zur Verfügung, und als Gegendienst pflegt diese dem weltlichen Herrscher insbesondere die Sicherung der Anerkennung seiner Legitimität und Domestikation der Untertanen mit ihren religiösen Mitteln darzubieten. Die völlige Negierung des selbständigen Charisma für die politische Gewalt haben zwar starke kirchliche Reformbewegungen, wie die gregorianische,
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Gemeint ist die nach Papst Gregor VII. benannte und bis zum Pontifikat von Calixtus II. reichende kirchliche Reformbewegung des 11. Jahrhunderts, die sich vor allem gegen die Beteiligung von Laien an der Besetzung von kirchlichen Ämtern richtete und die Vorrangstellung des Papstes gegenüber den weltlichen Herrschern forderte (Investiturstreit). Gregor VII. behauptete die Unfehlbarkeit und Heiligkeit des Papstes und beanspruchte das Recht, unbotmäßige Monarchen absetzen sowie Untertanen eines Fürsten von ihrem Treueeid entbinden zu können. Der katholische Theologe v. Döllinger sah es als Ziel dieser Bewegung an, „die europäischen Staaten in einem theokratischen [587]Priesterreiche mit dem Papste an der Spitze zu vereinigen“. Vgl. Döllinger, Ignaz von, Das Papstthum. – München: C. H. Beck (Oskar Beck) 1892, S. 40–55, Zitat: S. 40.
zeitweise versucht, aber [587]nicht mit dauerndem Erfolg. Die katholische Kirche erkennt heute die Selbständigkeit des politischen Charisma schon dadurch an, daß sie – ähnlich der Ebenbürtigkeitsdoktrin
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„Ebenbürtigkeit“ bezeichnete in geburtsständisch gegliederten Gesellschaften die gleichwertige Abstammung von Personen, was insbesondere bei Eheschließungen eine Rolle spielte und damit zusammenhängend bedeutsam für Fragen des Ehe-, Familien- und Erbrechtes, aber auch des Prozeßrechtes war.
– gegenüber jeder faktisch im unbestrittenen Besitz der Macht befindlichen Obrigkeit, sei die Herkunft von deren Gewalt welche immer, Anerkennung und Gehorsam religiös zur Pflicht macht, es sei denn, daß es sich um „kirchenräuberische“ Gewalten handelt. –
Irgendwelches Minimum von theokratischen oder cäsaropapistischen Elementen pflegt also mit jeder legitimen, politischen Gewalt, welcher Struktur immer, sich zu verschmelzen, weil schließlich jedes Charisma doch irgendeinen Rest von magischer Herkunft beansprucht, also religiösen Gewalten verwandt ist und also das „Gottesgnadentum“ in irgendeinem Sinne immer in ihr liegt.
[A 1 (7)]Welches
f
[587] In A
N
Hinweis auf Sigle A hier und in den folgenden textkritischen Anmerkungen in MWG digital ergänzt, abweichend zur MWG-Druckfassung.
finden sich am oberen Blattrand folgende Notizen von der Hand Max Webers:
Religion kann im cäsaropapist[ischen] Staat
grade besonders bedeutsam sein
antike Polis = religiöser Verband (Fustel d[e] Coulanges
fa
A: Coulange
N
In MWG-Druckfassung irrtümlich Index aa (statt fa); Korrektur in MWG digital.
)
Wer keine Theologie[,] der keine theolog[ische] Ethik
kein Heils-Problem
dieser verschiedenen Systeme herrscht, ist, was vor Allem streng festzuhalten ist, nicht abhängig von dem Maß von Gewicht, welches dem Religiösen überhaupt von einem Volk eingeräumt wird. Das hellenische, römische, japanische Leben ist durchwebt von religiösen Motiven so sehr wie das irgend eines hierokratischen Gemeinwesens, die antike Polis hat man – zutreffend, nur etwas übertreibend – geradezu als einen primär religiösen Verband auffassen wollen
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Weber bezieht sich hier – wie aus einer Notiz auf dem Manuskriptblatt hervorgeht (vgl. textkritische Anm. f) – auf Fustel de Coulanges, Der antike Staat (wie oben, S. 43, Anm. 7), S. 3, der die Position vertrat, die Religion sei die Grundlage der antiken „Stadt“ und des „Staates“ gewesen.
– ein Historiker wie Tacitus erzählt, Alles in Allem, nicht sehr viel weniger Prodigien und Wunder wie ein mittelalterliches Volksbuch, und der russische Bauer ist religiös so gebunden wie irgend ein Jude
g
In A unsichere Lesung, es könnte auch Jud heißen.
oder Ägypter. Nur die Art, wie die sozia[588]le
h
[588] In A folgt: 〈und politische〉
Herrschaft verteilt ist, ist allerdings sehr verschieden, und dies hat Folgen für die Art der Gestaltung der religiösen Entwicklung selbst.
i
In A folgt von Webers Hand ein doppelter Senkrechtstrich zur Markierung eines Absatzes.
Das cäsaropapistische Regiment, in ziemlich reiner Ausprägung vertreten in den Staaten der okzidentalen Antike, nächstdem, in verschiedenem Maße von Reinheit, im byzantinischen Reich, in den arianischen Staaten,
24
[588] Zum „Arianismus“ vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 781. Als selbständige arianische Reiche sind vor allem zu nennen das Westgotenreich, das 476/77 – Südwestgallien und einen großen Teil Spaniens umfassend – zum „mächtigste[n] Reich des Abendlandes“ aufstieg und durch den Übertritt von König Reccared im Jahr 587 katholisch wurde, weiterhin das Burgunderreich (arianisch bis 517) und das Langobardenreich in Italien, in dem der Arianismus am längsten erhalten blieb (bis ins 7. Jahrhundert). Vgl. v. Schubert, Staat und Kirche (wie oben, S. 582, Anm. 11), Zitat: S. 79.
und noch heut in den Staaten der orientalischen Kirche und im sog. aufgeklärten Despotismus Europas, behandelt die kirchlichen Angelegenheiten einfach als Provinzen der politischen
j
〈St〉 staatlichen > politischen
Verwaltung. Die Götter und Heiligen sind Staatsgötter und Staatsheilige[,] ihr
k
A: sein
Cultus Staatsangelegenheit, neue Götter, Dogmen und Culte läßt der politische Gewalthaber
l
Gewalthaber des Staates > politische Gewalthaber
nach Belieben zu oder schließt sie aus. Die technische Erledigung der Schuldigkeiten gegenüber den Göttern, soweit sie nicht einfach der politische
m
weltliche > politische
Beamte als solcher, nur unter Assistenz der priesterlichen „Fachmänner“, erfüllt, liegt in den Händen einer der politischen
n
weltlichen > politischen
Gewalt schlechthin unterworfenen Priesterschaft. Sie entbehrt, auf Staatspfründen gesetzt, der ökonomischen Autonomie, des eignen Besitzes und des eignen, von der politischen Gewalt
o
Staatsgewalt > politischen Gewalt
unabhängigen Hilfsbeamtenapparates
p
Amtsapparates > Hilfsbeamtenapparates
, den vielmehr die politische Gewalt
q
der Staat > die politische Gewalt
stellt; alle ihre Amtsakte sind staatlich reglementiert und kontrolliert, es existiert keine spezifisch priesterliche Art der Lebensführung und, damit zusammenhängend, außer der technischen Abrichtung für die rituellen Funktionen keine spezifisch priesterliche Erziehung, daher normalerweise keine Entwicklung einer eigentlichen Theologie vor Allem, wiederum daraus folgend, keine der politischen Gewalt
r
dem St > der politischen Gewalt
gegenüber selbständige hierokratische Reglementierung der Lebensführung [589]der Laien: Das hierokratische Charisma ist zu einer bloßen Amtstechnik degradiert. Ein cäsaropapistisch herrschender Adel vollends verwandelt die großen [WuG1 783]Priesterstellen in erblichen[,] ökonomisch und als Prestige- und Machtquelle nutzbaren Besitz einzelner Familien, die Masse der kleinen Priesterstellen in von ihnen nach Art von Hofämtern besetzte Präbenden, klösterliche und ähnliche Stiftungen in Versorgungspfründen für unverheirathete Töchter und jüngere Söhne, die Befolgung der traditionellen rituellen Vorschriften in einen Bestandteil ihres Standesceremoniells und -conventionalismus
s
[589]A: -Conventionalismus
. Wo der Cäsaropapismus in diesem Sinne hemmungslos herrscht, ist eine Stereotypierung des inneren Gehaltes der Religion auf der Stufe der rein technischen ritualistischen Beeinflussung der übersinnlichen Gewalten, die Hemmung jeder Entwicklung zur „Erlösungsreligion“ die unvermeidliche Folge.
t
In A folgt von Webers Hand ein doppelter Senkrechtstrich und: Absatz
Wo umgekehrt das hierokratische Charisma das stärkere ist oder wird, sucht es die politische Gewalt und Ordnung
u
das politische Charisma > die politische Gewalt und Ordnung
, wo sie sie nicht geradezu sich selbst zueignen kann, zu degradieren. Sie ist entweder, weil sie ein concurrierendes, eignes Charisma in Anspruch nimmt, direkt ein satanisches Werk: immer wieder haben grade die consequentesten ethisch-hierokratischen Richtungen im Christentum Anläufe zur Durchführung dieses Standpunktes genommen. Oder sie ist eine durch Gottes Zulassung unvermeidliche Conzession an die Sünde der Welt, in die man sich, in der Welt lebend, schicken muß und mit der man so wenig wie möglich in Berührung
v
In A unsichere Lesung; es könnte auch Beziehung heißen.
tritt, deren Gestaltung jedenfalls ethisch absolut irrelevant ist: die Attitüde des Christentums in seiner eschatologischen Frühzeit ist diese.
25
[589] Gemeint ist die urchristliche Naherwartung des Gottesreiches. Weber folgt hier – wie aus einer Parallelerwähnung hervorgeht – wohl Ernst Troeltsch, der die eschatologischen Erwartungen des Frühchristentums in seinen „Soziallehren“ als „extremsten Indifferentismus gegenüber dem Staatlichen“ interpretiert habe. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 140, und die Referenzstelle bei Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1912, S. 45 f. (hinfort: Troeltsch, Soziallehren), wo sich die Auslegung von Lukas 20, 25 („So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“) findet.
Oder endlich: sie ist ein gottgewolltes Werkzeug zur Bändigung der widerkirchlichen Gewalten und hat sich dann dafür der hierokratischen [590]Gewalt zur Verfügung zu halten. In der Praxis sucht die Hierokratie demgemäß die politische Gewalt in einen Lehensträger der priesterlichen zu verwandeln und ihr die eignen Machtmittel so weit zu benehmen, als dies mit den eignen Interessen am Bestande des politischen Gebildes vereinbar ist. Wo nicht die Priester als solche direkt politisch regieren, empfängt der König seine Legitimation durch Befragung des Orakels (Juda), Bestätigung, Salbung, Krönung von der Priesterschaft. Ihm wird unter Umständen (so in charakteristischer Art bei der Aufrichtung der Priesterherrschaft in Juda unter Josiah)
26
[590] Mit der Kult- und Gesetzesreform im Sinne des „Gesetzes Mose“ im Jahr 622 v. Chr. gelang es der Priesterschaft Jerusalems, den Tempel der Stadt als einzige legitime Kultstätte Jahwes zu etablieren. Josia konnte als König von Juda den Entscheidungen des Losorakels der städtischen Priesterschaft unterworfen werden. Zu den Verzichtsleistungen Josias vgl. oben, S. 583, Anm. 15.
die Ansammlung eines „Horts“[,] also die Schaffung einer
w
[590] In A folgt: einer
ihm persönlich ergebenen Gefolgschaft und die Haltung eigener Söldner[,] unterbunden. Die Hierokratie
x
Priesterschaft > Hierokratie
schafft einen autonomen, hierokratisch geleiteten Ämterapparat, entwickelt ein eigenes Abgabensystem (Zehnten) und Rechtsformen (Stiftungen) für
y
A: (Stiftungen 〈, Wakuf〉) – für Der Gedankenstrich wurde emendiert.
die Sicherung von kirchlichem Bodenbesitz. Aus der charismatischen Spendung der magischen Güter, welche zuerst ein freier erlernter „Beruf“ und Erwerbszweig wird, entwickelte sich ein von fürstlichen
a
staatlichen > fürstlichen
oder grundherrlichen Pfründnern
b
In A unsichere Lesung; es könnte auch Pfründen heißen.
verwaltetes patrimoniales Amt, dann – unter Umständen – eine Amtspfründe an einem Tempel, der als „Stiftung“ in irgend einem Maße gegen Eingriffe unheiliger
c
der politischen oder patrimonialen > unheiliger
Gewalten sichergestellt ist: die Tischgemeinschaft und die daraus hervorgewachsenen Naturalpräbenden der ägyptischen, orientalischen, ostasiatischen Tempelpriester gehören dahin. Zur „Kirche“ entwickelt sich die Hierokratie, wenn 1) ein besonderer, nach Gehalt, Avancement, Berufspflichten, spezifischem (außerberuflichem) Lebenswandel reglementierter und von der „Welt“ ausgesonderter Berufspriesterstand entstanden ist – 2) die Hierokratie „universalistische“ Herrschaftsansprüche erhebt, d.
d
Fehlt in A, da Papier abgeschnitten; d. sinngemäß ergänzt.
h. mindestens die Gebundenheit an Haus, Sippe, Stamm überwunden hat, in vollem Sinn erst, wenn auch die ethnisch-nationalen Schranken gefallen sind, also bei völliger re[591]ligiöser Nivellierung, – 3) wenn Dogma und Cultus rationalisiert
e
[591] In A unsichere Lesung, da Papierfalte.
, in heiligen Schriften niedergelegt, commentiert
f
A: commentiert,
und systematisch, nicht nur nach Art einer technischen Fertigkeit, Gegenstand des Unterrichts sind, – 4) wenn dies Alles sich in einer anstaltsartigen Gemeinschaft vollzieht. Denn der Alles entscheidende Punkt, dessen Ausflüsse diese, in sehr verschiedenen Graden von Reinheit entwickelten
N
MWG: entwikelten
N
Fehlschreibung in MWG-Druckfassung; hier korrigiert in MWG digital.
Prinzipien sind, ist die Loslösung des Charisma von der Person und seine Verknüpfung mit der Institution und speziell: mit dem Amt. Denn die „Kirche“ ist von der „Sekte“ im soziologischen Sinn dieses Wortes dadurch unterschieden: daß sie sich als Verwalterin einer Art von Fideicommiß
g
A: Fideicommisses
ewiger Heilsgüter betrachtet, die jedem dargeboten werden, in die man – normalerweise – nicht freiwillig, wie [WuG1 784]in einen Verein, eintritt, sondern in die man hineingeboren wird, deren Zucht auch der religiös nicht Qualifizierte, Widergöttliche unterworfen ist, mit einem Wort: nicht, wie die „Sekte“[,] als eine Gemeinschaft rein persönlich charismatisch qualifizierter Personen, sondern als Trägerin und Verwalterin eines Amtscharisma. „Kirchen“ in diesem Sinn hat außer dem Christentum in vollem Sinn nur der Islam, der Buddhismus in der Form des Lamaismus, in begrenztem
h
Passage in A verdoppelt (mit Bleistift).
, weil immerhin de facto national gebundenem Sinn der Mahdismus und das Judentum und vor ihm anscheinend die spätägyptische Hierokratie
i
Religion > Hierokratie
erzeugt. –
Von ihren
j
A: seinen
amtscharismatischen Ansprüchen aus stellt die „Kirche“ ihre Anforderungen an die politische Gewalt. Das spezifische Charisma des hierokratischen Amtes wird zu einer schroffen Steigerung der Dignität seiner Träger benutzt. Neben Immunität gegenüber der staatlichen Rechtspflege, Besteuerung und allen anderen staatlichen Pflichten und schweren Strafen für jede Verletzung des Respekts vor ihnen[,] schafft sie daher vor Allem für die kirchlichen Beamten eigene Formen der Lebensführung und dementsprechend
k
A: Dem entsprechend
spezifische Vorbildungsregeln und zu diesem Zweck eine hierokratische Erziehung, in deren Besitz sie sich dann der Erziehung auch der Laien bemächtigt und kraft ihrer dann der politischen Gewalt
l
nun dem Staat > kraft ihrer dann der politischen Gewalt
den Nachwuchs von deren Beamten und ebenso die „Unterthanen“, in hierokratischem Geiste geprägt und gestempelt, liefert.
m
In A folgt ein doppelter Senkrechtstrich zur Markierung eines Absatzes.
[592]Auf Grund ihrer Machtstellung entfaltet die Kirche bei hierokratischer Ordnung ferner ein umfassendes System
n
[592] In A folgt: 〈sittlich〉
ethisch-religiöser Lebensreglementierung, für dessen inhaltlichen Umfang es prinzipielle Schranken von jeher so wenig hat geben können[,] wie heute für die Ansprüche der katholischen Lehrautorität auf die disciplina morum.
27
[592] Weber bezieht sich hier auf Artikel 58 des Syllabus von Papst Pius IX. aus dem Jahr 1864. Dort verwarf der Papst die Behauptung, die „morum disciplina“ („Sittlichkeit“) bestünde aus der Vermehrung von Reichtümern und dem Genuß der Vergnügungen. (Vgl. „Syllabus“ seu collectio errorum modernorum, in: Enchiridon Symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, auctore Henrico Denzinger, 10. AufI. – Freiburg i. Br.: Herder 1908, S. 471). Auf dieser Grundlage beanspruchte der Papst noch zur Zeit Webers „Disziplin“ bezüglich der „materia fidei et morum“.
Die Machtmittel der Hierokratie zur Durchsetzung ihrer Ansprüche sind[,] auch abgesehen von der Unterstützung der politischen Gewalt, die sie verlangt und erhält, sehr bedeutende: die Excommunikation[,] der Ausschluß von
o
A: vom
den gottesdienstlichen Handlungen wirken wie der schärfste soziale Boykott, und die ökonomische Boykottierung in Gestalt des Gebots, mit den Ausgestoßenen nicht zu verkehren, ist in irgend einer Form allen Hierokratien eigen. Soweit die Art dieser Lebensreglementierung von hierokratischen Machtinteressen bestimmt ist
p
A: ist,
– und das ist in immerhin weitgehendem Maße der Fall –[,] wendet sie sich gegen das Aufkommen [A 2 (8)]konkurrierender Mächte. Daraus folgt: „Schutz der Schwachen“, d. h. der einer nicht hierokratischen Gewalt Unterworfenen, also: der Sklaven, Hörigen, Frauen, Kinder gegen schrankenlose Willkür der Gewalthaber, der Kleinbürger und Bauern gegen Bewucherung, Hemmung des Aufkommens von ökonomischen Mächten, die nicht hierokratisch beherrschbar sind, vor Allem: neuer, traditionsfremder Mächte[,] wie der des aufsteigenden Kapitals, und überhaupt Fernhaltung jeder Erschütterung der Tradition und des Glaubens an ihre Heiligkeit, als der innerlichen Grundlage der hierokratischen Macht, daher Stützung der gewohnten und überkommenen Autoritäten.
In diesen Consequenzen führt die Hierokratie also ganz ebenso zur Stereotypierung, wie ihr Gegenbild, und zwar grade auf ihrem eigensten Gebiet: Der rational organisierte priesterliche „Betrieb“ der Verwaltung göttlicher Heilsgüter als einer „Anstalt“ und die Übertragung der charismatischen Heiligkeit auf diese Institution als solche, wie sie jeder „Kirchen“-Bildung eigentümlich und ihr eigent[593]lichstes Wesen ist: Das hier in höchster Consequenz entwickelte Amtscharisma
q
[593]A: Amtscharisma,
wird unvermeidlich der bedingungsloseste Feind alles genuinen persönlichen[,] an der Person als solcher haftenden, auf sich selbst gestellt den Weg zu Gott suchenden
r
In A unsichere Lesung; in WuG1: fördernden
und lehrenden prophetischen, mystischen, ekstatischen Charisma, welches die Dignität des „Betriebes“ sprengen würde. Der nicht beamtete individuell charismatische Wunderthäter wird als „Ketzer“, als „Zauberer“ verdächtig – das findet sich schon in den Inschriften aus Gudea’s Zeit.
28
[593] Max Weber bezieht sich hier auf die Inschriften über den sumerischen Stadtfürsten Gudea von Lagasch aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Die Stadtfürsten (Patesi) verstanden sich als irdische Vertreter des Stadtgottes. Gudea errichtete dem Stadtgott Ningirsu einen prächtigen Tempel. Die Inschriften preisen ihn als einen umsichtigen Herrscher, der die Gebete einhielt, für Wohlstand und Sicherheit sorgte. Er habe die Stadt – möglicherweise durch ein Feuer – gereinigt und die „schrecklichen Zauberer“ vertrieben. (Vgl. Thureau-Dangin, François, Die sumerischen und akkadischen Königsinschriften (Vorderasiatische Bibliothek, Band 1, Abt. 1). – Leipzig: J. C. Hinrichs 1907, S. 69, 103; hinfort: Thureau-Dangin, Königsinschriften). Bereits in seinem Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum“ hatte Weber darauf hingewiesen, daß die sumerisch-akkadischen Stadtkönige zugunsten des anerkannten Gottes zur „Verfolgung von Winkelpriestern (,Zauberern‘) und Ketzern“ aufgerufen hätten. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 74, sowie den dortigen Hinweis (ebd., S. 184) auf die Inschriften-Publikation von Thureau-Dangin.
Und nicht minder gehört es zu den vier absoluten Todsünden der buddhistischen Mönchsregel, sich persönlich übernatürliche Fähigkeiten zuzuschreiben.
29
Weber bezieht sich hier auf das vierte, in den Ordenssatzungen (Pātimokkha, Pārāgikā Dhammā, 4) niedergelegte Vergehen. Die Satzungen sind in den Texten der Vinaya-Piṭaka („Korb der Mönchszucht“) überliefert. (Vgl. Vinaya Texts. Translated from Pāli by T. W. Rhys Davids and Hermann Oldenberg, Part I: The Pātimokkha, The Mahāvagga, I–IV (Sacred Books of the East, Vol. 18, Part I), – Delhi Patna Varanasi: Motilal Banarsidass 1882, S. 5; hinfort: Vinaya Texts). Das vierte Vergehen lautet in deutscher Wiedergabe: „Der geweihte Mönch darf sich nicht des Besitzes übermenschlicher Kräfte rühmen“. Die drei anderen „Hauptsünden“, die sofort zum Ausschluß aus der Mönchsgemeinschaft führten, bestanden in unkeuschem Verhalten, Diebstahl und wissentlichem Töten von Lebewesen. Vgl. Kern, Buddhismus (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 40 f.
Das Wunder wird zu einer in den regulären Betrieb eingefügten Institution (so: das Meßwunder), und die charismatische Qualifikation ist versachlicht, sie haftet an der [WuG1 785]Ordination als solcher und wird (der Gegenstand des Donatistenstreits)
30
Der Donatistenstreit, besonders zwischen dem römischen Bischof Stephanus I. (254–257) und dem Bischof von Karthago Cyprian (ca. 248–258) ausgetragen, drehte sich um die Frage, ob der Todsünde schuldige Bischöfe im Amt bleiben oder aber von ihrer Gemeinde abgesetzt werden könnten. Im Streit setzte sich die römische Orthodoxie mit der Ansicht durch, daß einmal geweihte Bischöfe im Amt bleiben sollten. Vgl. Sohm, Kirchenrecht, S. 218–220.
von [594]der persönlichen „Würdigkeit“ des zum Amt Zugelassenen prinzipiell losgelöst (character indelebilis),
31
[594] Vgl. oben, S. 529, Anm. 21, sowie den Glossar-Eintrag, unten, S. 784.
– Person und Amt sind, dem allgemeinen Schema entsprechend, getrennt, weil sonst die Unwürdigkeit der Person das Charisma des Amts als solchen compromittieren müßte. Die Stellung der charismatischen „Propheten“ und „Lehrer“ in der alten Kirche schwindet, dem allgemeinen Schema der Veralltäglichung des Charisma entsprechend[,] mit fortschreitender Bürokratisierung der Verwaltung in den Händen der Bischöfe und Presbyter. Die Ökonomie des Betriebes wird, in der Organisation sowohl wie in der Art der Bedarfsdeckung, den Bedingungen aller Alltagsgebilde angepaßt: hierarchisch geordnete Amtscompetenzen, Instanzenzug, Reglement, Sporteln, Pfründe, Disziplinarordnung, Rationalisierung der Lehre und der Amtsthätigkeit als „Beruf“ stellen sich ein, – ja sie wurden, wenigstens im Occident, grade von der Kirche, als Erbe antiker, in manchem
s
[594]A: Manchem
vermutlich namentlich ägyptischer Traditionen,
32
Einige Stichworte zur Organisation der ägyptischen Kirche führte Adolf Harnack in seiner Darstellung der christlichen Missionsgeschichte an. Die Städte und Nomen seien die Grundlage der „episkopalen Sprengel“ geworden. Die Bischöfe der Nomen hätten im 3. Jahrhundert der „unumschränkten Oberleitung des alexandrinischen Metropoliten“ unterstanden, der das Recht hatte, „alle Bischöfe zu ordinieren, allgemeine disziplinare Vorschriften zu geben und in kirchlichen Prozessen als oberster Richter zu fungieren“. Vgl. Harnack. Mission II (wie oben, S. 463, Anm. 8), S. 137.
zu allererst entwickelt, – ganz naturgemäß, weil auf diesem Gebiet, sobald einmal die Entwicklung zum Amtscharisma beschritten war, die spezifisch bürokratische Tendenz der Trennung der unheiligen Privatperson von dem heiligen Amt, das
t
A: die
sie verwaltet, notwendig rücksichtslos consequent durchgeführt werden mußte. Und zu den großen Problemen der hierokratischen Organisation
u
Kirchen > hierokratischen Organisation
gehört dann die Stellungnahme des offiziellen „Betriebs“ zu der Entwicklung einer charismatischen Gottesgefolgschaft: dem Mönchtum mit seiner den Compromiß mit der „Welt“ ablehnenden Festhaltung der genuinen Postulate des charismatischen Stifters.
Die
a
Hier beginnt der Text der angeklebten Zusatzseite zu A 2 (8). Er wird unten, S. 595 Zeile 14 mit textkritischer Anm. c, durchbrochen durch die eingefügten Seiten A 2X (9) bis A 2X2 (11) und setzt sich fort bis unten, S. 605 mit textkritischer Anm. o.
„Askese“ im Sinn zunächst der spezifisch mönchischen Lebensführung kann zweierlei sehr verschiedenen Sinn haben: einer[595]seits, und das ist innerhalb der „Erlösungsreligionen“ überall, bei den hinduistischen, buddhistischen, islamischen ebenso wie bei den christlichen Asketen, das Primäre: die individuelle Rettung der eigenen Seele durch die Eröffnung eines persönlichen, direkten Weges zu Gott. Die radikalen Anforderungen des alle Ordnung der Welt umstoßenden, fast stets eschatologisch orientierten Charisma sind innerhalb jener Ordnungen, welche unvermeidlich den Compromiß mit den ökonomischen und andren unheiligen Machtinteressen verlangen, nie durchführbar und die „Weltflucht“ aus Ehe, Beruf, Amt, Besitz, politischer
b
[595] Staat > politischer
und jeder anderen Gemeinschaft nur die Consequenz dieses objektiven Sachverhalts. Und in allen Religionen gewinnt ursprünglich der vollendete Asket, der das Außeralltägliche leistet, das persönliche Charisma: den Gott zu zwingen und Wunder zu thun.
c
In A folgt der Zusatz von Webers Hand: 2X
[A 2X (9)][WuG1 [786]]Das Mönchtum ist in dem charismatischen Stadium seiner Entwicklung eine antiökonomische Erscheinung, der „Asket“ der Gegenpol des bürgerlichen Erwerbsmenschen
d
„homo oecomomicus“ > bürgerlichen Erwerbsmenschen
sowohl wie des seinen Besitz ostensibel genießenden Feudalherren. Er lebt einsam oder in frei sich bildenden Heerden
e
Veraltete Schreibweise für: Herden
[,] ehe- und also verantwortungslos, unbekümmert um politische oder andre Gewalten von gesammelten Früchten oder vom Bettel und hat keine Stätte in der „Welt“: die ursprüngliche Regel der buddhistischen Mönche erlegt ihnen, außer in der Regenzeit, unstetes
f
A: unstätes
Wandern auf und begrenzt
g
A: begränzt
zeitlich jeglichen Aufenthalt am gleichen Ort,
33
[595] Das Gebot findet sich in: Mahāvagga III, 1; vgl. Vinaya Texts (wie oben, S. 593, Anm. 29), S. 298 f., sowie die deutsche Wiedergabe der „asketischen Lebensregeln“ für den buddhistischen Mönch bei Kern, Buddhismus (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 18–21 und 51.
ausschließlich
h
In A unsichere Lesung; es könnte auch und schließlich heißen, was aber nicht zur nachfolgenden Satzkonstruktion passen würde.
der in ihren Zielen und Mitteln zunächst gänzlich irrational orientierten, d. h. auf die [WuG1 787]Abstreifung der Gebundenheit wie an die ökonomischen, so auch an die physischen Bedingungen des irdischen Daseins und die Erringung der Vereinigung mit dem Göttlichen, gerichteten Askese. In dieser Form ist es in der That
i
A: That,
ein Teil jener spezifischen Macht der Nichtwirtschaftlichkeit, welche das genuine Charisma überall dar[596]stellt. Das Mönchtum ist die alte genuin charismatische Jüngerschaft und Gefolgschaft[,] nur daß nicht mehr ein sichtbarer religiöser Held, sondern der ins Jenseits entrückte Prophet sein nunmehr unsichtbarer Leiter ist. Allein, bei diesem Stadium bleibt es nicht. Die äußeren Thatsachen bezeugen es. Rationale ökonomische Erwägungen einerseits oder
k
[596] In A folgt: durch
raffiniertes Genußbedürfnis andererseits reichen an Tragfähigkeit an die Leistungen des religiösen Charisma, – die, wie dieses selbst, „außeralltäglichen“ Charakters sind, – nicht heran. Das gilt freilich für die Leistungen der hierokratischen Gewalt überhaupt. Die völlige Sinnlosigkeit der Pyramidenbauten wird nur durch die Qualität des Königs als incarnierten Gottes
34
[596] Nach Meyer, Eduard, Ägypten zur Zeit der Pyramidenerbauer. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1908, S. 10 ff., galten die Pharaonen des Alten Reiches, insbesondere die Könige der vierten und fünften Dynastie (ca. 2639/2589–2347/2297 v. Chr.), als Götter, die mit Allmacht ausgestattet waren und im Mittelpunkt des Staatswesens standen.
und den unbedingten Glauben der Beherrschten daran erklärlich. Die Leistungen der Mormonen in der Salzwüste von Utah spotten aller Regeln der rationalen Siedelungsökonomie.
35
Um weiteren Verfolgungen am Mississippi zu entgehen, gründeten die Mormonen 1847 im späteren US-Bundesstaat Utah die Stadt Salt Lake City. In der Nähe eines abflußlosen Salzsees, inmitten einer Wüste, schufen sie durch systematische Bewässerungsanlagen eine Reihe von Siedlungen mit weitreichenden, fruchtbaren Anbauflächen. Die Isolation und eine straffe theokratische Organisation der Sekte erzwangen von den Gläubigen absoluten Gehorsam und Arbeitsdisziplin. Vgl. Meyer, Mormonen (wie oben. S. 461 f., Anm. 5), S. 203–207.
Und dies ist vollends typisch für die Leistungen des Mönchtums, die fast stets das ökonomisch Unwahrscheinliche vollbringen. Mitten in den Schnee- und Sandwüsten Tibets hat das buddhistische Mönchtum in der lamaistischen Form ökonomische, namentlich aber, in Gestalt der Potala, architektonische Leistungen vollbracht,
36
Die Potala ist eine im 17. Jahrhundert errichtete Tempel-, Kloster- und Palastgruppe bei Lhasa, die als Residenz des Dalai Lama diente. Vgl. Landon, Perceval, Lhasa, Vol. 2. – London: Hurst and Blackett, Ltd. 1905, S. 279–316.
welche an Riesenhaftigkeit des Umfangs und, wie es scheint, auch qualitativ, den umfassendsten und berühmtesten Schöpfungen der Erde gewachsen sind. Ökonomisch sind die Mönchsgemeinschaften des Abendlandes die ersten rational verwalteten Grundherrschaften und, später, Arbeitsgemeinschaften auf landwirtschaftlichem und gewerblichem Gebiet. Die künstlerischen Leistungen des buddhistischen Mönchtums sind in ihrer Tragweite für den fernen Osten ebenso außerordentliche wie die heute [597]fast unglaubhafte Thatsache, daß eine entlegene, wie es heute scheinen kann, zu ewigem Schattendasein verdammte Insel wie Irland, einige Jahrhunderte lang in ihren Klöstern die Trägerin der Kulturüberlieferungen des Altertums war und daß ihre Missionare bestimmenden Einfluß auf die historisch unendlich folgenreiche Eigenart der Entwicklung der abendländischen Kirche gewannen. Daß ferner das Abendland z. B. allein den Entwicklungsweg zur harmonischen Musik eingeschlagen hat, verdankt es – wie hier nicht nachgewiesen werden kann
37
[597] Gemeint ist wohl die postum veröffentlichte Studie Max Webers, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. – München: Drei Masken Verlag 1921 (MWG I/14); vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 566 f.
– ebenso wie die Eigenart der Entwicklung seines wissenschaftlichen Denkens zum immerhin erheblichen Teil der Eigenart des benediktinischen und weiterhin auch des franziskanischen und dominikanischen Mönchtums. Hier haftet unser Blick vor Allem an den rationalen Leistungen des Mönchtums, die absolut unvereinbar scheinen mit seinen charismatischen antirationalen und speziell antiökonomischen Grundlagen. Allein die Dinge liegen hier ähnlich wie bei der „Veralltäglichung“ des Charisma überhaupt: sobald die ekstatische oder contemplative Vereinigung mit Gott aus [A (10)]einem durch charismatische Begabung und Gnade erreichbaren Zustand Vereinzelter zu einem Gegenstand des Strebens Vieler und, vor Allem, zu einem durch angebbare asketische Mittel erreichbaren,
l
[597]A: erreichbarem,
also erwerbbaren
m
A: erwerbbarem
Gnadenstande wird, wird die Askese Gegenstand methodischen „Betriebs“, ganz wie in der charismatischen Erziehung der magischen Priesterzünfte. Die Methode selbst ist, mit einigen Besonderheiten, in der ganzen Welt im Prinzip zunächst die gleiche, von dem ältesten Mönchtum, dem indischen, in höchster Consequenz und Mannigfaltigkeit entwickelte
n
A: entwickelten
: die Methodik der indischen Mönche gleicht
o
A: gleichen
in dem wesentlichen Grundstock der Bestimmungen derjenigen
p
A: denen
des christlichen Mönchtums sehr stark, nur daß vielleicht das
q
A: das vielleicht
Raffinement physiologisch (Atemregulierung und ähnliche Methoden der Yoga
r
Zu erwarten wäre: Yogis Die Unstimmigkeit der Satzkonstruktion erklärt sich durch die weitere Zufügung von: und anderer Virtuosen Vgl. die detaillierte Textwiedergabe unten, S. 697, Zeile 20 f.
38
Bei dem nach der altindischen Sankhya-Philosophie systematisierten Yoga (altindisch für „Sammlung“, „Vertiefung“) handelt es sich um eine Schulung der geistigen [598]Konzentration. Das Ziel desjenigen, der Yoga betreibt, ist es, durch die Herrschaft über den Körper den Geist von den äußeren Dingen zu befreien, um so zu höherer Erkenntnis zu gelangen.
und anderer Virtuosen)
s
A: Virtuosen))
dort, psy[598]chologisch (Beichtpraxis, Gehorsamsprobe[,] exercitia spiritualia der Jesuiten)
39
Als „exercitia spiritualia“ werden die geistlichen Übungen bezeichnet, die der Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola entwickelt hat. In vierwöchiger Einsamkeit sollten Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung mit Gott erreicht werden.
hier im Ganzen stärker entwickelt ist und daß dem Abendland die so folgenschwere Behandlung der Arbeit als asketischen Mittels zwar nicht [WuG1 788]allein vorbehalten, aber dort doch, aus Gründen historischer Art, weit consequenter und universeller entwickelt war und praktisch wurde. Überall aber steht die Gewinnung der unbedingten Herrschaft des Mönchs über sich selbst und seine creatürlichen, daher der Vereinigung mit Gott widerstreitenden Triebe im Mittelpunkt. Schon dieses inhaltliche Ziel weist auf immer weitere Rationalisierung der Lebensführung hin, und diese ist denn auch überall eingetreten, wo das Mönchtum sich zu einer starken Organisation zusammenschloß: die üblichen Formen des charismatischen und zünftigen Noviziats, die Hierarchie der Weihen und sonstigen Stellungen, der Abt, eventuell Zusammenschluß der Klöster zu einer Congregation oder einem „Orden“ stellen sich ein, vor Allem aber: das Kloster und die das ganze Leben darin bis ins Einzelne reglementierende Ordensregel. Damit ist aber das Mönchtum in das Wirtschaftsleben hineingestellt. Von einem Unterhalt durch rein antiökonomische Mittel,
t
[598]A: Mittel,:
insbesondere den Bettel, kann dauernd nicht mehr die Rede sein, mag formal das Prinzip als Fiktion aufrechterhalten werden. Im Gegenteil – wie noch zu erörtern
40
Der Bezug ist nicht ganz klar. Siehe unten, S. 661 f., wo sich Weber näher zur Übertragung der in den Klöstern gepflegten methodischen Lebensführung auf das Bürgertum äußert. Mögliche Bezugsstellen wären auch oben, S. 595–597, oder unten, S. 625– 627, 630–633, 645 f.
– die spezifisch rationale Methodik der Lebensführung muß auch die Art der Bewirtschaftung stark beeinflussen. Grade als Asketengemeinschaft ist das Mönchtum zu den erstaunlichen Leistungen befähigt gewesen, welche über das
u
A: Das
hinausgehen, was die normale Wirtschaft zu leisten pflegt. Das Mönchtum ist nun die Elitetruppe der religiösen Virtuosen innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen. Sein heroisches Zeitalter und seine consequenteste Organisation erlebt es daher [599]überall – ganz entsprechend dem Feudalismus – im Feindesland: auf dem Missionsgebiet, handle es sich um innere oder, und namentlich[,] äußere Mission. Nicht zufällig hat der Buddhismus die lamaistische, bis in die Einzelheiten des Ceremoniells hinein der abendländischen Curie
v
[599] In A folgt: hinein
entsprechende hierarchische Organisation nicht in Indien, sondern unter unablässiger Bedrohtheit durch die wildesten Barbarenvölker der Erde auf dem Boden Tibets und der Mongolei aus sich herausgetrieben,
41
[599] Gemeint ist hier die spezifische Form des Buddhismus: der Lamaismus, wie er in Tibet und der Mongolei verbreitet ist. Obwohl schon früher eingeführt, erlangte der Lamaismus seine volle Entfaltung in Tibet erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts (der Klerus übernahm nun auch die weltliche Herrschaft) und in der Mongolei seit dem Ende des 16. Jahrhunderts unter Altan Khan, dem Regenten des Mongolen-Khans Tümen ǰasaɣtu (1558–1592). In Tibet sei – so Grünwedel, Buddhismus (wie oben, S. 60, Anm. 71), S. 28 – der Buddhismus „zu einer Hierarchie“ geworden, während „die Begründung einer festgegliederten Kirche“, der späteren, sog. „gelben Kirche“, das Werk der Mongolen gewesen sei (ebd., S. 61, 72; dieser Einschätzung folgend: Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 453 ff.).
wie ebenso die occidentale Mission in den Barbarenländern die spezifische Eigenart und Stellung des lateinischen Mönchtums hervortrieb.
[A 2X2 (11)]Wir verfolgen das hier nicht weiter und stellen nur fest: wie sich das Mönchtum zu den politischen und hierokratischen Gewalten verhält. Der cäsaropapistischen politischen Gewalt liegen verschiedenartige Beweggründe zur Begünstigung des Mönchtums nahe. Zunächst die später allgemein für die Beziehungen von
a
In A folgt: 〈St〉
politischer und hierokratischer Gewalt zu besprechenden
42
Siehe unten, S. 614–616.
Bedürfnisse der eignen Legitimation und der Domestikation der Unterthanen: Die Beziehungen, welche schon Dschingis Chan auf der Höhe seiner Macht und die tibetanischen und chinesischen Herrscher zu den buddhistischen Mönchen anknüpften,
43
Der erste Kontakt der Mongolenherrscher mit den Mönchen des tibetischen Saskya-Klosters läßt sich auf das 12. Jahrhundert datieren, als Dschingis Khan mit dem berühmten Abt Sa-skya-mahā-paṇḍita (1182–1231) korrespondiert haben soll. Zu engeren Kontakten kam es schließlich im 13. Jahrhundert, als – nach legendenhafter Überlieferung – der Lama ’Phags-pa mit dem vierten mongolischen Großkhan in China, Kublai Khan (1215–1294), zusammentraf und den mongolischen Kaiserhof bekehrt haben soll. Er erhielt angeblich den Auftrag, eine Schrift für die Mongolen zu erfinden. (Vgl. Grünwedel, Buddhismus (wie oben, S. 60, Anm. 71), S. 65). Auf die Mönche aus Tibet stützte sich zur Stabilisierung der Herrschaft nicht nur die mongolische Yüan-Dynastie in China, sondern auch die ihr nachfolgende chinesische Ming-Dynastie. Bei Albert Grünwe[600]del heißt es sogar, sie hätten die geistlichen Würdenträger benutzt, „um das Land in Unterthänigkeit zu erhalten“ (ebd., S. 69). In Tibet wurden die buddhistischen Mönche bereits im 7. Jahrhundert von den Königen gefördert und beauftragt, „die Dämonen" zu bekämpfen und die Bevölkerung zum Buddhismus zu bekehren (ebd., S. 54).
sind sicherlich ebenso motiviert wie [600]die gleichartigen Beziehungen germanischer, russischer und aller sonstigen Herrscher und auch die freundlichen Beziehungen Friedrichs des Großen zu den Jesuiten, welche ihre Fortexistenz trotz der Bulle Dominus ac redemptor
b
[600]A: redemtor
noster ermöglichen halfen.
44
Friedrich d.Gr. holte französische Jesuiten nach Schlesien an die Universität Breslau, um ein Gegengewicht zu den österreich-freundlichen Ordensbrüdern zu schaffen. Die Jesuiten bewährten sich außerdem als unentgeltlich arbeitende Gymnasiallehrer. Als Papst Clemens XVI. durch sein Breve „Dominus ac redemptor noster“ vom 21. Juli 1773 die Auflösung des Jesuitenordens verfügte, verbot Friedrich d.Gr. die Publikation der päpstlichen Urkunde in seinem Herrschaftsgebiet. Er gewährte den Jesuiten – ebenso wie Katharina II. in Rußland – Schutz.
Die Mönche im Speziellen sind, als Asketen, die methodischsten, rein politisch ungefährlichsten[,] zuverlässigsten und, wenigstens zunächst auch billigsten, ja unter den Verhältnissen eines reinen Agrarstaats die einzig möglichen Schulmeister, und der politische Gewalthaber kann
c
A: kann > hat Das ursprünglich von Weber verwendete Wort wird hier wieder eingesetzt, da es zur nachfolgenden Verbialkonstruktion sich … wünschen paßt.
, wenn er sich einen Beamtenapparat
d
rationellen Herrschaftsapparat > Beamtenapparat
schaffen und ein Gegengewicht gegen
e
In A folgt: seinen
den natürlichen Gegner einer solchen, sei es patrimonialen oder bürokratischen Rationalisierung der Herrschaftsstruktur: den Adel, gewinnen will, sich keine sicherere Stütze wünschen als den Einfluß der Mönche auf die beherrschten Massen. Wo und so lange dies der Fall ist, pflegt die hierokratische Lebensreglementierung mindestens ebenso stark zu sein, wie bei eigentlich hierokratischer[,] d. h. amtscharismatischer Herrschaft. Allein diese Stütze muß von der politischen Gewalt teuer erkauft werden: Das Mönchtum stellt sich zwar dem rationalen kirchlichen Reformeifer des Herrschers – heiße er Kaiser Heinrich III.
45
Kaiser Heinrich III. stand in engem Kontakt zu den führenden Vertretern der kirchlichen, insbesondere der kluniazensischen, Reformbewegung seiner Zeit (vgl. auch den Eintrag im Personenverzeichnis, unten, S. 764). Er bestätigte nicht nur die Privilegien der Kluniazenserklöster, sondern versuchte – entsprechend deren kirchenreformerischen Zielen – ein Fehdeverbot (tregua dei) durchzusetzen und die Simonie einzudämmen. Vgl. Giesebrecht, Wilhelm von, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Band 2, 5. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1885, S. 379–385.
oder König [601]Açoka
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[601] Unter dem indischen König Açoka (TI.: Aśoka) wandelte sich das Verhältnis des weltlichen Monarchen zum buddhistischen Orden zu einem von Weber als „Halb-Theokratie“ (Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 376) bezeichneten System. So wurde es Açoka gestattet, zunächst als Novize, dann auch als Mönch dem Orden beizutreten und doch König zu bleiben. Mit Unterstützung des Ordens betrieb Açoka die Mission des Buddhismus vor allem in Ceylon und Hinterindien, erließ ein auf der buddhistischen Ethik beruhendes, auch für „Laien“ verbindliches ,Frömmigkeitsgesetz‘ und versuchte schließlich, durch Edikte verbindliche Entscheidungen selbst in Fragen der inneren Ordensdisziplin herbeizuführen. Vgl. Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 375–385, sowie die dort genannte Studie von Smith, Asoka (wie oben, S. 334, Anm. 36), S. 119 ff.
– gern zu Gebote; aber seine charismatische Religiosität lehnt jede cäsaropapistische Einmischung in das Gebiet des eigentlich [WuG1 789]Religiösen weit schroffer ab, als irgend ein Weltpriestertum es thut, und es kann kraft seiner festgefügten asketischen Disziplin eine ungemein starke selbständige Macht entfalten. Es kommt daher der Moment, wo mit dem Erstarken des Mönchtums dieses und cäsaropapistische Ansprüche feindlich zusammenstoßen. Je nach dem Verlauf dieses Zusammenstoßes wird dann entweder die weltliche Gewalt thatsächlich expropriiert, wie es etwa in Tibet geschah[,]
47
Max Weber bezieht sich hier auf die Herrschaft des fünften Dalai Lama Ngawang Losang Gyamthso (1617–1682), der nach dem Tod des Mongolenfürsten und tibetischen Königs Guschri Khan (1655/56) zum unbestrittenen geistlichen und weltlichen Herrscher Tibets aufstieg.
oder umgekehrt das Mönchtum gänzlich vernichtet, wie im Verlauf der wiederholten Verfolgungen in China.
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Gemeint sind die Buddhistenverfolgungen, die Kaiser T’o-pa-Tao (423–452), zweiter Herrscher der Wei-Dynastie (386–534), auf Betreiben seines Ministers Ts’ui-Hao im Jahre 446 einleitete. Zu weiteren Verfolgungen kam es in den Jahren 842 bis 845 unter dem Kaiser Wu-tsung der T’ang-Dynastie. Sie führten zur Aufhebung der meisten buddhistischen Klöster und zur Einziehung ihres Grundbesitzes. Etwa 250.000 Mönche wurden zur Rückkehr in den Laienstand gezwungen und als Steuerzahler registriert. Tempel und Klöster konnten fortan nur noch mit Genehmigung des Kaisers errichtet werden, und die Weihe der Mönche war nur noch mit einem kaiserlichen Ordinationszertifikat möglich. In der Neuzeit gab es weitere Buddhistenverfolgungen unter dem chinesischen Kaiser Chiaching (1522–1566). Vgl. de Groot, Religionen der Chinesen (wie oben, S. 332, Anm. 29), S. 191 f., sowie Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 423, Anm. 90.
Weit ernster und innerlicher noch sind die Probleme der Beziehungen des Mönchtums zum hierokratischen Amtscharisma. Wo, wie im genuinen Buddhismus, ein eigentlicher Patriarch nicht existiert – die Stellung des als Patriarchen bezeichneten, höchststehenden Würdenträgers des altindischen Buddhismus scheint sehr [602]schwach gewesen zu sein,
49
[602] Die „Patriarchen“ des altindischen Buddhismus waren, so Weber, ebd., S. 358, nur „durch Anciennität und Charisma qualifizierte Arhats“, also „Heilige“ besonders geachteter buddhistischer Klöster. Weber vermutet, daß erstmals unter Açoka, der eine dem byzantinischen Monarchen vergleichbare Stellung als „Herr und Patron“ der Kirche eingenommen habe, Patriarchen von einem Monarchen ernannt wurden. Bezeugt ist diese, von Weber (ebd., S. 383) als „Theokratie der buddhistischen Monarchen“ bezeichnete Praxis für Siam und Birma. Vgl. Hackmann, Buddhismus II (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 51.
und zwar infolge der cäsaropapistischen Stellung der Fürsten, welche dauernd eine ähnliche Rolle usurpierten wie die byzantinischen Kaiser
50
Die byzantinischen Monarchen übten eine nahezu uneingeschränkte Suprematie über die Kirche aus und beeinflußten nachhaltig die Dogmenbildung der griechisch-orthodoxen Kirche. Nach Gelzer, Byzantinische Kaisergeschichte (wie oben, S. 582 f., Anm. 13), S. 937, war der byzantinische Monarch „Basileus und Hiereus zugleich“.
– oder wo er, wie im Lamaismus, im Wesentlichen durch das Mönchtum creiert und gelenkt wird und fast ganz mit mönchischen Beamten
f
[602]Mönchskräften > mönchischen Beamten
regiert,
51
Über den Aufbau eines Beamtenapparats in Tibet berichtet Albert Grünwedel: „Vom zweiten Dalai Lama (1479–1541) erfahren wir, daß er einen förmlichen Beamtenstab einrichtete unter einem Majordomus (sDe-pa), für die äußere Verwaltung sowohl, wie für die Verwaltung der Klöster. Ebenfalls wiedergeborene Chutukten-Geistliche, welche in ihren Funktionen etwa den Bischöfen oder Kardinälen entsprechen, bildeten als Kollegium die Berater des Groß-Lamas; in den Provinzen übernahmen sie die Zivilverwaltung.“ Vgl. Grünwedel, Lamaismus (wie oben, S. 560, Anm. 50), S. 148.
da ist die Beziehung wenigstens äußerlich leidlich glatt geregelt. Aber die inneren Spannungen treten auch in solchen Fällen hervor, je entschiedener der genuine Charakter des Mönchtums als eines den Compromiß
g
In A unsichere Lesung; es könnte auch die Compromiße heißen.
mit den unvermeidlichen[,] sündhaften, weil an Gewalt und Besitz gebunden, Ordnungen der Welt verschmähenden, von aller Anstaltsgnade unabhängigen, weil kraft eignem Charisma den Weg zu Gott findenden radikalen Verwirklichung der Jüngerschaft Gottes[,] gewahrt bleibt oder durch Reformen wieder entfacht wird.
[A [2 (8)]][WuG1 [785]]Es ist klar, daß dies persönliche Charisma mit den hierokratischen Ansprüchen einer „Heilsanstalt“, welche den Weg zu Gott ihrerseits zu monopolisieren beansprucht („extra ecclesiam nulla salus“
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Der Satz „extra ecclesiam nulla salus“ („außerhalb der Kirche kein Heil“) hatte in der römisch-katholischen Kirche eine spezifische Bedeutung, die auf Cyprian (ca. 200–258) zurückgeführt wird. Nach dessen Lehre gebe es außerhalb der Kirche, als einer sowohl Reine wie Unreine umfassenden Sakral- und Bußanstalt, kein Heil. Cyprian begründete damit die Umbildung der Kirche – wie Harnack, Dogmengeschichte I (wie oben, S. 525 f., Anm. 12), Zitate: S. 417 f., 445, formulierte – von einer „Gemeinschaft des Heiles“ zu einer „Heilsanstalt“.
ist [603]der Leitspruch aller „Kirchen“), in letztlich unvereinbarem Widerspruch steht. Erst recht natürlich die Bildung von exclusiven Gemeinschaften solcher spezifisch qualifizierter
h
[603]A: Qualifizierter
Heiliger, welche ja die universalistischen und daher[,] wie jede Bürokratie, nivellierenden Herrschaftsansprüche der Kirche und wiederum die ausschließliche Bedeutung ihres Amtscharisma negieren.
i
A: negiert.
Dennoch hat jede der großen Kirchen mit dem Mönchtum paktieren müssen. Dem
j
In A unsichere Lesung; es könnte auch Extrem heißen.
Mahdismus und dem Judentum, welche beide als Heilsweg die Gesetzestreue und, im Prinzip, nichts als diese kennen und die eigentliche Askese verwerfen, ist das Mönchtum fremd geblieben. In der spätägyptischen Kirche haben sich vielleicht Ansätze dazu gefunden.
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[603] Weber schließt sich hier vermutlich der Darstellung von Leipoldt, Johannes, Schenute von Atripe und die Entstehung des national ägyptischen Christentums (Texte und Untersuchungen zur altchristlichen Literatur, hg. von Oscar von Gebhardt und Adolf Harnack, N. F., 10. Band, Heft 1). – Leipzig: J. C. Hinrichs 1903, S. 188–191, an. Demnach habe der Mönch Schenute von Atripe (333/34 bis 451?) das asketisch-koinobitische Mönchtum der koptischen Kirche – im Sinne einer national gefärbten Frömmigkeit – erneuert und es auf diese Weise als „herrschenden Stand der Kirche“ erhalten (ebd., S. 191). Aus diesen Gründen habe Schenute zudem nach dem Konzil von Chalcedon 451 die Loslösung der koptischen aus der griechischen Kirche angestrebt.
Ablehnen konnte namentlich die christliche Kirche die consequente Durchführung der notorisch und schriftkundig ihr selbst genuinen Grundsätze nicht. Die Handhabe bot die sekundäre Umdeutung der Askese in eine spezifische „Berufs“-Leistung innerhalb der Kirche[,] zunächst so, daß die volle Befolgung der als höchstes, aber nicht Jedem zuzumuthendes Ideal anzusehenden „consilia evangelica“ als Quelle einer Surplus-Leistung behandelt wurde, deren Resultat die Kirche als Thesaurus zu Gunsten der charismatisch unzulänglich Begabten verwaltet. Dann aber und namentlich: indem die Askese gänzlich umgedeutet wird in ein Mittel[,] nicht in erster Linie der Erringung des eignen Heils auf eignem Wege, sondern der Tauglichmachung des Mönchs zur Arbeit im Dienst der hierokratischen [WuG1 786]Autorität: der äußeren und inneren Mission und des Kampfes gegen die concurrierenden Autoritäten. Bedenklich mußte eine solche innerweltliche Arbeit, welche sich auf ein eigenes spezifisches Charisma stützte, der Alles aus ihrem Amtscharisma ableitenden kirchlichen Autorität bleiben und ist es auch immer geblieben. Aber die Vorteile [604] überwogen.
k
[604]A: überwogen,
Die Askese tritt damit aus der Klosterzelle heraus und trachtet[,] die Welt zu beherrschen, zwingt durch ihre Concurrcnz ihre Lebensform (in verschiedenem Umfang) der Amtspriesterschaft auf und nimmt an der Verwaltung des Amtscharisma den Beherrschten (Laien) gegenüber teil. Immer freilich bleiben die Reibungen bestehen. Die Eingliederung der ekstatischen Askese in Form der Derwischorden in die islamische Kirche
l
A: Kirche,
(ideell ermöglicht seit al Ghazali’s Erweichung des orthodoxen Dogrnas)
54
[604] Der islamische Rechtsgelehrte und Theologe AI Ghazzali, nach Goldziher, „der größte Kirchenvater des Islam“, wandte sich in seinen Werken im Anschluß an die Mystik des Sufismus gegen die dialektische und kasuistische Religionsauffassung der orthodoxen Dogmatiker und Ritualisten. Im Gegensatz zu deren Formalismus forderte er, daß die Religion auch als „inneres Selbsterlebnis“ gepflegt werden müsse. Seine Theologie fand schnell Eingang in die islamische Orthodoxie. Vgl. Goldziher, Ignaz, Die Religion des Islam, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abteilung III,1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 87–135, Zitate: S. 114 f. (hinfort: Goldziher, Religion des Islam).
ist kaum „consequent“ zu nennen. Der Buddhismus hatte, als eine von Anfang an ganz und gar von und für Mönche geschaffene und von ihnen propagierte Religion[,] die glatteste Lösung: absolute Beherrschung der Kirche durch die Mönche als charismatische Aristokratie, in der Hand, und sie war auch grade ihm dogmatisch besonders leicht akzeptabel. Die orientalischen Kirchen haben durch zunehmende Reservierung aller oberen Amtsstellen der Hierokratie für das Mönchtum eine wesentlich mechanische Lösung gefunden, deren innere Zwiespältigkeit: Verklärung der irrationalen und individuellen Askese einerseits, staatlich bürokratisierte Anstaltskirche, in Rußland ohne monokratisches geistliches Oberhaupt, andrerseits[,] der durch Fremdherrschaft und Cäsaropapismus gebrochenen Entwicklung ihrer Hierokratie entspricht. Die Reformbewegung der Ossifljanen
m
In A unsichere Lesung; es könnte auch Ossiflyanen heißen; WuG1: Offizialen
55
Gemeint sind die Anhänger des russischen orthodoxen Mönches und Kirchenpolitikers Josif (Sanin) von Volokolamsk (um 1440–1515). Aus einer Familie des grundbesitzenden Adels stammend, begründete er 1479 in Volokolamsk ein asketisches Reformkloster und war ein früher Verfechter der dann im 16. Jahrhundert vorherrschenden Lehre des „Dritten Roms“. Diese besagte, daß nach dem Fall Konstantinopels (1453) die Moskauer Großfürsten und das russische Reich – als Hüter der Rechtgläubigkeit – das Erbe von Byzanz übernähmen. Die Anhänger des Josif setzten sich für eine enge Verflechtung zwischen der seit 1448 eigenständigen, russisch-orthodoxen Kirche und der politischen Führung unter den erstarkenden Moskauer Großfürsten ein. Ob diese als fromme und rechtgläubige Fürsten anzusehen seien, kam nach Ansicht der Josifljanen [605](Osiflianen) der Kirche zu. Sie strebten einen umfangreichen Landbesitz der Klöster an, wodurch das reformierte Klosterwesen in enger Anlehnung an den Moskowiter Staat politisches Gewicht erlangen und als Ausbildungsstätte für einen auch staatlich verwendbaren Klerus dienen sollte.
trat hier [605]s. Z. ebenso in den Dienst des Cäsaropapismus als der einzig als Träger in Betracht kommenden, weil stärksten Macht, wie die cluniazensischen Reformatoren schon
n
[605] In A unsichere Lesung.
an Heinrich III. einen Anhalt fanden.
56
Vgl. die Erläuterungen oben, S. 600, Anm. 45.
Am reinsten lassen sich Reibung und Ausgleich in der okzidentalen Kirche verfolgen, deren innere Geschichte sehr wesentlich eben dadurch erfüllt ist, mit der schließlich consequenten Durchführung der Lösung:
o
Ende der angeklebten Zusatzseite zu A 2 (8); die Textfortführung folgt einer Bleistiftmarkierung von Webers Hand, die vor Einordnung wiederholt wird.
Einordnung des Mönchtums in eine bürokratische Organisation als eine durch „Armuth“ und „Keuschheit“ von der Gebundenheit an die Bedingungen des Alltags losgelöste, durch spezifischen „Gehorsam“ disziplinierte Truppe eines monokratischen Kirchenhauptes. Diese letztere Entwicklung hat sich durch immer neue Ordensgründungen vollzogen. Das irische Mönchtum, in dessen Obhut zeitweise die Wahrung eines bedeutenden Teils der Culturtraditionen des Altertums gestellt war, hätte auf dem Missionsgebiet des Okzidents ohne die Herstellung der engen Verbindung mit dem römischen Stuhl recht wohl eine spezifische Mönchskirche schaffen können. Der Benediktinerorden andererseits schuf, nachdem seine charismatische Epoche abgelaufen war[,] im Ergebnis, feudale Klostergrundherrschaften.
57
Im 8. Jahrhundert entwickelten sich umfangreiche Grundherrschaften des Benediktinerordens, die in der Regel auf eine Stiftung durch den König, einen Bischof oder weltlichen Herren zurückgingen. Grundherr über den oft verstreuten Landbesitz mit seinen zahlreichen zu Abgaben verpflichteten Pachthöfen und Hörigen war der Abt des Klosters, bei dessen Wahl der jeweilige Stifter jedoch über ein gewisses Mitspracherecht verfügte und gelegentlich auch Weltgeistliche oder sogar Laien einsetzte.
Noch der Cluniazenser-
p
A: Cluniazenser
(und erst recht der Prämonstratenser-
q
A: Prämonstratenser
)Typus war der eines grundherrlichen Honoratiorenordens,
58
Zu beiden Orden vgl. die Glossar-Einträge, unten, S. 784 und 799. Die kluniazensischen Reformklöster verfügten über umfangreichen Grundbesitz mit eigener Gerichtsverfassung und dienstpflichtigen Hintersassen. Dank ihrer geschickten Erwerbspolitik (z. B. durch Schenkungen und Arrondierungen) konnten sie seit dem 10. Jahrhundert umfangreiche Grundherrschaften errichten und durch den Erwerb von Nutzungsrechten an Wald, Weide oder Fischerei sichern. Vgl. Sackur, Ernst, Die Cluniacenser in ihrer [606]kirchlichen und allgemeingeschichtlichen Wirksamkeit bis zur Mitte des elften Jahrhunderts, Band 2. – Halle a.S.: Max Niemeyer 1894, S. 406–436.
dessen höchst mäßige „Askese“ (man [606]braucht sich nur die als zulässig angesehene Garderobe zu vergegenwärtigen)
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Für die monastischen Reformbewegungen seit dem 10. Jahrhundert nahm die Frage der Kleidung der Mönche eine zentrale Stellung in der Klosterzucht ein. Wie schon von zeitgenössischen Kritikern hervorgehoben wurde, ging die bei den Kluniazensern übliche Kleidung – ein doppelter Rock, die knöchellange Skapulierkukulle, über der ein kostspieliger, faltenreicher „froccus“ getragen wurde – über die von der Benediktinerregel zugestandene, einfache und billige Garderobe weit hinaus. Vgl. Sackur, dass., Band 1, ebd. 1892, S. 22 f., 58–60.
sich in den Grenzen hielt, welche einer solchen Schicht entsprach
r
[606]A: entspricht
; eine interlokale Organisation bestand auch hier nur in Form des Filiationssystems.
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Die Äbte neugegründeter Kluniazenserklöster wurden vom Abt des Mutterklosters in Cluny ernannt. Während die Verbindungen zum Mutterkloster zunächst locker waren, kam es unter Abt Odilo von Cluny (1049–1109) zu einer weitreichenden Zentralisation und straffen Führung des kluniazensischen Klosterverbandes.
Ihre Bedeutung liegt wesentlich in dem Wiederauftauchen des Mönchtums als einer Macht im Dienste der hierokratischen Lebensbeherrschung. Der Cisterzienserorden verband die erstmalige Schaffung einer festen interlokalen Organisation mit einer asketischen Organisation der landwirtschaftlichen Arbeit, die ihn zu seinen bekannten Colonisationsleistungen befähigte.
61
Bereits im 12. Jahrhundert hatte sich der 1098 gegründete Zisterzienserorden im christlichen Europa bis nach Skandinavien, Spanien und Irland ausgebreitet. Besondere wirtschaftliche Bedeutung hatte der Orden für die Ostkolonisation und -mission (Preußen, Wenden) im 13. Jahrhundert durch seine zumeist von Laienbrüdern (Konversen) bewirtschafteten, straff organisierten Musterhöfe (Grangien) in den Rodungsgebieten bis zur Weichsel. Über den eigentlichen Klosterbedarf hinaus produzierte Agrargüter wurden auf den Märkten gegen Geld eingetauscht, welches oft zum Ausbau des klösterlichen Grundbesitzes genutzt wurde.
[A 3 (12)][WuG1 [789]]Die Institution der Laienbrüder – motiviert durch das Bedürfnis der Freisetzung der Priestermönche für die spezifisch geistlichen Pflichten – trug die aristokratische Gliederung in das Kloster
a
A: Klosters
selbst hinein, schob aber dafür den feudalen Charakter seiner Grundlage noch weiter zurück. Die centralistisch geleiteten Bettelordensklöster waren, nach der ursprünglichen, genuin charismatischen Form der Beschaffung ihrer Subsistenzmittel im Gegensatz zu den agrarischen Cisterziensern an städtische Residenz gebunden und auch in der Art ihrer Arbeit: Predigt, Seelsorge, dienende Liebeswerke[,] vornehmlich auf die Bedürfnisse bürgerlicher Schichten ausgerichtet. Mit die[607]sen Ordensgründungen zuerst trat die Askese aus dem Kloster heraus auf die Straße zu systematischer „innerer Mission“.
62
[607] Gemeint sind die klassischen Bettelorden des 13. Jahrhunderts, die Franziskaner und Dominikaner. Mit dem Hinweis auf die „innere Mission“ spielt Weber auf die seit 1849 im „Centralausschuß für innere Mission der deutschen evangelischen Kirchen“ vereinigten Vereine und Anstalten an. Diese hatten sich als freie christlich-karitative Einrichtungen ursprünglich außerhalb der amtlich geordneten Staatskirchen gebildet.
Die – wenigstens formell – strikte Durchführung des Besitzverbotes und die Beseitigung der „stabilitas loci“:
63
Die „Festigkeit des Ortes“ war als Profeßformel der Prämonstratenser gegen das mönchische Wanderleben und das „Scheinmönchtum“ gerichtet. Sie besagte, daß ein Mönch das Kloster bis zum Tode nicht mehr verlassen durfte, wenn er nicht durch äußere Umstände dazu gezwungen war, einen entsprechenden Befehl des Abtes oder eine entsprechende Erlaubnis erhalten hatte.
d. h. also der Wanderbetrieb der Nächstenliebe, steigerte die Verwertbarkeit dieser bedingungslos verfügbaren Mönche für die Zwecke der unmittelbaren Beherrschung der breiten Schichten des Bürgertums, dessen systematische Angliederung in der Form der „Tertiarier“-Gemeinschaften
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Bezeichnung für die seit dem 11. und 12. Jahrhundert entstehenden Vereinigungen von Laien, die sich an bestehende Klostergemeinschaften angliederten, um ihr Leben nach dem mönchisch-asketischen Ideal zu gestalten. Im 13. Jahrhundert erreichten die „Dritten Orden“ der Dominikaner und Franziskaner große Verbreitung. Max Weber folgt hier offensichtlich der von Adolf Harnack vertretenen These, daß die Tertiarierbrüderschaften den ersten Versuch neben den Mönchsorden darstellten, die Laienwelt zu umfassen und „mönchisch zu discipliniren“. Vgl. Harnack, Adolf, Das Mönchthum, seine Ideale und seine Geschichte. Eine kirchenhistorische Vorlesung. – Gießen: J. Ricker 1881, S. 40.
die Ordensgesinnung über die Kreise des Mönchtums selbst hinaustrug. Die Kapuziner und die ihnen verwandten späteren Gründungen sind ebenfalls zunehmend auf Massenbearbeitung gerichtete Verbände,
b
[607]A: Verbände.
und die letzten großen Versuche, auf die ursprüngliche asoziale Idee der Askese: individuelle Heilsgewinnung zurückzugreifen: Karthäuser und Trappisten, sie änderten an der immer stärker sozial, d. h. auf den Dienst der Kirche als solchen[,] ausgerichteten Gesammtentwicklung des Mönchtums nichts mehr.
Die von Stufe zu Stufe steigende Rationalisierung der Askese zu einer immer ausschließlicher in den Dienst der Disziplinierung gestellten Methodik erreichte im Jesuitenorden ihren Gipfel. Jeder Rest von individueller charismatischer Heilsverkündigung und Heilsarbeit, deren Eliminierung aus den älteren Orden, zumal aus der Gründung des Hl. Franz, die kirchliche Autorität, welche darin [608]eine Gefährdung der Stellung des Amtscharisma erblicken mußte, soviel Mühe gekostet hatte, ebenso jeder irrationale Sinn der Askese als eines eigenen Weges des Individuums zum Heil – ebenfalls ein für das Amtscharisma bedenklicher Punkt –
c
[608] Gedankenstrich fehlt in A.
und auch alle irrationalen, d. h.: in ihrem Erfolg nicht berechenbaren, Mittel sind hier verschwunden: der rationale „Zweck“ herrscht (und „heiligt“ die Mittel – ein Satz nicht etwa nur der jesuitischen, sondern jeder relativistischen oder teleologischen Ethik, der nun als Pointe der rationalen Lebensreglementierung eine charakteristische [WuG1 790]Note empfängt). Mit Hülfe
d
Veraltete Schreibweise für: Hilfe
dieser, durch ein spezielles Gelübde zum bedingungslosen Gehorsam gegen den römischen Stuhl verpflichteten Leibgarde
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[608] Die Klasse der Professen des Jesuitenordens legte neben den Gelübden der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams ein viertes Gelübde ab, mit dem sich die Jesuiten gegenüber dem Papst verpflichteten, in den Missionsgebieten mit unbedingtem Gehorsam für Gott und den Glauben zu streiten. Vgl. Institutum Societatis lesu (wie oben, S. 465, Anm. 12), S. 1 f.
ist die bürokratische Rationalisierung der Herrschaftsstruktur der Kirche durchgeführt worden. Schon die Durchführung des Cölibats war eine Rezeption mönchischer Lebensform und geschah auf Andrängen des cluniazensischen Mönchtums vor Allem auch zu dem Zweck, die im Investiturstreit bekämpfte Feudalisierung der Kirche zu hindern und den „Amtscharakter“ der kirchlichen Stellungen sicherzustellen. Und noch wichtiger war die Einwirkung des allgemeinen „Geistes“ des Mönchtums auf die Prinzipien der Lebensführung. Der Mönch, als der exemplarisch religiöse Mensch, war – wenigstens in den Orden mit rationalisierter Askese, am meisten dem Jesuitenorden –
e
Gedankenstrich fehlt in A.
zugleich der erste spezifisch „methodisch“, mit „eingeteilter Zeit“, und steter Selbstkontrolle unter Ablehnung alles unbefangenen „Genießens“ und aller nicht dem Zweck seines Berufs dienenden Inanspruchnahme durch „menschliche“ Pflichten lebende „Berufsmensch“ und dadurch dazu prädestiniert, als Werkzeug jener bürokratischen Centralisierung und Rationalisierung der Herrschaftsstruktur der Kirche zu dienen und zugleich, kraft seines
f
A: ihres
Einflusses als Seelsorger und Erzieher, die entsprechende Gesinnung innerhalb der religiös gestimmten Laien zu verbreiten.
Der jahrhundertelange Widerstand der lokalen kirchlichen Gewalten (Bischöfe, Pfarrclerus) gegen die stets übermächtige Concur[609]renz des Mönchtums – in der Seelsorge unterbot der Mönch als zugereister und deshalb beliebter Beichtvater sehr leicht die ethischen Anforderungen des ortssässigen Clerus im ideellen Sinn ganz ebenso wie auf dem Gebiet des Schulunterrichts bei freier Concurrenz eine Schicht von solchen cölibatären Asketen jede weltliche Lehrerschaft, welche aus ihrem Besitze
g
[609] In A unsichere Lesung.
den Unterhalt einer Familie zu bestreiten hat, im materiellen Sinn zu unterbieten in der Lage ist – dieser Widerstand war zugleich ein solcher gegen eben diese bürokratische Centralisation in der Kirche gewesen. In anderen Kirchen hat das Mönchtum nur im Buddhismus eine Rolle von solcher Tragweite gespielt, nur daß hier, außer im Lamaismus,
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[609] In der Anfangszeit (bis zum Sturz der Mongolen-Dynastie in China 1368) galt der Lama des Klosters Saskya als der unbestrittene Hierarch des Lamaismus in Tibet. Seit dem 15. Jahrhundert steht dieses Vorrecht dem Großlama des Klosters Lhasa, dem Dalai Lama, zu.
die hierarchische Spitze fehlte. In der orientalischen Kirche beherrscht das Mönchtum formell die Kirche, da aus ihm alle höheren Ämter besetzt werden, – aber die cäsaropapistische Unterwerfung der Kirche bricht seine Macht. Im Islam spielten die Orden nur in den eschatologischen (mahdistischen) Bewegungen eine führende Rolle.
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Eigentlich werde – so die Aussage des Islamwissenschaftlers Ignaz Goldziher – das Mönchtum in der islamischen Lehre zurückgewiesen. An den Mahdi (vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 795) knüpften sich erst im Laufe der Zeit eschatologische Hoffnungen. In unterschiedlicher Akzentuierung verbanden Schiiten und Sunniten politische und religiöse Heilserwartungen mit dem Mahdi, was zu einer Vielzahl von Sektenbildungen führte. „Orden", die die Wiederkunft des Mahdi propagierten, waren z. B. der in Nordafrika zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene Senūsiorden sowie der Derwischorden der Sammaniya, die sich 1881 gegen die Engländer erhoben. Vgl. Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 81), S. 230–233 mit den Erläuterungen auf S. 267 f., Zitat: S. 230, sowie Goldziher, Religion des Islam (wie oben, S. 604, Anm. 54), S. 134–136.
Dem Judentum fehlt das Mönchtum gänzlich. In keiner Kirche aber ist, vor Allem eine Rationalisierung der Askese in der Art vollzogen und für hierokratische Machtzwecke nutzbar gemacht worden, wie sie das Abendland, am vollendetsten im Jesuitenorden, gesehen hat.
[B [790]]Der Gegensatz zwischen politischem und magischem Charisma ist uralt. „Cäsaropapistische“ ebenso wie „hierokratische“ Herrscher finden sich auf dem Negerdorf ebenso wie in großen Staatenbildungen. Die Götter (oder „Heiligen“) sind ferner auch in den primitivsten Verhältnissen oder vielmehr gerade da teils interlokale, teils lo[610]kale. Das starke Hervortreten der lokalen Gottheiten und damit einer weitgehenden Koinzidenz von Religion oder vielmehr, richtiger ausgedrückt: von Kultusgegenstand und politischem Gebietsumfang findet sich naturgemäß ganz besonders auf der Stufe der endgültigen Siedelung κατ’ ἐξοχήν: der Stadt. Von da an ist die Stadtgottheit oder der Stadtheilige als Schutzpatron das ganz unentbehrliche Requisit jeder politischen Gründung, und die polytheistischen Konzessionen aller großen monotheistischen Religionen sind, solange die Macht der Stadt Träger der politischen und ökonomischen Existenz der Einzelnen ist, unumgänglich. Jede große Staatengründung ist in diesem Stadium unvermeidlich von einem Synoikismos der Götter und Heiligen der angegliederten oder unterworfenen Städte oder Regierungssitze in der neuen Hauptstadt begleitet. So, neben andern bekannten Beispielen, noch die Gründung des moskowitischen Reichs als Einheitsstaat: die Reliquien aus allen Kathedralen der anderen Städte wurden nach Moskau transportiert.
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[610] Der Metropolitensitz wurde 1328 von Wladimir nach Moskau verlegt.
Die „Toleranz“ des altrömischen Staatswesens war ähnlichen Charakters: es akzeptierte die Kulte aller Götter angegliederter Staaten, wenn sie qualitativ irgendwie [B 791]dazu geeignet schienen und – in der Kaiserzeit – sich dem politisch motivierten Staatskult (Kaiserkult) ihrerseits fügten. Es stieß dabei auf Widerstand nur beim Judentum – welches aus ökonomischen Gründen gewährt
h
[610]B: gewähren
gelassen wurde – und Christentum. Die Tendenz zum Zusammenfall der politischen Grenzen mit dem Verbreitungsgebiet der Religion ist naturgemäß, sobald dies Stadium erreicht ist. Es kann von seiten der politischen ebenso wie von seiten der hierokratischen Gewalt ausgehen: der Triumph des eigenen Gottes ist die endgültige Bewährung des Triumphs des Herrschers und zugleich ein starkes Unterpfand der politischen Obödienz und Abwendung von der Treuepflicht gegen andere Herren. Und die Religion einer selbständig entwickelten Priesterschaft findet in den Staatsuntertanen ihr natürlichstes Missionsgebiet und schreitet gern zum „coge intrare“,
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Lateinische Übersetzung von Lukas 14, 23: „nötige sie hereinzukommen“. Diese Textstelle wurde erstmals von Augustinus (Epistulae 93, 5) im Jahre 408 – im Rahmen des Donatistenstreits – herangezogen, um die Zwangsbekehrung von Heiden und das gewaltsame Vorgehen gegen Ketzer biblisch zu rechtfertigen und die dienende Funk[611]tion des Staates bei der Gewaltausübung zu betonen. Vgl. Harnack, Adolf, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 3, 4. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1910, S. 153 f. mit Anm. 3 (hinfort: Harnack, Dogmengeschichte III).
zumal wenn sie „Erlösungsreligion“ ist.
[611]Daß der Islam hier eine horizontale Grenzscheide: die Religion als Merkmal der Ständeschichtung zuließ, hing mit den ökonomischen Privilegien der Bekenner zusammen. Die okzidentale Christenheit war wenigstens ideell auch eine politische Einheit, und dies hatte gewisse praktische Konsequenzen. Die alte Gegensätzlichkeit von politischen und hierokratischen Machtansprüchen findet nur ausnahmsweise eine reinliche Lösung im Sinn des vollen Sieges der einen oder der anderen. Eine noch so mächtige Hierokratie ist zu fortwährenden Kompromissen mit den ökonomischen und politischen Realitäten genötigt: die Geschichte aller Kirchen ist voll davon. Und der cäsaropapistische Herrscher konnte andererseits normalerweise Eingriffe in die Dogmenbildung nicht wagen und noch weit weniger als in diese in das Gebiet der heiligen Riten. Denn jede Alterierung der Form ritueller Handlungen gefährdet deren magische Kraft und ruft damit alle Interessen der Beherrschten gegen ihn auf. Von diesem Standpunkt sind die großen Schismen in der russischen Kirche darüber: ob das Kreuz mit zwei oder drei Fingern zu schlagen sei
70
Gemeint ist die Spaltung („Raskol“) der russisch-orthodoxen Kirche in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts, die von einem Streit über Änderungen in den liturgischen Büchern ausging. Der russische Patriarch Nikon hatte mit Synoden in den Jahren 1654 bis 1656 eine der griechischen Liturgie entsprechende Bestimmung über das Bekreuzigen mit zwei statt drei Fingern rigoros durchgesetzt, die allerdings schon 1641 in die russischen Meßbücher aufgenommen worden war. Dort war auch bereits 1610 das doppelte an die Stelle des dreifachen Halleluja getreten. Die Gegner Nikons, die an den traditionellen Ritualen festhalten wollten, klagten den Patriarchen als Häretiker an, konnten sich aber nicht durchsetzen. So wurde die Synode von 1666/67 zum Ausgangspunkt des erbitterten Widerstandes der Reformgegner und des sog. „großen Schismas“ der russisch-orthodoxen Kirche. Vgl. Bonwetsch, Gottlieb Nathanael, Raskolniken, in: RE3, Band 16, 1905, S. 436–443, hier: S. 436 f.
und ähnliches eine ganz selbstverständliche Erscheinung. Ob dann im speziellen das Kompromiß von politischer und hierokratischer Gewalt mehr cäsaropapistisch oder mehr hierokratisch ausfällt, ist in jedem Einzelfall naturgemäß durch die Machtkonstellationen der Stände zueinander und insofern indirekt auch ökonomisch mitbedingt. Aber nicht so, daß darüber sich allgemeine Sätze von wertvollem Gehalt aufstellen ließen. Und es folgt ferner in sehr starkem Maße aus den Eigengesetzlichkeiten der betreffenden Religiosität. Es fragt sich vor allen Dingen: ob diese eine göttlich verordnete, von der [612]weltlichen Gewalt gesonderte Form der Kirchenverfassung kennt oder nicht. Das ist im Buddhismus außerhalb des Lamaismus nur indirekt (durch die Regelung der allein zum Heil führenden Lebensführung), im Islam und in der orientalischen Kirche in begrenztem Maße, im Luthertum gar nicht, dagegen in positiver Art in der katholischen Kirche und im Calvinismus der Fall. Daß der Islam von Anfang an sich mit den Expansionsinteressen der Araber vermählte und zu seinem positiven Gebote die gewaltsame Unterwerfung der unerbötigen Welt gehörte, steigerte das Prestige des Khalifen von Anfang an derart, daß kein ernstlicher Versuch seiner hierokratischen Unterjochung gemacht worden ist. Selbst bei den Schiiten mit ihrer Ablehnung eben dieser Stellung des Khalifen und ihren eschatologischen Hoffnungen auf die Parusie des legitimen Nachfolgers des Propheten in Persien,
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[612] Nach Auffassung der Schiiten („Anhänger der Partei Alis“) waren – im Gegensatz zu den Sunniten – nur der Schwiegersohn und Neffe Mohammeds, der vierte Kalif ‘AIī b. Abī Tālib (um 600–661), und dessen Nachkommen rechtmäßige Nachfolger („Imame“) des Propheten. Nach dem Tod Alis spalteten sich die Schiiten in verschiedene Gruppen. Je nach Schulrichtung werden fünf, sieben oder zwölf Imame anerkannt. Nach Auffassung der Zwölferschiiten („Imamiten“) soll Mohammed, der Abkömmling des elften Imams Hasan AI-Askari, im Jahr 873 in die Verborgenheit eingegangen sein und dort in der Nähe Bagdads verharren, bis er als Mahdi bzw. als „Imam des Zeitalters“ zurückkehre, um mit dem Schwert ein islamisches Friedensreich zu errichten. Nach Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 81), S. 227–233, an den Weber sich an dieser Stelle offensichtlich anlehnt, war die Hoffnung auf die Parusie des Mahdi noch im persischen Staat des frühen 20. Jahrhunderts von fundamentaler dogmatischer und politischer Bedeutung.
ist die Stellung des Schah doch überragend, so sehr bei der Ernennung der Priester auf die Stimmung der lokalen Bevölkerung Rücksicht genommen zu werden pflegt. Die katholische Kirche mit ihrem eigenen, auf römischer Tradition ruhenden, Amtsapparat, der für ihre Bekenner divini juris ist, hat cäsaropapistischen Neigungen den hartnäckigsten und, nach notgedrungenen Konzessionen in Zeiten der Bedrängnis, schließlich erfolgreichen Widerstand entgegengesetzt. Luthers auch durch einen eschatologischen Einschlag seines persönlichen Glaubens, im übrigen aber allein durch die individuelle Natur seiner Frömmigkeit bestimmte, völlige Indifferenz gegen die Art der Kirchenordnung, wenn nur die reine Verkündung des Worts gesichert sei, hat seine Kirche im Erfolg überall dem Cäsaro[B 792]papismus der weltlichen Gewalt ausgeliefert, mitbestimmt übrigens sicherlich durch die poli[613]tisch-ökonomischen Existenzbedingungen in dem Gebiet ihrer ersten Entstehung. Für den Calvinismus ist die biblische Theokratie in Form der Presbyterialverfassung göttlichen Rechts.
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[613] Die Presbyterialverfassung des Calvinismus folgt dem urchristlichen Vorbild der apostolischen Gemeindeordnung. Die kollegiale Organisation der calvinistischen Kirchengemeinde, in der Laienälteste („Presbyter“) und Prediger gemeinsam die Aufgaben der Gemeindeverwaltung und der Kirchenzucht wahrnahmen, sollte die Alleinherrschaft Christi in der Kirche demonstrieren. Sie wurde 1541 von Calvin in Genf mit den „Ordonnances ecclésiastiques“ eingeführt. Vgl. Rieker, Karl, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung. – Leipzig: C. L. Hirschfeld 1899, S. 7, 104 ff.
Er hat sie nur zeitweise und lokal, in Genf und in Neuengland, unvollständig bei den Hugenotten, und in den Niederlanden durchgesetzt.
Ein starkes Maß hierokratischer Entwicklung, vor allem aber die Existenz einer selbständigen Amtshierarchie und eigenen hierokratischen Erziehung ist, wenn nicht die absolut unentbehrliche, dann doch die normale Voraussetzung der Entwicklung einer theologischen wissenschaftlichen Spekulation, wie umgekehrt wieder die Entfaltung der Theologie und der theologischen Priestererziehung zu den stärksten, wenn auch nicht unzerbrechlichen Bollwerken hierokratischer Machtstellung gehört, welches auch den cäsaropapistischen Staat, wo er einmal besteht, nötigt, der hierokratischen Beeinflussung der Beherrschten Raum zu gewähren. Eine voll entwickelte kirchliche Hierarchie vollends mit festem Dogmenbestand und, vor allem, durchgebildetem Erziehungssystem ist nicht zu entwurzeln. Ihre Macht steht auf dem Satz: daß man – im Interesse sowohl jenseitigen wie diesseitigen Wohlergehens – „Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen“,
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Apostelgeschichte 5, 29.
der ältesten und bis in die Zeiten der großen puritanischen Revolution und der „Menschenrechte“ weitaus festesten Schranke aller politischen Gewalt.
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Mit dem Begriff „puritanische Revolution“ meint Weber – im Anschluß an die Studien Gardiners – die Epoche der englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, besonders die Jahre 1642 bis 1660. Damit wird die revolutionäre Bedeutung des Puritanismus im Kampf um konstitutionelle Freiheiten gegen die englische Krone betont. (Vgl. Gardiner, Samuel Rawson, The First Two Stuarts and The Puritan Revolution 1603–1660. – London: Longmans, Green, and Co. 1876). Zur Bedeutung der religiösen Gewissensfreiheit für die Entstehung der Menschenrechte in den Verfassungen der modernen Staaten vgl. Webers Ausführungen unten, S. 677–679 mit Anm. 43.
Die Regel ist ein Kompromiß der jenseitigen und diesseitigen Mächte. Und ein solches liegt in der Tat den beiderseitigen Interessen sehr nahe. Daß die politische [614]Gewalt imstande ist, der Hierokratie das
N
MWG: des
N
Fehlschreibung in MWG-Druckfassung; hier korrigiert in MWG digital.
„brachium saeculare“
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[614] Besondere Bedeutung erlangte die Lehre vom „brachium saeculare“ (weltlicher Arm) für die Ketzerverfolgung seit dem 13. Jahrhundert. Der weltlichen Gewalt wurden die Verfolgung von Ketzern und der Vollzug von Strafen überantwortet, die im Kirchenrecht nicht vorgesehen waren. Vgl. Köhler, Hermann, Die Ketzerpolitik der deutschen Kaiser und Könige in den Jahren 1152–1254 (Jenaer Historische Arbeiten, hg. von Alexander Cartellieri und Walter Judeich, Heft 6). – Bonn: A. Marcus und E. Weber 1913, S. 5 ff.
in höchst schätzenswerter Art, zur Ausrottung der Ketzer und zur Beitreibung der Steuern zur Verfügung zu stellen, ist klar. Zwei Qualitäten der hierokratischen Macht empfehlen sie der politischen Gewalt zum Bündnis. Zunächst vor allem ist sie die legitimierende Macht, deren auch (und gerade) der cäsaropapistische und auch der persönlich charismatische (z. B. der plebiszitäre) Herrscher und alle diejenigen Schichten, deren privilegierte Lage an der „Legitimität“ der Herrschaft hängt, schwer entraten können.
i
[614]B: kann.
Und dann ist sie das unvergleichliche Mittel der Domestikation der Beherrschten. Im großen wie im kleinen. Wie der kirchenfeindlichste radikale Parlamentarier Italiens der Klostererziehung der Frauen als Domestikationsmittel nicht entraten mag,
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Gemeint sind hier die radikaldemokratischen und antiklerikalen Abgeordneten der „Äußeren Linken“ (Estrema Sinistra) im Parlament des italienischen Königreichs. Dieser parlamentarische Oppositionsblock hatte sich um die Jahrhundertwende durch den Zusammenschluß von Deputierten der radikalen, republikanischen und sozialistischen Partei herausgebildet und trat in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg u. a. für ein laizistisches Schulsystem ein. Daß die radikalen Politiker bezüglich der Frauenerziehung anders dachten, hat Max Weber vermutlich bei seinen Italienaufenthalten selbst vernommen oder durch Dritte geschildert bekommen.
so hat die hellenische Tyrannis den Dionysoskult gefördert,
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Der Tyrann von Sikyon, Kleisthenes (etwa 600–570 v. Chr), förderte – ähnlich wie die Tyrannen von Korinth – den Kult des Bauerngottes Dionysos, indem er Chorgesänge zu dessen Ehren aufführen ließ. Daß die hellenischen Tyrannen sich des Dionysos-Kultes bedienten, um ihre Herrschaft zu legitimieren, betonte Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 620–633.
und in größtem Maßstabe ist die Hierokratie zur Beherrschung unterworfener Völker verwendet worden. Der Lamaismus hat die Mongolen befriedet und so diese bis dahin immer neu sprudelnde Quelle von Barbareneinbrüchen aus der Steppe in das befriedete Kulturland für immer verstopft.
78
Vgl. dazu die Erläuterung, oben, S. 584, Anm. 18.
Das Perserreich hat den Juden ihr „Gesetz“ und die hierokratische Herrschaft oktroyie[615]ren lassen,
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[615] Gemeint ist das 445 v. Chr. mit Unterstützung des persischen Königs Artaxerxes I. eingeführte Gesetzbuch des Esra (der um den Priesterkodex erweiterte Pentateuch). Diese den Interessen der babylonischen Judenschaft entsprechende Gesetzessammlung enthielt vor allem rituelle Vorschriften und sah eine herausragende Stellung der Priesterschaft von Jerusalem vor. Weber stützt sich hier und im folgenden auf die Forschungen Eduard Meyers, der die Perserherrschaft als einen wesentlichen Grund dafür ansah, daß das Judentum nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil seine „nationalen Aspirationen“ verloren habe und als „kirchliche ,Gemeinde‘“, „Kirche“, „Kirchenstaat“ bzw. „Theokratie“ einer bevorrechtigten Priesterschaft mit allein „religiösen Interessen“ begründet worden sei. Vgl. Meyer, Geschichte des Alterthums III1, S. 166–233, hier: S. 201, 209.
um sie unschädlich zu machen. Die kirchenartige Entwicklung in Ägypten scheint ebenfalls durch sie begünstigt worden zu sein.
80
Weber folgt hier der Interpretation Meyers, ebd., S. 94 f., 167–170, 446, der die These vertrat, die Perserkönige hätten in Ägypten die einheimische Priesterschaft gefördert, um mit Hilfe der „geistlichen Autorität“ bzw. durch „eine Kirche und ein theologisch durchgebildetes System“ zu regieren (ebd., S. 446).
Und in Hellas warteten alle Orakel, orphischer und anderer Propheten nur auf den erwarteten und erhofften Sieg der Perser, um sich für die gleichen Zwecke verwerten zu lassen.
81
Die Priesterschaften der griechischen Orakel unterstützten die persischen Könige durch ihre Weissagungen. Nach Meyer, ebd., S. 445 f., an den sich Weber hier anlehnt, wären die Priester der Orakel, wie Trophonios von Lebadea, Amphiarios von Oropos, Apollo von Abae, Theben und Ptoon oder der orphische Spruchsammler Onomakritos, im Falle eines Sieges der Perser aufgrund ihres Bündnisses mit der „Fremdherrschaft“ zu einer Griechenland beherrschenden Priesterschaft aufgestiegen.
Die Schlachten bei Marathon und Plataeae entschieden auch zugunsten der weltlichen und gegen den klerikalen Charakter der hellenischen Kultur.
82
Mit dieser Interpretation des Sieges der Griechen über die Perser in den Schlachten von Marathon und Plataeae (480/479 v. Chr.) schließt sich Weber der Sichtweise Meyers, Geschichte des Alterthums III1, S. 418–448, an. Meyer charakterisierte die griechische Kultur des 5. Jahrhunderts v. Chr. durch den diametralen Gegensatz einer durch „Rationalismus“ und „Aufklärung“ (ebd., S. 433) angetriebenen „menschliche[n] Weisheitslehre“ (ebd., S. 429) und der bis 480/479 v. Chr. dominierenden traditionellen Religion, die noch ganz auf „Staat“ und „Nation“ ausgerichtet war. Der Sieg über die Perser habe in diesem Widerstreit eine Entscheidung herbeigeführt, so „daß die neue griechische Cultur nicht in der Religion aufgeht, sondern sie überwindet, daß sie eine Herrschaft des Priesterthums und der Theologie nicht kennt, sondern die Freiheit des menschlichen Geistes aus sich geboren hat“ (ebd., S. 448).
Was Fremdvölkern gegenüber galt, das galt
k
[615] Fehlt in B; galt sinngemäß ergänzt.
erst recht im Verhältnis zu den eigenen Untertanen. Militärische oder kaufmännische Honoratiorenschichten pflegen die Stütze der Religion, weil sie eine ihnen gefährliche, auf emotionelle Bedürfnisse der Massen sich gründende konkurrierende Macht schafft, nur streng traditionalistisch zu ge[616]brauchen, jedenfalls sie ihres charismatisch-emotionalen Charakters zu entkleiden. So verwarfen, anfänglich wenigstens, die hellenischen Adelsstaaten den Dionysoskult, und die mehrhundertjährige römische Senatsherrschaft ekrasierte die Ekstase systematisch in jeder Form: daß sie zur „superstitio“ (wörtliche Übersetzung von ἔκστασις)
83
[616] „Superstitio“ war im Altlateinischen ein ohne verächtlichen Beiklang gebrauchter Ausdruck aus dem Bereich alter Seher- und Wahrsagerkunst. Erst in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. trat „superstitio“ in Gegensatz zur „religio“ und meinte eine der Denk- und Handlungsart nach verfehlte Form der Frömmigkeit, eine „abalienatio mentis“ und eine „in ihrer Aufregung ihrer selbst nicht mehr mächtige, unvernünftige Furcht“. (Vgl. Otto, Walter F., Religio und Superstitio, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 12, Heft 4, 1909, S. 533–554, Zitate: S. 554). Die Parallelisierung zum griechischen Wort „Ekstasis“ findet sich ebd., S. 552. Vgl. dazu auch Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 136 mit Anm. 29.
degradiert und alle ihre Mittel, vor allem der Tanz, unterdrückt wurden, selbst im Kultus (der Tanz der Salier ist eine Prozession,
84
Die römischen Priesterkollegien der Salier (lat. salii, „Tänzer“, „Springer“), deren Kult vor allem der Kriegsgottheit Mars galt, machten im März und Oktober, zum Beginn und Ende der Kriegszeit, einen Umzug durch Rom, bei dem sie heilige Schilde mit sich führten. Die Prozession hielt an den Heiligtümern der Stadt, wo die Salier unter Anführung eines Vortänzers (praesul) und eines Vorsängers (vates) einen wuchtigen Waffentanz aufführten. In der Kaiserzeit widmeten sich die Salier in erster Linie der Verehrung des kaiserlichen Hauses. Vgl. Marquardt, Joachim, Römische Staatsverwaltung, Band 3, 2. Aufl. – Leipzig: S. Hirzel 1885, S. 427–438.
die fratres Arvales aber vollziehen ihren uralten Tanz charakteristischerweise hinter verschlossenen [B 793]Türen),
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Bei den „fratres arvales“ handelte es sich um ein zwölfköpfiges Priesterkollegium, das sich dem von Augustus wiederbelebten altrömischen Kult der Fruchtbarkeitsgöttin Dia widmete. Am zweiten Tag ihres alljährlichen, drei Tage währenden Opferfestes zu Ehren der Dia zogen sich die Arvalbrüder in ihren außerhalb Roms gelegenen Tempel zurück und vollzogen unter Ausschluß der Öffentlichkeit einen rituellen Tanz, bei dem das Arvallied gesungen wurde. Vgl. Marquardt, ebd., S. 447–462.
hat für die höchst charakteristische Gegensätzlichkeit der römischen Kulturentwicklung (z. B. der Musik) gegen die hellenische die allerweittragendsten Konsequenzen auf den verschiedensten Gebieten gehabt. Dagegen greift der persönliche Herrscher überall zur religiösen Stütze seiner Position. Das Kompromiß zwischen den beiden Gewalten kann sich im einzelnen höchst verschieden und die reale Machtlage auch ohne formellen Wechsel seines Inhalts sehr mannigfaltig gestalten. Historische Schicksale spielen da eine gewaltige Rolle: eine starke Erbmonarchie hätte die abendländische Kirche vielleicht in eine ähnliche Entwicklung gedrängt wie die morgenländische, und ohne das [617]große Schisma
86
[617] Gemeint ist die Spaltung der byzantinischen und der römisch-katholischen Kirche im Jahr 1054.
wäre der Niedergang der hierokratischen Gewalt vielleicht nie so erfolgt, wie geschehen. –
Weil diese Machtkämpfe in weitem Umfang von historischen Schicksalen („Zufällen“) abhängen, ist über ihre Determiniertheit etwas Allgemeines nicht leicht zu sagen. Insbesondere ist nicht die Rolle, welche religiöse Empfindungen überhaupt innerhalb eines Volkes spielen, dafür maßgebend. Das römische und vollends das hellenische Leben sind davon geradezu durchtränkt, und doch ist die Hierokratie des Staates nicht Herr geworden, sondern umgekehrt. Wollte man auf die dualistische Verjenseitigung der Religion, die dort gefehlt hatte, den Nachdruck legen, so fehlte diese auch der jüdischen Religion zur Zeit der Aufrichtung der Hierokratie völlig: umgekehrt kann man sagen, daß der Aufstieg der Jenseitsspekulation wenigstens zum Teil erst Folge der rationalen Entwicklung des hierokratischen Systems ist, wie sicherlich in Ägypten und Indien. Aber auch andere naheliegende allgemeine Gründe entscheiden nicht. So ist das Maß der Abhängigkeit von den Naturgewalten einerseits, von der eigenen Arbeit andererseits nicht durchgreifend. Allerdings ist die Bedeutung der Nilüberschwemmungen an der Entwicklung der Hierokratie mitbeteiligt. Aber nur insofern, als sie die charakteristische Verbindung der parallel laufenden rationalen Entfaltung von Staat und Priestertum mit den astronomischen Beobachtungen und der Jenseitsspekulation ins Leben rufen helfen. Im übrigen hat offenbar die Fremdherrschaft
l
[617]B: Grundherrschaft
der Hirtenvölker hier die Stellung der Priesterschaft ebenso als einzigen Rückhalt des Zusammenschlusses bestehen lassen wie die Völkerwanderungsstämme im Westen den Bischof.
87
[617] Max Weber spielt hier auf die Fremdherrschaft (nicht: Grundherrschaft, wie es im überlieferten Text hieß) der Hyksos, eines asiatischen Hirtenvolkes, an, das von ca. 1648/45 bis 1539/36 v. Chr. in Ägypten herrschte und feudale Vorrechte mit Ausnahme für die Priesterschaft beseitigte (vgl. dazu auch oben, S. 323 mit Anm. 7). Ähnlich sei – so die These des Kirchenhistorikers Hauck – der römisch-katholische Episkopat von den fränkischen Königen im 5. Jahrhundert in den eroberten römischen Gebieten behandelt und durch Schenkungen privilegiert worden. Der Episkopat als Träger der „römische[n] Kultur“ habe entscheidend zum Aufbau des fränkischen Reiches beigetragen und in den Umbildungen der Völkerwanderungszeit das „Gefühl der Zusammenge[618]hörigkeit“ in der Bevölkerung gefördert. Vgl. Hauck, Albert, Kirchengeschichte Deutschlands, 1. Teil, 2. Aufl. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1898, S. 129–164, Zitate: S. 131 f.
Die permanente Erdbebengefahr in Japan z. B. [618]hat nicht gehindert, daß im japanischen Staatswesen die feudalen Geschlechter keinerlei Hierokratie dauernd aufkommen ließen, und für die Entwicklung der jüdischen Priesterschaft sind „Natur“- oder ökonomische Gründe ebensowenig ausschlaggebend gewesen wie für die Beziehungen zwischen Feudalismus und zoroastrischer Hierokratie im Sassanidenreich
88
Der Begründer der Sassaniden-Herrschaft Ardashîr erhob die Lehren des Zarathustra (griech. Zoroaster) zur Staatsreligion. Vermutlich begann bereits unter seiner Herrschaft der Ausbau einer straffen kirchlichen Hierarchie, die in der älteren Fachliteratur des 19. Jahrhunderts durchaus mit der Organisation und Machtposition des christlichen Klerus im Abendland verglichen wurde. (Vgl. Nöldeke, Theodor, Geschichte des Reichs der Sâsâniden, in: ders., Aufsätze zur persischen Geschichte. – Leipzig: T. O. Weigel 1887, S. 86–134, hier: S. 88). Die Magier oder Priester bildeten einen eigenen, erblichen Stand neben Kriegern, Beamten und Bauern. Die These, daß sich Priestertum und hoher Adel gegen das allzu mächtige Königtum verbündeten, entstammt dieser älteren Forschungsliteratur. Vgl. Nöldeke, Theodor, Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der Sasaniden. Aus der arabischen Chronik des Tabari. – Leiden: E. J. Brill 1879, S. 450 ff.
oder dafür, daß dem Expansionsbestreben der Araber das Schicksal des Besitzes eines großen Propheten in den Schoß fiel.
89
Schon vor dem Tod Mohammeds im Jahr 632 hatten sich die Beduinenstämme der arabischen Halbinsel zum Islam bekannt. In der folgenden Eroberungswelle unter den Kalifen Abu Bakr (632–634) und Omar I. (634–644) wurde der größte Teil der Kulturländer des Nahen Ostens für den Islam erschlossen. So wurden 633 Südmesopotamien, 636 das byzantinische Syrien und schließlich 642 bis 644 Persien und Ägypten erobert.
Massenhaft, aber stets anders konstelliert, bestehen dagegen selbstverständlich Beziehungen der konkreten Schicksale hierokratischer Bildungen zu den konkreten ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen, in die sie gestellt sind. Die wenigen allgemeinen Sätze, die sich darüber bedingungsweise aufstellen lassen, betreffen die Beziehungen der Hierokratie zum „Bürgertum“ einerseits, zu den feudalen Mächten andererseits. Nicht nur im italienischen
m
[618]B: italischen
Mittelalter stellt das guelfische Bürgertum die Schutztruppe der hierokratischen Gewalt gegen Imperialismus und feudale Mächte, – was ja eine rein konkret bedingte Kampfkonstellation sein könnte. Sondern in den frühesten mesopotamischen Inschriften
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Vermutlich spielt Max Weber hier auf die Verbindung von Priesterschaft und Kaufleuten bzw. Gewerbetreibenden in der altorientalischen Stadt Nippur an. Inschriftenreste aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. bezeugen Schenkungen von Geschäftsleuten und Beamten an die Priester des Gottes Enlil. Nippur war im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. [619]Hauptkultort Enlils und eine bedeutende Handelsstadt, aber nicht Sitz des sumerischen Königs. Vgl. Thureau-Dangin, Königsinschriften (wie oben, S. 593, Anm. 28), S. 158, sowie die Hintergrundinformationen bei Meyer, Geschichte des Altertums I,22 (wie oben, S. 37, Anm. 48), S. 442, mit An- und Unterstreichungen im Handexemplar Max Webers, Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München.
finden wir bereits verwandte Zustände, in Hellas sind die [619]bürgerlichen Schichten die Träger der Dionysosreligion,
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Dionysos war ursprünglich ein in der griechischen Bauern- und Naturreligion verehrter Fruchtbarkeitsgott. Im 6. Jahrhundert v. Chr. entwickelte sich die Dionysosreligion zu einem orgiastischen Kult, der – im Gegensatz zur öffentlichen, vom politischen Gemeinwesen getragenen Religion – individualistische Bedürfnisse befriedigte und von religiösen Vereinen in den Städten getragen wurde, die auf freiem Zusammenschluß der Bürger beruhten. Vgl. Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 727–734.
die altchristliche Kirche ist eine spezifisch städtische Institution
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Weber folgt hier vermutlich Harnack, Mission II (wie oben, S. 463, Anm. 8), S. 278, der das Christentum bis zum Ausgang des 4. Jahrhunderts als „Städtereligion“ kennzeichnete.
(„paganus“, – das ist der Inbegriff aller sozial Verachteten, entsprechend unserem „Pisang“ von „Paysan“, – heißt in der römischen Kaiserzeit sowohl der „Zivilist“ wie der „Heide“)
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In der spätrömischen Kaiserzeit hielt sich das Heidentum – trotz massiver staatlicher Bekämpfung – vor allem in den ländlichen Regionen, so daß man auch von „Paganismus“ sprach. (Vgl. Glaue, Paul, Heidenmission: III. Geschichtlich, in: RGG1, Band 2 (1910), Sp. 1979–98, Zitat: Sp. 1982). „Pisang“ war in der westniederdeutschen Umgangssprache eine abwertende und bereits im 19. Jahrhundert veraltete Bezeichnung für eine Person. Eine Wiederbelebung erfuhr der Ausdruck, in Anlehnung an das französische „paysan“ (Bauer), während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 und des Ersten Weltkrieges. (Vgl. Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 158 mit Anm. 38).
ganz ebenso wie sie bei Thomas von Aquin mit seiner Deklassierung des Bauern
94
In seinem Kommentar der aristotelischen Politik interpretiert Thomas von Aquin die Stadt als vollkommenste Form menschlichen Zusammenlebens, weshalb ihm das städtische Leben als die für den Menschen natürliche Lebensform gilt, diejenige der Landbevölkerung hingegen als Ausnahme. Wer nicht Stadtbewohner sei, müsse entweder verbannt worden oder so arm sein, daß er gezwungen sei, den Acker zu bebauen oder Vieh zu hüten. Vgl. Maurenbrecher, Max, Thomas von Aquino’s Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit. Einleitung und erster Teil. – Leipzig: J. J. Weber 1898, S. 38–41, den Max Weber, Protestantische Ethik I, S. 42 f., bereits zur Erläuterung der thomistischen Lehren herangezogen hatte.
erscheint, und die puritanische Hierokratie ebenso wie schon fast alle Sektenbewegungen des Mittelalters und Altertums (mit der denkwürdigen Ausnahme vor allem der Donatisten)
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Die Sekte der Donatisten entstand in Nordafrika nach den Christenverfolgungen unter Diokletian (303/4) und spaltete sich 312 von der römischen Kirche ab. Im Gegensatz zu Augustinus, für den die Sakramente allein durch ihren Vollzug wirksam waren, weil sie ihm als Gabe Gottes und des Heiligen Geistes galten, hing nach donatistischer Lehre die Wirksamkeit der Sakramente von der ethischen Qualität und der Würdigkeit des[620]sen ab, der sie spendete. Nach Harnack, Mission II (wie oben, S. 463, Anm. 8), S. 244 f., zeigte gerade die donatistische Bewegung, daß die nord-afrikanischen Provinzen im 4. Jahrhundert – über die Städte hinaus – weitgehend christlich geworden waren.
sind ganz genau so städti[620]scher Provenienz wie seinerzeit die leidenschaftlichsten Anhänger der päpstlichen Macht. [B 794]Demgegenüber steht der antike Adel, allen voran schon der frühhellenische Bürger- und Polisadel mit jener, für die ganze Entwicklung der hellenischen Religion sehr schicksalsvollen, gänzlich respektlosen Behandlung der Götter im homerischen Epos,
96
Die „Vermenschlichung der Götter“ findet sich an mehreren Stellen der Odyssee. So kämpft z. B. Menelaos mit dem ägyptischen Meeresgott Proteus (IV, 440–480) und bedrängt Odysseus die beiden Göttinnen Kalypso und Kirke (V, 173–191; X, 321–346). Die Götter nehmen bei Homer mit Leidenschaft am Leben der Helden teil und können sogar von Sterblichen bezwungen werden. Weber folgt hier wohl einer Bewertung Eduard Meyers, Geschichte des Alterthums III1, S. 441, nach dem Homer die Götter „leger“ und lediglich als „Mittel zum Zweck“ benutzt habe. Vgl. auch Meyer, dass. II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 421.
ebenso wie die Kavaliere der Puritanerzeit
1
Hier sind die Parteigänger Karls I. in der Epoche des englischen Bürgerkriegs (1642–1649) gemeint, den Weber als „puritanische Revolution“ interpretierte. Vgl. dazu oben, S. 613 mit Anm. 74.
und wie der Feudaladel des frühen Mittelalters, – wie ja die Entfaltung des Lehensstaates auf der raubartigen Säkularisation Karl Martells beruhte.
2
Der karolingische Hausmeier Karl Martell zog einen großen Teil der Kirchengüter ein, um sie an seine Gefolgsleute zu vergeben, und besetzte selbst Bistümer und Abteien mit Laien. Mit dem Hinweis auf die Entstehung des Lehnsstaates spielt Weber auf eine mediävistische Diskussion an, inwieweit die gemeinhin als „Säkularisation“ bezeichnete Praxis Karl Martells zur Entstehung des Lehnswesens beigetragen habe. Vgl. dazu oben, S. 395, Anm. 48, sowie Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II (wie oben, S. 34, Anm. 28), S. 242–258, Zitat: S. 250.
Daß die Kreuzzüge wesentlich eine Unternehmung der französischen Ritterschaft waren, sehr stark unter dem Gesichtspunkt der Versorgung des Nachwuchses mit Lehen, an den Papst Urban in seiner bekannten Rede
3
Papst Urban II. erließ 1095 in Clermont-Ferrand einen Gottesfrieden und rief die Christenheit zum Kreuzzug auf. Von den vier zuverlässigen und voneinander unabhängigen Textzeugen der Kreuzzugspredigt berichtet Baldricus von Dôle, daß der Papst den Kreuzfahrern Erwerbschancen im Heiligen Land in Aussicht gestellt habe: „Facultates etiam inimicorum verstrae erunt […]“. (Vgl. Baldricus, Episcopus Dolensis, Historia Jerosolimitana, in: Recueil des Historiens des Croisades. Historiens Occidentaux, tome quatrième. – Paris: Imprimerie Nationale 1879, S. 15 C). Allerdings wies der Papst nach Robert dem Mönch darauf hin, daß das Heilige Land wegen seiner natürlichen Beschaffenheit gerade keinen materiellen Gewinn verspreche. (Vgl. Robertus Monachus, Historia Iherosolimitana, in: ebd., tome troisième. – Paris: Imprimerie Impériale 1866, S. 728 E). Weitere Quellen legen aber nahe, daß eine Teilnahme am Kreuzzug besonders für die Mitglieder der französischen Ritterschaft attraktiv war, da sie seit Beginn des 11. [621]Jahrhunderts von erhöhten Abgabelasten und in besonderem Maße von Hungersnöten, Rechtsunsicherheit und Preissteigerung betroffen war.
ausdrücklich appellierte, beweist nichts für die [621]spezifisch hierokratischen Sympathien. Denn es handelt sich hier überhaupt nicht um den Gegensatz von „fromm“ und „nicht fromm“, sondern um die Art der Religiosität und die damit eng verknüpfte Beziehung zur „Kirchen“-Bildung im technischen Sinn des Wortes.
Die ökonomische Existenz des Bürgertums ruht auf (gegenüber dem Saisoncharakter der Landarbeit) stetiger und – gegenüber ihrer Hingegebenheit an die ungewohnten und unbekannten Naturgewalten rationaler
n
[621]B: rationaler – Der Gedankenstrich wurde emendiert.
(mindestens empirisch rationalisierter) Arbeit, welche den Zusammenhang von Zweck, Mittel, Erfolg oder Mißerfolg im wesentlichen übersehen und „verständlich“ erscheinen läßt: in das Resultat der Arbeit des Töpfers, Webers, Drechslers, Tischlers geht außerordentlich viel weniger an unberechenbaren Naturereignissen, vor allem auch von den als undurchschaubare, nur phantastisch deutbare Neuschöpfung der Naturgewalten wirkenden organischen Zeugungsvorgängen ein[,] als in die Landarbeit. Das dadurch bedingte Maß von relativer Rationalisierung und Intellektualisierung paart sich, infolge der größeren Hausgebundenheit großer Teile der Arbeitsprozesse, ihrer Entfremdung von der Eingegliedertheit in den Prozeß organisch gegebener Nahrungssuche und wohl auch der Ausschaltung der größten Muskelapparate des Körpers und der Arbeit mit dem Verlust der unmittelbaren Beziehung zu der plastischen und vitalen Realität der Naturgewalten. Aus ihrer Selbstverständlichkeit gerissen werden sie nun zum Problem. Die rationalistische, stets zur religiösen Spekulation führende Frage nach einem „Sinn“ des Daseins jenseits seiner selbst taucht auf. Das individuelle religiöse Erlebnis neigt dazu, die Form des ekstatischen Rausches oder Traumes zu verlieren und die abgeblaßteren religiösen Formen einer kontemplativen Mystik und einer genrehaften Alltagsinnigkeit anzunehmen, und zugleich liegt bei der berufsmäßigen stetigen Art der Kundenarbeit des Handwerkers die Entfaltung des „Pflicht“- und „Lohn“-Begriffes als Verankerung der Lebensführung, bei der Art seiner stärker der rationalen Ordnung bedürftigen sozialen Verflochtenheit das Hineintragen moralisierender Wertungen in die Religiosität überhaupt nahe. Das Gefühl eigentlicher „Sünde“, aus dem [622]älteren Gedanken der rituellen „Reinheit“ sich entwickelnd, widerspricht durchaus dem Würdegefühl feudaler Herrenschichten, und dem genuinen Bauer vollends ist „Sünde“ ein noch heute schwer verständlicher Begriff; nach „Erlösung“ begehren diese agrarischen Schichten weder, noch wußten sie recht: wovon sie „erlöst“ zu werden wünschen sollten. Ihre Götter sind starke Wesen mit Leidenschaften ähnlich denen der Menschen, je nachdem tapfer oder heimtückisch, freundlich oder feindlich gegeneinander und gegen die Menschen, jedenfalls aber gänzlich unmoralistisch wie diese auch, der Bestechung durch Opfer und dem Zwang durch magische Mittel, welche den Menschen, der diese kennt, noch stärker machen als sie, unterworfen. Zu einer „Theodizee“ und überhaupt zu einer ethischen Spekulation über die kosmische Ordnung liegen hier noch gar keine Motive vor; die Priesterschaft und die Erfüllung der rituellen Vorschriften diente unmittelbar utilitarisch als Mittel zur magischen Beherrschung der Naturkräfte, vor allem zur Abwehr der Dämonen, deren Ungunst schlechte Witterung, Raubtier- und Insektenfraß, Krankheiten und Viehseuchen bringen. Die „Verinnerlichungen“ und Rationalisierungen des Religiösen, d. h. insbesondere die Hineinlegung ethischer Maßstäbe und Gebote, die Verklärung der Götter zu ethischen Mächten, welche das „Gute“ wollen und belohnen und das [B 795]„Böse“ strafen, daher auch selbst sittlichen Forderungen gerecht werden müssen, die Entwicklung vollends des Gefühls der „Sünde“ und der Sehnsucht nach „Erlösung“, ist daher sehr regelmäßig erst mit einer gewissen Entwicklung gewerblicher Arbeit, meist direkt mit derjenigen der Städte, parallel gegangen. Nicht im Sinne einer irgendwie eindeutigen Abhängigkeit: die Rationalisierung des Religiösen hat durchaus ihre Eigengesetzlichkeit, auf welche ökonomische Bedingungen nur als „Entwicklungswege“ wirken, und ist vor allem an die Entfaltung einer spezifisch priesterlichen Bildung geknüpft. Dem Mahdismus, historisch ungeklärt, wie er sonst ist, fehlt anscheinend jene ökonomische Basis ganz. Ob er eine hierokratische Fortentwicklung der alten indischen Religion ist, die einem in den Winkel und über die Grenze gescheuchten Sektenstifter gelang, ist wohl mehr als unsicher.
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[622] Die eschatologische Idee einer Wiederkunft des Mahdi wurde von der Islamwissenschaft zur Zeit Max Webers einhellig auf den Einfluß des Messianismus jüdisch-christlichen Ursprungs zurückgeführt. Webers Hinweis auf den indischen Ursprung des Mah[623]dismus bezieht sich auf die von Ignaz Goldziher beschriebenen zumeist schiitischen Sekten der sog. „Ghajr-Mahdī“, die davon überzeugt waren, daß der Mahdi bereits in historischer Zeit zurückgekehrt sei. Die in Belutschistan (heute ein Teil Pakistans) beheimatete und sich in der Regel aus der nomadischen Bevölkerung rekrutierende mahdistische Sekte der „Ḏikrī“ und ihre religiöse Praxis beruhten auf dem Glauben an den Mahdi Mohammed aus Dschmapūr, der gemäß der Lehre der Sekte aus Indien vertrieben wurde und „von Ort zu Ort wandernd im Tale Helmend (1505) starb“. Vgl. Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 81), S. 268 f., Anm. 3.
Daß die Jahvereligion in ihrer rational-[623]moralistischen Evolution von den großen Kulturzentren her beeinflußt worden ist, dürfte sicher sein. Aber nicht nur die Entwicklung der Prophetie mit allen ihren Folgen, sondern noch mehr alles, was schon vorher von Moralismus in der Jahvereligion entfaltet war, ist trotzdem unter Verhältnissen entstanden, welche zwar die Stadt kannten, aber jedenfalls im Vergleich mit dem gleichzeitigen Mesopotamien und Ägypten doch nur eine geringfügige städtische und überhaupt gewerbliche Entwicklung aufwiesen. Allerdings war dann die Entwicklung der Hierokratie das Werk der Polispriesterschaft Jerusalems, im Kampf mit dem platten Lande, und die Ausbildung des „Gesetzes“ und seine Oktroyierung war das Werk der in Babylon lebenden Exulanten.
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Gemeint ist hier das als „Priesterkodex“ bezeichnete Gesetzbuch des babylonischen Exilanten Esra, das Nehemia 445 v. Chr. mit Unterstützung des persischen Königs in Jerusalem durchsetzte. Vgl. dazu oben, S. 615, Anm. 79.
Die antike Mittelmeerpolis andererseits hat keinerlei Rationalisierung der Religion gebracht, zum Teil infolge des Einflusses Homers als des rezipierten literarischen Bildungsmittels, vor allem aber doch infolge des Fehlens eines hierokratisch organisierten und eine spezifische Bildung pflegenden Priestertums. Aber die Wahlverwandtschaft von Priestertum und städtischem Kleinbürgertum liegt, generell gesprochen, trotz aller dieser Unterschiede, sehr klar zutage. Denn vor allem sind auch die Gegner typisch die gleichen im Altertum wie im Mittelalter, die feudalen Geschlechter, in deren Hand in der Antike zugleich die politische Gewalt und der Darlehenswucher lag. Daher findet jeder Anstoß zur Autonomie und Rationalisierung der hierokratischen Gewalt sehr leicht eine Stütze im Bürgertum. Die sumerische, babylonische, phönikische, jerusalemitische Stadtbürgerschaft steht gleichermaßen hinter den Ansprüchen der Priesterschaft, die Pharisäer (= Puritaner) haben hier ihren Anhang gegen den sadduzäischen Patriziat,
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Die seit der Makkabäerzeit im 2. Jahrhundert v. Chr. aufkommende jüdische Sekte der Pharisäer (griech. „Abgesonderte“), deren Mitglieder sich durch eine strenge, an den [624]religiösen Gesetzen orientierte Lebensführung kastenartig abschlossen und den Wert der individuellen „Bildung“ betonten, hatte einen dezidiert „bürgerlich-städtischen Charakter“, wie Weber in dem von Marianne Weber als Nachtrag publizierten Text „Die Pharisäer“, MWG I/21, S. 789, behauptete. Die religiöse Partei der Sadduzäer (vermutlich Nachfahren des Hohepriesters Zadok) repräsentierte dagegen die Interessen der großen patrizischen Geschlechter und des traditionellen Priesteradels, deren religiös-politisches Zentrum der Tempel von Jerusalem war.
ebenso alle [624]emotionalen Kulte der Mittelmeerantike. Die altchristliche Kirche besteht aus Kleinbürgergemeinden, die päpstlichen Autonomieansprüche ganz ebenso wie die puritanischen Sekten des Mittelalters haben in den Städten ihren stärksten Sitz, aus bestimmten Gewerben sind sowohl ketzerische wie Ordensbewegungen – beides streift einander – direkt erwachsen (so die Humiliaten),
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Die Humiliaten (von lat. humilis, „demütig“) waren eine nach 1170 in oberitalienischen Städten bestehende religiöse Laiengenossenschaft, die ihre Mitglieder unter städtischen Handwerkern, insbesondere Webern, rekrutierte. Vgl. Doren, Alfred, Studien aus der Florentiner Wirtschaftsgeschichte, Band 1: Die Florentiner Wollentuchindustrie vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert. – Stuttgart: J. G. Cotta 1901, S. 28–30, 38–40.
und der asketische Protestantismus im weitesten Sinn des Wortes (calvinistische und baptistische Puritaner, Mennoniten, Methodisten, Pietisten) finden den Kern ihrer Anhängerschaft auf die Dauer beim mittleren und kleinen Bürgertum, wie die unerschütterliche religiöse Legalität des Judentums erst mit seiner Stadtsässigkeit einsetzt und an ihr hängt. Nicht daß religiöse Bewegungen „Klassenbewegungen“ zu sein pflegten. Schon beim Christentum, welches aus zwingenden politischen und kulturellen Gründen den herrschenden Schichten der Antike schlechterdings nicht annehmbar sein konnte, ist nichts so grundverfehlt, wie die Vorstellung, es sei eine „proletarische“ Bewegung gewesen.
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Hier schließt sich Max Weber der Kritik von Ernst Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 589, Anm. 25), S. 15–19, bes. Anm. 10, an den Thesen von Robert von Pöhlmann und insbesondere von Karl Kautsky an (vgl. dazu unten, S. 637, Anm. 44).
Der Buddhismus ist die Stiftung eines Prinzen und z. B. in Japan unter sehr starker Beteiligung des Adels importiert worden.
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Die Einführung des Buddhismus in Japan wurde im 6. Jahrhundert durch das Adelsgeschlecht Soga gefördert.
Luther wendet sich an den „christlichen Adel“
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Gemeint ist Luthers 1520 in Wittenberg erschienene Schrift „An den Christlichen Adel deutscher Nation: von des Christlichen Standes Besserung“. In seiner vom Priestertum aller Gläubigen her begründeten Ermahnung an den Adel warb Luther für die Unterstützung seiner Kritik am Papsttum und erhob die Forderung nach praktischen Reformen von Kurie und Kirche. Vgl. D. Martinus Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 6. – Weimar: Hermann Böhlau 1888, S. 404–469.
(= hoher [625]Adel, Fürstenstand), und das Hugenottentum in Frankreich wie der Calvinismus in Schottland wurden in den Zeiten der großen Kämpfe vom Adel gelenkt, die Revolution der englischen Puritaner aber durch die Reiterscharen der ländlichen gentry zum Siege geführt: die Glaubensspaltung geht, im wesentlichen wenigstens, vertikal durch die Stände hindurch. Das bleibt so in der Epoche des enthusiastischen, fast [B 796]stets irgendwie eschatologisch orientierten Waltens der Hingabe an die jenseitigen Interessen. Aber allerdings macht sich weiterhin auf die Dauer im Laufe des Schwindens der eschatologischen Erwartungen und im Gefolge der nun eintretenden Veralltäglichung der neuen religiösen Gehalte immer wieder stets die Wahlverwandtschaft des religiös geforderten mit dem sozial bedingten Lebensstil der Stände und Klassen fühlbar, und an die Stelle der vertikalen beginnt zunehmend die horizontale Schichtung zu treten: der hugenottische wie der schottische Adel haben den Calvinismus später im Stich gelassen, und die weitere Entwicklung des asketischen Protestantismus hat diesen überall zu einer Angelegenheit des bürgerlichen Mittelstandes gemacht. – Es kann diesen Dingen im einzelnen nicht nachgegangen werden, – so viel ist jedenfalls sicher, daß die Entwicklung der Hierokratie zu einem rationalen Herrschaftsapparat und die damit zusammenhängende rational-ethische Entwicklung des religiösen Gedankenkreises selbst gerade an den bürgerlich-städtischen Klassen, besonders im Kleinbürgertum, trotz aller an anderer Stelle zu erörternden
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[625] Siehe unten, S. 629–632, 655 f., und Weber, Religiöse Gemeinschaften, Abschnitt 11, MWG I/22-2, S. 380.
Konflikte auch mit ihnen, einen besonders starken Anhalt zu finden pflegt.
Zeiten der Herrschaft grundherrlich-feudaler Gewalten bedrohen dagegen stets den Bestand eben dieses rationalen (bürokratischen) Apparats. Die großen Funktionäre der Kirche (Bischöfe) gliedert die politische Gewalt, indem sie sie mit Land und politischen Rechten ausstattet, in die großen Lehensträger ein, die einfachen Priester werden, da die nur auf dem Boden der Stadt und der Geldwirtschaft mögliche Versorgung aus dem vom Bischof verwalteten und von Spenden der Gläubigen gespeisten Kirchenvermögen fehlt, von den Grundherren mit Pfründen ausgestattet und dadurch unter deren Patrimonialbeamten eingegliedert. Auf dem Boden der grundherrli[626]chen Naturalwirtschaft ist die Behauptung der Autonomie des kirchlichen Herrschaftsapparates ausschließlich auf der Grundlage des klösterlichen Gemeinschaftslebens möglich, der Organisierung also des auf grundherrlicher Basis ruhenden, dabei aber ganz oder fast kommunistisch lebenden Mönchtums als der Schutztruppe der Hierokratie. Die ganz überragende Bedeutung der irischen und benediktinischen Mönche ebenso wie der klosterartigen Organisation der Stiftskleriker (Regel Chrodegangs)
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[626] Die um 755 von Chrodegang nach dem Vorbild der benediktinischen Regel verfaßte Kanonikerregel sollte das gemeinsame Leben des Metzer Kathedralklerus reformieren. Sie ordnete das Leben der Geistlichen durch gemeinsame Arbeit, Mahlzeiten, Gottesdienste und Gebet. Vgl. Schmitz, Wilhelm (Hg.), Chrodegangi Metensis episcopi (742–766), regula canonicorum. Aus dem Leidener Codex Vossianus latinus 94 m[it] Umschrift der tironischen Noten. – Hannover: Hahn 1889.
für die Entwicklung der abendländischen Kirche und übrigens auch der allgemeinen Kultur ruht hierauf ebenso wie die Organisation der lamaistischen Klosterkirche in Tibet und die Rolle des buddhistischen Mönchtums im feudalen Japan. –
Stößt, von diesen wenigen Feststellungen abgesehen, der Versuch, allgemeine Sätze über die (natürlich stets irgendwie auch mitspielende) ökonomische Bedingtheit der Hierokratie festzustellen, auf Schwierigkeiten, so läßt sich die Bedeutung, welche die Herrschaft der Hierokratie
o
[626]B: Hierarchie
ihrerseits für die ökonomische Entwicklung hat, wesentlich leichter formulieren.
Zunächst führen die eigenen ökonomischen Existenzbedingungen der Hierokratie zu typischen Zusammenstößen mit den ökonomischen Interessen bestimmter Klassen. Die Kirche sucht ihre ökonomische Autonomie vor allem durch Anregung umfassender Stiftungen, und zwar am liebsten Grundbesitzstiftungen, sicherzustellen. Da sie nicht auf rasche Verwertung zum Erwerb, sondern auf dauerhafte und sichere Einkünfte und möglichst geringe Reibungen mit den Hintersassen Gewicht legt, so treibt sie regelmäßig, ähnlich dem Monarchen im Vergleich mit den privaten Grundherren, eine konservative und schonende Politik den Bauern gegenüber. Wie die großen kirchlichen Besitzungen sich in der Neuzeit am Bauernlegen
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Bezeichnung für die Einziehung von Bauernland zugunsten der Neugründung oder Vergrößerung einer grundherrlichen Eigenwirtschaft. Das „Bauernlegen“ der adligen Grundherren – das Einziehen wüster Bauernstellen, ihr Aufkauf oder ihr rechtlich festge[627]legter „Heimfall“ – war seit dem 15. und 16. Jahrhundert sowie nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) durch die unfreiwillige Entfernung der Bauern von bebauten Stellen entstanden und besonders in Ostdeutschland verbreitet. Erst im 18. Jahrhundert griffen die preußisch-hohenzollerischen bzw. kursächsisch-wettinischen Landesherren durch eine Bauernschutzpolitik ein.
[627]wenig beteiligt haben, so sind die emphyteutischen
p
[627]B: amphyteutischen
und andere erbpachtartigen geistlichen Besitzrechte im Altertum vermutlich auf Tempelland zuerst entstanden. In ihrer Eigenwirtschaft sind im Mittelalter die Klostergüter, vor allem der Zisterzienser, naturgemäß, dem rationalen Charakter der Askese entsprechend, mit die ersten rationalen Betriebe gewesen. – Das Umsichgreifen des Grundbesitzes der „toten Hand“,
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Als „tote Hand“ (lat.: manus mortua) wurden zur Zeit Webers vor allem Liegenschaftsvermögen von juristischen Personen (Staat, Gemeinden, Kirchen und Stiftungen) bezeichnet, die dem freien Verkehr entzogen waren, insbesondere galt dies für kirchliches Vermögen und Familienfideikommisse.
welches das Angebot von Gütern zunehmend einschränkt, stößt aber auf den Widerstand der Grundbesitzkaufinteressenten, zunächst des weltlichen [B 797]Adels, der die Möglichkeit, seinen Nachfahren Güter zu kaufen, dadurch bedroht sieht. Die große Säkularisation Karl Martells war ein Kirchenraub zugunsten des Adels,
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Vgl. oben, S. 620, Anm. 2.
die mittelalterliche Entwicklung brachte den steten Versuch des Adels, als Vasallen oder Vögte kirchlichen Besitzes sich dessen Verfügung zu sichern, und die „Amortisationsgesetze“ der Staaten der Neuzeit,
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Die im einzelnen regional und national äußerst differenzierte „Amortisationsgesetzgebung“ beschränkte seit der Frühen Neuzeit die Vermögens- und Erwerbsfähigkeit von Kirchen bzw. kirchlichen Anstalten und Gesellschaften, indem sie für den Grundbesitzerwerb juristischer Personen eine staatliche Genehmigung vorschrieb. Vgl. Kahl, Wilhelm, Die deutschen Amortisationsgesetze. – Tübingen: H. Laupp 1879, S. 1–59.
welche die Zunahme des kirchlichen Grundbesitzes begrenzten, sind zunächst adliger Initiative entsprungen. Daß weiterhin bürgerliche Bodenspekulationsinteressen eingriffen, daß die großen Kirchengutkonfiskationen der Revolutionszeit
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Gemeint sind die Säkularisationen in Folge des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1802, die zur Aufhebung der geistlichen Kurfürstentümer Köln und Trier sowie zur Einziehung der Güter von 18 Fürstbistümern, etwa 80 reichsunmittelbaren Abteien und mehr als 200 Klöstern führten.
ihnen vornehmlich zugute kamen, ist bekannt. Die politische Gewalt, welche im frühen Mittelalter, solange die geistlichen Würdenträger der Sache nach die sichersten, weil unerblichen Lehensträger des Königs waren, die Erweiterung des Kirchenbesitzes als Konservierung poli[628]tischer Machtmittel behandelte, hat, soweit jene adligen Interessen für sie nicht bestimmend waren, teils aus Konkurrenzrücksichten gegen die hierokratische Macht, teils aus merkantilistischen Gründen gegen die Ausdehnung des Kirchen- und Klosterbesitzes sich eingesetzt. Am schärfsten und erfolgreichsten in China, wo die Ausrottung aller Mönche und die Einziehung ihres umfangreichen Bodenbesitzes damit motiviert wurde, daß sie das Volk von der Arbeit ab zu müßiger und ökonomisch steriler Kontemplation erzögen.
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[628] Zu den Buddhistenverfolgungen vgl. oben, S. 601, Anm. 48.
Wo der hierokratischen Bodenakkumulation freie Hand gelassen wird, kann sie zu einer sehr weitgehenden Ausschaltung des Bodens aus dem freien Verkehr führen. Sie dient dann nicht selten – dies ist namentlich für den Orient in byzantinischer wie islamischer Zeit charakteristisch – auch dazu, der Bindung des Bodens zugunsten weltlicher Familien sakrale Unantastbarkeit zu verleihen. Sieht man sich z. B. eine typische byzantinische Klosterstiftung etwa des 11. oder 12. Jahrhunderts an, so findet man, daß der Stifter große Terrains (insbesondere z. B. Konstantinopeler Bauterrains, deren Wertsteigerung zu gewärtigen ist) zugunsten eines Klosters stiftet, für dessen (an Zahl fest begrenzte) Mönche bestimmte Präbenden (unter Umständen auch außerhalb des Klosters verzehrbar!) ausgeworfen werden mit der Pflicht, eine (fest begrenzte) Zahl von Armen in vorgeschriebener Art zu speisen und im übrigen bestimmte religiöse Pflichten zu erfüllen.
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Zu der hier gemeinten Klosterstiftung des Michael Attaleiates und den Einzelbestimmungen der Stiftungsurkunde von 1077 vgl. oben, S. 428 mit Anm. 21 und S. 429 mit Anm. 22.
Nicht nur aber die Vogtei des Klosters, sondern, was weit wichtiger ist: alle Überschüsse der steigenden Einkünfte über die fest begrenzten Ausgaben sind für einige Zeit der Familie des Stifters vorbehalten:
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Zweidrittel der überschüssigen Einkünfte standen der Familie des Stifters zu; erst nach deren Aussterben sollten „alle Einkünfte der Anstalt zufallen“. Vgl. Nissen, Diataxis (wie oben, S. 428, Anm. 21), S. 41.
das so geschaffene Fideikommiß (denn darum handelt es sich natürlich in Wahrheit) ist nun Kirchengut und als solches nicht ohne Sakrileg von der weltlichen Gewalt angreifbar. Ein beträchtlicher Teil der islamischen „Wakuf“(Stiftungs)-Ländereien, welche schon rein dem Umfang nach in allen orientalischen Staaten eine ganz gewaltige Rolle spielen, scheint ähnlichen Absichten seine Entstehung zu verdanken. – Klöster und Stifter sind im übrigen auch [629]im Okzident ja zu allen Zeiten und immer erneut der Invasion durch die Versorgungsinteressen des adligen Nachwuchses ausgesetzt gewesen, und fast jede der zahlreichen „Klosterreformationen“ hat das Ziel: eben diese „Veradlichung“ und Entfremdung vom hierokratischen Zweck zu beseitigen.
Ganz direkt in Kollision mit „bürgerlichen“ Interessen gerät die Hierokratie durch den klösterlichen Handels- und Gewerbebetrieb. In den Tempeln und Klöstern speichert sich überall gerade in Perioden der Naturalwirtschaft, neben Naturalien aller Art auch ein gewaltiger Vorrat von Edelmetallen auf. Die Getreidevorräte der Tempel Ägyptens und Mesopotamiens scheinen teuerungspolitisch ähnlich verwendet worden zu sein wie die Staatsmagazine.
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[629] Diese Vermutung hatte Max Weber bereits früher geäußert (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 80 f.) und als Beispiele für die teuerungspolitische Funktion der staatlichen wie der Tempelmagazine die Regierungszeit Hammurabis und Sargons angeführt. Eine vergleichbare Funktion hätten die ägyptischen, „in der späteren Zeit erwähnten öffentlichen Kornhäuser in den Gauhauptstädten sicher“ innegehabt (ebd., S. 81). Aus der Regierungszeit Sargons (722–705 v. Chr.) führt Jürgen Deininger (MWG I/6) eine Inschrift an, in der sich der König u. a. rühmt, die Speicher des Landes mit Nahrungs- und Lebensmitteln reichlich gefüllt zu haben und „das Öl […] in meinem Lande nicht theuer werden zu lassen, und Sesam wie Korn im Preis“ bestimmt zu haben. Vgl. Lyon, David Gordon, Keilschrifttexte Sargon’s, Königs von Assyrien (722–705 v. Chr.). – Leipzig: J. C. Hinrichs 1883, S. 30–39, Zitat: S. 35, Z. 41.
Die Edelmetalle bleiben unter streng naturalwirtschaftlichen Verhältnissen thesauriert, – wie z. B. in den russischen Klöstern. Aber der durch die Scheu vor der Rache der Götter geschützte heilige Friede der Tempel und Klöster ist von jeher die moderne Basis internationalen und interlokalen Tauschhandels, dessen Abgaben neben den Geschenken der Gläubigen die Schatzkammern füllen. Die viel beredete Institution der Tempelprostitution
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Max Weber bezieht sich hier auf eine im antiken Orient, insbesondere in Babylon, im alten Israel und Karthago, bezeugte Art der Tempelprostitution. Neben den in Keuschheit lebenden Priesterinnen („Tempelmädchen“) existierten in Babylon Tempeldirnen („zikru“), die sich der Prostitution im Dienste des Tempelvermögens, das der Gottheit eigen war, widmen mußten. Antike Autoren, wie Herodot oder Strabo, haben die orientalische Tempelprostitution beschrieben und in ihren Erzählungen ,mystifiziert‘. Vgl. Hammurabi’s Gesetz I (wie oben, S. 426 f., Anm. 18), S. 109 f., 142 f.
hängt offensichtlich mit den spezifischen Bedürfnissen der Handlungsreisenden [B 798](auch heute naturgemäß des führenden Kontingents der Bordellbesucher) zusammen. Die Tempel und Klöster haben sich überall, im Orient im allergrößten Maßstabe, an den Geldgeschäften beteiligt, Depots angenom[630]men, Darlehen und Vorschüsse aller Art in Naturalien und Geld gegen Zins gegeben und, wie es scheint, auch Geschäftsvermittlungen anderer Art übernommen. Die hellenistischen Tempel funktionierten teils als Reichsbank (wie der Schatz der Athene – es bot das den Vorteil, dem Zugriff auf die Staatsschätze in der Zeit der Demokratie gewisse, immerhin nicht ganz wirkungslose Hemmungen in den Weg zu legen),
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[630] Weber folgt hier offensichtlich Eduard Meyer, Geschichte des Alterthums IV1, (wie oben, S. 232, Anm. 54), S. 31–36: Der Tempelschatz der Göttin Athene habe Einkünfte aus Grundbesitz und Bergwerken, Geschenken von Privatleuten und vom Staat geweihte Beuteanteile erhalten. In Krisenzeiten wurden dem Staat aus diesem Schatz verzinsliche Anleihen gewährt. Auch das Finanzprogramm des Perikles achtete die Heiligkeit des Schatzes, der damit der Vergeudung und den alltäglichen Bedürfnissen des Staates entzogen gewesen sei. Doch nutzte Perikles den Schatz der Athene als „Kriegsschatz“, der damit der „unbedingten Verfügung“ des Staates unterlag, bewahrte jedoch die Form der verzinslichen Rückzahlung der Anleihen an die Göttin durch Staatseinnahmen.
teils als Depotstelle und Sparkasse. Wenn z. B. eine typische Form der Sklavenfreilassung es war, daß der delphische Apollon den Sklaven von seinem Herrn „zur Freiheit“ kaufte, – so zahlte Apollon die Summe natürlich nicht aus eigenen Mitteln, sondern aus den bei ihm deponierten Spargeldern des Sklaven, die in seiner Tempelkasse vor dem Zugriff des Herren (gegen den der Sklave ja bürgerlich rechtlos war) sicher lagen.
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In der antiken Praxis der sakralen Sklavenbefreiung zahlte der Sklave von seinen Ersparnissen in die Tempelkasse ein. Sein Herr verkaufte ihn an die Gottheit des Tempels und erhielt den Kaufpreis aus der Tempelkasse, wodurch der ehemalige Sklave ein Schützling der Gottheit wurde. Vgl. Deißmann, Adolf, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, 1. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1908, S. 232–243; hier findet sich auch eine delphische Inschrift von 200/199 v. Chr., auf die sich Max Weber offensichtlich bezieht: „Es kaufte Apollon Pythios von Sosibios aus Amphissa zur Freiheit einen weiblichen Sklaven“ (ebd., S. 234). In einem Brief vom 4. Mai 1908 an Adolf Deißmann dankte Max Weber für die Übersendung des Buches und schrieb zu dem hier behandelten Thema: „Wie interessant und richtig mir das über den Sklavenloskauf Gesagte (S. 232 ff.) scheint, wissen Sie ja.“ (hier nach: Nottmeier, Christian, Ein unbekannter Brief Max Webers an Adolf Deißmann, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, Band 8, 2000, S. 99–131, Zitat: S. 130 f.). [[= Brief vom 28. Mai 1908, MWG II/11, S. 45–49, Zitat: S. 48]]
Die Tempel und ebenso die mittelalterlichen Klöster waren eben die kreditwürdigsten und sichersten Depotstellen, und die daraus folgende spezifische Beliebtheit der kirchlichen Institution als Schuldner erstreckte sich im Mittelalter – wie Schulte mit Recht betont hat
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Gemeint ist: Schulte, Mittelalterlicher Handel, S. 230–272, bes. S. 264.
– auch auf den Bischof persönlich, weil über diesem das Zwangsmittel: die Exkommunika[631]tion ebenso schwebte, wie etwa heute über dem verschuldeten Leutnant die Kassierung.
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[631] Die Kassierung oder Kassation – ein älterer Ausdruck für die Dienstentlassung – war im Kaiserreich als eine besondere Ehrenstrafe gegen Offiziere vorgesehen, die nur von einem Kriegsgericht ausgesprochen werden konnte. (Vgl. §§ 30, 34 des Miltärstrafgesetzbuches für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872. Amtliche Ausgabe. – München: F. G. Hübschmann (E. Lintner) 1888). Alle Schulden eines Offiziers galten als „Ehrenschulden“, da die Nicht-Einlösung gegen das gegebene Ehrenwort verstieß und damit die Standesehre verletzte; zur Dienstentlassung eines Leutnants führte jedoch nur die vollständige Verschuldung, da einfache Schulden nur auf dem Disziplinarweg geahndet wurden. Vgl. Spohn, Clemens, Beurteilung der verschiedensten Ehrenfragen, die zu Ehrenhändeln und Ehrengerichten Anlaß geben. – Berlin: R. Eisenschmidt 1911, S. 35–37.
Diese Beteiligung der Tempel und Klöster am Geldgeschäft ist von der Laienkaufmannschaft wohl gelegentlich, aber anscheinend nicht grundsätzlich, als „Konkurrenz“ empfunden worden. Denn andererseits gab die gewaltige finanzielle Potenz der Kirche, speziell des Papstes und seiner Steuereinheber, dem privaten Handel in den mannigfachsten Formen Gelegenheit zu den kolossalsten, oft fast ganz risikofreien Verdiensten. Anders stand es in dieser Hinsicht mit der gewerblichen Tätigkeit speziell der Klöster. Die konsequente Durchführung der – in der älteren Praxis der Benediktinerregel
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Die von Benedikt von Nursia in seinem 529 gegründeten Kloster Monte Cassino verfaßte Benediktinerregel schreibt den Mönchen einen fest umrissenen Tagesablauf vor. In der aus 73 Kapiteln bestehenden Regel wird u. a. die Pflicht zur Handarbeit vorgeschrieben. Diese sollte dem Müßiggang entgegenwirken und die Demut fördern. Vgl. Kap. 35, 48 und 57 der S. Benedicti regula monachorum, hg. von Eduard Wölfflin. – Leipzig: B. G. Teubner 1895, S. 39 f., 48–50, 55 f.
doch mehr nach Art einer hygienischen Entlastung verstandenen – körperlichen Arbeit als asketischen Mittels, und die Verfügung über die zahlreichen Arbeitskräfte der Laienbrüder und Hörigen führte zu einer oft weitgehenden Konkurrenz der gewerblichen Klosterarbeit mit dem Handwerk, bei der die erstere, auf zölibatär und asketisch lebende, dabei „berufsmäßig“ angespannt im Dienst des Seelenheils arbeitende Kräfte, rationale Teilung und gute, den Absatz sichernde Verbindungen und Patronagen gestützt, notwendig überlegen war. Die Klostergewerbe waren daher einer der wesentlichen ökonomischen gravamina des Kleinbürgertums unmittelbar vor der Reformation, so etwa wie die Gefängnisarbeit
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Gefängnisarbeit war in der strafrechtlichen und wirtschaftspolitischen Debatte zur Zeit Max Webers umstritten. Insbesondere die Beschäftigung von Strafgefangenen für kommerzielle Zwecke wurde als unzulässige Konkurrenz für die mittelständischen Unternehmen betrachtet, welche die betroffenen Gewerbe- und Handwerkszweige schä[632]dige. Demnach konnten Unternehmer, die Strafgefangene fabrikmäßig organisiert einsetzten, wegen der geringen Löhne günstiger produzieren und so den Preis unterbieten. Vgl. Krohne, Karl, Gefängnisarbeit, in: HdStW3, Band 4, 1909, S. 531–547.
und die [632]Konsumvereine
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Weber bezieht sich hier auf die Kritik des Kleinhandels an den genossenschaftlich organisierten Konsumvereinen, die seit den 1860er Jahren im Gebiet des Deutschen Reiches entstanden waren. Sie zielten darauf, ihren zumeist der Arbeiterschaft entstammenden Mitgliedern im Großeinkauf erworbene Lebensrnittel von hoher Qualität gegen Barzahlung preisgünstig zu verkaufen. Die Gegner der Konsumvereine klagten, daß der Klein- und Zwischenhandel schwer geschädigt würde. Unter der Parole „Schutz des Mittelstandes“ forderten sie eine Beschränkung der Tätigkeit von Konsumvereinen, die mit dem Genossenschaftsgesetz von 1889 und seiner Novelle von 1896 erreicht wurde. Den Vereinen wurde unter Strafandrohung verboten, an Nichtmitglieder zu verkaufen.
heute. Die Säkularisation der Reformationszeit
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Mit „Säkularisation“ wurde in der zeitgenössischen kirchenrechtlichen Literatur „die vom Staate einseitig vollzogene Aufhebung von kirchlichen Instituten und Einziehung des Vermögens derselben zu anderen als kirchlichen Zwecken“ verstanden. Die Vermögen der im Lauf der Reformation aufgelösten Klöster wurden häufig für die Ausstattung von Schulen oder Universitäten verwendet, oder aber sie fielen als frei gewordenes Eigentum (bonum vacans) an die Stifter, häufig die Landesherren, zurück. Vgl. Sehling, Emil, Säkularisation, in: RE3, Band 21, 1908, S. 838–858, Zitat: S. 838.
und noch mehr die der Revolutionsepoche haben den kirchlichen Betrieb sehr stark dezimiert.
Die heutige Bedeutung der direkten oder durch Vermittler und Beteiligungen gemachten Eigengeschäfte der kirchlichen Institutionen ist, im Verhältnis zum Privatkapitalismus, weit zurückgetreten. Wie viel sie für die Finanzierung des kirchlichen Apparats bedeuten, ist zur Zeit nicht sicher abzuschätzen, da alle solche Beteiligungen sorgsam maskiert zu werden pflegen. Die Klöster pflegen heute wesentlich nur Spezialitäten, die Kurie hat – wie behauptet wird – sehr viel Geld in der Beteiligung an Bauterrainspekulationen (in Rom) und zweifellos noch mehr in verfehlten Bankgründungen (Bordeaux) verloren.
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In den 1890er Jahren investierte der Vatikan in Rom etwa 30 Millionen Lire in Bauterrain, Tramway- oder Wassergesellschaften. Von dieser Summe gingen in der sog. „Baukrise“ ca. 22 Millionen Lire verloren. (Vgl. Weber, Christoph, Quellen und Studien zur Kurie und zur Vatikanischen Politik unter Leo XII. – Tübingen: Niemeyer 1973, S. 261, Anm. 131). Die Hintergründe des Bankenzusammenbruchs in Bordeaux konnten nicht aufgeklärt werden.
Das Objekt, dessen sich auch heute Kirchen und Klöster bei Freigebung, Akkumulation in der toten Hand mit Vorliebe sofort zu bemächtigen pflegen, ist der Grund und Boden. Die Mittel aber werden dem Schwerpunkt nach nicht durch gewerbliche oder händlerische Betriebe, sondern durch Betriebe wie der von [633]Lourdes,
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[633] Lourdes ist ein katholischer Marien-Wallfahrtsort im Südwesten Frankreichs, dessen Wirtschaftsstruktur durch Dienstleistungsbetriebe für Pilger (zwischen 1867 und 1913 mehr als sechs Millionen) und die Produktion von Devotionalien bestimmt wird. Die ersten Marienerscheinungen sollen sich angeblich 1858 in der Grotte von Massabielle ereignet haben, wo eine Quelle entsprang, deren Wasser Heilkraft zugeschrieben wurde („Lourdes-Wasser“). Die sog. Wunderheilungen waren noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein öffentlich umstrittenes Thema. Max Weber besuchte den Wallfahrtsort im Sommer 1897 und war zwischen „Abscheu“ wegen der Massenabfertigung und Bewunderung für das Machtarrangement hin- und hergerissen. Vgl. den Brief an Helene Weber vom 1. Sept. 1897 (Abschrift mit Zusätzen von Marianne Weber, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/3).
durch Mäzenate, Stiftungen und Massenspenden beschafft, soweit nicht die Kultusbudgets der modernen Staaten, Donation, Taxen und Sporteln sie hergeben.
Ungleich tiefer aber denn als wirtschaftende Gemeinschaft pflegt die Hierokratie als Herrschaftsstruktur und durch die ihr eigentümliche ethische Lebensreglementierung auf die ökonomische Sphäre zu wirken. Die Herrschaftsstruktur sowohl wie die [B 799]in der Lebensreglementierung sich äußernde ethische Grundstimmung der großen, kirchlich organisierten Religionen ist nun, namentlich in ihren Anfängen, sehr verschieden. So ist der Islam aus einer charismatischen, durch den kriegerischen Propheten und dessen Nachfolger geleiteten Kriegergemeinschaft, mit dem Gebot der gewaltsamen Unterwerfung der Ungläubigen, Verklärung des Heldentums und Verheißungen von sinnlichem
N
MWG: sinnlichen
N
Fehlschreibung in MWG-Druckfassung; hier korrigiert in MWG digital.
Genuß im Diesseits und Jenseits für den Glaubenskämpfer, herausgewachsen. Der Buddhismus gerade umgekehrt aus einer Gemeinschaft von Weisen und Asketen, welche individuelle Erlösung nicht nur von den sündigen Ordnungen der Welt und von der eigenen Sünde, sondern vom Leben selbst suchen. Das Judentum, aus einer vom Jenseits ganz absehenden, die Herstellung eines zerstörten nationalen diesseitigen Reichs und im übrigen dieseitiges bürgerliches Wohlergehen durch Befolgung eines kasuistischen Gesetzes erstrebenden, hierokratisch-bürgerlich, von Propheten, Priestern und schließlich: theologisch geschulten Intellektuellen geleiteten Gemeinschaft. Das Christentum endlich aus der von eschatologischen Hoffnungen auf ein göttliches Universalreich erfüllten, alle Gewalt verwerfenden, im übrigen den Ordnungen der Welt gegenüber, deren Ende ja ohnehin bevorzustehen schien, indifferenten, charismatisch von Propheten, hierokratisch von Beamten geleiteten Gemeinschaft von Teilnehmern an dem mystischen Christuskult im Abendmahl. [634]Diese so grundverschiedenen Anfänge, welche auch in einer verschiedenen Stellungnahme zu den ökonomischen Ordnungen sich äußern mußten, und die ebenso verschiedenen Entwicklungsschicksale dieser Religionen hindern nicht, daß dennoch die Hierokratie, entsprechend ihren in wichtigen Punkten, wenn einmal das charismatische Heroenzeitalter der Religion vergangen und die Anpassung an den Alltag vollzogen ist, doch überall ähnlichen Existenzbedingungen, auch in gewissen Richtungen ähnliche Wirkungen auf das soziale und ökonomische Leben erzeugt: – wie wir allerdings sehen werden
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[634] Siehe unten, S. 658–668.
q
[634]B: werden,
N
In MWG-Druckfassung irrtümlich Sigle A (statt B); Korrektur in MWG digital.
mit gewissen wichtigen Ausnahmen.
Die Hierokratie ist die am stärksten stereotypierende Macht, welche es gibt. Das jus divinum, die scheriah des Islam, die Thora der Juden, ist undurchbrechlich. Sie ist andererseits, auf dem Gebiet, welches das jus divinum frei läßt, die in der Art ihres Funktionierens am wenigsten
r
B: wenigstens
rational kalkulierbare Gewalt: die charismatische Justiz ist, in der Form des Orakels oder des Ordals oder des Fetwa eines Mufti oder der Judikatur eines islamischen geistlichen Gerichts, durchaus irrational, günstigstenfalls „von Fall zu Fall“ nach konkreter Billigkeit, judizierend. Abgesehen von diesen schon mehrfach berührten
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Siehe z. B. den Text „Bürokratismus“, oben, S. 188–194, oder den Text „Charismatismus“, oben, S. 468 f., aber auch die Ausführungen zur charismatischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung bei Weber, Recht § 3, S. 5 ff. (WuG1, S. 402 ff.).
formalen Elementen der Rechtsfindung stand die Hierokratie überall einer traditionsfremden Macht wie dem Kapitalismus notwendig mit tiefster Antipathie gegenüber, so sehr sie gelegentlich selbst sich an ihren Tisch gesetzt hat. Diese Antipathie hat neben der natürlichen Interessengemeinschaft mit allen traditionsgeheiligten Autoritäten, deren Monopol durch Kapitalherrschaft bedroht erscheint, noch einen in der Natur dieser letzteren selbst liegenden Grund. Die bürokratisch am stärksten rationalisierte Hierokratie: die des Abendlandes ist von allen die einzige, welche neben einem rationalen kirchlichen Recht auch – in ihrem eigenen Interesse – ein rationales Prozeßverfahren entwickelte und überdies ihr ganzes Gewicht in die Wagschale
s
Veraltete Schreibweise für: Waagschale
der Rezeption eines rationalen, des römischen Rechts warf. Die Eingriffe der geistlichen Gerichte sind trotz[635]dem von dem kapitalistisch interessierten Bürgertum schwer ertragen, umgangen oder offen zurückgewiesen worden.
Im Gegensatz zu allen andern Herrschaftsformen ist die ökonomische Kapitalherrschaft ihres „unpersönlichen“ Charakters halber ethisch nicht reglementierbar. Sie tritt schon äußerlich meist in einer derart „indirekten“ Form auf, daß man den eigentlichen „Herrscher“ gar nicht greifen und daher ihm auch nicht ethische Zumutungen stellen kann. Man kann an das Verhältnis des Hausherrn zum Dienstboten, des Meisters zum Lehrling, des Grundherren zum Hörigen oder Beamten, des Herren zum Sklaven, des patriarchalen Fürsten zu den Untertanen, weil [B 800]sie persönliche Beziehungen sind und die zu leistenden Dienste ein Ausfluß und Bestandteil dieser darstellen, mit ethischen Postulaten herantreten und sie inhaltlichen Normen zu unterwerfen suchen. Denn, innerhalb weiter Grenzen, sind hier persönliche, elastische Interessen im Spiel und kann das rein persönliche Wollen und Handeln entscheidende Wandlungen der Beziehung und Lage der Beteiligten herbeiführen. Dagegen sehr schwer das Verhältnis des Direktors einer Aktiengesellschaft, der die Interessen der Aktionäre als der eigentlichen „Herren“ zu wahren verpflichtet ist, zu den Arbeitern von deren Fabrik und gar nicht dasjenige des Direktors der die Aktiengesellschaft finanzierenden Bank zu jenen Arbeitern oder etwa dasjenige eines Pfandbriefbesitzers zu dem Besitzer eines von der betreffenden Bank beliehenen Guts. Die „Konkurrenzfähigkeit“, der Markt: Arbeitsmarkt, Geldmarkt, Gütermarkt, „sachliche“, weder ethische noch antiethische, sondern einfach anethische, jeder Ethik gegenüber disparate Erwägungen bestimmen das Verhalten in den entscheidenden Punkten und schieben zwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen. Diese „herrenlose Sklaverei“,
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[635] Das Zitat geht auf den Sozialpolitiker Hermann Wagener (1815–1889) zurück, der von 1848 bis 1854 verantwortlicher Redakteur der „Neuen Preußischen Zeitung“ (Kreuzzeitung) und einer der treibenden Kräfte des reaktionären, aber kleinen sozialpolitischen Flügels der Konservativen war. Im 1855 verfaßten Programm der Kreuzzeitungspartei wird die „moderne herrenlose Sklaverei“ als Endpunkt der kapitalistischen Entwicklung perhorresziert. Vgl. Wagener, Hermann, Die kleine aber mächtige Partei. Nachtrag zu „Erlebtes“. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 bis 1866 und von 1878 bis jetzt. – Berlin: R. Pohl 1885, S. 8.
in welche der Kapitalismus den Arbeiter oder Pfandbriefschuldner verstrickt, ist nur als Institution ethisch diskutabel, nicht aber ist dies – prinzipiell – das persönli[636]che Verhalten eines, sei es auf der Seite der Herrschenden oder Beherrschten, Beteiligten, welches ihm ja bei Strafe des in jeder Hinsicht nutzlosen ökonomischen Untergangs in allem wesentlichen durch objektive Situationen vorgeschrieben ist und – da liegt der entscheidende Punkt – den Charakter des „Dienstes“ gegenüber einem unpersönlichen sachlichen Zweck hat.
Dieser Sachverhalt nun steht in unverjährbarem Konflikt mit allen elementarsten sozialen Postulaten jeder Hierokratie einer irgendwie ethisch rationalisierten Religion. Die stets irgendwie durch eschatologische Hoffnungen beeinflußten Anfänge aller ethisch gewendeten Religiosität stehen unter dem Zeichen der charismatischen Weltablehnung: sie sind direkt antiökonomisch. Auch in dem Sinn, daß ihnen der Begriff einer besonderen „Würde“ der Arbeit durchaus fehlt. Allerdings: soweit sie nicht durch Spenden von Mäzenaten oder von direktem Bettel leben können oder, wie der Islam, als Kampfreligion, vom Kriegerkommunismus ausgehen, leben die Mitglieder mit exemplarischer Lebensführung von ihrer Hände Arbeit. Paulus ebenso wie der heilige Ägidius.
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[636] Nach neutestamentlicher Überlieferung (1. Thessalonicher 2, 9; 1. Korinther 4, 12; 2. Korinther 11, 27) verdiente der Apostel Paulus den Lebensunterhalt während seiner Missionsreisen mit einem Handwerk, nach Apostelgeschichte 18, 3 als Zeltmacher. Der der Legende nach aus Athen stammende heilige Ägidius lebte zu Beginn des 8. Jahrhunderts als Einsiedler in der Provence.
Die Anweisungen der altchristlichen Kirche, ebenso wie die genuinen Vorschriften des hl. Franz empfehlen das.
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Gemeint ist die „Regula non bullata“; vgl. dazu oben, S. 465, Anm. 13.
Aber nicht weil die Arbeit als solche geschätzt wurde. Es ist einfach eine Fabel, daß ihr z. B. im neuen Testament irgend etwas an neuer Würde hinzugefügt wurde. „Bleib in Deinem Beruf“
38
1. Korinther 7, 20.
ist ein Ausdruck ebenso völliger, eschatologisch motivierter Indifferenz, wie „gebet dem Kaiser[,] was des Kaisers ist“
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Matthäus 22, 21; Lukas 20, 25; Markus 12, 17.
nicht – wie man es heute gern deuten möchte
40
Unter den zeitgenössischen Theologen interpretierte z. B. Adolf Harnack die Bibelstelle als Aufforderung Jesu an die Gläubigen, dem römischen Staat Gehorsam zu leisten, da Rom seit der augusteischen Friedensordnung auch Schutz für die Christen des ersten Jahrhunderts gewährleistet habe und nach Anweisung der Apostel im Gottesdienst für den Kaiser gebetet worden sei. (Vgl. Harnack, Adolf, Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche, in: Die christliche Religion. Mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 4). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 129–160, bes. S. 133 f., und Harnack, Mission I [637](wie oben, S. 463, Anm. 8), S. 249). In der Deutung des „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ als „Ausdruck des extremsten Indifferentismus“ schließt sich Max Weber nach eigenem Bekunden an Ernst Troeltsch an; vgl. dazu oben, S. 589, Anm. 25.
– eine Einschär[637]fung der Pflichten gegen den Staat, sondern umgekehrt der Ausdruck absoluter Gleichgültigkeit dessen, was in dieser Sphäre geschieht (gerade darin beruht ja der Gegensatz zur Stellungnahme der Judenparteien).
41
Als jüdische Parteien der neutestamentlichen Zeit galten die religiös-politischen Gruppierungen der Pharisäer, Zeloten und Sadduzäer, die für Weber, wie das antike Judentum insgesamt, durch die „Vorstellung einer künftigen gottgeleiteten politischen und Sozialrevolution“ bestimmt waren. Vgl. Weber, Antikes Judentum, MWG I/21, Zitat: S. 242, und Bousset, Wilhelm, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter. – Berlin: Reuther & Reichard 1903, S. 188.
Die „Arbeit“ ist weit später, und dann als asketisches Mittel, zuerst in den Mönchsorden, zu Ehren gekommen. Und was den Grundbesitz anlangt, so kennt die Religion in ihrer charismatischen Periode dafür ebenfalls nur Ablehnung (Verteilung an die Armen) – für die vollkommenen Jünger – oder – für alle Gläubigen – Indifferenz. Ausdruck dieser Indifferenz ist jene abgeschwächtere Form des charismatischen Liebeskommunismus, wie er in der altchristlichen Gemeinde in Jerusalem offenbar bestanden hat: daß die Gemeindemitglieder ihren Besitz nur so haben, „als hätten sie ihn nicht“;
42
1. Korinther 7, 29–30.
denn dies: das schrankenlose, unrationalisierte Mitteilen an die bedürftigen Brüder in der Gemeinde, welches dann dazu führte, daß die Missionare, speziell Paulus, in der ganzen Welt für diese antiökonomisch lebende Zentralgemeinde Spenden sammeln mußten,
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Gemeint ist die von Paulus vermutlich während des sog. jerusalemischen „Apostelkonzils“ (ca. 48 n. Chr.) an die Judenchristen gemachte Zusage, in den Missionsgemeinden heidenchristlicher Prägung eine Kollekte für die Urgemeinde in Jerusalem zu erheben, was zu verschiedenen „Kollektenreisen“ des Paulus in Kleinasien und Mazedonien geführt hat.
und nicht irgendeine „sozialistische“ Organisation oder kommunistische „Gütergemeinschaft“, wie man unterstellt hat,
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Max Weber spielt hier vermutlich auf die Thesen von Karl Kautsky und Robert von Pöhlmann an. Der Sozialist Kautsky bezeichnete das Christentum als eine vorrangig soziale Bewegung proletarischen Charakters und strich die „kommunistische Organisation“ der urchristlichen Gemeinde heraus. (Vgl. Kautsky, Karl, Der Ursprung des Christentums. – Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachf. 1910, S. 338 ff., Zitat: S. 347). Eine ähnliche Position vertrat v. Pöhlmann, indem er die „sozialistischen Anschauungen“ und die „leidenschaftliche antikapitalistische Tendenz des Liebeskommunismus“ frühchristlicher Prägung betonte. Damit sei eine „Epoche vollkommener und allgemeiner Gütergemeinschaft“ angestrebt worden. Vgl. v. Pöhlmann, Soziale Frage II (wie oben, S. 487, Anm. 11), S. 607–612, Zitate: S. 607, 611.
ist wohl der [638]Sinn jener viel beredeten Überlieferung.
45
[638] Vgl. oben, S. 637, Anm. 42.
Mit dem Schwinden der eschatologischen Erwartungen ebbt der charismatische Kommunismus in allen seinen Formen ab und zieht sich in die Kreise des Mönchtums als einer Sonderangelegenheit dieser exemplarisch lebenden Gottes[B 801]gefolgschaft zurück, auch dort, wie immer, stets auf der gleitenden Ebene zur Präbendalisierung. Es wird notwendig, das Verlassen des Berufs zu widerraten und vor den missionierenden Schmarotzern zu warnen (das berühmte „wer nicht arbeitet, soll nicht essen“
46
2. Thessalonicher 3, 10.
ist bei Paulus ein Satz, der ihnen und nur ihnen gilt). Die Versorgung der besitz- und arbeitslosen Brüder wird nun eine Angelegenheit eines regulären Amts: der Diakonen,
47
Apostelgeschichte 6 berichtet über die Einsetzung von sieben Diakonen (griech. „Diener“) in der Urgemeinde Jerusalems, die vermutlich Verwaltungsaufgaben wahrnahmen und die gemeindliche Wohlfahrt organisierten. Mit seiner Einschätzung der Diakonie als urchristlichem Gemeindeamt folgt Weber an dieser Stelle wohl der Position von Harnack, Kirchenverfassung (wie oben, S. 40, Anm. 67), S. 22–24. Im Gegensatz dazu sah Sohm, Katholizismus2 (wie oben, S. 40, Anm. 68), S. XVIII, die Diakone nicht als „Administrativ- und Exekutivbeamte einer körperschaftlichen Ortsgemeinde“ an, sondern als „Charismatiker“, die neben den Bischöfen „den Dienst der Propheten und Lehrer“ der universalen Kirche erfüllten.
bestimmte Teile der kirchlichen Einkünfte werden (im Islam wie im Christentum) dafür ausgeworfen, im übrigen ist sie Sache der Mönche, und als Rest des charismatischen Liebeskommunismus bleibt in erster Linie die vom Islam, Buddhismus und Christentum trotz ihrer so verschiedenen Herkunft gleichmäßig betonte Gottwohlgefälligkeit des Almosens. Immer aber bleibt als Restbestand eine, sei es ausgeprägtere, sei es abgeblaßtere spezifische Gesinnung den ökonomischen Ordnungen der Welt gegenüber. Da die Kirchen selbst sich ihrer bedienen und mit ihnen paktieren müssen, ist es nicht mehr möglich, sie andauernd als satanische Schöpfungen zu brandmarken. Sie, ebenso wie der Staat, sind entweder Konzessionen an die durch Gottes Zulassung vorhandenen Sünden der Welt, in die man sich als in unvermeidliche Schicksale zu fügen hat, oder geradezu gottverordnete Mittel zur Bändigung der Sünde, und dann kommt es darauf an, ihre Träger mit einer solchen Gesinnung zu erfüllen, daß sie ihre Macht in diesem Sinn verwenden. Eben dies aber stößt aus den erwähnten Gründen
48
Siehe oben, S. 635–638.
bei allen kapitalistischen Beziehungen, auch in [639]ihren primitiveren Formen, auf Schwierigkeiten. Denn als Rest der alten Liebesgesinnung der charismatischen Brüdergemeinschaft bleiben dann durchweg, im Islam und Judentum so gut wie im Buddhismus und Christentum: „caritas“, „Brüderlichkeit“ und ethisch verklärte persönliche, also patriarchale Beziehungen des Herrn zum persönlichen Diener die elementarsten Grundlagen aller Ethik von „Kirchen“ in dem hier festgehaltenen Sinn.
49
[639] Siehe oben, S. 590 f.
Die Entstehung des Kapitalismus bedeutet, daß diese Ideale dem Kosmos der ökonomischen Beziehungen gegenüber ganz ebenso praktisch sinnlos werden, wie z. B. die in der Konsequenz aller Ideen des frühen Christentums liegenden pazifistischen, die Gewalt als solche ablehnenden Ideale es gegenüber den politischen, letztlich überall auf Gewalt ruhenden Herrschaftsbeziehungen von jeher gewesen sind. Denn im Kapitalismus werden alle echt patriarchalen Beziehungen ihres genuinen Charakters entkleidet und „versachlicht“, caritas und Brüderlichkeit aber können vom Einzelnen, dem Prinzip nach, nur noch außerhalb seines, diesen durchaus fremden ökonomischen „Berufslebens“ geübt werden.
Alle Kirchen haben dem Aufwachsen dieser ihnen im Innersten fremden unpersönlichen Gewalt mit tiefem inneren
t
[639]B: innerem
Mißtrauen gegenübergestanden, und die meisten sind in irgendeiner Form gegen sie auf den Plan getreten. Die Geschichte der beiden charakteristischen Moralforderungen: des Zinsverbots und des Gebots: den „gerechten Preis“ (justum pretium) für Waren und Arbeit zu fordern und zu geben, kann hier im einzelnen nicht verfolgt werden. Beide gehören zusammen und entstammen der urwüchsigen Ethik des Nachbarschaftsverbandes, welche den Tausch nur als Ausgleich von gelegentlichen Überschüssen oder Produkten eigner Arbeit, die Arbeit im Dienst des andern nur als nachbarliches Aushelfen und das Darlehen nur als Nothilfe kennt. „Unter Brüdern“
50
Anspielung auf 5. Mose 23, 20–21. Dort heißt es: „Du sollst von deinem Bruder nicht Wucher nehmen […]. Von den Fremden magst du Wucher nehmen, aber nicht von deinem Bruder […].“ 3. Mose 25, 36–37: „Und du sollst nicht Wucher von ihm nehmen, noch Übersatz […]. Denn du sollst ihm dein Geld nicht auf Wucher leihen, noch deine Speise auf Übersatz austhun.“
feilscht man nicht um den Preis, sondern fordert für das, was man überhaupt aus[640]tauscht, nur die Selbstkosten (einschließlich des „living wage“),
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[640] „living wage“ bezeichnet den das Existenzminimum sichernden Lohn. Die Sozialdemokratin Henriette Fürth definierte das Mindesteinkommen als das „notwendige Mindestmaß an Geld- oder sonstigem Einkommen“, „das zur Erhaltung einer Familie, einschließlich der Vorsorge für Alter, Invalidität und Krankheit“ erforderlich ist. Das Mindesteinkommen sei keine absolute Größe, sondern vom Lebensstandard und regionalen Bedingungen abhängig. Vgl. Fürth, Henriette, Mindesteinkommen, Lebensmittelpreise und Lebenshaltung, in: AfSSp, Band 33, 1911, S. 523–542, Zitat: S. 523.
die gegenseitige Arbeitsaushilfe erfolgt entweder unentgeltlich oder gegen Ausrichtung eines Mahles, und für das Darleihen entbehrlicher Güter erwartet man keinen Ertrag, sondern gegebenenfalls Gegenseitigkeit. Zins fordert der Gewalthaber, Gewinn der Stammfremde, nicht der Bruder. Der Schuldner ist (aktueller oder potentieller) Knecht oder – in Ariosto – „Lügner“.
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In den Renaissance-Komödien des italienischen Dichters Ludovico Ariosto geht es zumeist um Verwechslungen, Geldgeschäfte und Betrügereien. In den Stücken sind es sehr oft die Diener, die ihren Herren durch Tricks und Verstellungen zu Geld verhelfen. Einem Schuldner wird nicht geglaubt. Vgl. bes. Ariost, Kleinere Werke, Komödien, lyrische Gedichte (Rime), Satiren, übersetzt und eingeleitet von Alfons Kissner. – München: Georg Müller 1909.
Die religiöse Brüderlichkeit fordert die Übertragung dieser primitiven Nachbarschaftsethik auf den Umkreis der ökonomischen Beziehungen zwischen religiösen Glaubensgenossen (denn auf diese beschränkt sich das Gebot, ursprünglich überall, so namentlich im Deuteronomium und auch noch im alten Christentum).
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Gemeint ist – wie oben, S. 639, Anm. 50, bereits erwähnt – die Stelle aus dem fünften Buch Mose (= Deuteronomium) sowie die Mahnung des Apostels Paulus in 1. Thessalonicher 4, 6, daß man seinen Bruder im Handel nicht übervorteilen solle.
Wie der älteste Handel ausschließlich Güterverkehr zwischen verschiedenen Stämmen, der Händler der Stammfremde ist, [B 802]so bleibt er in der religiösen Ethik mit dem Odium des wenn nicht Antiethischen, so doch Anethischen seines Berufs belastet: Deo placere non potest.
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Weber spielt hier auf eine Stelle im Kommentar des Matthäusevangeliums des griechischen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomos an, die sich auch im „Decretum Gratiani“ findet. Hier wurde der Beruf des Kaufmanns als kaum oder gar nicht gottgefällig bezeichnet: „Eiciens Dominus uendentes et ementes de templo, significauit, quia homo mercator uix aut numquam potest Deo placere.“ (Vgl. Corpus luris Canonici, hg. von Emil Friedberg, Band 1: Decretum Magistri Gratiani, 2. Aufl. – Leipzig: B. Tauchniz 1879, S. 308, D. 88, c. 11). Das um 1140 entstandene „Decretum Gratiani“ war vor allem für das Mittelalter die grundlegende Kirchenrechtssammlung und blieb bis zur Einführung des „Codex luris Canonici“ von 1917 formal in Kraft.
Man muß sich trotz dieser unverkennbaren Anknüpfungen hüten, die Zinsverbote allzu „materialistisch“ als „Spiegelungen“ der ökonomischen Situation: Herr[641]schaft des Konsumtiv-Kredits, zu deduzieren. Zinsfreier „Produktivkredit“ ist dem orientalischen Recht schon in den frühesten erhaltenen Kontrakten (als Darlehen von Getreide zu Saatzwecken gegen Anteil vom Ertrag) bekannt.
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[641] Entsprechende Verträge finden sich im alten Babylon um 1800 v. Chr. Vgl. Meissner, Bruno, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1893, S. 4, 27 f.
Das christliche absolute Zinsverbot beruht in der Fassung der Vulgata („mutuum date nihil inde sperantes“) vielleicht auf der Übersetzung einer falschen Lesart (μηδὲν ἀπελπίζοντες statt μηδένα ἀπελπίζοντες
u
[641]B: ἀπελπίρζοντες
nach A[dalbert] Merx);
56
Lukas 6, 34 f.: „Und wenn ihr leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen, was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie Gleiches wiedernehmen. Vielmehr liebet eure Feinde; thut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet, so wird euer Lohn groß sein, und werdet Kinder des Allerhöchsten sein […]“. Die Übersetzung der lateinischen Vulgata von Lukas 6, 35 lautet: „Vielmehr liebet eure Feinde, tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten […]“. Laut Adalbert Merx, Evangelien II,2, S. 223–228, ist jedoch die hier vorausgesetzte Lesart μηδὲν ἀπελπίζοντες („an nichts verzweifelnd“, später auch als „nichts hoffend“ übersetzt) ein Textverderbnis, μηδένα ἀπελπίζοντες („niemand der Hoffnung beraubend“) hingegen der ursprüngliche Text. Er übersetzte: „Vielmehr aber liebet eure Feinde und thut ihnen wohl und leihet, und schneidet nicht ab die Hoffnung eines Menschen, damit euer Lohn viel werde im Himmel […]“. Vgl. Merx, Evangelien I, S. 120.
die Geschichte seiner praktischen Anwendung zeigt, daß es zunächst nur für den Klerus und auch da nur den Brüdern, nicht dem Feinde gegenüber eingeführt wurde, daß es ferner gerade in den Zeiten vorherrschender Naturalwirtschaft und faktisch vorwiegend konsumtiver Zwecke des Kredits, im frühen Mittelalter sogar von den Klerikern selbst immer wieder unbeachtet blieb, dagegen fast im selben Augenblick praktisch ernst genommen wurde, als der kapitalistische „Produktivkredit“ (richtiger: Erwerbskredit) in umfassendem Maße, zunächst im Überseehandel, in Funktion trat. Es war nicht etwa ein Produkt oder eine Widerspiegelung ökonomischer Situationen, sondern vielmehr der inneren Erstarkung und zunehmenden Autonomie der Hierokratie, welche nun zunehmend an die ökonomischen Institutionen die Maßstäbe ihrer Ethik anzulegen begann und mit der Entfaltung der theologischen Arbeit dafür eine umfassende Kasuistik schuf. Die Art, in welcher es gewirkt hat, ist nicht hier und überhaupt nicht leicht in Kürze zu schildern. Erträglich war es für den Verkehr zunächst deshalb, weil in den wichtigsten Fällen, in denen Erwerbskredit in Anspruch genommen wurde, wegen der Größe [642]des Risikos die Kreditinanspruchnahme nur unter Beteiligung am Gewinn und Verlust erfolgte und erst allmählich zunächst feste, zuweilen öffentlich tarifierte Sätze für die Gewinnprozente (so beim „dare ad proficuum maris“ in Pisa)
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[642] Max Weber bezieht sich auf mittelalterliche Pisaner Statuten zum Handelsgewohnheitsrecht, das „Constitutum Usus“ von 1160. Darin wurde im 24. Kapitel „De his que dantur ad proficuum maris“ das „Geschäft auf Seegewinn“, wie Levin Goldschmidt, Handelsrecht (wie oben, S. 199 f., Anm. 82), S. 256, es bezeichnet, behandelt. (Vgl. Constitutum Usus Pisanae Civitatis, in: Statuti inediti della città di Pisa dal XII al XIV secolo, hg. von Bonaini, Francesco. – Firenze: G. P. Vieusseux 1870, S. 811–1026, hier: S. 900– 905). Für die beteiligten Kommanditisten war „ein Tarif von fixierten Maximalgewinnanteilssätzen“ festgelegt, „deren prozentuale Höhe sich nach der Lage des Bestimmungshafens“ richtete. Vgl. Weber, Handelsgesellschaften, Zitate: S. 109.
üblich wurden, überhaupt für die Produktivkapitalbeschaffung Vergesellschaftungsformen und auf dem Gebiet des Immobiliarkredits der Rentenkauf die ohnehin gegebenen Formen waren. Gleichwohl hat das Zinsverbot auf die Art der juristischen Formen der Wirtschaft stark gewirkt und den Verkehr vielfach stark belästigt: die Kaufmannschaft schützte sich durch schwarze Listen gegen die Anrufung des geistlichen Gerichts (wie jetzt etwa die Börse gegen Erhebung des Differenzeinwandes)
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Max Weber spielt hier auf die Praxis der in Zünften organisierten mittelalterlichen Florentiner Kaufmannschaft an. Dort wurden diejenigen, die das geistliche Gericht wegen einer „exceptio usurariae pravitatis“ anriefen, in Verruf gebracht. Vgl. Weber, Protestantische Ethik I, S. 33, Fn. 1; bereits dort hatte Weber den Vergleich zu den „Schwarzen Listen“ der zeitgenössischen Börse gezogen, mittels derer man diejenigen ausschloß, die vor einem Gericht den Differenzeinwand erhoben hatten. Vgl. Weber, Max, Die Ergebnisse der deutschen Börsenenquete, in: MWG I/5, S. 175–550, hier: S. 507 mit Anm. 14.
und kaufte sich von Gildewegen (so die Arte
v
[642]B: Acta
di Calimala) periodisch Generalablaß für die unvermeidliche „usuraria pravitas“,
59
Gemeint ist hier eine den Umgang mit dem Wucher betreffende Anweisung des in den Jahren 1332 bis 1337 verfaßten „Statuto dell’Arte di Calimala“, der Verfassung der Florentiner Gilde der Tuchhändler, die auch hochverzinsliche Darlehensgeschäfte betrieben. Mit dieser Regelung sollte ein Ablaß für Verstöße gegen das kanonische Wucherrecht (usuraria pravitas, „die mit den Zinsen verbundene Abweichung“) erreicht werden. Im Kapitel 65 des Statuts („Di fare ’I perdono dell’usure“) wurde vorgeschrieben, daß die für die Absolution notwendige Vergebung („perdono“) von Wuchersünden in Geschäften unter den Mitgliedern der Zunft durch einen eigens für diesen Zweck bestimmten Amtsträger („officiale“ oder „notaio“) alljährlich herbeizuführen sei. Für Geschäftsbeziehungen außerhalb der Arte di Calimala sollten Abgesandte („messi e ambasciadori“) eine entsprechende Vergebung erlangen. Zitiert nach der Weber zugänglichen und in diesem Zusammenhang (Weber, Protestantische Ethik I, S. 33, Fn. 1) bereits von ihm benutzten Ausgabe des Statuto dell’Arte di Calimala, in: Emiliani-Giudici, Paolo, Storia dei Comuni Italiani, Volume Terzo: Documenti. – Firenze: Le Monnier 1866, S. 246 f., 394. Eine der Auslegung Max Webers entsprechende Interpretation der Be[643]Stimmungen des Statuts als „Generalpardon für alle Wucherzinsen“ findet sich bei Doren, Florentiner Zunftwesen (wie oben, S. 360, Anm. 14), S. 596.
[643]der Einzelne zahlte an seinem Lebensabend „Gewissensgelder“ oder setzte sie testamentarisch aus, der Scharfsinn der Notare erschöpfte sich im Erfinden von Rechtsformen, welche das Zinsverbot im Interesse der kapitalistischen Bedürfnisse umgingen.
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Hier handelt es sich um die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von Florentiner Kaufleuten entrichtete „incerta“ (ital. „Ungewisse“). Um ein kirchliches Begräbnis zu erhalten, waren die Kaufleute gezwungen, testamentarisch die Rückgabe von Geldern zu verfügen, die sie mit dem Kreditgeschäft erworben hatten. Da die Geschädigten zumeist nicht mehr zu ermitteln waren, wurden die Gelder in der Regel für den Kirchenbau verwendet. Um die Zahlung zu vermeiden oder möglichst gering zu halten, griff man auf die Theorie zurück, daß es für die Rettung seiner Seele genüge, wenn der Sterbende die Rückerstattung anordne. Ob dies nach seinem Tod tatsächlich geschehe, habe mit seinem Seelenheil nichts mehr zu tun. Vgl. Davidsohn, Florenz II,1 (wie oben, S. 507, Anm. 60), S. 410 f. und dass. II, 2, S. 425.
Für den Notdarlehensbedarf des Kleinbürgertums schuf die Kirche ihrerseits die montes pietatis.
61
Bei den „montes pietatis“ handelte es sich um Pfandleihanstalten, die in Italien seit 1463 auf Betreiben der religiösen Orden gegründet wurden. Die Anhäufung ihres Kapitals („mons“) wurde durch Stiftungen, Legate oder öffentliche Sammlungen gewährleistet. Die „montes pietatis“ vergaben zunächst unentgeltliche Konsumtivdarlehen an ärmere Bevölkerungsgruppen gegen ein Pfand. Allmählich setzte sich ein niedriger, heftig umstrittener Zinssatz zur Deckung der Geschäftsunkosten durch. Vgl. Funk, Franz Xaver, Zins und Wucher. Eine moraltheologische Abhandlung. – Tübingen: H. Laupp 1868, S. 80–83, sowie Endemann, Wilhelm, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirthschafts- und Rechtslehre bis gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts, Band 1. – Berlin: J. Guttentag 1874, S. 460–471.
Irgendwelche endgültige Erfolge hat das Zinsverbot im Sinn einer Hinderung der kapitalistischen Entwicklung nirgends gehabt: es entwickelte sich zunehmend zu einer bloßen Verkehrshemmung, und nachdem, gegenüber der Konkurrenz der Calvinisten, durch deren Geist auch die erste prinzipielle „Rechtfertigung“ des Zinses (Salmasius) geschaffen wurde,
62
Weber bezieht sich hier auf die Werke des klassischen Philologen Claude de Saumaise (1588–1653), der das kanonische Zinsverbot mit der Schrift: De usuris liber, Claudio Salmasio auctore. – Lugdunum Batavorum: ex officina EIseviriorum 1638, sowie weiteren Traktaten theoretisch widerlegte.
die Jesuitenethik bereits alle denkbaren Konzessionen gemacht hatte, kapitulierte im 18. und endgültig im 19. Jahrhundert die Kirche auch offiziell, trotz der Vulgata-Stelle und der Kathedralentscheidungen der Päpste.
63
Trotz der offiziellen Kirchenlehre erteilte das Heilige Offizium (die römische Kurialbehörde zum Schutz des Glaubens und der Sitten) am 28. Februar 1872 die Erlaubnis, Zinsen zu nehmen und erklärte diese Entscheidung auch für Geistliche, Klöster und kirchliche Stiftungen als gültig. Vgl. Cathrein, Viktor, Moralphilosophie. Eine wissenschaftliche [644]Darlegung der sittlichen, einschließlich der rechtlichen Ordnung, Band 2, 4. Aufl. – Freiburg i. Br.: Herder 1904, S. 353.
[644]Es geschah – anläßlich von Anfragen über die Zulässigkeit von Zeichnungen auf verzinsliche Anleihen der Stadt Verona – in der Form: daß das Heilige Offizium die Beichtväter anwies, fortan überhaupt die Beichtkinder nicht mehr über Verstöße gegen dies Verbot zu inquirieren und sie zu absolvieren, – vorausgesetzt, daß feststehe, das Beichtkind werde sich eventuell auch einer künftig etwa ergehenden entgegengesetzten (also: auf das Zinsverbot zurückgreifenden) Entscheidung des heiligen Stuhles gehorsam fügen.
64
Die Anfrage der Stadt Verona ereignete sich 1740 und löste eine heftige Diskussion über das Zinsverbot auch in italienischen Laienkreisen aus. Dieser Streit führte zum Erlaß der Enzyklika „Vix pervenit“ (1. November 1745) durch Benedikt XlV., welcher das Zinsverbot ausdrücklich bestätigte. Die von Weber erwähnte Anweisung des Heiligen Offiziums an die Beichtväter erfolgte erst Ende der 1830er Jahre. Vgl. Funk, Franz Xaver, Geschichte des kirchlichen Zinsverbotes. – Tübingen; H. Laupp 1876, S. 1–76; ders., Zur Geschichte des Wucherstreites. – Tübingen: H. Laupp 1901, S. 4–14.
Auf dem Gebiet der Theorie des „justum pretium“ hatte schon die spätmittelalterliche Lehre die umfassendsten Konzessionen gemacht,
N
MWG: gemacht
N
Komma fehlt in B und in MWG-Druckfassung; hier in MWG digital ergänzt.
65
Thomas von Aquins Lehren brachten entscheidende Neuerungen für die im Mittelalter wirksame Theorie des justum pretium (vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 791). Danach bestimmte sich der „gerechte Preis“ nicht nur – wie bisher – aus der Qualität der Ware und den aufgewendeten Kosten (Arbeit, Material, Gefahren), sondern auch aus dem Gebrauchswert und schließlich – in eingeschränktem Maße – aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Damit fanden die „subjektiven Preisbestimmungsgründe“ in der kirchlichen Lehre Berücksichtigung. (Vgl. Brentano, Lujo, Ethik und Volkswirtschaft in der Geschichte. Rede beim Antritt des Rektorats. – München: Dr. C. Wolf & Sohn 1901, S. 11 ff., Zitat: S. 15). Spätmittelalterliche Theologen, wie z. B. Bernhardin von Siena und Antonin von Florenz, betonten zusätzlich die subjektive „Vorliebe und Affection“ zu einem Gegenstand und die Möglichkeit zweier Tauschkontrahenten, sich über den Preis zu einigen. Vgl. dazu Funk, Franz Xaver, Über die ökonomischen Anschauungen der mittelalterlichen Theologen, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Band 25, 1869, S. 125–175, Zitat: S. 154.
und von einem eignen [B 803]„Wirtschaftsprogramm“ der Kirche zu sprechen, dürfte kaum angängig sein.
66
Die These von einem eigenen „Wirtschaftsprogramm“ der Kirche wurde in der zeitgenössischen Literatur z. B. von Schneider, Fedor, Neue Theorien über das kirchliche Zinsverbot, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, 5. Jg., 1907, S. 292–307, hier: S. 294, vertreten. Eine ausführliche Abhandlung zu den wirtschaftstheoretischen Anschauungen der Kirchenlehrer hatte Theo Sommerlad vorgelegt und damit suggeriert, es gäbe ein umfassendes „Wirtschaftsprogramm“ der Kirche. Vgl. Sommerlad, Theo, Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zur Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden Altertums. – Leipzig: J. J. Weber 1903; Handexemplar Max Webers, Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München.
Sie hat auf grundlegende [645]Institutionen einen wirklich entscheidenden Einfluß nicht geübt. Die Kirche hat z. B. von sich aus, im Altertum wie im Mittelalter, keinerlei nennenswerten Anteil an dem Schwinden so grundlegend wichtiger Institutionen, wie z. B. der Sklaverei. Sie hinkte, soweit sie in der Neuzeit mitwirkte, den ökonomischen Tatsachen und später dem Protest der Aufklärung nach. Soweit religiöse Einflüsse bestimmend mitspielten, waren es solche der Sekten, speziell der Quäker, und auch diese haben ihre Sklavereifeindschaft in der eignen Praxis oft genug durchbrochen.
67
[645] Erst um 1800 gab es unter den Quäkern keine Sklavenhalter mehr, obwohl die Sklaverei bereits 1656 von George Fox verworfen und in den amerikanischen Kolonien 1758 auf der Jahresversammlung der Quäker in Philadelphia als unvereinbar mit dem christlichen Glauben verurteilt worden war.
Und auch in allen übrigen Hinsichten indossierte die Kirche, wo sie überhaupt eingriff, im wesentlichen die traditionalistischen und „Nahrungs“-politischen Maßnahmen der Städte und Fürsten. Gleichwohl ist der Einfluß der mittelalterlichen Kirche nicht gering, sondern ungemein groß gewesen. Aber ihr Einfluß liegt nicht auf dem Gebiet der Schaffung oder Hinderung von „Institutionen“, sondern auf dem der Beeinflussung der Gesinnung und ist auch hier wesentlich negativer Art. Sie war und ist – ganz nach dem Schema aller Hierokratie – die Stütze aller persönlichen patriarchalen Autorität und alles bäuerlich-kleinbürgerlichen traditionalistischen Erwerbs gegen die Mächte des Kapitalismus. Die Gesinnung, welche sie fördert, ist unkapitalistisch, zum Teil antikapitalistisch. Sie verdammt nicht etwa den „Erwerbstrieb“ (ein übrigens gänzlich unklarer, besser gar nicht verwendeter Begriff), sondern läßt ihn, wie die Dinge dieser Welt überhaupt, für den, der die consilia evangelica zu befolgen nicht das Charisma hat, gewähren. Aber sie findet keine Brücke zwischen einem
w
[645]B: einer
rationalen, methodischen, den kapitalistischen Gewinn als sachliche Endaufgabe eines „Berufs“ behandelnden, an ihm – das ist der Hauptpunkt – die eigne Tüchtigkeit messenden Eingestelltsein auf den „Betrieb“ im Sinn des Kapitalismus
x
B: Kapitalismus,
und den höchsten Idealen ihrer Sittlichkeit. Sie überbietet die „innerweltliche“ Sittlichkeit in Ehe, Staat, Beruf, Erwerb durch die Mönchsethik als das höhere und deklassiert damit alles, was in der Welt des Alltags, vor allem des ökonomischen, geschieht, zu ethisch subalterner Bewertung. Nur für den Mönch hat sie eine rationale as[646]ketische Lebensmelhodik, eine Eingestelltheit des Lebens als eines Ganzen auf ein einheitliches Ziel geschaffen. Das gilt für die Kirche des Okzidents ebenso wie für den gänzlich als reine Mönchsreligion entwickelten Buddhismus. Das Tun des Laien betrachtet sie, sofern er ihrer Autorität sich fügt – und, im Buddhismus, sie beschenkt – mit milden Augen. Vor allem gibt sie ihm die Möglichkeit, durch das Institut der Ohrenbeichte, das gewaltigste, in dieser Konsequenz nur in der okzidentalen christlichen Kirche entwickelte Machtmittel des Klerus, sich periodisch seiner Sünden zu entlasten und schwächt dadurch und indem sie ihn, ihrem charismatischen Heilsanstaltscharakter gemäß, auf die Leistung der Kirche für ihn verweist, unvermeidlich den Antrieb, unter ausschließlich eigner Verantwortung sein Leben innerhalb von Welt und Beruf „methodisch“ zu leben: die höchsten religiösen Ideale erreicht er damit doch nicht, denn diese liegen außerhalb der „Welt“. Alles in allem ist auf der einen Seite die Lebensführung des katholischen (mittelalterlichen) Christen innerhalb der weltlichen Berufe ungemein viel weniger traditions- und gesetzesgebunden als etwa diejenige
y
[646]B: dasjenige
des (weiterhin zu besprechenden)
68
[646] Siehe unten, S. 662–668.
Juden, in mancher Beziehung selbst als die
z
B: das
des Mohammedaners oder Buddhisten. Aber was dadurch an scheinbarer Entwicklungsfreiheit für den Kapitalismus gewonnen wird, geht wieder verloren durch das Fehlen der Anreize zur methodischen „Berufs“-Erfüllung innerhalb der Welt, insbesondre derjenigen des ökonomischen Erwerbes. Es sind keine psychischen Prämien auf die Berufsarbeit gesetzt. „Deo placere non potest“
69
Vgl. dazu oben, S. 640, Anm. 54.
bleibt, bei aller Milderung, für den Gläubigen das letzte Wort gegenüber dem Gedanken, seine ökonomische Lebensführung in den Dienst rationalen, unpersönlichen, auf Gewinn als Resultat abgestellten Betriebs auszurichten. Der Dualismus von asketischen, nur durch Verlassen der Welt erfüllbaren Idealen und „Welt“ bleibt bestehen. Der Buddhismus allerdings weiß von „Berufsethik“ noch wesentlich weniger, als Mönchsreligion und auch der ganzen Richtung seiner Erlösungsgedanken nach. Und die unbefangene Verklärung [B 804]des irdischen Besitzes und Genusses im Islam, welche diesem von seinen Ursprüngen als Krieger-Religion her [647]geblieben ist, liegt vollends wiederum nicht in der Richtung der Schaffung eines Anreizes zur innerweltlichen rationalen ökonomischen Berufsethik, zu der er vielmehr keinerlei Ansätze enthält. Die cäsaropapistisch orientalische Kirche ist zu einer klaren Stellungnahme überhaupt nicht gelangt. Aber die relativ günstigere Konstellation für die Entwicklung des Kapitalismus, welche diesen orientalischen Konfessionen gegenüber der okzidentale Katholizismus bot, lag in erster Linie auf dem Gebiet der in Fortsetzung antik römischer Traditionen vollzogenen Rationalisierung der hierokratischen Herrschaft. Vor allem in bezug auf die Art der Entwicklung der Wissenschaft und der Rechtsfindung. Die genannten orientalischen Religionen haben
a
[647]B: haben,
– und das ist ursprünglich wenigstens zum Teil Folge des rein historischen Schicksals: daß nicht sie, sondern die weltlichen Gewalten, mit deren Sphäre sie sich kreuzten, die Träger der geistigen und sozialen „Kultur“ waren und daß sie mit Ausnahme des Buddhismus, dauernd cäsaropapistischer Fesselung ausgesetzt blieben – durchweg den unrationalisierten charismatischen Charakter der Religiosität stärker bewahrt als die Kirche des Okzidents. Der orientalischen Kirche fehlt der eigne autonome, in eine monokratische Spitze ausmündende hierarchische Beamtenapparat. Die leitende Persönlichkeit des rein bürokratisch, vom Staat aus kirchlichen Würdenträgern zusammengesetzten, russischen heiligen Synod ist seit der Katastrophe des Patriarchen Nikon
b
B: Niko
und dem Fortfall der Patriarchenstellung seit Peter dem Großen der staatliche Prokurator.
70
[647] Der russische Patriarch Nikon hatte seit 1653 gegen heftigen Widerstand eine Reform der orthodoxen Kirche durchgeführt, die sich vor allem am Vorbild der griechischen Liturgie orientierte. Nach dem Ende seines Patriarchats begaben sich die altgläubigen Reformgegner in eine offene Opposition zu den Neuerungen, was in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur „Spaltung“ (Raskol) der orthodoxen Kirche führte und die Stellung des Patriarchats erheblich schwächte. So ernannte Peter d.Gr. nach dem Tod des Patriarchen Hadrian (1700) nur noch einen Patriarchatsverweser, welcher schließlich 1721 durch den „Allerheiligsten Regierenden Synod“ ersetzt wurde. Bei diesem handelte es sich um eine Art Staatsrat, der aus geistlichen und weltlichen Mitgliedern bestand und vom Zaren mit der „geistlichen“ Leitung der Kirche beauftragt wurde. Doch kontrollierte der Zar als „Beschützer der Rechtgläubigkeit“ durch einen Prokurator auch die geistlichen Angelegenheiten der Kirche. Die Verwaltung der Kirchengüter und die Verwendung der kirchlichen Einnahmen wurde vollends staatlicher Aufsicht unterstellt.
Die byzantinischen Patriarchen haben diesen Anspruch nie er[648]heben können, und der Scheich-ül-Islam steht zwar in der Theorie über dem Khalifen,
71
[648] Nach Carl Heinrich Becker stand noch zur Zeit Webers die richterliche Autorität des in Konstantinopel residierenden, Konsultativjustiz ausübenden Scheich-ul-Islam, dem obersten Mufti, über jener des Sultan-Kalifen, weil der Scheich das heilige Gesetz repräsentiere. Er wurde jedoch vom Kalifen ernannt, weil dieser als weltlicher Herrscher die ideelle Gesamtgemeinde repräsentierte. Damit wurde faktisch sichergestellt, daß der Mufti ein „gefügiges Werkzeug“ des Monarchen war. Vgl. Becker, Carl Heinrich, Islam, in: RGG1, Band 3, 1912, Sp. 706–745, bes. Sp. 724–726.
weil dieser „Laie“ ist, aber er wird von ihm ernannt, und der Khalif genießt, ganz wie der byzantinische Basileus, auch seinerseits ein, freilich schwankendes Maß religiöser Autorität. Der Buddhismus kennt eine solche Spitze nur im Lamaismus, dessen Haupt chinesischer Lehensträger
72
Gemeint ist der Dalai Lama als Inkarnation des Bodhisattva AvaIokiteśvara, der als Schutzgott Tibets gilt und den Ehrentitel Padmapāṇi („der Lotushändige“) führt. Mit dem Sieg der Mandschu-Dynastie über die in Tibet eingefallenen Dsungar-Mongolen im Jahr 1720 begann die eigentliche Oberherrschaft Chinas über Tibet. Der Dalai Lama mußte als geistliches und weltliches Oberhaupt Tibets nach seiner Installation an den Hof in Peking reisen und sich vorstellen. (Vgl. dazu Grünwedel, Buddhismus (wie oben, S. 60, Anm. 71), S. 92). Er führte die Regierungsgeschäfte in Tibet mit den von China ernannten zwei bis vier Räten und unter Oberaufsicht des „Residenten von China in Tibet“, dem sog. Amban. Dieser war sogar bei der Auswahl des künftigen Dalai Lama zugegen. Vgl. Hackmann, Buddhismus II (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 75.
und überdies, als Inkarnation in dem früher erörterten Sinn
c
[648] In B bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. oben S. 492 f.
[,]
73
Siehe vor allem die Ausführungen in den Texten „Umbildung des Charisma“, oben, S. 492 f., und „Erhaltung des Charisma“, oben, S. 559 f., sowie die Parallelerwähnung, oben, S. 579 f.
„eingekapselt“ ist. Es fehlt daher die auffaßbare Lehrautorität: wie im Islam ist auch in der orientalischen Kirche und im Buddhismus der consensus ecclesiae
74
Vgl. oben, S. 523, Anm. 5.
alleinige Quelle neuer Erkenntnis, was zwar im Islam und Buddhismus eine weitgehende Elastizität und Entwicklungsfähigkeit bedingt hat, aber die Bildung rationalen philosophischen Denkens im Anschluß an die Theologie sehr erschwert. Es fehlt endlich auch die rationale Justiz, welche auf dem Gebiet des Prozesses der Amtsapparat der okzidentalen Kirche schuf, zunächst zum eignen Zwecke: „Inquisition“ zwecks rationaler Beweiserhebung über kirchlich relevante Vorgänge, weiterhin aber auch mit starker Rückwirkung auf die Entwicklung der weltlichen Justiz, und ebenso die kontinuierliche Rechtsbildung auf der Basis rationaler Rechtswissenschaft, welche die Kirche [649]des Okzidents in Anlehnung an das römische Recht teils selbst entwickelte, teils durch ihr Vorbild begünstigte. Es ist, alles in allem, die Spannung und der eigenartige Ausgleich einerseits zwischen Amtscharisma und Mönchtum, andrerseits zwischen dem feudalen und ständischen Kontraktstaatscharakter der politischen Gewalt und der von ihr unabhängigen, mit ihr sich kreuzenden, rational bürokratisch geformten Hierokratie, welche die spezifischen Entwicklungskeime der Kultur des Abendlandes in sich trug: für die soziologische Betrachtung zum mindesten war das okzidentale Mittelalter in weit geringerem Maße das, was die ägyptische, tibetanische, jüdische Kultur seit dem Siege der Hierokratie, die chinesische Kultur seit dem endgültigen Siege des Konfuzianismus, die japanische – wenn man vom Buddhismus absieht – seit dem Siege des Feudalismus,
75
[649] Der Sieg des Konfuzianismus entschied sich erst – so Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 362 – „etwa im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung“. Der Feudalismus in Japan setzte im 12. Jahrhundert ein; ein zentralistischer und befriedeter Lehnsstaat wurde aber erst im 17. Jahrhundert von den Tokugawa-Shōgunen geschaffen.
die russische seit dem Siege des Cäsaropapismus und der staatlichen Bürokratie, die islamische seit der endgültigen Festigung des Khalifats und der präbendal-patrimonialen Stereotypierung der Herrschaft und schließlich auch, im vielfach andern Sinn freilich, die hellenische und römische Kultur des Altertums in unter sich verschiedenen, aber immerhin weitgehendem Maße gewesen sind: eine „Einheitskultur“. Das Bündnis der politischen mit der hierokratischen Macht hat im Okzident [B 805]zweimal einen Gipfelpunkt erreicht: im Karolingerreich und in gewissen Perioden der höchsten Machtstellung des römisch-deutschen Kaisertums und dann wieder in den wenigen Beispielen calvinistischer Theokratie einerseits, und andrerseits in
d
[649] Fehlt in B; in sinngemäß ergänzt.
den stark cäsaropapistischen Staaten der lutherischen und anglikanischen Reformation
e
B: Reformations-
und von den Gegenreformationsgebilden vor allem in den großen katholischen Einheitsstaaten Spanien und vor allem dem Frankreich Bossuets,
76
Gemeint ist die vom Bischof von Meaux, Jacques Bénigne Bossuet, unterstützte Kirchenpolitik Ludwigs XIV. Mit der Rückendeckung Bossuets sowie des hohen Klerus verschärfte der König seine feindliche Haltung gegenüber den Protestanten, so daß 1685 das Edikt von Nantes mit seinen Zugeständnissen an die Hugenotten aufgehoben wurde. Auch in den Auseinandersetzungen des Königs mit dem Papst, vor allem um monarchische Regalrechte, nahm der Episkopat für den König Partei. So erließ 1682 die aus 34 Bischöfen und anderen Klerikern bestehende „Assemblée générale du Clergé“ eine [650]von Bossuet redigierte „Declaratio cleri Gallicani de potestate ecclesiatica“, mit der sich der hohe Klerus u.a. gegen die Einmischung des Papstes in die weltlichen Angelegenheiten des französischen Monarchen wandte und die Vorrangstellung der Konzilien von Konstanz und Basel gegenüber den Entscheidungen des Papstes behauptete. Vgl. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 299, Anm. 26), S. 444–452.
beide Male mit stark cäsaropapistischem Ge[650]präge. Im übrigen hat überall – und übrigens in fühlbarem Maße auch damals – die okzidentale Hierokratie in Spannung mit der politischen Gewalt gelebt und ist die spezifische Schranke gewesen, welche der Macht dieser damals und im Gegensatz zu den
f
[650]B: dem
rein cäsaropapistischen oder rein theokratischen Gebilden der Antike und des Orients gesetzt war. Freilich aber steht hier Herrschaft gegen Herrschaft, Legitimität gegen Legitimität, ein Amtscharisma gegen ein andres, und das Ideal bleibt im Bewußtsein der Herrschenden und Beherrschten immer: die Vereinigung beider. Eine legitime Sphäre des Einzelnen gegenüber der Macht der Legitimität der Herrschaft gibt es nicht, es sei denn in der Form des selbständigen Gentilcharisma im Geschlechterstaat oder der kontraktlich gesicherten legitimen oder abgeleiteten Eigengewalt des Lehenträgers. Wie weit der antike Staat oder die Hierokratie oder der Patrimonialstaat oder der Cäsaropapismus seine Gewalt über den Einzelnen erstreckt, das ist eine teils schon gestreifte,
77
Siehe oben, S. 613–616, eventuell auch im Text „Patrimonialismus“, oben, S. 275–278.
teils noch zu erörternde
78
Siehe unten, S. 674–679.
rein faktische, in erster Linie von den Interessen der herrschenden Gruppe an der Erhaltung ihrer Herrschaft und von der Art ihrer Organisation abhängige Frage. Eine legitime Schranke der Herrschaftsgewalt gibt es zugunsten des Einzelnen als solchen nicht. –
Die Entwicklung der modernen bürgerlichen Demokratie und des Kapitalismus hat die Bedingungen der hierokratischen Herrschaft wesentlich verschoben. Zunächst anscheinend durchweg zu ihren Ungunsten. Der Kapitalismus hielt seinen Siegeszug gegen den Protest und, nicht selten, den direkten Widerstand des Klerus. Sein Träger, das „Bürgertum“, entwuchs in seinen „großbürgerlichen“ Schichten zunehmend seiner historischen Verbindung mit hierokratischen Mächten: sowohl die hierokratische Lebensreglementierung, wie die Bedenken der Hierokratie gegen die moderne Naturwissen[651]schaft, die Trägerin der technischen Grundlage des Kapitalismus, wie der steigende Rationalismus des immer übersehbarer und beherrschbarer werdenden Lebens als solchen wendete sich zunehmend gegen die Träger magischer Gnadengaben und vor allem gegen die innerlichst autoritär orientierten, die überkommenen Autoritäten stützenden Ansprüche der Hierokratie. Und es sind durchaus nicht, wie leicht angenommen wird, antiethische oder anethische, libertinistische Neigungen der aufsteigenden bürgerlichen Schichten, welche dabei mitspielen: mit der ethischen „Laxheit“, die stets feudalen Schichten, solange sie sich ihrer Herrschaft sicher fühlen, spezifisch ist, hat die Kirche, vermittelst des Beichtinstituts, weitgehend paktiert. Vielmehr gerade die rigoristische Ethik des bürgerlichen Rationalismus ist es, welche in letzter Instanz sich gegen die Hierokratie wendet, denn sie gefährdet die kirchliche Schlüsselgewalt und den Wert des Gnaden- und Ablaßspendens, und ist daher von jeher von der Hierokratie als ein Weg zur Ketzerei behandelt worden, wenn sie sich nicht in die Form kirchlich kontrollierter Askese fügte. In den Schatten der Kirche flüchten sich nun vielmehr alle vom Kapitalismus und der Macht des Bürgertums gefährdeten traditionalistischen Schichten: das Kleinbürgertum, der Adel und – nachdem das Zeitalter des Bündnisses der ihrer Macht sicheren Fürstengewalt mit dem Kapitalismus verflossen ist und die Herrschaftsgelüste des Bürgertums gefährlich zu werden drohen – auch die Monarchie.
Den gleichen Weg findet das Bürgertum in dem Augenblick, wo seine eigene Stellung durch den Ansturm der Arbeiterklassen von unten her gefährdet wird. Mit dem einmal im Sattel sitzenden Kapitalismus als solchen hat die Kirche – man hat nur nötig, die Entwicklung der deutschen Zentrumspartei von Ketteler bis heute zu vergleichen
79
[651] Max Weber spielt hier auf den sozialreformerischen Flügel des deutschen Zentrums an, der sozialpolitische Forderungen auf der Basis der kapitalistischen Gesellschaftsordnung propagierte. Diese Ansichten vertrat die Berliner Zentrumsfraktion seit den 1870er Jahren unter dem Einfluß des Mainzer Bischofs Freiherr Wilhelm Emmanuel von Ketteler (vgl. auch den Eintrag im Personenverzeichnis, unten, S. 766). Fortgeführt wurde diese Position von Georg Graf von Hertling, Franz Hitze und Franz Brandt, popularisiert durch den „Volksverein für das katholische Deutschland“. Sie richtete sich einerseits gegen die in der Öffentlichkeit wirksam verbreitete antikapitalistische Haltung konservativer katholischer Kreise und andererseits gegen die sozialistische Arbeiterbewegung.
– sich abgefunden. Die Hierokratie ihrerseits kommt dem [652][B 806]entgegen. Sie hat zwar zeitweise ökonomisch eschatologische Hoffnungen auf einen „christlichen“, d. h. hierokratisch geleiteten „Sozialismus“ – worunter sehr verschiedene, meist kleinbürgerliche, Formen von Utopien verstanden wurden – gesetzt und zur Untergrabung des Glaubens an das bürgerliche ökonomische System das ihrige beigetragen.
80
[652] Max Weber meint hier offensichtlich nicht den „christlichen Sozialismus“ im engeren Sinne, worunter um 1900 revolutionäre, chiliastische und sektenartige Bestrebungen verstanden wurden, wie z. B. die Schweizer „Religiös-Sozialen“ um Leonhard Ragaz oder auch die christlichen Anarchisten um Leo Tolstoi. Vielmehr scheint Weber durch seinen Hinweis auf den „hierokratisch geleiteten ,Sozialismus‘“ auf die katholische Kirche und die von ihr getragene christlich-soziale Reformbewegung in Deutschland anzuspielen, die ihr organisatorisches Zentrum in Mönchengladbach hatte. Durch die Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891) waren die sozialen Forderungen – unter starker Ablehnung des Kapitalismus und Liberalismus – systematisch in die katholische Kirchenlehre einbezogen worden. Vgl. dazu auch Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 589, Anm. 25), S. 843 ff.
Aber die typische und fast unvermeidliche Autoritätsfeindschaft der Arbeiterbewegung verschiebt ihre Attitude. Der moderne Proletarier ist kein Kleinbürger. Nicht magisch zu beherrschende Dämonen und Naturgewalten sind es, die seine Existenz bedrohen, sondern gesellschaftliche, rational durchschaubare Bedingungen. Die ökonomisch kraftvollsten Schichten der Arbeiterschaft verschmähen vielfach die Lenkung durch die Hierokratie oder lassen sie sich als eine kostenlose Interessenvertretung gefallen, soweit sie dies ist. Die hierokratischen Interessen fordern, je mehr sich die Unzerbrechlichkeit der kapitalistischen Ordnung herausstellt, desto mehr, ein Paktieren mit den neu aufgerichteten Autoritäten. Die Hierokratie sucht ihren naturgemäßen ethischen Interessen entsprechend, das kapitalistische Abhängigkeitsverhältnis der Arbeiterschaft vom Unternehmertum nach Art einer persönlichen autoritären, der Caritas zugänglichen Hörigkeitsbeziehung zu gestalten, insbesondere durch Empfehlung jener „Wohlfahrtseinrichtungen“, welche die autoritätsfeindliche Bewegungsfreiheit des Proletariats hemmen, soweit möglich auch durch Begünstigung der, scheinbar wenigstens, dem „Familienband“ und dem patriarchalen Charakter der Arbeitsbeziehungen günstigen Hausindustrie gegenüber der, für die Entstehung des autoritätsfeindlichen Klassenbewußtseins günstigen, Zusammenballung in der Fabrik. Sie steht dem autoritätsfeindlichen Kampfmittel des Streiks und allen sozialen Gebilden, die ihm dienen, mit tiefem inneren Mißtrauen gegenüber, am meisten dann, [653]wenn daraus eine ihren Interessen abträgliche interkonfessionelle Solidarität zu erwachsen droht.
Die Existenzbedingungen der Hierokratie verschieben sich innerhalb der modernen Demokratie als solcher. Ihre Machtstellung den politischen Gewalten und feindlichen sozialen Mächten gegenüber hängt nun von der Zahl der auf ihren Willen verpflichteten Abgeordneten ab. Sie hat keine andere Wahl, als eine Parteiorganisation zu schaffen und Demagogie zu treiben, mit den gleichen Mitteln, wie alle Parteien. Diese Notwendigkeit steigert die Tendenz zur Bürokratisierung, damit der hierokratische Apparat den Funktionen einer Parteibürokratie gewachsen sei. Die Machtstellung der für den politischen Kampf und die Demagogie entscheidenden Faktoren einerseits, der Zentralgewalt andererseits steigt, wie in jeder kämpfenden Massengruppe, auf Kosten der alten (bischöflich-priesterlichen) Lokalgewalten. Die Mittel sind – neben der Verwendung spezifisch emotionaler Andachtsmittel, wie sie die Schöpfer der auf die Massenagitation ausgerichteten Gegenreformation von Anfang an verwendeten – ähnliche, wie bei anderen Massenparteien: Schaffung von hierokratisch geleiteten Genossenschaften (entweder wird z. B. die Gewährung von Darlehen geradezu von der Vorlegung des Beichtzettels abhängig gemacht
81
[653] Max Weber denkt hier – wie aus einer Parallelerwähnung in den Rußlandstudien (MWG I/10, S. 162, Fn. 41) hervorgeht – wohl insbesondere an italienische Praktiken; dort sei „mehrfach Vorlegung des Beichtzettels vor der Kreditgewährung verlangt“ worden. Der Beichtzettel (schedula confessionis) war in der katholischen Kirche die vom Beichtvater ausgestellte Bescheinigung über die abgelegte Beichte und mußte u.U. vor dem Empfang der Kommunion vorgelegt werden. Darlehnskassenvereine waren in Italien nach dem Vorbild der Raiffeisenkassen 1882 eingeführt worden und wurden von der katholischen Geistlichkeit dominiert, so daß in Italien bereits im Jahr 1897 779 katholische den 125 nicht-kirchlichen Darlehnskassen gegenüberstanden. Vgl. Crüger, Hans, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, in: HdStW3, Band 3, 1909, S. 1108– 35, hier: S. 1128 f.
oder doch die Kreditwürdigkeit mit der religiösen Lebensführung in Eins verschmolzen), Arbeitervereinen, Jugendvereinen, vor allem aber naturgemäß: die Beherrschung der Schule. Wo sie Staatsschule ist, wird die Kontrolle des Unterrichts durch die Hierokratie verlangt, oder ihr durch Schulen, welche von Mönchen geleitet werden, eine sie unterbietende Konkurrenz gemacht. Das überkommene Kompromiß mit der politischen Gewalt unter strafrechtlicher und zivilrechtlicher Privilegierung und ökonomischer Ausstattung der „wandernden“ Kirchen [654]wird, womöglich, aufrecht erhalten, und die Unterordnung der Staatsgewalt in allen kirchlich reglementierten Lebensgebieten gilt als das eigentlich Gottgewollte. Allein unter der Demokratie, welche die Macht in die Hände gewählter Abgeordneter legt, kann sich die Hierokratie auch mit der „Trennung von Staat und Kirche“ abfinden. Darunter kann bekanntlich sehr Verschiedenes verstanden werden, und je nach den Umständen kann für die Hierokratie die gewonnene Bewegungsfreiheit und Freiheit von Kontrolle eine Machtstellung ermöglichen, welche sie formale Privilegien verschmerzen [B 807]läßt. Schon die scheinbar wichtigste ökonomische Konsequenz: die Streichung des Kultusbudgets, hindert natürlich in keiner Weise, daß in dem Lande der (verfassungsmäßig) absoluten Konfessionslosigkeit der politischen Gewalt: den Vereinigten Staaten, Gemeinderäte mit katholischer Mehrheit an hierokratisch geleitete Schulen Zuschüsse von beliebiger Höhe geben und dadurch ein latentes „Kultusbudget“ in einer für die Hierokratie weit bequemeren Form neu einführen.
82
[654] In dem ersten, im Jahre 1791 in Kraft getretenen und von den Einzelstaaten ratifizierten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 17. September 1787 heißt es: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibiting the free exercise thereof“. Dieses Amendment wurde auch von James Bryce zu Beginn des Abschnittes „The Churches and Clergy“ als Beleg für die verfassungsmäßig verbürgte Gleichbehandlung der religiösen Bekenntnisse in den USA zitiert. (Vgl. Bryce, American Commonwealth II (wie oben, S. 42, Anm. 1), S. 570). Bryce kam dann auf die Abweichungen von diesem Prinzip zu sprechen und berichtete über die Finanzpraktiken („the appropriation of public funds“) der Katholiken folgendes: „In some States, and particularly in New York, State or city legistatures are often charged with giving money to Roman Catholic institutions for the sake of securing Catholic vote.“ 1870 hätten auf diesem Wege in New York römisch-katholische Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen einen Betrag von mehr als 400.000 $ erhalten (ebd., S. 573). Möglicherweise hatte sich Max Weber während seiner Amerikareise 1904 auch direkt über diese Praktiken informiert.
Wird ferner die Boden- und Vermögensagglomeration freigegeben, dann ist das vielleicht langsame, aber unaufhaltsame Wachstum eines Besitzes der „toten Hand“
83
Vgl. dazu die Erläuterung oben, S. 627, Anm. 14.
heute ebenso sicher wie früher. – Naturgemäß ist die Festigkeit des Zusammenschlusses der Anhänger der Hierokratie in Ländern gemischter Konfession, wie in Deutschland inmitten von Gegnern, am festesten, daneben in Gebieten, wo die geographische Trennung von Gebieten mit vorwiegend agrarisch-kleinbürgerlicher und vorwiegend industrieller Bevölkerung sehr markant ist, wie in Belgien. In solchen Ländern fällt [655]ihr Einfluß durchweg gegen die Herrschaft der auf dem Boden des Kapitalismus erwachsenen Klassen: Bürgertum und vor allem: Arbeiterschaft, in die Wagschale
g
[655] Veraltete Schreibweise für: Waagschale
.
Die abendländische Glaubensspaltung, welche eine starke Verschiebung in der Stellung der Hierokratie brachte, ist ohne Zweifel ökonomisch mitbedingt. Aber im ganzen nur in indirekter Art. Die Bauern allerdings interessierten sich für die neue Lehre wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Befreiung des Bodens von den biblisch nicht begründeten Abgaben und Pflichten, wie die heutigen russischen Bauern es auch tun.
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[655] In der Reformationszeit hatten die Bauern Galater 5, 1 („So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen“) ganz praktisch als Anspruch auf Befreiung von der Leibeigenschaft gedeutet und im Bauernkrieg gegen ihre Lage aufbegehrt. Luther hatte diese einseitige, rein weltliche Auslegung massiv zurückgewiesen. (Vgl. Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 589, Anm. 25), S. 581). – In Rußland forderten die Bauern noch in der Revolution von 1905 – gestützt auf die religiös-ethische Verklärung der Narodniki, insbesondere durch Tolstoi und Solowjew – die vollständige Beseitigung des privaten Bodeneigentums. Vgl. Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, MWG I/10, S. 248, Fn. 79, sowie Weber, Max, Diskussionsbeitrag zu Ernst Troeltsch, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 196–211, hier: S. 200 (MWG I/9).
Direkte materielle Interessen des Bürgertums dagegen waren im wesentlichsten in den Konflikten mit den Klostergewerben engagiert, alles andere blieb sekundär. Von dem Zinsverbot als Punkt des Anstoßes ist nirgends auch nur die Rede. Äußerlich war die Schwächung der Autorität des päpstlichen Stuhls verantwortlich, die herbeigeführt wurde durch das (seinerseits politisch bedingte) Schisma und die dadurch zur Macht gelangte konziliare Bewegung, die seine ohnehin geringere Autorität in den entlegenen nordischen Ländern noch weiter schwächte. Ferner durch die anhaltenden und erfolgreichen, seine Autorität schwächenden Kämpfe der Fürsten und Stände gegen seine Eingriffe in die Vergebung der einheimischen Pfründen und gegen sein Steuer- und Sportelsystem, durch die cäsaropapistischen und Säkularisationstendenzen der mit zunehmender Rationalisierung der Verwaltung mächtig erstarkenden Fürstenmacht und die Diskreditierung der kirchlichen Tradition bei der Intellektuellenschicht und den ständischen und bürgerlichen Kreisen, nachdem sich die Kirchengewalt den „Reform“-Tendenzen verschlossen hatte. Diese Emanzipationstendenzen waren aber so gut wie gar nicht durch Gelüste einer Emanzipa[656]tion von der religiösen Lebensbestimmtheit überhaupt und nur zum ganz geringen Teil durch den Wunsch nach Abschwächung der hierokratischen Lebensregulierung getragen. Gar keine Rede vollends davon, daß irgendwelche „Weltfeindschaft“ der Kirche von einer nach Lebensoffenheit, Freiheit der „Persönlichkeit“ und, womöglich, Schönheit und Lebensgenuß dürstenden Gesellschaft als Fessel empfunden worden wäre. In dieser Hinsicht ließ die Praxis der Kirche schlechterdings nichts zu wünschen übrig. Genau das Gegenteil ist richtig: den Reformern ging die religiöse Durchdringung des Lebens durch die bisherige hierokratische Beeinflussung nicht weit genug, und zwar waren es gerade die bürgerlichen Kreise, bei denen dies am meisten der Fall war. Ein solches für uns heute unausdenkbares Maß von Lebenskontrolle, Askese und Kirchenzucht, wie es sich die prinzipiellsten Gegner des Papsttums: die täuferischen und verwandten Sekten, auferlegten, hat die Kirche den Gläubigen zuzumuten niemals gewagt. Gerade das unvermeidliche Paktieren der Hierokratie mit den Gewalten dieser Erde und mit der Sünde war der entscheidende Punkt des Anstoßes. Die asketischen Richtungen des Protestantismus haben überall da die Herrschaft gewonnen, wo das Bürgertum eine soziale Macht war, die am wenigsten asketischen Reformationskirchen: der Anglikanismus und das Luthertum dort, wo (damals) Adels- oder Fürstenmacht die Oberhand hatten. Es ist die spezifische Natur der Frömmigkeit der überhaupt intensiv religiös emp[B 808]findenden bürgerlichen Schichten, – ihr stärkerer Gehalt an rationaler Ethik, wie die Art ihrer Arbeit, und die intensivere Beschäftigung mit der Frage der „Rechtfertigung“ vor Gott, die ihrer, gegenüber den Bauern, weniger durch die organischen Naturvorgänge bestimmten, Lebensführung entsprach –, die sie, ganz ebenso, wie früher der Hierokratie gegen den Imperialismus, den Bettelorden gegen den Weltklerus, so jetzt den reformerischen Prädikanten gegen den traditionellen kirchlichen Apparat zufallen ließ. Sie hätten eine innerkirchliche Reformbewegung gern und ausgesprochenermaßen lieber als eine kirchliche Revolution akzeptiert, wenn die erstere ihren ethischen Forderungen genügt hätte. Aber allerdings lagen hier für die Hierokratie gewisse, mit der Art der nun einmal historisch gewordenen Ausgestaltung ihrer Organisation und ihrer konkreten Machtinteressen zusammenhängende Schwierigkeiten, deren rechtzeitige Beseitigung ihr nicht gelang. Das massenhafte Hineinspielen ökonomischer, vor allem aber doch: politischer, Ein[657]zelkonstellationen in den Gang der Glaubensspaltung ist bekannt genug, darf aber die Bedeutung der letztlich doch religiösen Motive nicht verkennen lassen.
Die Kirchenreformation hat ihrerseits sehr stark auf die ökonomische Entwicklung zurückgewirkt. Aber je nach der Eigenart der neuen Konfessionen verschieden. Die Stellungnahme der lutherischen Reformationskirchen gegenüber den auf dem Boden des Kapitalismus erwachsenden Klassen: Bürgertum und Proletariat, ist von der katholischen nur graduell, nicht prinzipiell verschieden. Luthers Stellungnahme zum Wirtschaftsleben ist streng traditionell gebunden, steht, am Maßstab der „Modernität“ gemessen, weit hinter den Ansichten der Florentiner Theoretiker zurück,
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[657] Max Weber bezieht sich hier auf die zahlreichen Schriften Luthers gegen den Wucher und das Zinsennehmen. Besonders in seiner 1524 erschienenen Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher“, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 15. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1899, S. 293–322, folgte Luther dem im kanonischen Recht verankerten Argument der Unproduktivität des Geldes, das der spätscholastische Theologe Antonin von Florenz bereits vorher theoretisch überwunden hatte. (Vgl. Antoninus, Summa moralis (Opera omnia […], cura Thomae Mariae Mamachi et Dionysii Remedelli, vol. 2). – Florenz: P. C. Vivianus 1741, 1.6, § 16). Die „Modernität“ von Antonin von Florenz und Bernhardin von Siena (vgl. auch die beiden Einträge im Personenverzeichnis, unten, S. 759 und 760), die hier von Max Weber als „Florentiner Theoretiker“ bezeichnet werden, hatte Franz Keller in der Schriftenreihe der Görres-Gesellschaft zu beweisen gesucht, indem er Belege für die positive Haltung beider zur kapitalistischen Unternehmung und zum sozial verantworteten Gewinn zusammengestellt hatte. (Vgl. Keller, Franz, Unternehmung und Mehrwert. Eine sozial-ethische Studie zur Geschäftsmoral (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland, Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft, Heft 12). – Paderborn: Ferdinand Schöningh 1912). Die Studie Kellers war eine kritische Auseinandersetzung mit den von Werner Sombart im „Modernen Kapitalismus“ und von Max Weber in der „Protestantischen Ethik“ geäußerten Thesen zur Entstehung des modernen Kapitalismus, insbesondere mit Webers Ausführungen über das Zinsverbot (ebd., S. 26 f.). Max Weber reagierte darauf – sowie auf die Gegendarstellung Sombarts in: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. – München, Leipzig: Duncker & Humblot 1913, S. 320 ff. mit S. 505 f., Anm. 278 – ausführlich in der Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“. Vgl. Weber, Protestantische Ethik, 1920 (wie oben, S. 433, Anm. 35), S. 56–58, Fn. 1, sowie den Editorischen Bericht, oben, S. 566.
und seine Kirche ist ganz ausdrücklich auf das Amtscharisma des zur Wortverkündung berufenen Pfarrers gegründet, eine abgesagte Feindin aller Auflehnung gegen die von Gott verordnete Obrigkeit. Die auch ökonomisch in ihren Wirkungen wichtigste Neuerung besteht in der Beseitigung der die innerweltliche Sittlichkeit und die weltlichen Sozialordnungen überbietenden „consilia evangelica“, also der – für Lu[658]ther übrigens keineswegs von Anfang an feststehenden – Aufhebung der Klöster und der Mönchsaskese als einer nutzlosen und gefährlichen Äußerung der Werkheiligkeit.
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[658] Erst Ende 1521 nahm Luther ausdrücklich zum Problem der „consilia evangelica“ (vgl. auch den Glossar-Eintrag, unten, S. 785) Stellung. Obwohl selbst noch Augustinermönch, wies er – von seiner Rechtfertigungslehre ausgehend – die Gelübde als in der Gefahr der Gesetzlichkeit stehend zurück und verteidigte die Heirat von Mönchen und Priestern. Vgl. „De votis monasticis Martini Lutheri iudicium 1521“, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 8. – Weimar: Hermann Böhlau 1889, S. 564–669.
Die christlichen Tugenden können fortan nur innerhalb der Welt und ihrer Ordnungen in Ehe, Staat, Beruf geübt werden. Bei dem Versagen der Hierokratie sowohl wie der Versuche zur Gemeindebildung – das Scheitern dieser letzteren Versuche ist natürlich durch das politisch-ökonomische Milieu mitbedingt – und bei der grundsätzlichen Aufrechterhaltung des amtscharismatischen Charakters der Kirche als Heilsanstalt zur obligatorischen Verwaltung des Worts fiel bei Luther der politischen Gewalt die Aufgabe zu, für die ordnungsmäßige Verkündung der reinen Lehre, auf die allein alles ankam, besorgt zu sein, und der so konstituierte Cäsaropapismus wurde durch die großen Säkularisationen der Reformationsperiode ökonomisch gewaltig gestärkt.
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Die Landesherren machten sich vor allem die Enteignungen von Kirchen- und Stiftsgut zunutze; vgl. dazu oben, S. 632, Anm. 30.
Während eine – im Ergebnis – antikapitalistische Gesinnung und Sozialpolitik, in der einen oder anderen Form, Gemeingut aller eigentlichen „Erlösungs“-Religionen ist, stehen in dieser Hinsicht einsam zwei Religionsgemeinschaften abseits, die sich ganz anders, wenn auch untereinander verschieden, verhalten: der
h
[658]B: der
Puritanismus und das Judentum. Von den „puritanischen“ religiösen Gemeinschaften im weitesten, alle wesentlich asketischen protestantischen Gemeinschaften umfassenden Sinne ist nur eine nicht eine „Sekte“, sondern eine „Kirche“ im hier festgehaltenen soziologischen Sinn,
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Siehe oben, S. 590 f.
d. h. eine hierokratische „Anstalt“: der Calvinismus. Die innere Eigenart dieser Kirche weicht von allen anderen Kirchen, der katholischen sowohl wie der lutherischen und islamischen, beträchtlich ab. In einer, bei der Knappheit des Raums, notgedrungen absichtsvoll auf die Spitze getriebenen Formulierung würde ihre Theorie etwa so [659]zu fassen sein
i
[659] In B bindet hier die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. dazu „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ Band I der religionssoziologischen Aufsätze. Tübingen 1920.
: Das Grunddogma des strikten Calvinismus: die Prädestinationslehre, schließt es prinzipiell aus, daß die Kirche [B 809]der Calvinisten eine Spenderin von Gütern sei, deren Empfang für das ewige Heil des Empfängers irgendwelche Bedeutung hat.
j
B: haben.
Ebenso, daß die Art des eigenen Verhaltens des Gläubigen irgendwie für sein jenseitiges Schicksal relevant sei. Denn dieses steht durch Gottes ebenso unerforschlichen wie unabänderlichen Ratschluß von Ewigkeit her fest. Um seiner selbst willen bedurfte der zur Seligkeit Prädestinierte keiner Kirche. Deren Existenz und auch, in allen wesentlichen Punkten, die Art ihrer Organisation, beruht ebenso und in gleichem Sinn wie alle sonstigen politischen und sozialen Ordnungen und alle sozialen Pflichten der Gläubigen ausschließlich und allein auf Gottes positivem, in ihren Gründen uns unbekanntem, endgültig und in allem Wesentlichen erschöpfend in der Bibel offenbartem, im einzelnen durch die zu diesem Zweck uns gegebene Vernunft zu ergänzendem und zu interpretierendem Gebot und dient keineswegs der Rettung der Seelen und der Liebesgemeinschaft der Sünder, sondern letztlich ausschließlich der Mehrung von Gottes Ruhm und Ehre: einer Art kalter göttlicher „Staatsraison“ also. Sie ist nicht nur für die zum Heil, sondern auch für die zur Verdammnis Prädestinierten da, für beide ausschließlich um zu Gottes Ruhm die allen Menschen gleich gemeinsame, alle Kreatur gleich tief und unüberbrückbar von Gott scheidende Sünde niederzuhalten: eine Zuchtrute und keine Heilsanstalt. Jeder Gedanke, magische Heilsgüter in Anspruch zu nehmen, ist ein törichtes Antasten von Gottes fester Ordnung: die Kirche verfügt nicht über solche. Die Kirche als solche ist, sieht man, hier ihres charismatischen Charakters gänzlich entkleidet und zu einer sozialen Veranstaltung geworden, deren Verwirklichung allerdings eine Pflicht divini juris und unter allen anderen die an Dignität höchststehende, auch die einzige in ihrer Organisationsform von Gott verordnete ist. Aber, davon abgesehen, ist sie doch schließlich nichts prinzipiell anderes, als es die soziale Pflicht der Verwirklichung des ebenfalls gottgewollten Staats und die weltlichen „Berufs“-Pflichten der Gläubigen auch sind. Diese Pflichten können, im [660]Gegensatz zu allen anderen „Kirchen“, hier nicht in dem Versuch bestehen, durch eine Überbietung der innerhalb der sozialen Ordnungen der Welt möglichen Sittlichkeit sich einen spezifischen Gnadenstand nach Art der Mönche zu schaffen – denn solche Versuche sind gegenüber der Prädestination sinnlos –, sondern sie erschöpfen sich in dem Wirken zu Gottes Ruhm, einerseits innerhalb der sozialen Ordnungen der Welt, andererseits innerhalb des „Berufs“: ein Begriff, der in allen protestantischen Ländern aus den Bibelübersetzungen stammt und bei den Calvinisten ganz ausdrücklich den rechtlichen Gewinn aus kapitalistischen Unternehmungen mitumfaßt.
89
[660] Zur „Berufskonzeption“ in protestantischen Ländern vgl. Webers Erläuterungen in: Protestantische Ethik I, S. 35 ff.
Dieser Gewinn und die rationalen Mittel seiner Erzielung rückten dabei in konsequenter Entwicklung des Calvinismus – der mit der Stellungnahme Calvins selbst nicht identisch ist
90
Weber bezieht sich hier auf Calvins Schrift: Ioannis Calvini Institutio Religionis Christianae (1536), in: Corpus Reformatorum, Vol. 24. – Braunschweig: C. A. Schwetschke und Sohn (Μ. Bruhn) 1863, S. 53, 60, 77. Calvin sah die Heilsgewißheit nur in dem beharrenden gläubigen Vertrauen auf die göttliche Gnade und in dem Bewußtsein der Gemeinschaft mit Gott in den Sakramenten begründet.
– in eine immer positivere Beleuchtung: die Unerforschlichkeit und Unerkennbarkeit der Prädestination zur Seligkeit oder zur Verdammnis waren dem Gläubigen naturgemäß unerträglich, er suchte nach der „certitudo salutis“,
91
Die „certitudo salutis“ (Heilsgewißheit) ist nach reformierter Ansicht „der unverlierbare Gnadenstand in dem Gefühl der ,Bewährung‘“. Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 98.
nach einem Symptom also dafür, daß er zu den Prädestinierten gehöre und konnte es, da die außerweltliche Askese verworfen war, einerseits in dem Bewußtsein finden, streng rechtlich und vernunftgemäß, unter Unterdrückung aller kreatürlichen Triebe zu handeln, andererseits darin, daß Gott seine Arbeit sichtbar segne. So absolut nichts „gute Werke“ nach katholischer Art als „Realgrund“ der Seligkeit gegenüber Gottes unabänderlichem Dekret bedeuten konnten, so unendlich wichtig wurde nun, für den Einzelnen selbst und für die gläubige Gemeinde, als „Erkenntnisgrund“ seines Gnadenstandes, das sittliche Verhalten und Schicksal des Einzelnen in den Ordnungen der Welt. Da es sich um die Wertung der Gesamtpersönlichkeit als begnadet oder verworfen handelte, da keine Beichte und Absolution ihn entlasten und seine Situation Gott gegenüber [661]ändern, keine einzelne „gute“ Handlung, wie im Katholizismus, begangene Sünden kompensieren konnte, so war der Einzelne dann seines Gnadenstandes sicher, wenn er sich bewußt war, in seinem Gesamtverhalten, in dem „methodischen“ Prinzip seiner Lebensführung auf dem einzig rechten Wege sich zu befinden: zu Gottes Ruhm zu ar[B 810]beiten. Das „methodische“ Leben: die rationale Form der Askese, wird dadurch aus dem Kloster in die Welt übertragen. Die asketischen Mittel sind im Prinzip die gleichen: Ablehnung aller eitlen Selbst- oder anderen Kreaturvergötterung, der feudalen Hoffart, des unbefangenen Kunst- und Lebensgenusses, der „Leichtfertigkeit“ und aller müßigen Geld- und Zeitvergeudung, der Pflege der Erotik oder irgendwelcher von der rationalen Orientiertheit auf Gottes Willen und Ruhm[,] und das heißt: auf die rationale Arbeit im privaten Beruf und in den gottverordneten sozialen Gemeinschaften[,] ablenkenden Beschäftigung. Die Beschneidung alles feudalen ostensiblen Prunkes und alles irrationalen Konsums überhaupt wirkt in der Richtung der Kapitalaufspeicherung und der immer erneuten Verwertung des Besitzes in werbender Form, die „innerweltliche Askese“ in ihrer Gesamtheit aber in der Richtung der Züchtung und Glorifizierung des „Berufsmenschentums“, wie es der Kapitalismus (und die Bürokratie) braucht. Die Lebensinhalte überhaupt werden nicht auf Personen, sondern auf „sachliche“ rationale Zwecke ausgerichtet, die Caritas selbst ein sachlicher Armenpflegebetrieb zur Mehrung des Ruhmes Gottes. Und da der Erfolg der Arbeit das sicherste Symptom ihrer Gottwohlgefälligkeit ist, so ist der kapitalistische Gewinn einer der wichtigsten Erkenntnisgründe, daß der Segen Gottes auf dem Geschäftsbetrieb geruht hat. Es ist klar, daß sich dieser Lebensstil mit der für die „bürgerliche“ Erwerbsarbeit als solche möglichen und üblichen Form der Selbstrechtfertigung – Geldgewinn und Besitz nicht als Selbstzweck, sondern als Maßstab der eigenen Tüchtigkeit – am intimsten berührt und geradezu deckt: die Einheit des religiösen Postulats mit dem für den Kapitalismus günstigen bürgerlichen Lebensstil ist erreicht. Nicht daß dies, insbesondere die Begünstigung des Gelderwerbs, Zweck und Sinn der puritanischen Ethik gewesen wäre: im Gegenteil gilt auch hier der Reichtum als solcher für ebenso gefährlich und versuchungsreich, wie in allen christlichen Konfessionen. Aber wie die Klöster, gerade kraft der asketisch rationalen Arbeit und Lebensführung ihrer Gemeinschaftsgenossen, immer wieder diese Versuchung für sich selbst heraufbe[662]schworen, so jetzt der fromme, asketisch lebende, asketisch arbeitende Bürger.
Die jüdische Religion muß rein formal als „Kirche“ klassifiziert werden, weil sie als „Anstalt“, für die man geboren wird, und nicht als ein Verein religiös spezifisch Qualifizierter, organisiert ist. Ihre Eigenart aber steht in vielen Hinsichten noch weiter von derjenigen der anderen Hierokratien ab, als die des Calvinismus. Sie entbehrt, wie dieser, durchaus des magischen Charisma und der heilsanstaltsmäßigen
k
[662]B: heilanstaltsmäßigen
Gnadengüter, ebenso wie des Mönchtums, und die individuelle Mystik ordnet sich hier unter die Gott wohlgefälligen und zu ihm führenden religiösen Leistungen ein, ohne zu so starken Spannungen gegen ein Amtscharisma führen zu müssen, wie im Christentum. Denn seit dem Untergang des Tempels gibt es weder Priester noch einen „Kultus“ im eigentlichen, dem antiken Judentum mit den anderen Religionen gemeinsamen Sinn des Wortes einer anstaltsmäßigen Hierurgie für die Gläubigen, sondern nur Versammlungen zu Predigt, Gebet, Gesang, Schriftverlesung und -interpretation. Die entscheidende religiöse Leistung hat also nicht die Anstalt als solche, sondern der Einzelne durch strikte Befolgung des göttlichen Gesetzes zu vollbringen, hinter der an Bedeutung alles andere zurücktritt und welche hier nicht, wie bei den Puritanern, Erkenntnisgrund, sondern Realgrund der Erlangung von Gottes Segen ist, der dem eigenen diesseitigen Leben, dem der eigenen Nachkommen und des eigenen Volkes zugute kommen wird. Sie hat dagegen den individuellen Unsterblichkeitsglauben erst spät akzeptiert,
N
MWG: akzeptiert
N
Komma fehlt in B und in MWG-Druckfassung; hier in MWG digital ergänzt.
und ihre eschatologischen Hoffnungen sind diesseitiger Art. Für die Wirtschaftsgesinnung, soweit diese religiös mitbestimmt ist, ist zunächst jene diesseitige Wendung der Heilserwartung, welche – darin dem Puritanismus gleich – den Segen Gottes in dem ganz speziell ökonomischen Erfolge der Arbeit des Einzelnen sich bewähren sieht, von sehr großer Bedeutung. Demnächst der in hohem Maße rationale Charakter der Lebensführung, der durch den Charakter der religiösen Erziehung mindestens sehr stark [B 811]mitgeprägt wird. Auch dies teilt das Judentum weitgehend mit dem Protestantismus: für den Katholiken ist die nähere Kenntnis der Dogmen und heiligen Schriften entbehrlich, da die Heilsanstalt für ihn eintritt, und es genügt, wenn er ihrer Autorität vertrauend, in Bausch und Bogen zu glauben bereit ist, was sie [663]vorschreibt („fides implicita“):
1
[663] Die von der Hochscholastik ausgebildete Lehre der „fides implicita“ beruht auf der Annahme, daß durch das explizite Bekenntnis des einzelnen Christen zum römisch-katholischen Glauben sämtliche, von der Kirche unfehlbar verwalteten Offenbarungswahrheiten darin eingeschlossen seien, auch wenn sie dem Gläubigen selbst unbekannt bleiben sollten. Vgl. Harnack, Dogmengeschichte III (wie oben, S. 610 f., Anm. 69), S. 507 f.
der Glaube ist hier eine Form des Gehorsams gegen die Kirche, deren Autorität nicht auf heilige Schriften sich stützt, sondern umgekehrt ihrerseits dem Gläubigen deren Heiligkeit, die er selbst gar nicht nachprüfen kann, garantiert. Dagegen ist für den Juden wie für den Puritaner die Heilige Schrift ein den Einzelnen bindendes Gesetz, welches er kennen und richtig interpretieren muß. Die unerhört intensive jüdische Erziehung zur Kenntnis und kasuistischen Interpretation der Thora ist ebenso die Folge davon, wie der protestantische, speziell pietistische Eifer für die Gründung von Volksschulen (bei den protestantischen Pietisten mit der ihnen charakteristischen Vorliebe für die Pflege der „Realien“):
2
Die „Realien“ (Sachfächer), wie Naturlehre, Geographie oder Geschichte, wurden, über die übliche Katechisierung hinaus, durch den hallensischen Pietisten August Hermann Francke in die Lehrpläne der von ihm seit 1695 gegründeten deutschen Armen- und Volksschulen eingeführt. Vgl. Heppe, Heinrich, Geschichte des deutschen Volksschulwesens, Band 1. – Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1858, S. 39 ff.
die Disziplinierung des Denkens, welche sich daraus ergibt, fördert ohne Zweifel die rationale Wirtschaftsgesinnung und, bei den Juden, den für sie charakteristischen dialektischen Rationalismus überhaupt. Demgegenüber schiebt das zweite Gebot
3
2. Mose 20, 4: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von des, was unten auf Erden, oder des, was im Wasser unter der Erde ist.“
mit seinen Konsequenzen für die völlige Verkümmerung der bildenden Kunst die künstlerische Sublimierung der Sinnlichkeit weit zurück und begünstigt deren naturalistische und rationale Behandlung, wie sie auch dem asketischen Protestantismus, nur mit geringeren Konzessionen an die Realität der Sinnlichkeit, eigen ist. Und die strenge Verwerfung jeder Form von „Kreaturvergötterung“ wirkt hier ebenso wie dort rationalisierend in der Richtung des „bürgerlichen“ Lebensstils und im Gefolge davon gegen alle Konzessionen an die spezifisch feudale „Unwirtschaftlichkeit“. Die positive Bewertung alles bürgerlichen Erwerbs steht bereits in der Mischna
4
Die Mischna ist eine Sammlung von Lehrsätzen der mündlichen Tora, die Ende des 2. Jahrhunderts kodifiziert wurde und später in den Talmud und die Haggada des rabbini[664]schen Judentums aufgenommen wurde. Hinweise auf den bürgerlichen Erwerb finden sich etwa im Talmud, Traktat Baba Mezia: „Das Geld eines Menschen soll immer im Gebrauch in seiner Hand sein […]“ (Fol. 42a, hier nach: Wünsche, Talmud (wie oben, S. 251, Anm. 11), S. 68), oder: „R. Jehuda sagt: Der Krämer soll nicht Sangen und Nüsse an die Kinder vertheilen, weil er sie dadurch gewöhnt, zu ihm zu kommen. Die Weisen jedoch gestatten es. Auch soll er nicht den Preis herabdrücken. Die Weisen jedoch sagen: Sein Andenken sei zum Guten!“ (ebd., 60a, S. 77).
völlig fest. Der [664]spezifisch städtische, dabei absolut unassimilierbare und internationale Charakter des Judentums, der schon im Altertum der gleiche war wie später, beruht einerseits auf rituellen Motiven: die Festhaltung der Beschneidung inmitten einer ihr fremden Welt, die Unentbehrlichkeit des Schächters wegen der Speisegebote, welche ein individuelles Zerstreutleben für den orthodoxen Juden noch heute ausschließt, andererseits auf der radikalen Vernichtung des hierokratischen Gemeinwesens und den messianischen Hoffnungen.
Soweit etwa dürfte die Beeinflussung der jüdischen Wirtschaftsgesinnung durch die Eigenart der jüdischen Religiosität gehen. Ob weiter, ist wohl schwer zu sagen. Die Sonderbedeutung des in seinen Schicksalen einzigartigen Fremdvolks dürfte im übrigen – da die „rassenmäßige“ Mitbedingtheit in irgendeinem Sinn sicher vorhanden, aber auch hier nirgends greifbar nachweislich ist – vorwiegend aus seinen historischen Schicksalen und seiner Sondersituation zu erklären sein.
Auch
l
[664]l–l (S. 666) Petitdruck in B.
hier mit Vorsicht. Ein „Wüstenvolk“, derart, daß man mit Merx ihr Recht als Beduinenrecht,
5
Der Ausdruck „Beduinenrecht“ läßt sich bei Adalbert Merx nicht nachweisen. Er hatte es im Gegenteil geradewegs abgelehnt, das „alte Gesetz“ (Dekalog und Bundesbuch) als altes beduinisches Recht zu bezeichnen. (Vgl. Merx, Die Bücher Moses und Josua, S. 35). In dieser Einschätzung, die sich gegen konservative Positionen in der alttestamentlichen Exegese richtete, hatte sich Weber bereits früher an Merx angeschlossen. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 91, sowie zur zeitgenössischen Forschungskontroverse Otto, Eckart, Die Tora in Max Webers Studien zum antiken Judentum. Grundlagen für einen religions- und rechtshistorischen Neuansatz in der Interpretation des biblischen Rechts, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, 7. Jg., 2001, S. 1–188, hier: S. 70–72.
mit Sombart ihren Charakter als Anpassung an diese Bedingungen erklären könnte, waren die Israeliten schwerlich jemals.
6
Gemeint ist Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, bes. S. 404–434. Sombart sieht dort die gesamte Geschichte des jüdischen Volkes schicksalhaft geprägt durch die Lebensgewohnheiten eines ursprünglichen „Wüstenvolk[s]“, dem Nomadismus und Saharismus eigen seien (ebd., S. 408). Im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München) finden sich an Passagen, in denen Sombart [665]auf den Wüsten- und Nomadencharakter der Israeliten hinweist, Anstreichungen Max Webers sowie die Bemerkung „Unsinn“ (ebd., S. 409, 411). Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 565.
In der Zeit, in der sie es gewesen sein könn[665]ten, existierte in der arabischen Wüste weder Kamel noch Pferd. Ihr ältestes historisches Dokument (das Deborah-Lied)
7
Das Deborah-Lied findet sich im Buch der Richter 5 und galt zur Zeit Max Webers als älteste, authentische Überlieferung des Alten Testaments. Nach Wellhausen, Julius, Israelitische und Jüdische Geschichte, 4. Aufl. – Berlin: Georg Reimer 1901, S. 12, verfaßte die Richterin Deborah das Siegeslied Ende des 11. Jahrhunderts v. Chr. nach einer der wenigen für Israel erfolgreichen Schlachten gegen die Philister.
zeigt sie, ganz ebenso wie die spätere Tradition, als eine Eidgenossenschaft von Bergstämmen, die sich, wie die Schweizer und Samniter, immer erneut als Fußkämpfer gegen die Unterwerfungsversuche des (wagenkämpfenden) stadtsässigen Patriziats der kanaanäischen und philistäischen Städte erfolgreich wehren,
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Gemeint ist die Ende des 11. Jahrhunderts v. Chr. von dem Richter Barak geführte Schlacht der nördlichen Stämme Israels gegen die Stadtfürsten der Philister. In der Ebene von Megiddo und Jesreel siegten die israelitischen Fußsoldaten trotz der technischen Überlegenheit der kanaanäischen Streitwagen, weil vermutlich der Fluß Kison nach einem Unwetter die Schlachtebene in ein versumpftes Gelände verwandelt hatte.
einen Teil der benachbarten Städte schließlich, wie ebenfalls die Schweizer und zeitweise die Samniten, sich unterwarfen und nun die Handelsstraße von Ägypten nach Mesopotamien beherrschten, wie die Schweizer die Alpen- und die Samniten die Apenninenpässe.
9
Die Samniten waren ein italischer Volksstamm in Mittelitalien. Die fehlende politische Einheit der Bergstämme in den nord-südlich verlaufenden Apenninentälern führte nach langem Widerstand im 3. Jahrhundert v. Chr. endgültig zur Unterwerfung durch Rom.
Für einen auf Bergen verehrten Gott wie Jahve ist der Sinai als höchster Berg der gegebene Sitz. Die Erlösung aus dem „ägyptischen Diensthaus“
m
[665]B: Königshaus“
ist, wenn (was mir möglich scheint) die Realität des Wanderzuges aus Ägypten abzulehnen ist,
10
Gemeint ist der Exodus des Volkes Israel aus Ägypten unter der Leitung des Mose. Nach biblischer Darstellung zogen die Israeliten auf der Flucht vor den ägyptischen Truppen durch ein „Schilfmeer“ und erreichten erst nach einem vierzigjährigen Aufenthalt in der Wüste die Sinaihalbinsel. Max Weber schließt sich hier der Meinung von Eduard Meyer und Hermann Guthe an, daß es sich hierbei nur um einen legendären, aber keinen tatsächlichen Exodus gehandelt habe. Vgl. Meyer, Eduard, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen. – Halle a.S.: Max Niemeyer 1906, S. 19–24, und Guthe, Hermann, Geschichte des Volkes Israel, 2. Aufl. – Tübingen, Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1904, S. 24 ff.
vielleicht die Abschüttelung des Ägypten nachgebildeten Fronstaats des jerusalemitischen Königtums, das die Priesterschaft verwarf. Die weitere Entwicklung ist durch die Entwicklung [666]der Hierokratie, zumal unter der Fremdherrschaft, bedingt, insbesondere der absolute Abschluß von allem Blutsfremden. Die zunehmende Spezialisierung auf den Geld- und in zweiter Linie Warenhandel ist Produkt der Diaspora, aber schon alt, ebenso ihre Unentbehrlichkeit für die fremdvölkische Umwelt: die Lage der Juden im Römerreich (man bedenke die [B 812]Tragweite ihres Dispenses vom Kaiserkult,
11
[666] Im ersten Jahrhundert n. Chr. wurden die jüdischen Gemeinden nicht zur Ausübung des mit Augustus einsetzenden Kaiserkultes gezwungen, da – nach Schürer, Emil, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Band 3, 4. Aufl. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1909, S. 107, 549 f. – bereits unter Cäsar die freie Ausübung ihrer Religion staatsrechtlich geschützt worden war.
zu dem man die Christen zwang) ist dem Wesen der Sache nach schon eine ähnliche wie im Mittelalter. Jüdisches Handwerk gab es im arabischen Spanien und gibt es im Orient und (freilich: notgedrungen) Rußland,
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Der Anteil der im Handwerk beschäftigten Juden in Rußland war seit den sog. „Maigesetzen“ des Jahres 1882 besonders hoch, da ihnen eine Beschäftigung in der Landwirtschaft und die Niederlassung außerhalb der Städte oder der jüdischen Ansiedlungsrayons untersagt wurde, so daß ihnen zwangsweise nur die handwerkliche Tätigkeit blieb.
eine jüdische Ritterschaft sah zeitweise das Kreuzzugszeitalter in Syrien.
13
Weber meint hier wohl die 2000 „kriegerischen“ Juden, die der Rabbi Benjamin von Tudela während einer Orientreise in der syrischen Wüstenstadt Thadmor im Reiche des islamischem Herrschers von Aleppo Nur ad din (1146–1174) beobachtet haben soll. Mit benachbarten Beduinenstämmen verbündet, kämpften sie sowohl gegen die christlichen Kreuzfahrerstaaten als auch gegen die muslimischen Untertanen des Reiches von Aleppo. Vgl. Caro, Georg, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter und der Neuzeit, Band 1: Das frühere und das hohe Mittelalter. – Leipzig: Gustav Fock 1908, S. 272, und Conder, Claude Reignier, The Latin Kingdom of Jerusalem 1099 to 1291 A.D. – London: Committee of the Palestine Exploration Fund 1897, S. 244.
Die ökonomische Spezialisierung der Juden scheint also mit steigendem Kontrast gegen die Umwelt zuzunehmen, doch sind dies alles immerhin Ausnahmen. Daß ihr Recht der Entwicklung moderner Formen der Wertpapiere besonders günstig gewesen wäre, wie Sombart annimmt,
14
Vgl. Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 80–91. Sombart leitete das „moderne Inhaberpapier“ von dem „talmudisch-rabbinischen Recht“ ab (ebd., S. 80 f.).
scheint mir unerweislich; umgekehrt dürfte das jüdische Handelsrecht stark byzantinisch (und durch diese Vermittlung vielleicht gemeinorientalisch) beeinflußt sein.
l
[666]l (S. 664)l Petitdruck in B.
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Nach Levin Goldschmidt war das byzantinische Handelsrecht ,verknöchert‘ und noch stark durch „hellenistisch-römische“ Traditionen geprägt. Vgl. Goldschmidt, Handelsrecht (wie oben, S. 199 f., Anm. 82), S. 96.
[667]Wo immer die Juden auftauchen, sind sie Träger der Geldwirtschaft, speziell (und im hohen Mittelalter ausschließlich) des Darlehensgeschäfts und breiter Sphären des Handels überhaupt. Für die Städtegründungen der deutschen Bischöfe waren sie ebenso unentbehrlich wie für die der polnischen Adeligen.
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[667] Zu den Städtegründungen in Polen vgl. oben, S. 421 f., Anm. 10.
Ihre sehr starke, oft beherrschende Anteilnahme an den Lieferungs- und Darlehensgeschäften der modernen Staaten zu Beginn der Neuzeit, an den Gründungen von Kolonialgesellschaften, am Kolonial- und Sklavenhandel, am Vieh- und „Produkten“-Handel, vor allem am modernen börsenmäßigen Wertpapierhandel und am Emissionsgeschäft steht durchaus fest. Eine andere Frage ist: in welchem Sinn man ihnen eine maßgebende Rolle an der Entwicklung des modernen Kapitalismus zuschreiben darf. Es ist dabei zu erwägen: ein von Darlehenswucher, oder vom Staat, seinen Kredit- und Lieferungsbedürfnissen, und von Kolonialraubwirtschaft sich nährender Kapitalismus ist nichts spezifisch Modernes, sondern im Gegenteil gerade das, was der moderne Kapitalismus des Okzidents mit dem der Antike und des Mittelalters ebenso wie des modernen Orients gemeinsam hat. Dem modernen Kapitalismus gegenüber dem Altertum (und dem fernen und nahen Orient) charakteristisch ist dagegen die kapitalistische Organisation des Gewerbes, und in deren Entwicklung kann den Juden ein bestimmender Einfluß nicht zugeschrieben werden. Vollends die Gesinnung des skrupellosen großen Geldmannes und Spekulanten ist der Zeit der Propheten schon ebenso eigen wie der Antike und dem Mittelalter. Auch die entscheidenden Institutionen des modernen Handels, rechtliche wie ökonomische Wertpapierformen, wie Börsen sind romanisch-germanischen Ursprungs, wobei die Juden an der weiteren Ausgestaltung speziell des Börsenverkehrs zu seiner heutigen Bedeutung beteiligt waren. Und endlich: die typische Art des jüdischen Handels-„Geistes“, soweit man von einer solchen greifbar sprechen kann, trägt gemeinorientalisches Gepräge, teilweise geradezu kleinbürgerliche Züge, wie sie dem vorkapitalistischen Zeitalter eignen. Gemeinsam mit den Puritanern – und zwar auch bei diesen ganz bewußt – ist den Juden die Legitimierung des formal rechtlichen Gewinns, der als Symptom des göttlichen Segens gilt, und in gewissem Maß der „Berufs“-Gedanke, der bei ihnen nur nicht so stark religiös verankert ist [668]wie bei den Puritanern. Für die Entfaltung der spezifisch modernen „kapitalistischen“ Ethik war vielleicht die erheblichste Rolle, die das jüdische „Gesetz“ spielte, die: daß seine Legalitätsethik in die puritanische Ethik rezipiert und hier in den Zusammenhang der modern-„bürgerlichen“ Wirtschaftsmoral gestellt wurde. –
Eine „Sekte“ im soziologischen Sinn ist nicht eine „kleine“, auch nicht eine von irgendeiner anderen Gemeinschaft abgesplitterte, daher von ihr „nicht anerkannte“ oder verfolgte und für ketzerisch angesehene religiöse Gemeinschaft: die Baptisten, eine der typischsten „Sekten“ im soziologischen Sinn, sind eine der größten protestantischen Denominationen der Erde. Sondern sie ist eine solche, welche ihrem Sinn und Wesen nach notwendig auf Universalität verzichten und notwendig auf durchaus freier Vereinbarung ihrer Mitglieder beruhen muß. Sie muß es, weil sie ein aristokratisches Gebilde: ein Verein der religiös voll Qualifizierten und nur ihrer sein will, nicht wie eine Kirche eine Gnadenanstalt, die ihr Licht über Gerechte und Ungerechte scheinen und gerade die Sünder am meisten unter die Zucht des göttlichen Gebots nehmen will. Die Sekte hat das [B 813]Ideal der „ecclesia pura“
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[668] Die „ecclesia pura“ („reine Gemeinde“ oder „Kirche“) bezeichnet eine zu Gottes Ehre von sittlich verworfenen Teilnehmern gereinigte christliche Abendmahlsgemeinschaft. In einem weiteren Sinn ist damit die sittlich rigoristische, christlich-asketische Laiengemeinschaft überhaupt gemeint.
(daher der Name „Puritaner“), der sichtbaren Gemeinschaft der Heiligen, aus deren Mitte die räudigen Schafe entfernt werden, damit sie Gottes Blick nicht beleidigen. Sie lehnt, in ihrem reinsten Typus wenigstens, die Anstaltsgnade und das Amtscharisma ab. Der Einzelne ist entweder kraft göttlicher Prädestination von Ewigkeit her (so bei den particular Baptists,
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Die „particular Baptists“ sind die seit 1638 in England auftretenden calvinistischen, prädestinatianischen Baptisten, deren Ursprung sich auf die puritanische Reformationsbewegung innerhalb der anglikanischen Kirche zurückführen läßt. Vgl. die 1644 entstandene baptistische „London Confession“: A Confession of Faith of Seven Congregations, or Churches of Christ in London, Which are Commonly but Unjustly Called Anabaptists, in: The History of the Puritans, by Daniel Neal, Vol. 5. – London: William Baynes and Son 1822, Appendix, S. CXIV–CXXVIII, CXV; sowie Barclay, Robert, The Inner Life of the Religious Societies of the Commonwealth, Second Edition. – London: Hodder and Stoughton 1879, S. 318 ff. Beide Werke wurden von Weber, Protestantische Ethik II, S. 29, Fn. 57 und S. 62, Fn. 122, bereits früher herangezogen.
der Kerntruppe der „Independenten“ Cromwells)
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Mit den „Independenten Cromwells“ ist die in England 1645 konstituierte „New Model Army“ gemeint, in welcher die Independentisten unter der Führung Cromwells bis [669]zum Bruch mit dem presbyterianischen Parlament im Juni 1647 die Oberhand gewannen. Vgl. Firth, Charles Harding, Cromwell’s Army. – London: Methuen & Co. 1902, S. 317–319, auf den sich Weber bereits früher gestützt hatte, Weber, Protestantische Ethik II, S. 29, Fn. 58.
oder kraft „inneren [669]Lichts“
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Das „innere Licht“ (engl. „Inward Light“) ist nach der Lehre der Quäker die unmittelbare Ergriffenheit des Menschen durch den Geist Gottes.
oder pneumatischer Befähigung zur Ekstase oder – bei den alten Pietisten – durch „Bußkampf“ und „Durchbruch“,
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Nach der Lehre des lutherischen Pietisten August Hermann Francke (1663–1727) sollte die göttliche Gnade in einem Akt religiöser Wiedergeburt nur unter einmaligen spezifischen Bedingungen, nach dem „Bußkampf“ als einer gründlichen Selbstprüfung der Sünden und einem längeren Prozeß des inneren Ringens und tiefer Verzweiflung, zu einem genau datierbaren Zeitpunkt als wahrer Glaube zum „Durchbruch“ kommen. Vgl. Ritschl, Albrecht, Geschichte des Pietismus, Band 2. – Bonn: Adolph Marcus 1884, S. 194.
jedenfalls also kraft spezifischer pneumatischer Begabung (so bei allen Vorläufern der Quäker und diesen selbst und bei dem Gros der pneumatischen Sekten überhaupt) oder kraft eines anderen ihm gegebenen oder von ihm erworbenen spezifischen Charisma qualifiziert zum Mitgliede der „Sekte“ (der Begriff muß von allem ihm durch die kirchliche Verlästerung angehängten Beigeschmack natürlich sorgsam freigehalten werden). Der metaphysische Grund, aus welchem die Mitglieder der Sekte sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, kann der allerverschiedenste sein. Soziologisch wichtig ist ein Moment: die Gemeinschaft ist der Ausleseapparat, der den Qualifizierten vom Nichtqualifizierten scheidet. Denn den Verkehr mit dem Verworfenen hat der Erwählte oder Qualifizierte – wenigstens bei reiner
n
[669]B: einer
Ausprägung des Sektentypus – zu meiden. Jede Kirche, auch die lutherische und selbstverständlich das Judentum, nahmen in der Zeit kräftigen kirchlichen Lebens die Exkommunikationsgewalt gegen den hartnäckig Ungehorsamen und Ungläubigen in Anspruch. Nicht immer, aber ursprünglich allerdings in der Regel, ist damit der ökonomische Boykott verbunden. Einige Kirchen, so die zoroastrische und die Schiiten,
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Die Religion des Zarathustra nahm den alten persischen Gedanken von der „Reinheit des Blutes“ auf und empfahl sogar die Verwandtenehe (zwischen Bruder und Schwester oder Vater und Tochter); im Awesta, der heiligen Schrift der Perser, wurde dies als „khvaêthvadâtha“ bezeichnet. (Vgl. Bausani, Die Perser (wie oben, S. 336, Anm. 40), S. 57). In den Gathas (Gesängen), die Max Weber in einer zeitgenössischen Übersetzung vorlagen, wurde mehrfach betont, daß jeglicher Verkehr mit nicht zur zoroastrischen Religion Zugehörigen zu unterbleiben habe, diese seien Feinde. (Vgl. Bar[670]tholomae, Christian, Die Gatha’s des Awesta. Zarathustra’s Verspredigten. – Straßburg: Karl J. Trübner 1905, z. B. S. 53 f. (Yasna 43, 15), S. 72 (Yasna 45, 11) oder S. 94 (Yasna 49, 3)). Der Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher konstatierte eine große Ähnlichkeit in den Reinheitsvorschriften der Schiiten und Zoroastrier. Die strenge Auslegung des Korans („die Ungläubigen [sind] unrein“) finde sich bei den Schiiten: Jede Berührung mit Andersgläubigen oder mit von diesen gebrauchten Gegenständen bedeute für sie rituelle Verunreinigung. Ehen mit Andersgläubigen sind daher verboten. Vgl. Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 81), S. 243–246, Zitat: S. 243.
sonst meist nur die Kastenreligio[670]nen, wie der Brahmanismus, gingen so weit, den physischen Verkehr, sexuellen wie ökonomischen, mit den Außenstehenden überhaupt zu verbieten. Auch keineswegs alle Sekten gehen so weit. Wohl aber liegt es in der Linie ihrer konsequentesten Entwicklung, ganz ebenso wie in der des Mönchtums, daß es geschieht, und mindestens der als unqualifiziert und verworfen aus der Gemeinschaft Ausgestoßene unterliegt dem strengsten Boykott. Die Zulassung eines solchen zu den gottesdienstlichen Handlungen, speziell zum Abendmahl, würde Gottes Zorn erregen und ihn verunehren. Diese Vorstellung: daß die Ausmerzung des sichtlich von Gott Verworfenen Angelegenheit jedes Gemeindegliedes sei, wirkt schon im Calvinismus, der ja, kraft des aristokratischen charismatischen Prinzips der Prädestination und der Degradierung des Amtscharisma, innerlich den Sekten nahe steht, im Sinn der sehr verstärkten Bedeutung der einzelnen Abendmahlsgemeinde gegenüber einem Amt: die Kuypersche, politisch so folgenschwere Kirchenrevolution der strengen Calvinisten in Holland in den 80er Jahren
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Gemeint ist die von Abraham Kuyper beeinflußte Protestbewegung der „Doleantie“, die eine Reform der Verfassung der „Nederlandse Herformde Kerk“ im Sinne der Dordrechter Synode von 1619 anstrebte. Nachdem innerkirchliche Reformbemühungen gescheitert waren, führte dies 1886 zu Massenaustritten und zur Abspaltung von zahlreichen Einzelgemeinden, die sich 1892 zur „Gereformeerde Kerken van Nederland“ zusammenschlossen.
entstand, weil die höhere Instanz der Gesamtkirche sich anmaßte, den Einzelgemeinden die Zulassung von Konfirmanden ungläubiger Prädikanten zum Abendmahl zu oktroyieren.
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Die Gemeindeältesten einer reformierten Kirche in Amsterdam weigerten sich, 1886 unter der Führung von Abraham Kuyper, entgegen der Forderung der Synode der „Nederlandse Herformde Kerk“, die Konfirmationsscheine auswärtiger, in den Augen der Laienältesten unwürdiger liberaler Prediger als für die Zulassung zum Abendmahl ihrer Gemeinde hinreichend anzuerkennen. Vgl. Webers nähere Ausführungen in der Überarbeitung von 1920: Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 207–236 (MWG I/18), hier: S. 226 (hinfort: Weber, Sekten).
Bei den konsequenten Sekten vollends folgt, da ja aus[671]schließlich die im täglichen Verkehr miteinander Stehenden, einander persönlich Kennenden die religiöse Qualifikation der Anderen beurteilen können, das Prinzip der unbedingten Gemeindesouveränität. Wenn sich die einzelnen Gemeinden der gleichen „Konfession“ zusammenschließen und eine größere Gemeinschaft bilden, so ist das ein „Zweckverband“, und es muß, aus jenem Grunde, die entscheidende Verfügung stets bei der Einzelgemeinde bleiben: sie ist das prius und bei ihr beruht, wenn man den Begriff anwenden will, unvermeidlich die „Souveränität“. Immer ist es, aus dem gleichen Grunde, speziell die „kleine“ Gemeinde (die „ecclesiola“ der Pietisten),
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[671] „Gemeindelein“ oder „Kirchlein“ sind die pietistischen Konventikel, die sich seit dem 17. Jahrhundert neben den üblichen Gemeindegottesdiensten versammelten. Die Mitglieder dieser von Spener als „Ecclesiola in Ecclesiam“ bezeichneten Gemeinschaften hielten sich für besonders gläubig, wollten aber innerhalb der Kirche der Durchschnittschristen verbleiben. Vgl. Spener, Philipp Jacob, Theologische Bedencken und andere brieffliche Antworten, Theil 3, 2. Aufl. – Halle a.S.: Verlag des Waysenhauses 1715, S. 160.
welche für diese Funktionen geeignet erscheint. Dies die negative, in der Ablehnung des seiner Natur nach universalistisch-expansiven Amtscharisma gipfelnde, Seite des „Gemeindeprinzips“. Die praktische Bedeutung dieser fundamentalen Stellung einer solchen durch freie Auslese (Ballotage) entstandenen Gemeinde für den Einzelnen aber liegt darin, daß sie ihn in seiner persönlichen Qualifikation legitimiert. Wer aufgenommen wird, dem wird damit Jedermann gegenüber bescheinigt, daß er den religiös-sittlichen Anforderungen der [B 814]Gemeinde nach stattgehabter Prüfung seiner Persönlichkeit genügt. Das kann für ihn von der größten, auch ökonomischen, Tragweite sein, wenn jene Prüfung als streng und zuverlässig gilt und wenn sie sich auf ökonomisch relevante Qualitäten erstreckt. Zur Illustration durch wenigstens einige Einzelzüge: Schon in den Schriften der Quäker und Baptisten vor 200 Jahren
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Max Weber meint hier – wie sich aus den präziseren Angaben in der Überarbeitung des Sektenaufsatzes ergibt (Weber, Sekten (wie oben, S. 670, Anm. 24), S. 218, Fn. 2 und S. 219, Fn. 1) – insbesondere die Schriften des Baptisten John Bunyan (1628–1688) und des Quäkers Thomas Clarkson (1760–1846). Bunyan hatte in seinem berühmten Werk „Pilgrim’s Progress“ (zuerst erschienen 1678/84) den „Mr. Money-Love“ argumentieren lassen, daß man mit dem Ziel fromm werden dürfe, die Kundschaft zu vermehren und reich zu werden. (Vgl. Bunyan, John, The Pilgrim’s Progress from this World to that which is to come. – Leipzig: Bernhard Tauchnitz 1855, S. 114). Der Quäker Thomas Clarkson beschrieb das anfängliche Mißtrauen der Engländer gegen die Kaufleute der Quäkergemeinde sowie den raschen Meinungsumschwung: „But in a little time the [672]great outcry against them was, that they got the trade of the country into their hands. This outcry arose in part from a strict execution of all commercial appointments and agreements between them and others, and because they never asked two prices for the commodities which they sold.“ Vgl. Clarkson, Thomas, A Portraiture of the Christian Profession and Practice of the Society of Friends, 3rd Edition. – Glasgow: Robert Smeal und London: Blackie and Son 1869, S. 276; Max Weber hat bei der Zitation Clarksons im Sektenaufsatz den letzten Halbsatz, der sich auf den festen Preis bezog, hervorgehoben.
findet [672]sich der Jubel darüber, daß die Gottlosen ihr Geld nicht ihresgleichen, sondern den frommen Brüdern in Depot oder Kommandite geben, weil deren notorische Rechtlichkeit und Zuverlässigkeit ihnen mehr gelte als ein Unterpfand, daß die Kundschaft der Detailgeschäfte der Brüder zunehme, weil die Gottlosen wissen, daß, auch wenn sie ein Kind oder Dienstboten in den Laden schicken, diesen nur der „reelle“, ein für allemal feste Preis abgefordert und reelle Ware geliefert wird: Quäker und Baptisten streiten sich um die Ehre, an Stelle des typisch orientalischen Feilschens das System der „festen Preise“ – ein für die Kalkulation des Kapitalismus auf allen Gebieten wichtiges Element – im Detailhandel durchgeführt zu haben. Und nicht anders steht es heute, vor allem in dem Hauptgebiet der Sekten, den Vereinigten Staaten: der typische Sektierer, ebenso der Freimaurer schlägt, nicht etwa nur bei seinesgleichen, als Handlungsreisender jeden Konkurrenten, weil man an die absolute Reellität seiner Preisstellung glaubt, wer eine Bank aufmachen will, läßt sich als Baptist taufen oder wird Methodist, denn jedermann weiß, daß vor
o
[672] Fehlt in B; vor sinngemäß ergänzt.
der Taufe, bzw. Aufnahme[,] ein examen rigorosum
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Das „examen rigorosum“ war eine mit besonderer Strenge und Genauigkeit vorgenommene Prüfung, die der Aufnahme in die Sekten vorausging.
mit Nachforschungen über Flecken in seinem Wandel in der Vergangenheit: Wirtshausbesuch, Sexualleben, Kartenspiel, Schuldenmachen, andere Leichtfertigkeiten, Unwahrhaftigkeit u. dgl.[,] stattfindet, dessen günstiger Ausfall seine Kreditwürdigkeit garantiert, und in Gebieten wie z. B. Nordamerika ist Personalkredit auf anderer als dieser Grundlage überhaupt fast undenkbar.
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Vgl. dazu die Ausführungen in Weber, Sekten (wie oben, S. 670, Anm. 24), S. 213 f.
Die asketischen Anforderungen an den wahren Christen sind eben die gleichen, welche der Kapitalismus, wenigstens innerhalb des Geltungsgebiets des Satzes: [673]honesty is the best policy,
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[673] In einer während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1777 verfaßten Abhandlung hielt es Benjamin Franklin für unabdingbar, daß Schulden aus privaten Kontrakten auch an Engländer zurückgezahlt werden müßten, weil in einem ehrbaren Geschäftsgebahren in jedem Falle gelte: „[…] honesty being in truth the best policy“. Vgl. Franklin, Benjamin, Comparison of Great Britain and the United States in Regard to the Basis of Credit in the Two Countries, in: The Works of Benjamin Franklin. Compiled and edited by John Bigelow, Vol. 7. – New York, London: G. P. Putnam’s Sons 1904, S. 159–167, Zitat: S. 167.
auch seinerseits an seine Novizen stellt: in Aufsichtsräten, als Direktor, „Promoter“
p
[673]B: „Promotor“
,
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Gemeint ist hier wohl der amerikanische „promoter“ („Förderer“). Dabei handelt es sich um die Person, die im Rahmen einer Unternehmensgründung eine Vertrauensstellung einnimmt und sich mit der Durchführung, dem organisatorischen Aufbau und der Finanzierung des Unternehmens befaßt.
Vorarbeiter, in allen wichtigen Vertrauensstellungen des kapitalistischen Apparats ist der Sektierer dieses Schlages bevorzugt. Das Sektenmitglied findet – das ist die bevorzugte Situation der „Diaspora“-Religionen, also z. B. der Juden, zu allen Zeiten – überall wohin es kommt, die kleine, ihn auf Grund der in Amerika noch heute üblichen Bescheinigungen seiner Herkunftsgemeinde
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Gemeint sind „certificates“ oder sog. „letters of recommendation“. Weber bezieht sich hier auf Beobachtungen, die er während seiner Amerikareise von August bis Dezember 1904 gemacht hat. Vgl. dazu die nachfolgende Anmerkung.
als Bruder aufnehmende, legitimierende, empfehlende Gemeinde der Glaubensgenossen wieder und hat alsbald ökonomischen Boden unter den Füßen, der dem außenstehenden Fremdling völlig fehlt. Und diesem Renommee entspricht in weitem Umfang die wirkliche Qualität des Sektenmitglieds. Denn keine autoritäre Kirchenzucht einer Amtshierokratie kann an Intensität der Wirkung sich mit der Tragweite der Ausschließung aus der Sekte und vor allem auch mit der Intensität der Sektenerziehung messen.
Mit der individuellen, unkontrollierten, zur Entlastung des Sünders, aber selten zu dessen Umstimmung dienenden Ohrenbeichte des Katholiken fällt die alte methodistische Beichte in den allwöchentlichen Zusammenkünften der dafür gebildeten kleinen Gruppen zusammen, das Klassensystem, die pietistische und quäkerische gegenseitige Kontrolle und Vermahnung, und steht an Wirkung allen anderen Momenten voran die Notwendigkeit, sich in einem Kreise und unter der steten Kritik von seinesgleichen „behaupten“ zu müssen und behauptet zu haben. Von den Sekten aus ist mit der zunehmenden Säkularisation des Lebens diese Grundlage des Selbstge[674]fühls des Einzelnen durch die zahlreichen, durchweg auf Ballotage beruhenden Vereine und Klubs für alle nur denkbaren Zwecke, bis zu den Boys’ clubs in den Schulen herunter, verbreitet und durchdringt das ganze amerikanische Leben. Der „gentleman“ wird im Mittelstand noch heute durch die „badge“
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[674] „Badge“ ist das Erkennungszeichen eines Vereins, das erst nach Prüfung von Charakter und Lebenswandel eines neuen Mitglieds durch Ballotage vergeben wurde. Vgl. hierzu die Schilderungen über Webers Amerikareise 1904 bei Weber, Marianne, Lebensbild, S. 312, und Weber, Sekten (wie oben, S. 670, Anm. 24), S. 213.
irgend eines derartigen Verbandes als solcher legitimiert. Mag dies auch zur Zeit vielfach in der Zersetzung begriffen sein, so gilt doch noch heute: daß die amerikanische Demokratie kein Sandhaufen zusammenhangsloser Individuen, sondern ein Gewirr von höchst exklusiven, aber absolut frei gewachsenen Sekten, Vereinen, Klubs [B 815]ist, in welchen und um welche sich das eigentliche soziale Leben des Einzelnen bewegt: in einen als vornehm geltenden Klub nicht hinein ballottiert zu werden, kann einen amerikanischen Studenten zum Selbstmord bringen. Analogien dazu finden sich naturgemäß in vielen freien Vereinen, denn in sehr vielen Fällen, bei nicht wirtschaftlichen Vereinen überwiegend, wird die Frage, ob man mit jemandem als Mitglied in einem solchen zusammengehören will, nicht nur unter dem rein funktionellen Gesichtspunkt der Brauchbarkeit für den konkreten Vereinszweck betrachtet und gilt die Zugehörigkeit zu einem „vornehmen“ Klub irgend welcher Art überall als eine die Gesamtpersönlichkeit „hebende“ Legitimation. Allein nirgends so intensiv wie in der klassischen Epoche Amerikas, zu dessen ungeschriebenen, aber wichtigsten, weil die Prägung der Persönlichkeit am stärksten beeinflussenden, Verfassungsbestandteilen die „Sekte“ und ihre Derivate gehören.
In der Hierokratie als solcher trat uns eine Macht entgegen, welche kraft des Satzes, daß man „Gott mehr gehorchen solle als den Menschen“,
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Apostelgeschichte 5, 29.
der politischen Gewalt gegenüber auf ihrem Gebiet eigenes Charisma und eigenes Recht beanspruchte, Gehorsam fand und jener feste Schranken setzte. Diejenigen, über welche sie die Herrschaft in Anspruch nimmt, schützt sie gegen Eingriffe anderer Gewalten in der Sphäre ihrer eigenen Herrschaft, möge der Eingreifende der politische Gewalthaber oder der Ehemann und Vater sein. Das geschah aber kraft ihres eigenen Amtscharisma. Da die politi[675]sche Gewalt ebenso wie die hierokratische, beide bei voller Entwicklung, universalistische Herrschaftsansprüche stellen, d. h. beanspruchen, die Grenzen ihrer Herrschaft über den Einzelnen selbst zu ziehen, so ist Kompromiß und Bündnis zu gemeinsamer Herrschaft unter gegenseitiger Abgrenzung der Sphären die adäquate Beziehung beider und die „Trennung von Staat und Kirche“
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[675] Die Forderung einer „Trennung von Kirche und Staat“ ist auf unterschiedliche Weise in den Verfassungen der USA und Frankreichs verwirklicht, in Deutschland wurde sie vor allem durch die Großblockpolitik in Baden zu einer gesellschaftspolitischen Kampfformel. Vgl. oben, S. 168, Anm. 21.
eine Formel, die nur bei einem faktischen Verzicht entweder des Staates oder der Kirche auf die volle Beherrschung der ihnen, prinzipiell, zugänglichen Gebiete möglich ist.
Die Sekte steht dagegen dem Amtscharisma ablehnend gegenüber. Zunächst dem hierokratischen: wie der Einzelne nur kraft spezifischer, von der Gemeinschaft geprüfter und festgestellter Qualifikation ihr Mitglied wird – die sog. „Wiedertaufe“ (in Wahrheit: Erwachsenentaufe Qualifizierter) bei den Baptisten ist das eindeutigste Symbol dafür – so übt er auch eine hierokratische Gewalt nur kraft spezifischen Charismas aus. Der typische Quäkergottesdienst ist ein stilles Harren darauf, ob der Geist Gottes an diesem Tage über eines der Gemeindeglieder kommen werde: dieses, wer es auch sei, und nur dieses ergreift das Wort zu Predigt oder Gebet.
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Der Gottesdienst der Quäker fand seit Mitte des 17. Jahrhunderts, von dem Begründer der Quäker George Fox (1624–1691) in ausdrücklichem Gegensatz zum Kultus der bestehenden englischen Staatskirche und der puritanischen Sekten verstanden, ursprünglich ohne Liturgie, Gesang und Gebet als schweigende Andacht („silent meeting“) statt, in der alle Gemeindemitglieder, die sich vom Geist ergriffen fühlten, frei predigen sollten.
Es ist schon eine Konzession an das Bedürfnis nach Regel und Ordnung, wenn diejenigen, welche sich dauernd als spezifisch zur Wortverkündung qualifiziert erwiesen haben, auf besondere Sitze gesetzt werden und nun unter der Notwendigkeit stehen, dem Kommen des Geistes durch Vorbereitung von Predigten nachzuhelfen, wie es die meisten Quäkergemeinden tun. Alle reinen und konsequenten Sekten aber halten an dem in jeder konsequenten „Kirche“ verpönten Grundsatz der „Laienpredigt“, des „allgemeinen Priestertums“ in diesem striktesten Sinn, fest, wenn sie auch im Dienst der ökonomischen und pädagogischen Interessen reguläre Ämter entwickelt haben. Aber wo immer der „Sekten“-Cha[676]rakter rein erhalten ist, da halten die Gemeinden auch auf die Erhaltung der „unmittelbar demokratischen Verwaltung“ durch die Gemeinschaft und auf den Charakter der kirchlichen Beamten als „Diener“ der Gemeinde. Die innere Wahlverwandtschaft mit der Struktur der Demokratie liegt schon in diesen eigenen Strukturprinzipien der Sekte auf der Hand. Ganz ebenso in ihren Beziehungen zur politischen Gewalt. Ihre Stellung zur politischen Gewalt ist eigenartig und höchst wichtig: sie ist ein spezifisch antipolitisches oder doch apolitisches Gebilde. Sie kann, da sie universalistische Ansprüche überhaupt nicht erheben kann und darf, sondern nur als freier Verband Qualifizierter leben will, einen Bund mit der politischen Macht gar nicht eingehen, oder wo sie es doch tut, wie die Independenten in Neuengland, da entsteht eine aristokratische poli[B 816]tische Herrschaft der kirchlich Qualifizierten, welche – wie schon im sog. Halfway-Covenant
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[676] Die kongregationalistische Synode von Massachusetts beschloß 1662, eine eingeschränkte Mitgliedschaft des „Bundes“ auch solchen Kindern zuzugestehen, deren Eltern nicht dem Kern der erprobten Christen („visible saints“) angehörten und keine Konversion („regeneration“) erlebt hatten.
– zu Kompromissen und zum Verlust des spezifischen Sektencharakters führt. Das Mißlingen der Herrschaft des Parlamentes der Heiligen unter Cromwell
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Gemeint ist das sog. „Barebone’s Parliament“ (4. Juli bis 12. Dezember 1653). Cromwell hatte für dieses Parlament besonders integre und religiöse Persönlichkeiten nominieren lassen. Royalisten und andere Gegner nannten es – in bewußter Abwandlung der Orthographie – nach dem Parlamentsmitglied und radikalen Londoner Baptisten Praisegod Barbone das „Barebone’s (Dürrbein) Parliament“. Vgl. Bernstein, Eduard, Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution, 2. Aufl. – Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachfolger 1908, S. 107 f.
war das größte Experiment dieser Art. Die reine Sekte muß für „Trennung von Staat und Kirche“ und „Toleranz“ sein, weil sie eben keine universelle Heilsanstalt für die Unterdrückung der Sünde ist, und die politische so wenig wie die hierokratische Kontrolle und Reglementierung erträgt, – weil keine amtliche Macht, welcher Art immer, dem Einzelnen
q
[676]B: einzelnen
Heilsgüter spenden kann, für die er nicht qualifiziert ist, und also jede Anwendung politischer Gewalt in religiösen Dingen als sinnlos oder geradezu als teuflisch gelten muß, – weil die außer ihr Stehenden sie nichts angehen, – weil, alles in allem, sie selbst, soll sie den innersten religiösen Sinn ihrer Existenz und ihre Wirksamkeit nicht aufgeben, nichts anderes als ein absolut frei gebildeter Verein von religiös spezifisch Qualifizierten sein kann. [677]Die konsequenten Sekten haben daher diesen Standpunkt auch immer vertreten und sind die eigentlichsten Träger der Forderung der „Gewissensfreiheit“. Auch andere Gemeinschaften haben dies Wort verwendet, aber in anderem Sinn. Man könnte von „Gewissensfreiheit“ und „Toleranz“ in cäsaropapistischen Gemeinwesen wie den römischen, chinesischen, indischen, japanischen Staatswesen reden, weil sie alle möglichen Kulte unterworfener oder angegliederter Staaten zulassen und keinerlei religiösen Zwang üben: aber dies hat seine prinzipielle Schranke in dem offiziellen Staatskult der politischen Gewalt, dem Kaiserkult in Rom, der religiösen Verehrung des Kaisers in Japan, wohl auch dem Himmelskult des Kaisers in China und ist durch politische Raison, nicht religiös, bedingt. Ganz ebenso die Toleranz Wilhelms des Schweigers
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[677] Wilhelm I. von Oranien. auch „der Schweiger“ genannt, einigte die niederländischen Territorien 1576 in der „Genter Pazifikation“ gegen das katholische Spanien, dessen Statthalter er seit 1559 gewesen war. Selbst zum Protestantismus konvertiert, unterstützte er die religiöse Toleranz in den Provinzen, um das Einigungswerk zu vollenden. Die in der „Utrechter Union“ 1579 zusammengeschlossenen sieben nördlichen Provinzen sagten sich 1581 von Spanien los und bildeten die Republik der Vereinigten Niederlande. Hier sei – so die These von Felix Rachfahl – erstmalig das „Prinzip der staatlichen Toleranz in religiösen Dingen“ verwirklicht worden, weshalb Wilhelm von Oranien als „der erste bewußte und erfolgreiche Vorkämpfer eben dieser Idee unter den großen Staatsmännern Europas“ zu gelten habe. Vgl. Rachfahl, Felix, Wilhelm von Oranien und der niederländische Aufstand, Band 1. – Halle a.S.: Max Niemeyer 1906, S. IX und 453.
oder schon Kaiser Friedrichs II.,
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Friedrich II., seit 1198 König von Sizilien, schuf dort einen Staat, in dem Griechen, Christen und Muslime gleichberechtigt nebeneinander lebten. Diesen titulierte die RGG als „erste[n] Toleranzstaat“. (Vgl. Köhler, Ludwig, Friedrich II., in: RGG, Band 2, 1910, Sp. 1067–70, Zitat: Sp. 1069). Friedrich brauchte fremde Kolonisten, um die Insel zu bewirtschaften, und stellte sich andererseits dem Papsttum bei der Ketzerverfolgung zur Verfügung.
oder mancher Grundherren, welche die Sektierer als geschickte Arbeiter verwendeten oder der Stadt Amsterdam, in welcher sie Träger des Geschäftslebens waren:
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In Amsterdam war die reiche Kaufmannschaft – trotz der Dominanz des pietistischen Calvinismus in den Niederlanden im 17. Jahrhundert – vorwiegend arminianisch. (Vgl. Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 589, Anm. 25), S. 787). Die Arminianer oder Remonstranten waren Anhänger des Leidener Theologieprofessors Jacobus Arminius (1560–1609) und standen in Frontstellung zum strengen Prädestinationsverständnis der Calvinisten, so daß ihre Lehre von der Dordrechter Synode (1618/19) verurteilt und ihre Pfarrer abgesetzt wurden. Sie schlossen sich 1619 als „Remonstrantsche Broederschap“ zusammen, wurden aber erst 1798 offiziell anerkannt. Vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 236 mit Anm. 52.
hier spielen also ökonomische Motive ausschlaggebend mit. Dagegen die echte Sekte – Übergangsbildungen al[678]ler Art existieren, wir lassen sie aber hier absichtlich beiseite – muß die Nichtintervention der politischen Gewalt und die „Gewissensfreiheit“ aus spezifisch religiösen Gründen beanspruchen. Eine voll, d. h. zu universalistischen Ansprüchen entwickelte Heilsanstalt („Kirche“) umgekehrt kann, je nachdem wie ihr Typus ist, desto weniger „Gewissensfreiheit“ konzedieren. Wo sie diesen Anspruch erhebt, befindet sie sich in der Minderheit und verlangt sie für sich selbst, ohne sie, im Prinzip, dem anderen gewähren zu können. „Die Gewissensfreiheit des Katholiken besteht“, wie Mallinckrodt im Reichstag ausdrückte, „darin: dem Papst gehorchen zu dürfen“,
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[678] Das von Max Weber angeführte Zitat konnte in den Reichstagsreden des Zentrumsabgeordneten Hermann von Mallinckrodt nicht nachgewiesen werden. Im Preußischen Abgeordnetenhaus betonte dieser am 30. Januar 1873 jedoch im Namen der Katholiken, „[…] daß unsere individuelle Gewissensfreiheit ja gerade und allein dadurch ihre Befriedigung findet, daß die Autorität der Kirche anerkannt wird […]“. Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 1. November 1872 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, Band 2. – Berlin: W. Moeser 1873, S. 865.
also: für sich nach dem eigenen Gewissen zu handeln. Aber die „Gewissensfreiheit“ der Anderen anerkennt, wo sie die Macht hat, weder die katholische, noch die (alte) lutherische noch vollends die calvinistische oder baptistische alte Kirche und kann das auch nicht, kraft ihrer Amtspflichten das Heil der Seele oder, bei den Calvinisten: Gottes Ruhm gegen Gefährdung zu schützen. Die Gewissensfreiheit des konsequenten Quäkers besteht außer der eigenen auch darin: daß niemand, der nicht Quäker oder Baptist ist, genötigt werde, so zu handeln, als ob er ein solcher wäre, also: außer in der eigenen auch in der Gewissensfreiheit der anderen. Auf dem Boden der konsequenten Sekte erwächst also ein als unverjährbar angesehenes „Recht“ der Beherrschten und zwar jedes einzelnen Beherrschten gegen die, sei es politische, sei es hierokratische, patriarchale oder wie immer geartete Gewalt. Einerlei, ob – wie Jellinek überzeugend wahrscheinlich gemacht hat
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Gemeint ist: Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte, S. 35–46.
– das älteste, so ist jedenfalls die „Gewissensfreiheit“ in diesem Sinn das prinzipiell erste, weil weitestgehende, die Gesamtheit des ethisch bedingten Handelns umfassende, eine Freiheit von der Gewalt, insbesondere von der Staatsgewalt, verbürgende „Menschenrecht“, – ein Begriff, der in dieser Art dem Altertum und Mittelalter ebenso unbekannt ist, wie etwa der Staatstheorie Rousseaus mit ihrem staatlichen [679]Religionszwang.
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[679] Max Weber bezieht sich hier auf das 1762 erstmals erschienene Werk von Jean-Jacques Rousseau, Contrat Social. – Paris: La Renaissance du Livre 1912, insbes. das IV. Buch, Kapitel 8: „De la religion civile“ (ebd., S. 116–125). In der Deutung, daß die Deklaration der Menschenrechte nichts mit der Staatstheorie Rousseaus gemein habe, folgt Weber Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte, S. 5–8.
Ihm gliedern sich die sonstigen „Menschen“-, „Bürger“- oder „Grundrechte“ an: vor allem das Recht auf freie Wahrnehmung der eigenen ökonomischen In[B 817]teressen, innerhalb der Schranken eines in abstrakten, für jeden gleichmäßig geltenden Systems von garantierten Rechtsregeln, nach eigenem Ermessen, dessen wichtigste Unterbestandteile die Unantastbarkeit des individuellen Eigentums, die Vertragsfreiheit und die Freiheit der Berufswahl sind. Ihre letzte Rechtfertigung finden sie in dem Glauben des Aufklärungszeitalters daran, daß die „Vernunft“ des Einzelnen, falls ihr freie Bahn gegeben werde, kraft göttlicher Providenz und weil der Einzelne seine eigenen Interessen am besten kenne, zum mindesten die relativ beste Welt ergeben müsse: die charismatische Verklärung der „Vernunft“ (die ihren charakteristischen Ausdruck in ihrer Apotheose durch Robespierre fand),
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Gemeint ist der deistisch geprägte Kult des höchsten Wesens („l’Etre suprême“), der unter der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses am 18. Floréal (7. Mai 1794) eingeführt wurde. Offiziell löste Robespierre damit den „Kult der Vernunft“, den er als atheistisch und materialistisch bezeichnete, ab. Tatsächlich versah er die Verehrung der Vernunft mit idealistischen Elementen und christlich geprägten Glaubensvorstellungen. Vgl. Aulard, Alphonse, Le culte de la raison et le culte de l’être suprême (1793–1794). Essai historique. – Paris: Alcan 1892, S. 267 ff.
ist die letzte Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege überhaupt angenommen hat. Es ist klar, daß jene Forderungen
r
[679]B: Forderung
formaler Rechtsgleichheit und ökonomischer Bewegungsfreiheit einerseits
s
B: sowohl
der Zerstörung aller spezifischen Grundlagen patrimonialer und feudaler Rechtsordnungen zugunsten eines Kosmos von abstrakten Normen, also indirekt der Bürokratisierung, vorarbeiteten, andererseits in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus entgegenkommen. Wie die von den Sekten mit dogmatisch nicht ganz identischen Motiven übernommene „innerweltliche Askese“ und die Art der Kirchenzucht der Sekten die kapitalistische Gesinnung und den rational handelnden „Berufsmenschen“, den der Kapitalismus brauchte, züchtete, so boten die Menschen- und Grundrechte die Vorbedingungen für das freie Schalten des Verwertungsstrebens des Kapitals mit Sachgütern und Menschen.