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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[380][A 724] [Feudalismus.]
a
[380]A: Kapitel VIII. Wirkungen des Patriarchalismus und des Feudalismus. Feudalismus. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht. Zur Überschrift vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 378.

Im Gegensatz zu dem weiten Bereich der Willkür und der damit zusammenhängenden mangelnden Stabilität der Machtstellungen im reinen Patrimonialismus steht nun die Struktur der Lehensbeziehungen. Die Lehensfeudalität ist ein „Grenzfall“ der patrimonialen Struktur in der Richtung der Stereotypierung und Fixierung der Beziehungen von Herren und Lehensträgern. Wie der Verband des Hauses mit seinem patriarchalen Hauskommunismus auf der Stufe des kapitalistisch erwerbenden Bürgertums aus sich heraus die Vergesellschaftung zu einem auf Kontrakt und fixierten Einzelrechten ruhenden „Betrieb“ entstehen läßt, so die patrimoniale Großwirtschaft auf der Stufe des ritterlichen Militarismus aus sich die ebenfalls kontraktlich festgelegten Treuebeziehungen des Lehensverhältnisses. Die persönliche Treuepflicht wird hier ebenso aus dem Zusammenhang der allgemeinen Pietätsbeziehungen des Hauses losgelöst und auf ihrer Grundlage dann ein Kosmos von Rechten und Pflichten entfaltet, wie dort die rein materiellen Beziehungen. Wir werden später sehen,
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[380] Siehe den Text „Umbildung des Charisma“, unten, S. 490 f. (am Beispiel der merowingischen Trustis), und die kurze Erwähnung, unten, S. 515–517.
daß die feudale Treuebeziehung zwischen Herren und Vasallen auf der andern Seite auch als Veralltäglichung eines nicht patrimonialen, sondern charismatischen Verhältnisses (der Gefolgschaft) behandelt werden kann und muß und von dort her gesehen bestimmte spezifische Elemente der Treuebeziehung ihren systematisch richtigen „Ort“ finden. Doch lassen wir diese Seite hier unberücksichtigt und suchen statt dessen[,] die innerlich konsequenteste Form der Beziehung zu erfassen. Denn „Feudalismus“ und auch „Lehen“ können begrifflich sehr verschieden weit definiert werden. „Feudal“ im Sinne der Herrschaft eines grundherrlichen Kriegeradels war z. B. im denkbar extremsten Sinn das polnische Staatswesen. Aber das polnische Gemeinwesen war das Gegenteil eines „feudalen“ Gebiets im technischen Sinne, denn es fehlte ihm [381]das dafür Entscheidende:
b
[381]A: entscheidende:
die Lehensbeziehung.
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[381] Die These vom fehlenden „Element der Vasallität“ im Verhältnis von „Fürst und Dienstgutbesitzer“ findet sich z. B. bei Hötzsch, Adel und Lehnswesen (wie oben, S. 37, Anm. 51), Zitat: S. 579.
Es hat für die Entwicklung der Ordnung (bzw. Nichtordnung) des polnischen Reichs gerade die weittragendsten Folgen gehabt, daß die polnischen Adligen als „allodiale“ Grundherren galten: die daraus folgende Struktur dieser „Adelsrepublik“
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Der polnische Adel konnte bereits im 12. Jahrhundert den zunächst widerruflichen Dienstbesitz in erbliches Eigen (Allod) umwandeln und in der Folgezeit durch Immunitätsverleihungen von König und Staat ablösen. Im Privileg von Kaschau wurden 1374 alle Güter der Ritter zu vollem Allod erklärt. Damit war die Basis für den föderalen Adelsstaat gelegt, der seinen Abschluß in der Wahlmonarchie – der sog. „Adelsrepublik“ – von 1572 bis 1795 fand. Vgl. Hötzsch, ebd., S. 576 f. und 584.
stellt den extremen Gegenpol z. B. gegen das normannische zentralisierte Feudalsystem
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Den zentralistischen Grundzug des normannischen Lehnssystems in der Normandie, in England und in Sizilien arbeiteten besonders John Horace Round und Charles H. Haskins heraus. Demnach bildete einerseits die Berechnung vasallitischer Leistungen nach der Größe der zentral erfaßten Ritterlehen, andererseits der allgemeine, auch von den Untervasallen zu leistende Homagialeid (oath of allegiance) den Kern jenes Systems. Vgl. Round, John Horace, Feudal England. Historical Studies on the Eleventh and Twelfth Centuries, 3rd Edition. – London: George Allen & Unwin Ltd. 1909; Haskins, Charles H., England and Sicily in the Twelfth Century, in: The English Historical Review, Vol. 26, 1911, S. 641–665.
dar. „Feudal“ kann man ferner die hellenische Polis der vorklassischen Zeit und sogar [A 725]noch der älteren, kleisthenischen Demokratie nennen,
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Die „kleisthenische Demokratie“ bzw. die Reformen des Kleisthenes von 508/7 v. Chr. werden in der Literatur vor allem durch die Einführung gleicher Rechte für alle Staatsbürger (Isonomia) charakterisiert. Dagegen scheint sich Max Weber auf Eduard Meyer zu stützen, der darauf hinweist, daß de facto nur die beiden obersten, reichen Klassen zur Ausübung politischer Ämter in der Lage gewesen seien. Die Theten als vierte Klasse der freien, aber grundbesitzlosen Bürger hätten weder „Ämter bekleiden noch als Hopliten kämpfen“ können. Vgl. Meyer, Geschichte des Alterthums III1, S. 543 f.
weil nicht nur stets das Bürgerrecht mit dem Waffenrecht und der Waffenpflicht zusammenfällt, sondern auch ihre Vollbürger in aller Regel Grundherren sind und die verschiedenartigsten auf Pietät ruhenden Klientel-Verhältnisse die Macht der herrschenden Honoratiorenschicht begründen. So namentlich die römische Republik bis in ihre letzten Zeiten.
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In militärischer Hinsicht wurden Klienten nachweislich noch im Krieg gegen Numantia (in Spanien) im Jahr 134 v. Chr. eingesetzt. Max Weber weist an anderen Stellen seines Werks namentlich auf den Feldherrn Scipio Aemilianus und sein Klientenaufgebot hin. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 148, und Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 278 mit [382]Anm. 222. Über die Vielzahl der auf Grundbesitz beruhenden Klientelverhältnisse in Rom vgl. ebd., S. 294 ff.
Fast in der gesamten Antike spielt die Verbindung [382]von Bodenverleihung mit Militärdienstpflicht, gegenüber einem persönlichen Herrn oder gegenüber einem Patrimonialfürsten oder gegenüber dem Verband der Bürger, eine grundlegende Rolle. Wenn unter „Lehen“ jede Verleihung von Rechten, insbesondere von Nutzungen am Grund und Boden oder von politischer Gebietsherrschaft gegen Dienste im Krieg oder in der Verwaltung verstanden wird, so ist nicht nur das Dienstlehen der Ministerialen, sondern vielleicht auch das frührömische precarium,
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Theodor Mommsen vermutete, gestützt auf eine Stelle bei Festus, daß die Patrizier im alten Rom den ihnen zugewiesenen Acker an ihre Hörigen (Klienten) in der rechtlich gesonderten Form des Bittbesitzes (precarium) verteilt hätten. Er stellte somit einen Zusammenhang von „precarium“ und Klientelverhältnis her, wies aber auf die Unsicherheit der Quellenlage hin. Aus dem Klientelverhältnis ergab sich dann neben ökonomischen und sonstigen Verpflichtungen die Pflicht zur Heeresfolge. Vgl. Mommsen, Römische Forschungen (wie oben, S. 143, Anm. 36), S. 366 ff., und Mommsen, Römisches Staatsrecht III,13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 83 f. Max Weber knüpfte bereits in seinem Handwörterbuch-Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum“ an die These Mommsens an und sah im „precarium“ eine Vermittlung von „Lehen- und Landrecht“. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 147 f., und Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 278, sowie die Glossar-Einträge zu „Klient“ und „precarium“, unten, S. 793 und 800.
jedenfalls aber das im römischen Kaiserreich an die nach dem Markomannenkrieg eingesiedelten „laeti“
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Nach dem zweiten Markomannenkrieg (177–180) wurden die von den Römern besiegten Markomannen (ein germanischer Stamm, der im 2. Jahrhundert in Böhmen lebte und über die Donau drang) im Gebiet von Ravenna und dann in anderen Provinzen, insbesondere in Gallien, angesiedelt. Max Weber bezeichnet sie und andere von Rom angesiedelte Germanen als „laeti“ (vgl. dazu den Glossar-Eintrag, unten, S. 794).
und später direkt an Fremdvölker gegen Verpflichtungen zum Kriegsdienst verliehene Land, und erst recht das Kosakenland ganz ebenso „Lehen“ wie schon die im ganzen alten Orient und dann im ptolemäischen Ägypten sich findenden Soldatengrundstücke
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Gemeint sind die seit der Heeresreform von Ptolemaios V. Epiphanes (210/204–180 v. Chr.) an die aktiven Soldaten vergebenen Landlose („kleroi“).
und zahlreiche ähnliche Erscheinungen, welche über die ganze Erde hin in allen Epochen sich finden. In den meisten solcher Fälle, wenn auch nicht in allen, handelt es sich um die Schaffung von Existenzen, welche erblich entweder in einem direkt patrimonialen Abhängigkeitsverhältnis oder doch in leiturgischer Gebundenheit an ihre Pflicht und dadurch an die Scholle stehen. Oder, wo dies nicht der Fall ist, um solche, die von einem autokratischen Gewalthaber gegenüber anderen „freien“ Volksschichten durch Steuerfreiheit und [383]besonderes Bodenrecht privilegiert werden und dagegen mit der Pflicht belastet sind, die Waffenübung zu pflegen und im Kriegsfall oder auch für Verwaltungszwecke zur beliebigen oder auch zu einer fest umgrenzten Disposition des Herren zu stehen. Kriegeransiedelung speziell ist die typische Form der Sicherung ökonomisch abkömmlicher und also stets verfügbarer Streitkräfte unter naturalwirtschaftlichen Verhältnissen, welche ein Soldheer ausschließen; sie entstehen in typischer Weise[,] sobald der Bedürfnisstand, die Intensität der landwirtschaftlichen und gewerblichen Erwerbsarbeit und die Entwicklung der Kriegstechnik die Masse der Bevölkerung unabkömmlich und in ihrer militärischen Schulung minderwertig werden läßt. Alle Arten von politischen Verbänden greifen dazu. Das, ursprünglich unveräußerliche, Landlos (ϰλῆρος) in der hellenischen Hoplitenstadt stellt den einen Typus (Pflicht gegen den Bürgerverband) dar,
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[383] Nach Webers Auffassung diente das Landlos („kleros“) in der Frühphase des hellenischen Altertums (ca. 11.–7. Jahrhundert v. Chr.) als ökonomische Grundlage für die Selbstausrüstung der wehrfähigen Vollbürger. Da es die Wehrfähigkeit der Polis garantierte, galt es als unveräußerlich, in Athen bis zu den Reformen Solons (594/3 v. Chr.), in Sparta bis zum Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.). Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 104.
die ägyptische sog. „Kriegerkaste“
c
[383]A: „Kriegerwaffen“
(μάχιμοι)
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Der Ausdruck „Kriegerkaste“ findet sich bei Herodot, Historien 2, 164. Gemeint sind damit die vorwiegend libyschen Söldner, die im alten Ägypten mit einem abgabenfreien Ackerlos des Pharaos ausgestattet waren (ebd. 2, 168) und unter den Ptolemäern als „machimoi“ bezeichnet wurden. Sie galten nun, weil Grund und Boden vom Vater auf den Sohn vererbt wurden, als erblicher Soldatenstand. (Vgl. Brugsch, Ägyptologie (wie oben, S. 322, Anm. 4), S. 233). Die Gleichsetzung von „Kriegerkaste“ und „machimoi“ findet sich z. B. bei Eduard Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 460.
den zweiten (Pflicht gegen den Patrimonialfürsten), die Landverleihung an „Klienten“ den dritten (Pflicht gegen persönlichen Herren). Alle altorientalischen Despotien und ebenso die Kleruchien
d
A: Kleruchen
der hellenistischen Zeit
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Im Gegensatz zu den attischen Kleruchien (d. h. Soldatenansiedlungen in bestehenden Städten, in deren Nähe oder in Grenzgebieten) blieben die Soldaten in hellenistischer Zeit vom vollen Bürgerrecht ausgeschlossen. Sie wurden vom König mit einem Landlos ausgestattet und hatten dafür Militärdienst zu leisten. Vgl. auch oben, S. 271 mit Anm. 62.
haben mit diesem Aufgebotsmaterial in irgendeinem Umfang gearbeitet, ebenso, wie wir später sehen werden,
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Siehe Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 277–279, 293–297.
gelegentlich noch die römische Nobilität. Die letztgenannten Fälle nament[384]lich stehen dem eigentlichen Lehen in der Funktion und auch in der rechtlichen Behandlung nahe, ohne doch mit ihm identisch zu sein. Sie sind es nicht, weil es sich zwar um privilegierte Bauern, aber eben, sozial angesehen, doch um Bauern (oder doch um „kleine Leute“) handelt – um eine Art von Lehensverhältnis zu Plebejerrecht –[,] während andererseits die Ministerialität infolge ihrer ursprünglichen patrimonialen Grundlage sich vom Lehen unterscheidet. Echte Lehensbeziehungen im vollen technischen Sinn bestehen 1. stets zwischen Mitgliedern einer sozial zwar in sich hierarchisch abgestuften[,] aber gleichmäßig über die Masse der freien Volksgenossen gehobenen und ihr gegenüber eine Einheit bildenden Schicht, und kraft der Lehensbeziehung steht man 2. in freiem Kontraktverhältnis und nicht in patrimonialen Abhängigkeitsbeziehungen zueinander. Das Vasallenverhältnis ändert Ehre und Stand des Vasallen nicht zuungunsten des Vasallen, im Gegenteil kann es seine Ehre erhöhen, und die „Kommendation“ ist trotz der daher entlehnten Formen keine Hingabe in die Hausgewalt. Man kann also die im weiteren Sinne des Worts „feudalen“ Beziehungen in folgender Weise klassifizieren: 1. „leiturgischer“ Feudalis[A 726]mus: angesiedelte Soldaten, Grenzer, Bauern mit spezifischen Wehrpflichten (Kleruchen, laeti, limitanei, Kosaken); – 2. „patrimonialer“ Feudalismus, und zwar a) „grundherrlich“: Kolonen-Aufgebote (z. B. der römischen Aristokratie noch im Bürgerkrieg,
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[384] Durch antike Überlieferung war das Vorgehen des Lucius Domitius Ahenobarbus belegt, der im Bürgerkrieg gegen Cäsar 49 v. Chr. seine Kolonen als Schiffsbesatzung einsetzte. (Vgl. die Kommentierung der entsprechenden Parallelstelle zu Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 278, Anm. 223). Die Ahenobarbi waren eine der angesehensten Familien der römischen plebejischen Nobilität in der späten Republik.
des altägyptischen Pharao
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Nachweislich verwendeten die Pharaonen seit der Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. Kolonen als Soldaten. Max Weber, Agrarverhältnisse3, S. 129, bezeichnet sie als „retu“ bzw. „miritiu“.
),
e
[384]A: Pharao);
– b) „leibherrlich“: Sklaven (altbabylonische und ägyptische Sklavenheere, arabische Privattruppen im Mittelalter,
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Reiche Araber besaßen Privattruppen aus türkischen und schwarzen Sklaven, vor allem Berbern, Beduinen, Sudanesen. Vgl. Kremer, Alfred von, Culturgeschichte des Orients unter den Chalifen, Band 1. – Wien: Wilhelm Braumüller 1875, S. 234 f. (hinfort: v. Kremer, Culturgeschichte des Orients).
Mameluken), – c) gentilizisch: erbliche Klienten als Privatsoldaten (römische Nobilität);
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Die Klienten (vgl. auch den Glossar-Eintrag, unten, S. 793) gehörten im alten Rom als Hörige bzw. Schutzbefohlene zur gens, d. h. zum Geschlecht bzw. zu der Ge[385]schlechtsgenossenschaft ihres Herrn, und führten dessen Namen. Das Schutzverhältnis war erblich und brachte es mit sich, daß die Klienten als der Hausgewalt Unterworfene „wie die Sclaven bei Privataufgeboten und Privatfehden von dem Herrn bewaffnet“ wurden. Vgl. Mommsen, Römische Forschungen (wie oben, S. 143, Anm. 36), S. 368 f., sowie Weber, Agrarverhältnisse3, S. 148 f.
– 3. „freier“ [385]Feudalismus und zwar: a) „gefolgschaftlich“: nur kraft persönlicher Treuebeziehung ohne Verleihung von Grundherrenrechten (die meisten japanischen Samurai, die merowingischen Trustis)[,] – b) „präbendal“: ohne persönliche Treuebeziehung, nur kraft verliehener Grundherrschaften und Steuerleistungen (vorderasiatischer Orient einschließlich der türkischen Lehen), – c) „lehensmäßig“: persönliche Treuebeziehung und Lehen kombiniert (Okzident), – d) „stadtherrschaftlich“: kraft Genossenschaftsverbandes der Krieger auf der Basis grundherrlicher Kriegerlose, die dem Einzelnen zugewiesen sind (die typische hellenische Polis, vom Typus von Sparta).
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Gemeint ist das Landlos („kleros“), ein in erblichem Privateigentum befindliches Grundstück, das dem Vollbürger in der Frühzeit der hellenischen Polis durch Los zugewiesen wurde, um die Wehrkraft der Gemeinde zu garantieren. Die Zahl der Lose durfte deshalb in vielen Städten (z. B. bei den Lokrern, auf Kreta und in Sparta) nicht vermindert werden. Für Sparta wurde die Aufteilung in gleiche Landlose dem legendären Gesetzgeber Lykurg zugeschrieben. Vgl. Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 296 ff.
Wir haben es an dieser Stelle wesentlich mit den drei
f
[385] Zu erwarten wäre: vier
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Eigentlich führt Max Weber in der systematischen Auflistung unter Punkt 3 („freier“ Feudalismus) vier Unterklassifikationen (a–d) an. Tatsächlich spart er aber bei den nachfolgenden Ausführungen die letzte, stadtherrschaftliche Variante aus, die er zwar in den vorangehenden Darlegungen kurz erwähnt hatte (oben, S. 381), die ihren systematischen Ort aber in der „Stadt“-Studie hat (vgl. MWG I/22-5, S. 177 ff.).
Formen des „freien“ Feudalismus zu tun und unter diesen wieder vornehmlich mit dem folgereichsten: dem okzidentalen Lehensfeudalismus, neben dem wir die andern Typen nur vergleichsweise in Betracht ziehen.
Das volle Lehen ist stets ein rententragender Komplex von Rechten, deren Besitz eine Herren-Existenz begründen kann und soll. In erster Linie werden grundherrliche Rechte und politische ertraggebende Gewalten aller Art: Renten-gebende Herrschaftsrechte also, als Ausstattung der Krieger vergeben. Die „gewere“ an einem Grundstück hatte im feudalen Mittelalter, wer den Zins daraus zog. Bei straffer Organisation der Lehenshierarchien waren diese verlehnten Rentenquellen nach dem Rentenertrage matrikuliert: so die nach sassanidischem und seldschukkischem Muster geordneten tür[386]kischen sogenannten „Lehen“ nach dem Ertrage in „Asper“
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[386] Die These, das osmanische Lehenswesen beruhe auf sassanidischen und seldschukischen Vorbildern, geht auf Joseph v. Hammer, Osmanisches Reich I (wie oben, S. 36, Anm. 43), S. 36–45, zurück. Unter dem Sassaniden Chosrau I. (531–579) wurde die Landvermessung des persischen Reiches abgeschlossen und ein detailliertes Steuerregister angelegt, auf dessen Basis einmal jährlich die Steuern eingetrieben wurden. Seldschuken und Osmanen hätten dieses Lehens- und Besteuerungssystem in seinem ursprünglichen Sinn wiederhergestellt. Die türkischen Pfründen („Timare“) unterschieden sich nach dem jährlichen Einkommen, das in Asper (der osmanischen Währungseinheit, einer kleinen Silbermünze) bemessen wurde. Vgl. Matuz, Osmanisches Reich (wie oben, S. 267 f., Anm. 50), S. 105.
und die Ausstattung der japanischen Vasallen (Samurai) nach der „Kokudaka“ (Rente in Reis).
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Seit dem 17. Jahrhundert wurden die Samurai vorwiegend mit einer Reisrente ausgestattet. Die Bemessung erfolgte nach dem allgemeinen Besteuerungssystem, das „kokudaka“ hieß. Vgl. Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 29, 40, 513.
Die Aufnahme in das später sog. „Doomsday Book“ in England hatte allerdings nicht den Charakter einer Lehensmatrikel, war aber in seinem Entstehen ebenfalls durch die besonders straffe zentralisierte Organisation der englischen feudalen Verwaltung bedingt.
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Das „Domesday Book“ (auch: „Doomsday Book“) beinhaltete eine annähernd vollständige Landesbeschreibung des angelsächsisch-normannischen Reiches, die Wilhelm der Eroberer 1086 anfertigen ließ. Nach Grafschaften geordnet und die Stichjahre 1066 und 1086 aufnehmend, führte das Buch den Umfang und den Wert der Liegenschaften sowie die hieraus resultierenden Steuer- und Abgabenforderungen des Königs auf. Die das Lehns- und Allodialgut einschließende Erhebung diente damit Forderungen, die der König seinem Steuerbann, nicht aber seiner Funktion als oberster Lehnsherr verdankte. Laut Gneist, Englische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 180, Anm. 43), S. 102, 106 f., handelte es sich bei dem erst später sog. „Domesday Book“ um eine Besitz-, aber keine Lehnsmatrikel. Diese entstand erst später auf der Basis der Aufstellung.
Da Grundherrschaften das normale Lehensobjekt sind, ruht jedes wirkliche Feudalgebilde auf patrimonialer Unterlage. Und überdies bleibt, soweit eine Verleihung der Ämter nicht stattgefunden hat, normalerweise die patrimoniale Ordnung bestehen – dann wenigstens, wenn die Lehensordnung, wie dies nicht immer, aber am häufigsten der Fall ist, einem patrimonialen oder präbendalen Staatswesen als Strukturform eines Teils der Verwaltung eingefügt ist. So stand die türkische, auf lehensartige Präbende gesetzte Reiterei neben der patrimonialen Janitscharentruppe
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Während die osmanische Reiterei der Provinzialtruppen (die „Spahis“) mit Pfründen belehnt wurde, lebten die Janitscharen, als dem Sultan persönlich ergebene Infanterietruppe, in der Nähe der Pforte mönchsartig kaserniert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts erhielten sie einen festen Sold aus dem Staatsschatz. Vgl. Matuz, Osmanisches Reich [387](wie oben, S. 267 f., Anm. 50), S. 99, 154 f., und Deny, Jean, Timar, in: Enzyklopädie des Islam, Band 4, 1934, S. 830–840, hier: S. 832.
und [387]der teilweise präbendalen Ämterorganisation und blieb deshalb auch selbst halbpräbendalen Charakters. Mit Ausnahme des chinesischen Rechts finden sich Verleihungen von Herrenrechten aus dem Besitz des Königs in den verschiedensten Rechtsgebieten. In Indien unter der Herrschaft der Radschputen, namentlich in Udaipur, existierte noch bis in die letzte Zeit die Zuweisung von grundherrlichen und Jurisdiktionsrechten an die Mitglieder des herrschenden Radschputenclans durch das Stammeshaupt, gegen Militärdienste, mit der Pflicht der Huldigung und Laudemienzahlung
g
[387]A: Ländereienzahlung
beim Herrenfall und Verlust bei Verletzung der Pflichten;
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Wie Max Weber in seiner Hinduismus-Studie (MWG I/20, S. 131) ausführlicher beschreibt, nahmen die Radschputen (vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 801) ungefähr seit dem 8. Jahrhundert in Teilen Indiens eine Herrenstellung ein, insbesondere in den sog. Radschputanastaaten, die zu Webers Zeit als Vizekönigtümer unter britischer Oberhoheit standen. Das auf der alten Clanorganisation beruhende Herrschafts- und Landvergabesystem hatte der britische Colonel James Tod 1827 für das Vizekönigtum Udaipur (auch: Mewar) bis in die Gegenwart hinein beschrieben und mit dem europäischen Feudalsystem verglichen. (Vgl. Tod, Rjasthan (wie oben, S. 37, Anm. 50), bes. S. 133–148). Die von Weber aufgezählten Verpflichtungen der führenden Stammesmitglieder gegenüber dem Stammeshaupt (Radscha) finden sich – mit Ausnahme des letztgenannten Punkts – in der Darstellung von Baden-Powell, Baden Henry, The Indian Village Community, Examined with Reference to the Physical, Ethnographic, and Historical Conditions of the Provinces; Chiefly on the Basis of the Revenue-Settlement Records and District Manuals. – London, New York, Bombay: Longmans, Green 1896, S. 198 f. Der britische Kolonialbeamte Baden-Powell hatte auch die Beschreibung Udaipurs von Colonel Tod kritisch in seine Studie miteinbezogen (ebd., S. 196 ff.). Vgl. auch den direkten Hinweis auf Baden-Powell bei Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 115 und S. 132, Anm. 56.
die gleiche, aus dem Gesamtbesitz der herrschenden Kriegerschaft am unterworfenen Gebiet stammende Behandlung des Bodens und der politischen Rechte findet sich sehr oft, hat wahrscheinlich auch in Japan einmal der politischen Verfassung zugrunde gelegen.
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Max Weber spielt hier vermutlich auf die Eroberung und Besiedelung Japans durch den Yamatostamm an. Die Yamato-Zeit (ca. 300–645) war durch die sog. Geschlechter- oder uji-Verfassung geprägt, d. h. durch die politische, wirtschaftliche und soziale Vorrangstellung der erobernden Geschlechter. Vgl. Rathgen, Staat der Japaner (wie oben, S. 59, Anm. 60), S. 32–35.
Auf der anderen Seite stehen die zahlreichen Erscheinungen, deren Typus die merowingischen königlichen Bodenschenkungen und die verschiedenen Formen des „beneficium“ darstellen: fast stets wird dabei die Leistung [388]von Kriegshilfe und eventuelle Widerruflichkeit
h
[388]A: Wiederruflichkeit
im Fall der Nichtleistung in irgendeinem[,] oft nicht näher definierbaren Umfang vorausgesetzt. Auch die zahlreichen erbpachtartigen Vergebungen von Land im Orient haben der [A 727]Sache nach politischen Zweck. Aber den Begriff des „Lehens“ erfüllen sie nicht, solange nicht die Verbindung mit der ganz spezifischen vasallischen Treuebezichung besteht. –
Von der „Pfründe“ unterscheidet sich das Lehen – freilich, wie wir bald sehen werden,
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[388] Siehe unten, S. 389–394.
mit durchaus gleitenden Übergängen – auch rechtlich. Die erstere ist ein lebenslänglicher, unvererblicher Entgelt ihres Inhabers für seine reellen oder fiktiven Dienste nach Art eines Amtseinkommens. Daher kennt sie z. B. im Okzident im frühen Mittelalter (wie U[lrich] Stutz betont)
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Gemeint ist Stutz, Eigenkirche, S. 30, und Stutz, Lehen und Pfründe, S. 244 ff.
im Unterschied vom Lehen den „Herrenfall“ (Heimfall wegen Tod des Herrn) nicht, dagegen war der „Mannfall“ (Heimfall wegen Tod des Pfründeninhabers) bei ihr selbstverständlich, während auf der Höhe des okzidentalen Mittelalters ein nichterbliches Lehen nicht mehr als Vollehen galt. Das Pfründeneinkommen, als dem „Amt“, nicht der Person, gewidmet, wird nur „genutzt“, nicht aber zu Eigenrecht besessen (woraus z. B. die Kirche im Mittelalter bestimmte Konsequenzen zog),
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Die Kirche des Mittelalters schränkte die Testierfreiheit der Geistlichen in Bezug auf das aus den kirchlichen Einkünften Erwirtschaftete ein (Spolienrecht). Dieses sollte der Kirche oder den Armen zugute kommen.
während das Lehen während des Bestehens der Lehensbeziehungen dem Lehensmann zu Eigenrecht, nur, weil an eine höchst persönliche Beziehung geknüpft, unveräußerlich und, im Interesse der Prästationsfähigkeit, unteilbar zustand. Dem Pfründner war die Aufbringung der Amtsausgaben oft, zuweilen durchweg, abgenommen, oder es waren bestimmte Teile des Pfründeneinkommens dafür festgelegt. Der Lehensmann hatte stets die Lasten des verliehenen Amtes aus Eigenem zu bestreiten. Doch waren solche Unterschiede nicht eigentlich durchgreifend. Sie fehlten z. B. in dieser Art dem türkischen und auch dem japanischen Recht, von denen wir freilich bald sehen werden,
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Siehe unten, S. 389–391.
daß sie beide kein eigentliches „Lehen“-Recht darstellten. Und wir haben andrerseits gesehen,
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Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 298–300.
daß z. B. die Nichterblichkeit [389]der Pfründen sehr oft fiktiv war, daß mindestens teilweise (so namentlich bei vielen französischen Pfründen) die Pfründenappropriation so weit ging, daß auch die Erben Entschädigung für den Entgang des Pfründeneinkommens erhielten.
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[389] In der Studie von Robert Holtzmann, auf die sich Max Weber bei seinen Ausführungen über die Käuflichkeit und Erblichkeit der französischen Ämter während des Ancien Régime stützte (oben, S. 299, Anm. 26–30, S. 300, Anm. 31–34), heißt es zwar, daß der König im Falle der Amtsenthebung z. B. eines Richters diesem „alle für sein Amt gemachten Aufwendungen zurückzuzahlen“ hatte, ohne daß in diesem Zusammenhang eigens auf gesonderte Ansprüche des Erben hingewiesen wurde. Diese sind aber indirekt in der Aussage Holtzmanns enthalten, daß die freie Verfügbarkeit über das gekaufte Amt dem Amtsinhaber und seinem Erben oblag. Vgl. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 299, Anm. 26), S. 344 f.
Das Entscheidende
i
[389]A: entscheidende
des Unterschieds lag anderswo: der Pfründner war, wo die Pfründe alle Reste patrimonialer Herkunft abgestreift hatte, ein einfacher Nutznießer oder Rentner mit bestimmten sachlichen Amtspflichten, dem bürokratischen Beamten insoweit innerlich verwandt. Die Beziehungen gerade des außerhalb aller patrimonialen Unterordnung stehenden freien Lehensmannes sind dagegen durch einen hochgespannten Pflichten- und Ehrenkodex geregelt. Das Lehensverhältnis zwang, in seiner höchsten Entwicklungsform, die scheinbar widersprechendsten Elemente: einerseits streng persönliche Treuebeziehungen, andererseits kontraktliche Fixierung der Rechte und Pflichten und deren Versachlichung durch Verknüpfung mit einer konkreten Rentenquelle, endlich erbliche Sicherheit des Besitzstandes, in durchaus eigentümlicher Art zusammen. Die „Erblichkeit“ war, wo der ursprüngliche Sinn der Beziehung noch erhalten ist, kein gewöhnlicher Erbgang. Zunächst mußte der Erbanwärter, um das Lehen beanspruchen zu können, zu den Lehensdiensten persönlich qualifiziert sein. Außerdem aber mußte er ganz persönlich in die Treuebeziehungen eintreten: wie der Sohn des türkischen Lehensmannes beim Beglerbeg und eventuell durch ihn bei der Hohen Pforte rechtzeitig um einen neuen „Berat“
k
A: „Bérat“
einkommen mußte,
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Der Sohn eines türkischen „Lehensmanns“ (wie es in der zeitgenössischen Terminologie hieß) konnte erst nach dem Tod seines Vaters, in einem Zeitraum von bis zu sieben Jahren, bei entsprechenden Leistungen und Volljährigkeit ein neues Berat erhalten. Berat war ein vom Sultan ausgestelltes Diplom, das dem Inhaber bestimmte Rechte und Privilegien zusicherte. (Die fehlerhafte Schreibweise von „Bérat“ im überlieferten Text wurde emendiert.) Die Vergabe eines Teils der kleineren „Lehen“ (Timare) konnte der oberste Provinzgouverneur (Beglerbeg) ohne Zustimmung des Sultans übertragen, bei [390]den anderen stellte er ein Zeugnis (Tezkere) aus, mit dem der Anwärter bei der Hohen Pforte, d. h. beim Sultan direkt, um ein Berat bitten konnte. Die Regelungen zur Landvergabe wurden insbesondere unter Süleyman dem Prächtigen (1520–1566) fixiert. Vgl. v. Hammer, Osmanisches Reich I (wie oben, S. 36, Anm. 43), S. 337 ff. – Die heutige Forschung spricht nicht mehr von Lehnswesen, sondern „Pfründen-System“. Vgl. z. B. Röhrborn, Klaus, Untersuchungen zur osmanischen Verwaltungsgeschichte. – Berlin, New York: de Gruyter 1973, Zitat: S. 26, zu den Details der Pfründenvergabe: S. 29 ff.
wenn er seine Ansprü[390]che geltend machen wollte, so mußte der okzidentale Lehensanwärter das Lehen „muten“ und sich vom Herrn, nach Leistung der „Kommendation“ und des Homagialeides, damit investieren lassen.
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Die Lehnsmutung (von mhd. „muten“: etwas haben wollen) war nach abendländischem Lehnsrecht das förmliche Gesuch auf Erhalt eines Lehens. In der Regel betraf es die Erneuerung eines Lehens entweder durch den Lehnsmann nach dem Tod des Lehnsherrn (Herrenfall) oder durch die Erben eines Lehnsmannes nach dessen Tod (Mannfall). Zu den Begriffen „Investitur“, „Kommendation“ und „Homagialeid“ vgl. die Glossar-Einträge unten, S. 790 f., 793 und 790.
Der Herr war zwar, wenn die Qualifikation feststand, dazu verpflichtet, ihn in die Treuebeziehung aufzunehmen. Diese selbst aber war kontraktlichen Charakters, von seiten des Vasallen jederzeit unter Verzicht auf das Lehen kündbar. Und auch die Verpflichtungen des Vasallen waren nicht willkürlich vom Herrn zu oktroyieren, sondern sie bildeten im typischen Umfang fixierte Kontraktspflichten, deren eigenartiger Treue- und Pietätscharakter durch einen beide Teile bindenden Ehrenkodex geprägt war. Inhaltliche Stereotypierung und Sicherung des Lehensmannes waren also mit höchst persönlicher Bindung an den konkreten Herren verbunden. Diese Struktur war in höchstem Maße im Feudalismus des Okzidents entwickelt, während z. B. das [A 728]türkische Feudalsystem mit seiner trotz aller Reglements doch weitgehend arbiträren Gewalt des Sultans und der Beglerbegs gegenüber den Erbanwartschaftsrechten in weit höherem Maße präbendalen Charakters geblieben ist.
Kein volles Lehenssystem stellt auch der japanische Feudalismus dar.
34
In der folgenden Passage (bis S. 392, Zeile 12) über den japanischen Feudalismus beschreibt Max Weber in Anlehnung an Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 35–41, die Verhältnisse unter den Tokugawa-Shōgunen (1603–1867). Die wichtigsten Gesetze und Verordnungen der Shōgune, auf die hier Bezug genommen wird, wurden bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erlassen.
Der japanische Daimyo war kein Lehensvasall, sondern ein Vasall, der auf feste Kriegskontingente, Wachedienste und festen Tribut gesetzt war und innerhalb seines Gebiets nach Art eines Landesherren die Verwaltungs-, Gerichts- und Militärhoheit faktisch im ei[391]genen Namen ausübte, der aber wegen Vergehen strafversetzt werden konnte. Daß er als solcher kein Vasall war, zeigt sich namentlich darin, daß die wirklichen Vasallen des Shogun, wenn sie mit Daimyos-Herrschaften beliehen waren (die „Fudai“) sich die Versetzung (Kunigaye), infolge ihrer persönlichen Abhängigkeit, auch ohne alles „Verschulden“, aus nur politischen Zweckmäßigkeitsgründen gefallen lassen mußten.
35
[391] „Fudai-Daimyō“ oder „altherige Haus-Fürstvasallen“ hießen diejenigen Generäle und Krieger, die dem Haus Tokugawa während der Machtkämpfe um 1600 treu ergeben waren; zumeist handelte es sich dabei um Verwandte. (Vgl. Yoshida, Staatsverfassung (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 64). Sie wurden mit den höchsten Staatsämtern beauftragt und mit strategisch wichtigen Provinzen belehnt, die sie aber auf Befehl des Shōgun zu verlassen hatten. Bei den anderen Daimyō erfolgte „kunigaye“ (Gebietstausch) dagegen nur als Strafversetzung. Vgl. dazu auch Max Webers Ausführungen, oben, S. 336 mit Anm. 41.
Eben darin aber zeigt sich auch wieder, daß die ihnen verliehene Herrschaft ein Amt und kein Lehen war. Bündnisse oder Vasallenbeziehungen untereinander einzugehen, Verträge mit dem Ausland, Fehden, Burgenbau waren ihnen von den Shogunen
l
[391]A: Daimyos
verboten
36
Die Daimyō unterstanden den Shōgunen, so daß die Verbote nur von den Shōgunen ausgehen konnten. Die fehlerhafte Wortwahl („von den Daimyos“) im überlieferten Text wurde daher emendiert. Die Verbote sind bei Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 36, aufgelistet.
und ihre Treue durch das Institut des Sankin-Kodai
m
A: Sankin-Ködai
(periodische Residenzpflicht in der Hauptstadt) gesichert.
37
Die Residenzpflicht in Edo, dem Sitz der Tokugawa-Shōgune, hieß „sankinkōtai“, in der zeitgenössischen Literatur als „Sankinkotai“ (Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 37, 61) oder als „Sankin-Kodai“ (Fukuda, Japan (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 131) transliteriert. Die letztgenannte Transliteration wurde hier bei der Emendation übernommen. Zur Residenzpflicht vgl. die Ausführungen Max Webers, oben, S. 317 mit Anm. 78.
– Die Samurai andrerseits waren persönlich freie Privatsoldaten der einzelnen Daimyos (oder des Shogun selbst), bewidmet mit einer Reisrentenpfründe (selten mit Land), hervorgegangen teils aus der freien Kriegsgefolgschaft[,] teils aus der hoffähigen Ministerialität, welche sich hier ebenso wie im deutschen Mittelalter zu einer faktisch freien Kontraktsbeziehung gewandelt hatte,
38
Max Weber schließt sich hier der These von Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 40, an, daß der Samurai das Treue- und Dienstverhältnis zu seinem Herrn lösen, in den Dienst eines anderen Herrn eintreten oder sogar aus dem Samuraistand ausscheiden konnte. Dagegen geht man in der heutigen Forschung von der Unlösbarkeit des Treueverhältnisses aus. Zur Diskussion um die deutsche Ministerialität vgl. die Ausführungen oben, S. 287, Anm. 4.
in ihrer sozialen [392]Lage höchst verschieden, vom kleinen Rentner, der seinen Reisdienst
n
[392]A: Reisedienst
im Herrenschloß, bis zu fünft in einer Stube schlafend,
39
[392] Die einfacheren Samurai, die Wachdienste im Herrenschloß zu leisten hatten, wurden mit Reis entlohnt. Es handelte sich folglich um einen „Reisdienst“ und nicht um einen „Reisedienst“, wie es im überlieferten Text hieß.
abmacht, bis zum faktisch erblichen Inhaber eines Hofamts hinauf. Also eine Klasse freier, teils plebejischer, teils höfischer Dienstmannen, aber keine Lehensleute, sondern Pfründner, deren Stellung derjenigen fränkischer Antrustionen ähnlicher war als der eines mittelalterlichen feudalen Benefiziers. Die Ausstattung der Beziehung zum Herren mit einem, der okzidentalen Lehenstreuequalifikation analogen und an Intensität überlegenen, ritterlichen Pietätsempfinden entstammte der aus Gefolgschaftstreue entwickelten Verklärung der freien Vasallenbeziehung und dem kriegerischen ständischen Ehrbegriff. Die Sondererscheinungen des islamischen Kriegerlehens endlich erklären sich, wie C[arl] H[einrich] Becker kürzlich nachgewiesen hat,
40
Gemeint ist der Aufsatz von Carl Heinrich Becker, Steuerpacht und Lehnswesen, der in der Zeitschrift „Der Islam“ erschienen ist. Das entsprechende Heft wurde am 18. Februar 1914 ausgegeben. In der nachfolgenden Passage (bis S. 394, Zeile 18) über die Entwicklung des islamischen Militärlehens stützt sich Weber auf diesen Aufsatz. Die arabischen Begriffe wurden im überlieferten Text in Anlehnung an die Transliteration bei Becker emendiert; dessen Schreibweise wird daher im folgenden neben der heute üblichen Transliteration wiedergegeben.
durch seinen Ursprung aus dem Soldheer und aus der Steuerpacht. Der zahlungsunfähige Patrimonialherrscher mußte einerseits die Söldner durch Anweisungen auf die Steuer der Untertanen abfinden. Andererseits mußte er dem militärischen Beamten (Emir) die ursprünglich – der uns bekannten typischen Gewaltenteilung des Patrimonialismus entsprechend
41
Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 320.
– ihm gegenüber selbständige Stellung des auf festes Geld gesetzten Steuerbeamten (Amil) mit übertragen. Drei verschiedene Tatbestände: 1. Takbil, die Verpachtung der Steuern eines Dorfs oder Bezirks an einen „muḳṭaʿ“
o
A: „mukthah“
(Steuerpächter);
42
Die Steuerverpachtung „taqbīl“ (bei Becker: „Taḳbīl“) war in den islamisch beherrschten Ländern auch für kleinere Bezirke möglich. Der „muqṭaʿ“ (bei Becker: „Muḳṭaʿ“) war ein „Privatmann, der unter staatlichem Schutz für die Steuer seiner vom Staat in Pacht oder Erbpacht erhaltenen Ländereien“ aufkam; er war dem spätrömischen Erbpächter (Emphyteuticarius) vergleichbar. Vgl. Becker, Steuerpacht und Lehnswesen, S. 85 f.
2. ḳaṭāʾiʿ,
p
A: katài,
die Lehen, verliehene [393]Grundherrschaften (in Mesopotamien sawafi genannt)
43
[393] „qaṭāʾiʿ“ (bei Becker: „Ḳaṭāʾiʿ“) ist das als Lehen vergebene Land. Becker, Steuerpacht und Lehnswesen, S. 85, versteht darunter die Gesamtheit des Großgrundbesitzes, den die arabischen Großen aufgrund der Eroberungen als eine Art Erbpacht erhielten. Der dem Arabischen entsprechende Ausdruck für diese Ländereien sei im Irak „Ṣawāfī“.
an verdiente oder unentbehrliche Anhänger und endlich 3. der Besitz der zur Deckung von Soldrückständen der Emire
q
[393]A: Emìre
46
Die Emendation von „Emìre“ zu „Emire“ folgt der unten (S. 392, Zeile 18) verwendeten Schreibweise von „Emiren“. Korrekt wäre ansonsten auch die Form „Emīre“ (nach arab.: amīr), die sich aber in anderen, von Max Weber selbst autorisierten Texten nicht findet.
und Soldaten von diesen, besonders von den Mameluken, pfandweise okkupierten oder ihnen überwiesenen Untertanenabgaben, verschmolzen dann zu dem Begriff des „iḳṭāʿ“
r
A: „iktàh“
44
„iqṭāʿ“ (bei Becker; „Iḳṭāʿ“) bezeichnete in den islamischen Ländern den Lehnsvorgang. Darunter fällt zum einen der Akt der Vergebung von Land, das nicht Privatbesitz ist, gegen die Zahlung einer Grundsteuer oder eines Zehnten – z. B. die Belehnung mit einer ganzen Provinz – und zum anderen der Akt der Vergebung von Landerträgen als Ersatz oder Garantie einer Zahlung seitens des Fiskus, d. h. Beleihung gegen Rente.
(beneficium). Der Inhaber des letzteren schuldete zunächst einerseits Heeresdienst als Soldat, andererseits hatte er der Theorie nach wenigstens den Überschuß der eingehenden Steuern über seine Soldforderungen abzuliefern. Die willkürliche Plünderung der in dieser Art okkupierten Untertanen durch die Soldaten, welche trotzdem natürlich die Steuerüberschüsse selten abführten, veranlaßte zuerst in Mesopotamien unter den Seldschuken gegen Ende des 11. Jahrhunderts den Vezier Nizam al-Mulk
s
A: Nizam-el-Mulk
dazu, das Land unter Verzicht auf den Steuerüberschuß, den Soldaten und Emiren als Pfründen definitiv zu überweisen, gegen die Verpflichtung zur
t
A: für
Heeresfolge, und im 14. Jahrhundert ging die ägyptische Mamelukenherrschaft zum gleichen System
45
Durch ein Gesetz beseitigte der Seldschuken-Wesir Niẓām al-Mulk im Jahr 1087 das traditionelle Steuerverpachtungssystem und führte das Militärlehen ein. In Ägypten setzte es sich endgültig erst 1315 durch das Kataster von Sultan al-Nāṣir ben Ḳalā’ūn durch. (Vgl. Becker, Steuerpacht und Lehnswesen, S. 89 ff.). Die Schreibweise „Nizam-el-Mulk“, wie sie sich im überlieferten Text fand, ist in der zeitgenössischen Literatur nur in abgewandelter Form als „Nizâm el-mulk“ bei v. Tischendorf, Lehnswesen (wie oben, S. 37, Anm. 50), S. 31, belegt. Wegen der offensichtlichen Nähe zum Aufsatz von Carl Heinrich Becker wurde hier aber in Anlehnung an dessen Schreibweise „Niẓām al-Mulk“ (Becker, Steuerpacht und Lehnswesen, S. 89) in den Text eingegriffen.
über. Das nun erwachende Eigeninteresse der aus Steuerpächtern oder Pfandin[A 729]habern [394]zu Grundherren gewordenen Soldaten verbesserte das Land der Untertanen und beseitigte die Reibung zwischen Militär und Fiskus. Die osmanischen Spahi-Pfründen sind eine Modifikation dieses Militärpfründnersystems. Seine Herkunft aus dem zerfallenden Steuersystem und dem Soldheer eines geldwirtschaftlich, nach antiker Art organisierten Staatswesens unterscheidet dieses Militärpfründnertum von dem okzidentalen, der Naturalwirtschaft und der Gefolgschaft entstammenden Lehensystem grundsätzlich. Es mußte insbesondere diesem orientalischen Feudalismus alles fehlen, was der Gefolgschaftspietät entstammt: vor allem die Normen der spezifischen wie persönlichen Vasallentreue, während wiederum dem japanischen Feudalismus mit seiner ausschließlich persönlichen Gefolgschaftspietät umgekehrt die grundherrliche Struktur des Benefizialwesens fehlte. Beide unterscheiden sich also in genau entgegengesetzter Richtung von jener Kombination persönlicher[,] aus der Gefolgschaftspietät stammender,
u
[394]A: stammenden,
Treuebeziehungen mit dem
v
A: deren
Benefizialwesen, auf der die wesentliche Besonderheit des okzidentalen Lehenswesens beruhte.
Das als Massenerscheinung entstandene Lehen war in all diesen Formen überall primär militärischen Ursprungs. Die türkischen Lehenspfründen waren mit Residenzpflicht verknüpft und galten in der großen Expansionsepoche des Reichs als verwirkt, wenn der Lehensmann sieben Jahre lang keine Kriegsdienste getan hatte, und die Lehensmutung der Anwärter war ebenfalls teilweise an den Nachweis aktiver Kriegsdienste geknüpft.
47
[394] Das Osmanische Reich hatte seine größte Ausdehnung vom 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, insbesondere unter Süleyman dem Prächtigen (1520–1566). Die von Max Weber angeführten Bestimmungen finden sich bei v. Hammer, Osmanisches Reich I (wie oben, S. 36, Anm. 43), S. 370 und 414, der Gesetzestexte zu den Aufgebotslehen (Timaren) wiedergibt. Zur Anwartschaft auf das Lehen des Vaters und zur „Lehnsmutung“ vgl. die Erläuterungen oben, S. 389, Anm. 32 und S. 390, Anm. 33.
Die Lehenspfründe diente normalerweise (im Orient wie im Okzident) der Schaffung eines Reiterheeres, zusammengesetzt aus gleichmäßig bewaffneten und ständig geübten, durch Ehrbegriffe in ihrer militärischen Leistungsfähigkeit gesteigerten und dem Herrn ganz persönlich ergebenen Kriegern, zum Ersatz einerseits des Heerbanns der freien Volksgenossen, andererseits unter Umständen auch zum Ersatz der charismatischen Gefolg[395]schaft (trustis) des Königs. Das fränkische Lehenswesen entstand zuerst zur Abwehr der arabischen Reiterei auf säkularisiertem Kirchenland,
48
[395] Der Ursprung des fränkischen Lehenswesens war seit der 1850 erschienenen Monographie von Roth, Beneficialwesen (wie oben, S. 35, Anm. 38), in der zeitgenössischen Mediävistik vor allem wegen der verfassungsgeschichtlichen Implikationen heftig umstritten. Während Roth davon ausging, daß die systematische Enteignung von Kirchengut zur Vergabe von Benefizien an berittene Krieger erst unter Karlmann († 754) und Pippin dem Jüngeren († 768) eingesetzt habe (ebd., S. 334 ff.), vertraten seine Kontrahenten, vor allem Heinrich Brunner (unten, S. 396, Anm. 51) und Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte III2 (wie oben, S. 285, Anm. 1), die These, daß dies bereits unter deren Vater Karl Martell († 741) geschehen sei und die Siege über die Araber zwischen 732 und 737 auf diese Institution zurückzuführen seien (vgl. dazu unten, S. 396 f., Anm. 51). Somit schließt sich Weber der jüngeren Forschungsmeinung an, verwendet aber den von Roth in diesem Zusammenhang eingeführten Terminus der „Säcularisation“ (Roth, Geschichte des Beneficialwesens, S. 313).
und auch die türkischen Lehenspfründen lagen der Masse nach nicht in dem Gebiet alter bäuerlicher Siedlung der Osmanen (Anatolien), sondern als Grundherrschaften, von Rajas bewirtschaftet, auf dem später eroberten Gebiet (besonders: Rumelien).
49
Seit den osmanischen Eroberungen nach 1356/57 bildete Rumelien eine eigene Statthalterschaft im europäischen Teil des Reiches. Das Gebiet galt als „nationales Gesammteigenthum der moslemischen Eroberer“ und konnte daher in Form von Pfründen vergeben werden. Bewirtschaftet wurde es von den – zumeist christlichen – Hintersassen (Raja bzw. Raya). (Vgl. v. Tischendorf, Lehnswesen (wie oben, S. 37, Anm. 50), S. 38 f.). In Rumelien waren die Aufgebotslehen vorherrschend, d. h. der mit einem Timar ausgestattete Reiter mußte an jedem Kriegszug teilnehmen, dagegen unterlagen die Inhaber der Wechsellehen in Anatolien nur einer partiellen Kriegspflicht. Eine Aufstellung bei v. Hammer zeigt, daß 9274 „Säbel“, d. h. dienstpflichtige Reiter mit Lehen, in Rumelien gegenüber nur 3711 in Anatolien verzeichnet waren. Vgl. v. Hammer, Osmanisches Reich I (wie oben, S. 36, Anm. 43), S. 372, dass. II, S. 249, 255.
Wie bei Küstenstaaten oder geldwirtschaftlichen Binnenstaaten das Soldheer, so war bei naturalwirtschaftlichen Binnenreichen das Lehensheer, wo es primär an Stelle des Volksheeres trat, Funktion einerseits der gestiegenen Inanspruchnahme durch die Erwerbsarbeit, andererseits des steigenden Umfangs des Machtgebiets. Mit zunehmender Befriedung und steigender Intensität des Bodenanbaus schwindet bei der Masse der Grundbesitzer die Gewöhnung an die Aufgaben des Krieges und auch die Möglichkeit der Übung im Waffendienst, vor allem aber, besonders bei den kleinen Besitzern, die ökonomische Abkömmlichkeit für Feldzüge. Die gestiegene Belastung des Mannes mit Arbeit, welche ursprünglich der Frau zufiel, macht [396]ihn ökonomisch sozusagen „schollenfest“,
50
[396] Der in der zeitgenössischen Literatur seltene Begriff „schollenfest“ wird hier von Max Weber in einem allgemeineren Sinn gebraucht als sonst üblich. Er beschreibt damit die wirtschaftliche Unabkömmlichkeit des Landarbeiters, die ein unkriegerisches Verhalten mit sich bringe. (Vgl. auch schon früher: Weber, Streit, S. 457). Im Gegensatz dazu wurde die Erscheinung ansonsten ausschließlich auf das spätrömische Privatkolonat in Ägypten bezogen. In der Spätantike flohen die Bauern aus ökonomischer Not aus den Dörfern, lösten ihre Stellung als staatliche Kleinpächter auf und stellten sich in den Schutz privater Grundbesitzer; eine Entwicklung, deren staatliche Anerkennung die Forschung mit dem Begriff der „Schollenfestigkeit“ belegte. Vgl. Rostowzew, Michael, Studien zur Geschichte des römischen Kolonates. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1910, S. 227.
und die zunehmende Differenzierung des Besitzes durch Teilung und Akkumulation des Bodens zerstört die Gleichmäßigkeit der Bewaffnung und bei den Massen des zunehmenden Kleinbesitzes überhaupt die ökonomische Fähigkeit zur Selbstequipierung, auf der jedes primäre Volksheer beruht. Zumal Feldzüge nach entfernten Außengebieten eines großen Reiches lassen sich aus all diesen Gründen mit einem Bauernaufgebot ebensowenig leisten, wie ein Bürgeraufgebot große überseeische Expansionsgebiete im Zaum halten kann. Wie das an Stelle des Bürgerheeres tretende Soldheer trainierte Berufskrieger anstatt der Milizen setzt, so ergibt auch der Übergang zum Lehensheere zunächst hohe Qualität und Gleichmäßigkeit der Bewaffnung: in seinen Anfängen gehörten im Okzident auch Pferd und Waffen zu den Gegenständen der Belehnung, die Selbstequipierung war erst Produkt der Universalisierung des Instituts. Das Spezifische des voll entwickelten Lehensystems nun ist der Appell nicht nur an die Pietätspflichten, sondern an das aus spezifisch hoher, sozialer Ehre des Vasallen fließende ständische Würdegefühl als entscheidender Determinante seines Verhaltens. Das Ehrgefühl des Kriegers und die Treue des Dieners sind beide [A 730]mit dem vornehmen Würdegefühl einer Herrenschicht und ihren Konventionen in untrennbare Verbindung gebracht und an ihnen innerlich und äußerlich verankert. Daher war für die spezifische Bedeutung des okzidentalen voll entwickelten Lehenssystems der Umstand, daß es Unterlage des Reiterdienstes bildete
51
Max Weber gibt an dieser Stelle die berühmte These von Heinrich Brunner wieder, nach der ein enger Zusammenhang zwischen der Ausbildung des Reiterdienstes im merowingischen Frankenreich und der Entstehung des Lehnswesens anzunehmen sei. Vgl. Brunner, Reiterdienst (wie oben, S. 35, Anm. 38), S. 1–38. Demnach habe der An[397]griff arabischer Reiterheere zu Beginn des 8. Jahrhunderts die Ausbildung einer breiten Schicht berittener Krieger erforderlich gemacht (vgl. dazu oben, S. 395, Anm. 48).
– im Gegensatz zu dem plebejischen „Infanteristen“-Lehen [397]der Klienten, Kleruchen, μάχιμοι
w
[397]A: μάχιμοι,
und altorientalischen Lehenssoldaten – eine ganz entscheidende Komponente, deren Tragweite nach den verschiedensten Richtungen wir hier wie noch öfter begegnen werden.
52
Siehe unten, S. 446–449.
Das Lehensystem schafft Existenzen, die zur Selbstausrüstung und berufsmäßigen Waffenübung fähig sind, im Kriege in der Ehre des Herrn ihre eigene Ehre, in der Expansion seiner Macht die Chance der Versorgung ihres Nachwuchses mit Lehen und, vor allen Dingen, in der Erhaltung seiner ganz persönlichen Herrschaft den einzigen Legitimitätsgrund für ihren eigenen Lehenbesitz finden. Dies letztere, für den Übergang zum Lehenwesen überhaupt eminent wichtige Moment ist vor allem auch bei seiner Übertragung aus seinem eigentlichen Heimatsgebiet: dem Heeresdienst, auf die öffentlichen Ämter überall von Bedeutung gewesen: in Japan suchte sich der Herrscher dadurch unter anderem von der Starrheit des in anderem Zusammenhang zu besprechenden
53
Siehe den Text „Umbildung des Charisma“, unten. S. 520; dort mit einem Rückverweis.
gentilcharismatischen Geschlechterstaats zu emanzipieren.
54
Durch die Taihō-Gesetze, die 702 verkündet wurden, versuchte der japanische Kaiser, die Reste der Geschlechterverfassung zu beseitigen, indem er als Obereigentümer des Landes dieses periodisch zur Nutzung verteilte und es seinen Beamten entsprechend ihres Amtes, Ranges oder Verdienstes zuwies. Bei hohen Ämtern setzte sich Erblichkeit durch. Vgl. Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 18, und Hall, Japanisches Kaiserreich (wie oben, S. 114, Anm. 92), S. 55 f.
Im Frankenreich waren die Versuche des Patrimonialstaats, durch Befristung der Ämter und durch das missatische System
55
Bereits seit der Merowingerzeit bemühten sich die fränkischen Könige, ihren Herrschaftsbereich mit Hilfe von Königsboten (missi dominici) zu erschließen. Diese waren vom König beliebig ausgewählte Personen – zumeist seines Hofstaats –, die mit außerordentlichem Auftrag und Schutz entsendet wurden. Ihnen oblag z. B. die Steuereintreibung, die Kontrolle von Amtsmißbräuchen oder die Untersuchung von Rechtsfällen. Erst unter Karl d.Gr. nahm die Entsendung einen systematischen Charakter an. Vgl. Dahn, Germanen VII (wie oben, S. 338, Anm. 47), Abt. 2, S. 248–251.
die Gewalt des Herrn zu erhalten, immer wieder kollabiert, und die heftigen Peripetien der Macht in den Kämpfen der Adelskliquen um die höchste Machtstellung im patrimonialen Merowingerreich hatten zwar durch die starke Hand eines [398]Zentralbeamten ein Ende erreicht, aber den Sturz der legitimen Dynastie zu dessen Gunsten nach sich gezogen.
56
[398] Nach der Erhebung Dagoberts I. zum fränkischen König 623 wurde dem Arnulfinger Pippin dem Älteren das Amt des Hausmeiers übertragen, dessen Machtfülle in der Folgezeit erheblich anwuchs. Nach dem Tod König Theuderichs IV. im Jahr 737 blieb der Thron – unter dem Hausmeier Karl Martell – zeitweise vakant. Mit Zustimmung von Papst Zacharias wurde 751 Karl Martells Sohn Pippin der Jüngere als Nachfolger des Merowingers Childerich III. zum fränkischen König gewählt. Vgl. Mühlbacher, Karolinger (wie oben, S. 178, Anm. 39), S. 23–57.
Der Übergang zur Verlehnung auch der Ämter unter den Karolingern brachte (relative) Stabilität und wurde vom 9. Jahrhundert an endgültig durchgeführt, nachdem die Karolinger die Vasallen zunächst als Gegengewicht gegen die merowingische „Gefolgschaft“ benutzt hatten, nachdem in den Kämpfen der Teilkönige die streng persönliche Verknüpfung aller Amtsinhaber mit dem Herrn durch die Vasallentreue als Garantie der Teilkönigsthrone allein übrig geblieben war. Umgekehrt entsprang die Vernichtung des chinesischen, als der eigentlich heiligen Ordnung der Väter noch lange betrauerten Feudalsystems
57
Das Feudalsystem wurde durch den Sieg Shih Huang-tis über die meisten Teilstaaten 221 v. Chr. beseitigt. Die damit vernichtete Ordnung der Chou-Dynastie wurde in dem vermutlich erst später abgefaßten Chou-li idealisiert (vgl. oben, S. 329 mit Anm. 22). Der Sinologe Otto Franke berichtete, daß „Generationen von chinesischen Geschichtsschreibern“ in Shih Huang-tis Bruch mit den alten Institutionen „einen verbrecherischen Eingriff in die göttliche Weltordnung gesehen“ hätten und sogar noch die Reformbewegung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Chou-Zeit zum Ideal stilisiert habe. Vgl. Franke, China (wie oben, S. 37, Anm. 47), S. 91, 105 f.
durch die seitdem konsequent in gleicher Richtung weiter entwickelte präbendal-bürokratische Ordnung dem ebenso typischen Motiv der Beseitigung des Lehnsamtes: die Fülle der Macht wieder in die eigne Hand des Herrn zu nehmen. Denn die in der persönlich engagierten Ritterehre des Vasallen liegende immerhin erhebliche Garantie der eigenen Herrenstellung wird beim voll entwickelten Feudalsystem, als der weitestgehenden Form systematischer Dezentralisation der Herrschaft, durch die außerordentliche Abschwächung der Gewalt des Herrn über die Vasallen erkauft. –
Zunächst besteht nur eine begrenzte „Disziplin“ des Herrn über den Vasallen. Einziger Grund[,] ihm das Lehen zu nehmen, ist „Felonie“: der Bruch der Treue gegenüber dem Herrn durch Nichtleistung der Lehenspflicht. Der Begriff ist äußerst flüssig. Aber dies kommt normalerweise nicht der Willkür des Herrn, sondern der Stellung des [399]Vasallen zugute. Denn auch wo nicht ein mit Vasallen als Urteilsfindern besetzter Lehenshof als Gericht existiert und dadurch die Lehensinteressenten zu Rechtsgenossen zusammengeschlossen sind (wie im Okzident)[,] gilt dennoch hier in besondrem Grade der Satz: daß der Herr gegen den einzelnen Untergebenen allmächtig, gegen die Interessen ihrer Gesamtheit aber ohnmächtig ist, und daß er der Unterstützung oder doch Duldung der übrigen Vasallen sicher sein muß, um gegen einen von ihnen ohne Gefahr vorgehen zu können.
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[399] Die Lehnshöfe waren zuständig für alle die Lehen betreffenden Auseinandersetzungen zwischen Lehnsherrn und Lehnsmann sowie zwischen Lehnsleuten. Die im Lehnsgericht vollzogene Rechtsfindung ging – dem germanischen Rechtsverständnis entsprechend – ausschließlich von den Lehnsleuten aus; dem Lehnsherrn oblag lediglich die Leitung des Verfahrens. Während die historischen Anfänge der Lehnshöfe schwer greifbar sind, finden sich erste Beschreibungen im Lehnsgesetz Konrads II. und im Sachsenspiegel (Lehnsrecht 71, 20).
Denn der Charakter der Lehensbeziehung als eines spezifischen Treueverhältnisses bedingt es, daß Willkür des Herren hier als ein „Treubruch“ auf dessen Beziehungen zu allen Vasallen innerlich besonders zerstörend wirkt. Diese recht enge Schranke der Disziplin über die eigenen Vasallen wird noch fühlbarer dadurch, daß oft jede direkte Disziplin des Herrn über die Unter[A 731]lehensleute seiner Vasallen fehlte. Bei voll entwickeltem Feudalismus bestand allerdings eine „Hierarchie“ in doppeltem Sinn: einmal insofern, als nur die verlehnten Herrenrechte, also insbesondere nur solche Ländereien, deren Lehensbesitz von der höchsten Spitze (König) als der Quelle aller Gewalt abgeleitet werden konnte, der Weitervergebung zu vollem Lehenrechte fähig waren. Dann in dem Sinn einer sozialen Rangordnung (der „Heerschild-Ordnung“ des Sachsenspiegels)
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Gemeint ist die sog. „Heerschildordnung“ aus dem Sachsenspiegel Eike von Repgows (entstanden 1220–1235), in der die Regeln zur Vergabe von Reichslehen näher bestimmt wurden. Gemäß der dort fixierten Stufenordnung war es keinem Vasall gestattet, Lehen von einem Vertreter der gleichen oder einer niedrigeren Heerschildstufe anzunehmen. Dem König (erste Stufe) folgten die geistlichen und weltlichen Fürsten (zweite und dritte Stufe), von den freien Herren (vierte Stufe) reichte die Ordnung weiter über die Schöffenbarfreien und die Vasallen der freien Herren (fünfte Stufe) und deren Vasallen (sechste Stufe) bis zu den nicht näher definierten Vertretern der untersten Ebene (siebte Stufe).
je nach der vom höchsten Lehensherrn aus gerechneten Stufe der Weiterverleihungen, auf welcher der betreffende Leheninhaber steht. Aber zunächst war das Maß von direkter Gewalt des Herrn gegen Untervasallen seiner Lehensträger schon deshalb ganz problema[400]tisch, weil, wie jede Lehenbeziehung, so auch die zwischen Vasallen und Untervasallen, streng persönlichen Charakters war und daher durch Felonie des ersteren gegen seinen Lehensherrn nicht ohne weiteres beseitigt werden konnte. Das türkische Lehensystem der klassischen Zeit
60
[400] Die klassische Zeit des osmanischen Pfründenfeudalismus wird in der heutigen Forschung auf den Zeitraum vom letzten Viertel des 15. bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert. Vgl. Matuz, Osmanisches Reich (wie oben, S. 267 f., Anm. 50), S. 113 f., 320.
erreichte eine relativ starke Zentralisation durch die präbendenartige Gestaltung der Lehen und ebenso der Beglerbeg-Stellungen im Verhältnis zur Hohen Pforte. Der okzidentale Vorbehalt: „salva fide debita domino regi“ im Homagialeide
61
Die Formel bezeichnet den Treuvorbehalt des Aftervasallen gegenüber dem Oberlehnsherrn (ligischen Herrn) und entstand im Umkreis der Gesetzgebung des englischen Königs Heinrich II. (Leges Henrici, c. 55,3, 1114–1118). Prägend für ihre Überlieferung und Ausgestaltung waren die beiden Rechtsgelehrten Glanvill († 1190) und Bracton († 1268), wobei Max Weber den Wortlaut des letzteren wiedergibt. Die Formel kam in der Zeit König Philipp Augusts (1180–1223) nach Frankreich. Vgl. Kienast, Walther, Untertaneneid und Treuvorbehalt in Frankreich und England. Studien zur vergleichenden Verfassungsgeschichte des Mittelalters. – Weimar: Hermann Böhlau 1952, S. 216 ff. und 33 f.
von Untervasallen hinderte nicht, daß auch in Fällen, wo die Felonie klar lag, der Untervasall, zwischen die Treupflicht zu seinem eignen Lehensherrn und das Gebot von dessen Lehensherrn gestellt, zum mindesten in Gewissenskonflikte geriet, immer aber sich zur eigenen Prüfung berechtigt halten mußte: ob denn der Oberlehnsherr seines Herrn diesem die Treue halte. Für die zentralistische Entwicklung Englands war es eine aus der Normandie übernommene höchst wichtige Einrichtung Wilhelms des Eroberers, daß alle Untervasallen dem König direkt durch Eid verpflichtet wurden und als seine Mannen galten und ferner, daß alle Untervasallen im Fall der Rechtsverweigerung des Lehensherren nicht (wie in Frankreich)
62
Das mittelalterliche französische Recht gestattete bis ins 13. Jahrhundert einem Kläger nach einem Verfahren am Gerichtshof seines Grund- oder Leibherrn („hofrechtliche Gerichtsbarkeit“) bzw. seines Landgerichtsbezirks („landrechtliche Gerichtsbarkeit“) ein Rechtsmittel einzulegen und den „Gerichtshof des in der feudalen Hierarchie nächst höheren Seigneurs“ anzurufen, so daß er, „wenn die Klage auch gegen das höhere Gericht wiederholt werden mußte, schließlich bis zu den Gerichten der Lehnsfürsten, ja des Königs emporsteigen“ konnte. Vgl. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 299, Anm. 26), S. 63.
den Instanzenzug
a
[400]A: Instanzenzwang
der Lehenshierarchie innezuhalten
b
A: innegehalten
hatten, sondern direkt [401]an die Gerichte des Königs gewiesen waren,
63
[401] Die Stellung des englischen Königsgerichts als allen Lehnsgerichten unmittelbar übergeordnete Instanz beruhte auf dem allgemeinen Lehnseid, den zum ersten Mal Wilhelm der Eroberer am 1. August 1086 in Salisbury von einer Versammlung aller Lehnsbarone einforderte. Mit der Einführung des sog. writ-Prozesses durch König Heinrich II. (1154–1189) wurde es dem Königsgericht ermöglicht, alle Streitsachen um Liegenschaften an sich zu ziehen. Vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 191, Anm. 66), S. 16 f.
so daß also hier die „Lehenshierarchie“ nicht, wie dies sonst meist der Fall war, mit einer Stufenleiter von Kompetenzen in Lehenssachen identisch war. In der Normandie und England, ebenso wie im türkischen Lehenwesen[,] war der Umstand: daß der feudale politische Verband auf Eroberungsgebiet restituiert wurde, maßgebend für diese straffe Organisation und für das feste Zusammenhalten von Herren und Vasallen überhaupt – ähnlich wie z. B. die Kirchen sich überall auf dem Missionsgebiet die straffste hierarchische Organisation schufen. Dennoch fielen auch dann jene Gewissenskonflikte der Untervasallen nicht gänzlich fort. Auch aus diesen (neben andren) Gründen finden sich nicht selten Versuche, die Weiterverlehnung oder mindestens deren Zahl nach unten hin zu beschränken – während in Deutschland die Beschränkung der Heerschilde aus allgemeinen Prinzipien der Ämterhierarchie abgeleitet war.
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Vgl. dazu die Erläuterungen, oben, S. 399, Anm. 59.
Auf der anderen Seite aber entwickelten die voll durchgebildeten Lehenrechte für alle einmal in die Verlehnungen einbezogenen Objekte für den Lehensrückfall den Leihezwang und den Satz: „Nulle terre sans Seigneur“.
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Der deutsche König war – im Gegensatz zum französischen – dazu verpflichtet, heimgefallene Reichslehen binnen Jahr und Tag wieder neu zu vergeben. Außerdem galt der aus dem französischen Lehnsrecht stammende Grundsatz „nulle terre sans seigneur“ (kein Land ohne Lehnsherrn). Vgl. dazu den Glossar-Eintrag, unten, S. 797, sowie Jellinek, Staatslehre2 (wie oben, S. 7, Anm. 26), S. 433 f.
Äußerlich entspricht er scheinbar dem Grundsatz des bürokratischen Systems, daß die traditionellen Lehenseinheiten vom König auch lückenlos mit Vasallen besetzt werden müssen. Nur ist der Sinn ein fundamental anderer. Im bürokratischen System will der Satz eine Rechtsgarantie für die Beherrschten schaffen, während der Leihezwang beim Lehen umgekehrt die Masse der von den Lehensträgern als Inhabern der Ämter Beherrschten von der direkten Beziehung zum obersten Lehensherren (König) abschnitt und das Recht der Gesamtheit der Lehensträger gegenüber dem Herrn darauf verbrieft: daß der [402]Herr das feudale Gewaltensystem nicht im eigenen Interesse dadurch durchbreche, daß er die Gewalt wieder in die eigene Hand nehme, sondern daß er die sämtlichen verlehnten Objekte immer wieder zur Ausstattung des Nachwuchses der Vasallen verwende. Diesem Verlangen konnten die Vasallen, ganz nach dem uns bekannten Schema,
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[402] Siehe Weber, Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen, MWG I/22-1, S. 82; Weber, Recht § 2, S. 71–73 (WuG1, S. 452 f.), sowie den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 258 und 288–290.
dann besonderen Nachdruck verleihen, wenn sie zu einem Verbande von Rechtsgenossen zusammengeschlossen waren, insbesondere wenn
c
[402] Fehlt in A; wenn sinngemäß ergänzt.
ein unter ihrer Mitwirkung als Beisitzer sich vollziehendes Gerichtsverfahren in einer Lehenskurie die Streitigkeiten und Geschäfte [A 732]betreffend Erbzwang, Heimfall, Verwirkung und Wiederverleihung der Lehen in der Hand hatte, wie dies für den Okzident typisch war.
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Zum Lehnshof vgl. die Erläuterungen oben, S. 399, Anm. 58.
In diesem Fall entwickelte sich neben den eben erwähnten Mitteln zur Sicherung des Lehensangebots auch die Monopolisierung der Lehensnachfrage. Sie erfolgte, wie im bürokratisierten Gemeinwesen durch das Verlangen der Anwärter nach immer mehr Fachprüfungen und Diplomen als Voraussetzung von Anstellungen, so im Feudalverband durch stete Steigerung der Anforderungen an die persönliche Lehensqualifikation des Anwärters. Diese aber war der polare Gegensatz zu einer auf Fachwissen ruhenden Qualifikation für ein bürokratisches Amt. Die Bürokratie und ebenso das reine Patrimonialbeamtentum ruhen in dem Sinn auf sozialer „Nivellierung“, daß sie in ihrem reinen Typus nur nach persönlichen Qualifikationen, die eine nach sachlich-fachmäßigen, die andere nach rein persönlichen fragen und von ständischen Unterschieden absehen, ja geradezu das spezifische Instrument zu deren Durchbrechung darstellen – ganz unbeschadet des früher erörterten Umstands,
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Siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 160–162, 230–232, und den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 369.
daß auch die bürokratischen und patrimonialen Beamtenschichten sehr leicht wieder Träger einer bestimmten ständischen sozialen „Ehre“ mit ihren Konsequenzen werden. Diese war hier eine Folgeerscheinung ihrer Machtstellung. Aber der Feudalismus im technischen Sinn des Worts ist in seiner innersten Wurzel ständisch [403]orientiert und steigert sich in diesen seinen Charakter immer weiter hinein. Der Vasall im spezifischen Wortsinn mußte überall ein freier, d. h. nicht der Patrimonialgewalt eines Herrn unterworfener Mann sein. Auch der japanische Samurai wechselte nach freiem Belieben den Herren.
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[403] Max Weber vertritt hier die These von Karl Rathgen, der die Lösbarkeit des Treueverhältnisses in Japan für möglich hielt. Vgl. dazu oben, S. 391 mit Anm. 38.
Im übrigen ist freilich zunächst meist lediglich seine spezifische[,] so zu sagen „fachliche“ Leistungsfähigkeit: Waffentüchtigkeit, Qualifikationsmerkmal, und ist dies z. B. im türkischen Lehenrecht auch geblieben: selbst Rajas konnten Lehen erlangen, wenn sie entsprechende Kriegsdienste geleistet hatten.
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Ein Raja (Raya) konnte nur in Ausnahmefällen Lehnsempfänger („Timariot“) werden. Er mußte sich durch freiwillige Kriegsdienste an der Grenze auszeichnen und wurde dann vom Beg (Fürsten) „als Joldasch oder Waffengefährte eingeschrieben“. Vgl. v. Hammer, Osmanisches Reich II (wie oben, S. 36, Anm. 43), S. 276.
Überall tritt aber, da die Lehensbeziehung in voller Ausprägung nur einer Herrenschicht angehören kann, weil sie ja auf spezifisch emphatische ständische Ehrebegriffe als Basis der Treuebeziehungen und auch der kriegerischen Tüchtigkeit baut, das Erfordernis einer herrschaftlichen („ritterlichen“) Lebensführung, insbesondere der Meidung jeder von der Waffenübung abziehenden und entehrenden Erwerbsarbeit, hinzu. Mit Knapperwerden des Versorgungsspielraums für die Nachkommenschaft setzt dann die Monopolisierung der Lehen und Ämter (und später namentlich auch der zur Ausstattung unversorgter Anverwandten dienenden Stiftspfründen) mit voller Wucht ein. Der Einfluß der fortschreitenden Entwicklung des Standeskonventionalismus tritt hinzu, und es entsteht der Anspruch: daß der Lehens- oder Stiftsanwärter nicht nur selbst „ritterlich leben“, sondern auch „ritterbürtig“ sein müsse. Das heißt: er muß von einer Minimalzahl ritterlich lebender Vorfahren (zuerst: ritterlichen Eltern, dann auch Großeltern: „4 Ahnen“) abstammen. Schließlich, in den Tournier- und Stiftsordnungen des späten Mittelalters gelangt die Monopolisierung dazu, daß 16 Ahnen verlangt und der städtische Patriziat, weil er sich mit den Zünften in die Herrengewalt teilen und auf derselben Ratsbank sitzen müsse, ausgeschlossen wurde.
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Die personelle Zugehörigkeit zu einem kirchlichen Stift, einem ritterlichen Turnier oder Lehnsverband wurde, nachdem es aufgrund damit verbundener finanzieller Vorteile zu einer starken Nachfrage gekommen war, seit dem 15. Jahrhundert durch das Kriterium der „Stiftsfähigkeit“ stark eingegrenzt. Dies bestand in dem Nachweis einer bestimmten Zahl – meistens vier, acht oder sechzehn – adeliger Ahnen. Vgl. Rauch, Karl, [404]Stiftsmäßigkeit und Stiftsfähigkeit in ihrer begrifflichen Abgrenzung. Ein Rechtsgutachten, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Adelsrechts, in: Festschrift Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von Schülern und Verehrern. – Weimar: Hermann Böhlau 1910, S. 737–760, hier: S. 742 ff.
Jedes [404]Fortschreiten dieser ständischen Monopolisierung bedeutete natürlich eine sich stets steigernde Starrheit der sozialen Gliederung. Andere Faktoren gleicher Art treten hinzu.
Dem nicht überall anerkannten, aber überall irgendwie erstrebten Anspruch der Gesamtheit der ständisch qualifizierten Anwärter auf den Besitz der Gesamtheit der Lehen steht der streng eigenrechtliche Charakter der Stellung des einzelnen Lehensträgers zur Seite. Daß das Recht des Vasallen in den klassischen Gebieten des Feudalismus auf einem jeweilig neu einzugehenden Kontrakt beruhte, dennoch aber dies Kontraktrecht des Vasallen nach festen Prinzipien erblich war, stereotypierte die Gewaltenverteilung weit über das Maß der präbendalen Struktur hinaus und machte sie in hohem Grade unelastisch. Eben diese Durchdringung des ganzen Systems durch den Geist einer, über die bloße Verleihung von Privilegien des Herrn hinausgehenden, andererseits nicht, wie bei der Pfründenappropriation, rein materiell bedingten generellen Verbürgtheit der Stellung der Lehensinhaber [A 733]durch einen zweiseitigen Vertrag war aber entwicklungsgeschichtlich sehr wichtig. Denn sie ist das, was die feudale Struktur gegenüber der reinen, auf dem Nebeneinanderstehen der beiden Reiche der Gebundenheit durch Tradition und appropriierte Rechte einerseits und der freien Willkür und Gnade andererseits beruhenden Patrimonialherrschaft einem mindestens relativ „rechtsstaatlichen“ Gebilde annähert. Der Feudalismus bedeutet eine „Gewaltenteilung“. Nur nicht, wie diejenige Montesquieus, eine arbeitsteilig-qualitative,
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Am Modell der englischen Verfassung entwickelte Montesquieu in seinem Hauptwerk „De l'esprit des lois“ 1748 erstmals seine Lehre von der Gewaltenteilung. Dort heißt es: „II y a dans chaque Etat trois sortes de pouvoirs: la puissance législative, la puissance exécutrice des choses qui dépendent du droit des gens, et la puissance exécutrice de celles qui dépendent du droit civil.“ Vgl. Montesquieu, De l’esprit des lois, S. 142. Freiheit sei erst dann garantiert, wenn die drei Gewalten voneinander getrennt seien. Im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München) ist das obige Zitat doppelt markiert.
sondern eine einfach quantitative Teilung der Herrenmacht. Der zum Konstitutionalismus leitende Gedanke des „Staatsvertrages“ als der Grundlage der politischen Machtverteilung ist in gewissem Sinn primitiv vorgebildet. Freilich nicht in der Form [405]eines Paktierens zwischen dem Herrn und den Beherrschten oder ihren Repräsentanten – wobei die Unterwerfung der letzteren als Quelle des Rechtes der Herrn gedacht wird –[,] sondern in der ganz wesentlich anderen eines Vertrags zwischen dem Herrn und den Trägern der von ihm abgeleiteten Gewalt. Art und Verteilung der Herrschaftsbefugnisse sind dadurch fixiert; aber es fehlt nicht nur die generelle Reglementierung, sondern auch die rationale Gliederung der Einzelzuständigkeiten. Denn die Amtsbefugnisse sind, anders als im bürokratischen Staat, eigene Rechte der Beamten, deren Umfang, auch gegenüber den Beherrschten, durch den Inhalt der konkreten persönlichen Verleihung an die ersteren in Verbindung mit den diese kreuzenden Exemtionen, Immunitäten, verliehenen oder traditionsgeweihten Privilegien der letzteren bestimmt wird. Erst daraus und weiter aus der gegenseitigen Begrenzung des subjektiven Rechtes des einen Gewalthabers durch entgegenstehende des andern entsteht hier – ganz ähnlich wie bei den stereotypierten und appropriierten Patrimonialämtern – diejenige Verteilung der Macht, welche dem bürokratischen Begriff der behördlichen „Kompetenz“ in gewissem Sinne entsprechen würde. Denn diesen Begriff gibt es im Feudalismus in seinem genuinen Sinne nicht und daher auch nicht den Begriff der „Behörde“. Zunächst ist nur ein Teil der Vasallen überhaupt mit einer politischen Herrschaftsgewalt[,] und das heißt prinzipiell: Gerichtsgewalt, beliehen: in Frankreich die sogen. „seigneurs justiciers“.
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[405] Die „seigneurs justiciers“ waren die örtlichen Träger der staatlich-landrechtlichen (im Unterschied zur grundherrschaftlich-hofrechtlichen) Gerichtsbarkeit im mittelalterlichen Frankreich. Sie rekrutierten sich aus dem Lehnsadel und besaßen innerhalb ihres mehrere Grundherrschaften umfassenden Gerichtsbereichs die hohe (Blut-)Gerichtsbarkeit sowie die niedere Gerichtsbarkeit für leichtere Zivil- und Strafsachen. Vgl. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 299, Anm. 26), S. 56 ff.
Dabei konnte der Herr die ihm zustehende Gerichtsgewalt teilen, dem einen Vasallen den einen, einem andern einen andern Teil verleihen. Besonders typisch war dabei die Teilung in „höhere“ (den Blutbann einschließende) und „niedere“ Gerichtsbarkeit und deren Vergebung an verschiedene Vasallen. Dabei ist nicht im mindesten gesagt: daß der Vasall, welcher eine in der ursprünglichen Hierarchie der Ämter „höhere“ Herrschaftsgewalt zu Lehen trägt, auch in der Lehenshierarchie, also: berechnet nach dem Abstand der Verleihungen vom höchsten Herren, auf der höheren Staffel stehe. [406]Im Prinzip wenigstens fragt vielmehr die Lehenshierarchie nach der Hierarchie der verlehnten Herrschaftsgewalten nicht,
d
[406]A: nichts,
sondern nur nach der Entfernung oder Nähe zum ersten Herren. Den Tatsachen nach freilich hat die Innehabung der höchsten Gerichtsbarkeit: des Blutbannes insbesondre, überall wenigstens die Tendenz gehabt, die betreffenden Vasallen als einen besondren „Fürstenstand“ zusammenzuschließen. Damit konkurrierte und kreuzte sich aber überall die Tendenz, die unmittelbare Lehensbeziehung zum König als Merkmal der Zugehörigkeit zu diesem höchsten Stande anzusehen. Diese Entwicklung ist besonders in Deutschland in charakteristischen Peripetien verlaufen, welche wir hier nicht verfolgen können. Als Resultat ergab sich überall ein höchst verwickelter Komplex der durch Verlehnung in die mannigfachsten Hände zersplitterten Herrschaftsgewalten. Im Prinzip wurden überall im Okzident die „landrechtlichen“, d. h. auf verlehnten politischen Rechten ruhenden Gerichtsgewalten der Herren einerseits von seiner Lehensgerichtsbarkeit über die Vasallen, andrerseits von seiner patrimonialen (hofrechtlichen) Gerichtsgewalt geschieden. Im Effekt ergab all dies aber nur eine Zersplitterung der Gewalten in zahlreiche[,] auf verschiedener formaler Rechtsgrundlage appropriierter
e
A: appropriierten
Einzelherrenrechte, die untereinander sich gegenseitig traditionell begrenzten. Die aller Bürokratie charakteristische Scheidung von Person und Beruf, persönlichem Vermögen [A 734]und Amtsbetriebsmitteln, welche bei der Präbende immerhin noch deutlich vorhanden ist, fehlte. Die bei Heimfalls- und Erbschaftsgelegenheiten praktische Scheidung zwischen Allodial- und Lehengut hatte, da die Einkünfte aus dem Lehen keine Amtseinkünfte waren, trotz äußerer Ähnlichkeit, einen anderen Sinn (den einer Erbschichtung)
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[406] An das Lehen als „nutzbares Eigentum“ war die Verpflichtung zum Dienst „auf eigene Kosten“ verbunden. Für das Lehen war die „Erbschichtung“ (Nachlaßregelung, Erbteilung) durch das Lehnsrecht streng geregelt; die Lehnsfolge oder -sukzession erfolgte nach der Abstammungslinie des ersten Lehnsnehmers (successio ex pacto et providentia majorum). Diese Bestimmungen trafen für den volleigenen Besitz („Familienerbgut“) nicht zu; dort war der Kreis der Erben freier zu bestimmen.
als die entsprechende Scheidung bei der Präbende. Und dann waren nicht nur alle Amtsbefugnisse und Erträgnisse eines Lehensträgers Teile seiner persönlichen Rechts- und Wirtschafts-Sphäre, sondern vor allem waren an[407]drerseits auch die Amtskosten von ihm persönlich zu bestreitende, in nichts von den Kosten seiner persönlichen Wirtschaft zu scheidende Ausgaben. Wie jeder einzelne, Herr wie belehnter Beamter, auf der Grundlage seiner subjektiven Rechtssphäre seinen dem Wesen nach persönlichen Interessen nachging, so wurden die gesamten Kosten dieser Verwaltung im Gegensatz zur Bürokratie nicht durch ein rationales Steuersystem und im Gegensatz zum Patrimonialismus nicht aus dem Haushalt des Herrn oder durch dafür bestimmte Präbendeneinkünfte gedeckt oder entgolten, sondern sie wurden von den einzelnen Gewaltenträgern durch Leistungen mit der eigenen Person oder aus seinen persönlichen Gütervorräten oder (und namentlich) durch Leistungen der patrimonialen Hintersaßen oder der kraft des ihm verlehnten politischen Rechts unterworfenen „Untertanen“ aufgebracht. Da die Leistungen der „Untertanen“ in aller Regel traditionsgebunden waren, so war der Apparat auch finanziell unelastisch. Dies um so mehr, als die typische, überall mindestens der Tendenz nach vorhanden gewesene Entwicklung, den Lehensverband als Träger politischer Verwaltung zu benutzen[,] sowohl die persönlichen wie die sachlichen Machtmittel des obersten und aller anderen Herren in enge Schranken bannte. Schon die elementarste ihrer Pflichten, diejenige um derenthalben der Lehensverband überhaupt geschaffen zu werden pflegt: die Kriegsdienstpflicht, haben die Vasallen überall versucht[,] in feste Normen bezüglich der jährlichen Maximaldauer zu binden[,] und dies meist erreicht. Dabei aber bestand im Lehensverband auch zwischen den Vasallen des gleichen Herren das Fehderecht. Denn nur den von ihm verliehenen Lehensbesitz, aber nichts andres, garantierte der Herr mit seiner Macht seinen Vasallen. Die Privatkriege der Vasallen untereinander konnten natürlich die Machtinteressen des Lehensherren schwer schädigen, allein über die Bestimmung hinaus, daß wenigstens während eines Heereszuges des Herren selbst die Privatfehde zu unterbleiben habe,
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[407] König Philipp IV. („der Schöne“, 1285–1314) von Frankreich verbot als erster während seines kriegerischen Engagements gegen die Engländer 1296 im Herzogtum Guyenne seinen Vasallen, gegeneinander Fehden zu führen. Vgl. Ordonnances des Roys de France de la troisième Race, édit par Eusèbe-Jacques de Laurière, tome 1. – Paris: L’Imprimerie Royale 1723, S. 328 f.
ist man bis in die Zeit der von Kirche und Städten mit dem Kö[408]nige durchgesetzten „Landfrieden“
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[408] Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts unterstellten im deutschen Reich weltliche Gewalten, insbesondere Könige, bestimmte Personen (z. B. Juden, Witwen und Kaufleute) und Orte (z. B. Kirchen und Klöster) ihrem ausgezeichneten Schutz. Auf diese Weise versuchten sie, die zumeist ritterlichen Formen der Selbstjustiz („Fehde“) einzuschränken. Diese Regelungen wurden von der Androhung ungewöhnlich harter Körperstrafen („peinlicher Strafen“) begleitet.
auf dem europäischen Kontinent wenigstens nicht gekommen. Erst recht wurden die finanziellen Rechte des Herren begrenzt. Neben der vormundschaftlichen Lehensnutzung bestanden diese vor allem in Beihilfepflichten im Fall bestimmter Notlagen des Herren, aus welchen dieser überall gern ein umfassendes Besteuerungsrecht gemacht hätte, die Vasallen ihrerseits aber fest begrenzte Gelegenheitsabgaben zu machen strebten, regelmäßig schließlich mit dem Erfolg, daß die Steuerfreiheit der spezifisch ritterlichen Lehen als Entgelt für die zunehmend fiktiv werdende Militärpflicht bis in die Neuzeit der normale Zustand wurde. Nicht minder erlangten die Vasallen, so lange wenigstens der Herr auf das Lehensheer angewiesen war, in aller Regel den Ausschluß der Besteuerung ihrer Hintersaßen durch den Herren, es sei denn mit ihrer ausnahmsweisen Bewilligung. Der Herr konnte der Regel nach nur von seinen eigenen grundherrlich oder leibherrlich beherrschten Hintersassen ohne weiteres tallagia erheben.
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Das „tallagium“ (vermutlich von mittellat. talliare: „abschneiden“, „wegnehmen“) war im anglo-normannischen England und im Frankreich des Ancien Régime die Bezeichnung derjenigen Abgaben, die der König willkürlich erheben konnte und zwar vorwiegend von der unfreien, ländlichen Bevölkerung. In England hatte der König das Recht, die tallagia von den Insassen der königlichen Domänen (mitunter auch von Städten) ohne Bewilligung des Parlaments zu erheben. Im Gegensatz zu den eigentlichen Steuern überwog hier das privatrechtliche Element. In der zeitgenössischen Forschung sah man in der Abgabe der Hörigen eine Entschädigung für nicht geleistete persönliche Heeresdienste, die das Gegenstück zu den lehensrechtlichen Abgaben der Freien (auxilia) gebildet hätten. Vgl. Heckel, Max von, Taille, Tallia, Tallagia, in: HdStW3, Band 7, 1911, [409]S. 1090–1092, sowie Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 191, Anm. 66), S. 20, 142.
Das Heimfallrecht wurde zunehmend unpraktisch. Die Ausdehnung des Erbrechts auf die Seitenverwandten ist überall durchgedrungen, und die Veräußerung des Lehens, für welche natürlich das Einverständnis des Lehensherren, mit dem neuen Erwerber die Lehensbeziehung einzugehen, erfordert war, wurde immer regelmäßiger, und die Erkaufung seines Konsenses bildete schließlich eine der wesentlichsten, aus dem Lehensverband für den Herren fließenden Einnahmequellen.
f
[408]A: fließende Einnahmequelle.
Sie bedeutete aber zugleich, da die Handänderungsge[409]bühr
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Ein Rückgang der souveränen Handhabe des Lehens durch den Lehnsherrn machte sich seit dem 12. Jahrhundert deutlich bemerkbar, als die Veräußerung von Lehen durch den Lehnsmann zur Gewohnheit wurde. Dieser Vorgang, durch den der Käufer in das volle Lehnsverhältnis eintrat, wurde allerdings mit einer dem Wert des Lehens angemessenen Abgabe des Käufers an den Lehnsherrn, der Handänderungsgebühr (relevium, laudationes) belegt.
traditionell oder durch Satzung generell fixiert wurde, praktisch die volle Appropriation des Lehens. Und während so der sachliche Inhalt der Treuebeziehung zunehmend stereotypiert und [A 735]ökonomisiert wurde, verlor auch jene selbst zunehmend an Eindeutigkeit und praktischer Verwertbarkeit als Machtmittel. Ein Vasall, als freier Mann, konnte nach der später herrschenden Auffassung auch von mehreren Herren Lehen nehmen, und seine Unterstützung war dann für jeden von diesen im Konfliktsfall prekär.
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Gemeint ist die Doppel- und Mehrfachvasallität, die im westfränkischen Reich bereits seit dem 9. Jahrhundert, im deutschen Reich erst seit dem 11. Jahrhundert anzutreffen ist. Die Abschwächung des personalen Treueaspekts im Lehnsvertrag wie auch der Versuch, Benefizien anzuhäufen, hatten zur Folge, daß ein Lehnsmann bis zu 25 Lehnsherren haben konnte. Bei Loyalitätskonflikten mußte er einem der Lehnsherrn den Vorzug geben oder sich ganz der Fehde enthalten.
Man unterschied im französischen Lehensrecht das homagium simplex, den Lehenseid mit stillschweigendem Vorbehalt anderweit bestehender Pflichten[,] von dem homagium ligium, dem bedingungslosen Lehenseid, der, so zu sagen, die erste Hypothek auf die Lehenstreue gab, allen andern Pflichten vorging und also nur einem Herren geleistet werden konnte, und es war für die Entwicklung der Machtstellung des französischen Königtums von Bedeutung, daß es ihm gelang, von den großen Lehensfürsten die letztere Form zu erzwingen.
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Seit dem 11. Jahrhundert bewirkte in Frankreich die Tatsache, daß sich die Vasallen vermehrt vielen Herren hingaben, die Einführung der exklusiven oder „Iedig[en]“ Lehnsverbindung („homagium ligium“), die vor allem der König von seinen großen Lehnsfürsten verlangte. Die einfache Lehnsverbindung („homagium simplex“), die bald auch nicht mehr durch das ursprüngliche Ritual (Niederknieen, Handeinlegen, Lehnskuß) beschlossen wurde, begründete hingegen nur eine bedingte, z. B. unter dem Vorbehalt der Treue gegenüber einem früheren Herrn stehende, Lehnsverbindung. Vgl. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 299, Anm. 26), S. 25 ff., sowie zum „Homagialeid“ den Glossar-Eintrag, unten, S. 790.
Aber im übrigen ergab die Möglichkeit einer Mehrseitigkeit der Vasallenpflichten natürlich deren weitgehende Entwertung. Fast unmöglich wurde es schließlich, eine kontinuierlich funktionierende Verwal[410]tung mit Hilfe von Lehensleuten zu führen. Der Vasall hat an sich die Pflicht, dem Herren nicht nur mit der Tat, sondern auch mit Rat beizustehen. Aus dieser Pflicht pflegen die großen Hauptvasallen gern ein „Recht“ abzuleiten, mit ihrem Rat vor wichtigen Entschlüssen gehört zu werden[,] und dies auch durchzusetzen, da der Lehensherr auf die gute Stimmung des Lehensheeres angewiesen ist. Als Pflicht aber wurde die Beratungstätigkeit der Vasallen im Lauf der Zeit ganz ebenso begrenzt wie ihre Heerespflicht, sie war durchaus diskontinuierlich und deshalb vom Herren nicht zu einer konkreten Behördenorganisation verwertbar. – Für die Lokalverwaltung also gab der Lehensverband den lokalen Amtsträgern im Effekt eine erbliche Appropriation und Verbürgtheit ihrer Herrschaftsrechte, für die Zentralverwaltung aber stellte er dem Herren keine kontinuierlich verwertbaren Arbeitskräfte zur Verfügung und unterwarf ihn überdies sehr leicht der Notwendigkeit, in seinen Handlungen sich den „Ratschlägen“ der größten seiner Vasallen zu fügen, statt sie zu beherrschen. Unter solchen Umständen lag für alle mächtigen Vasallen die Versuchung, das Lehensband gänzlich abzustreifen, so außerordentlich nahe, daß nur die Tatsache erklärungsbedürftig ist, warum dies nicht häufiger vorkam, als es tatsächlich geschah. Der Grund dafür lag in der schon erwähnten
81
[410] Siehe oben, S. 397.
Legitimitätsgarantie, welche die Vasallen für ihren Besitz an Land und Herrschaftsrechten darin fanden, und an welcher
g
[410]A: für welche
auch der Lehensherr durch die, sei es auch höchst prekären Chancen, welche sein Recht, auch wo es fiktiv war, ihm
h
A: ihr
bot, mitinteressiert war. –
Das präbendal und feudal abgewandelte, patrimoniale politische Gebilde ist also, alles in allem, im Gegensatz zu dem System von generell durch objektive Ordnungen geregelten „Behörden“ mit ihren ebenso geregelten Amtspflichtenkreisen, ein Kosmos oder je nachdem auch ein Chaos durchaus konkret bestimmter subjektiver Gerechtsame
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„Gerechtsame“ waren im mittelalterlichen Recht vererbliche und veräußerliche Nutzungsrechte an Grundstücken.
und Pflichtigkeiten des Herren, der Amtsträger und der Beherrschten, die sich gegenseitig kreuzen und beschränken und unter deren Zusammenwirken ein Gemeinschaftshandeln entsteht, das mit modernen publizistischen Kategorien nicht konstruierbar und auf [411]welches der Name „Staat“ im heutigen Sinne des Wortes eher noch weniger anwendbar ist
i
[411]A: ist,
als auf rein patrimoniale politische Gebilde. Der Feudalismus stellt den Grenzfall in der Richtung des „ständischen“ im Gegensatz zum „patriarchalen“ Patrimonialismus dar.
Die ordnende Macht für die Gestaltung dieses Gemeinschaftshandelns ist, neben den für den Patrimonialismus allgemein charakteristischen: Tradition, Privileg, Weistum, Präjudiz, das Paktieren von Fall zu Fall zwischen den verschiedenen Gewaltenträgern, wie es für den „Ständestaat“ des Okzidents typisch war und geradezu sein Wesen ausmachte. Wie die einzelnen Lehen- und Pfründenbesitzer und die sonstigen Inhaber kraft fürstlicher Verleihungen appropriierter Gewalten diese kraft ihres verbürgten „Privilegs“ ausüben, so gilt auch die dem Fürsten verliehene Macht als dessen persönliches, durch die Lehens- und sonstigen Gewaltträger anzuerkennendes und zu verbürgendes „Privileg“, als seine „Prärogative“. Diese Privilegienträger nun vergesellschaften sich von Fall zu Fall zu [A 736]einer konkreten Aktion, welche ohne ihr Zusammenwirken nicht möglich wäre. Der Bestand eines „Ständestaates“ aber bedeutet lediglich: daß jenes infolge der kontraktlichen Verbürgtheit aller Rechte und Pflichten und der dadurch bedingten Unelastizität fortwährend unvermeidliche Paktieren ein chronischer Zustand geworden war, der unter Umständen durch eine ausdrückliche „Vergesellschaftung“ in eine gesatzte Ordnung gebracht wurde. Der Ständestaat entstand, nachdem einmal die Zusammenfassung der Lehensträger zu einer Rechtsgenossenschaft vorhanden war, aus sehr verschiedenen Anlässen, dem Schwerpunkt nach aber als eine Form der Anpassung der stereotypierten und daher unelastischen Lehen- und Privilegiengebilde an ungewöhnliche oder neu entstehende Verwaltungsnotwendigkeiten. Diese waren selbstverständlich in starkem Maße, wenn auch durchaus nicht immer, und rein äußerlich nicht einmal überwiegend, ökonomisch bedingt. Meist in mehr indirekter Weise: die außerordentlichen Bedürfnisse selbst entsprangen dem Schwerpunkt nach der politischen, speziell der militärischen Verwaltung. Die veränderte ökonomische Struktur, insbesondere die fortschreitende Geldwirtschaft, wirkte aber insofern mit, als sie eine Art und Weise der Deckung jener Bedürfnisse möglich machte und also, in Kampf und Konkurrenz mit anderen politischen Gebilden, auch auf[412]nötigte: – namentlich die Aufbringung beträchtlicher Geldsummen auf einmal –[,] denen die normalen Mittel der stereotypierten feudal-patrimonialen Verwaltungsstruktur nicht gewachsen waren. Dies meist schon wegen des bei dieser Herrschaftsstruktur geltenden Grundsatzes: daß ein jeder, der Herr wie alle anderen Gewaltenträger, die Kosten seiner, und nur seiner, Verwaltung aus seiner eigenen Tasche zu zahlen hat. Keinerlei Modus der Aufbringung jener besonderen Mittel war vorgesehen, also eine immer erneute Verständigung und zu diesem Zweck eine Vergesellschaftung der einzelnen Gewaltenträger in Gestalt eines geordneten korporativen Zusammentritts unvermeidlich. Eben diese Vergesellschaftung ist es, welche mit dem Fürsten sich vergesellschaftet oder Privilegierte zu „Ständen“ macht und damit aus dem bloßen Einverständnishandeln der verschiedenen Gewaltenträger und den Vergesellschaftungen von Fall zu Fall ein perennierendes politisches Gebilde entstehen läßt. Innerhalb dieses Gebildes haben dann aber die immer weiteren Evolutionen immer neuer sich aufzwingender Verwaltungsaufgaben die Entwicklung der fürstlichen Bürokratie hervorgerufen, welche ihrerseits bestimmt war, den Verband des „Ständestaats“ wieder zu sprengen. Dieser letzte Prozeß darf nun nicht allzu mechanisch so aufgefaßt werden: daß der Herr überall im Interesse der Erweiterung seiner Machtsphäre die konkurrierende Macht der Stände durch Entwickelung der Bürokratie zu brechen getrachtet hätte. Dies war unzweifelhaft und ganz naturgemäß eine, sehr oft die entscheidende Determinante der Entwicklung. Aber weder die einzige noch immer die ausschlaggebende. Vielmehr waren es gar nicht selten gerade die Stände, welche ihrerseits mit dem Verlangen an den Herrn herantraten, daß dieser dem infolge der allgemeinen ökonomischen und Kulturentwicklung, also durch sachliche Entwicklungsfaktoren, immer erneut entstehenden Verlangen von Interessenten nach immer neuen Leistungen der Verwaltung Genüge tue und diese insbesondere durch Schaffung geeigneter Behörden auf sich nehme. Jede Übernahme einer solchen Leistung durch den Herrn aber bedeutete Umsichgreifen des Beamtentums und damit normalerweise Steigerung der Macht des Herrn, zunächst in Form einer Renaissance des Patrimonialismus, welcher für die kontinentalen europäischen politischen Gebilde bis zur Zeit der französischen Revolution herrschend blieb, aber überall dem reinen Bürokratismus sich je länger je mehr annäherte. Denn überall drängte die Eigenart der neu über[413]nommenen Verwaltungsaufgaben zu Dauerbehörden, festen Kompetenzen, Reglement
j
[413]A: Reglement-
und Fachqualifikation.
Der Lehensverband und
k
Zu ergänzen wäre: der
„Ständestaat“ sind keineswegs unentbehrliche Mittelglieder in der Entwicklung vom Patrimonialismus zur Bürokratie, dem sie ja im Gegenteil unter Umständen erhebliche Hemmnisse entgegensetzen. Ansätze [A 737]zur echten Bürokratie finden sich vielmehr überall auch schon bei wenig komplizierten Formen der patrimonialstaatlichen Verwaltung, – wie ja der Übergang vom patrimonialen zum bürokratischen Amt überhaupt ein flüssiger ist und die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie nicht sowohl an der Art der einzelnen Amtsstellung, als vielmehr an der Art, wie überhaupt Ämter errichtet und wie sie verwaltet werden, zu erkennen ist. Allerdings aber sind der voll entwickelte Ständestaat sowohl wie die voll entwickelte Bürokratie allein auf europäischem Boden ursprünglich gewachsen, aus Gründen, welche wir erst später zu erörtern suchen werden
l
In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Die Ausführung dieser Absicht ist durch den Tod Max Webers verhindert worden.
.
83
[413] Eine Bezugsstelle fehlt. Es handelt sich vermutlich um das von Max Weber in der Einteilung zum „Grundriß der Sozialökonomik“ vom Juni 1914 angegebene Kapitel „8. d) Die Entwicklung des modernen Staates“ (GdS1, Abt. I, 1914, S. XI; MWG I/22-6 [[MWG I/24, S. 169]]).
Inzwischen befassen wir uns noch mit gewissen charakteristischen Zwischen- und Übergangsbildungen, welche innerhalb feudaler und patrimonialer Gebilde der reinen Bürokratie vorangingen.
Wir haben bisher der Einfachheit halber unterstellt, daß die politischen Angelegenheiten des Herren in der Zentralverwaltung rein patrimonial durch die früher erörterten Haus- und Hofbeamten
84
Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 285 f.
oder durch Lehensträger, welche ihrerseits patrimonial verwalten, erledigt werden. So einfach ist nun in Wahrheit die Struktur weder der patrimonialen noch der feudalen Herrschaft gewesen. Die Angliederung rein politischer Geschäfte an die Hausverwaltung hat, sobald sie das Stadium der „Gelegenheitsverwaltung“ durch Tischgenossen und Vertraute des Herrn verläßt, regelmäßig den Anlaß gegeben zur Entstehung spezifischer, eine Sonderstellung einnehmender Zentralämter und zwar meist eines einzelnen politischen Zentralbeamten. Dieser Beamte kann verschiedenen Charakter haben. Der [414]Patrimonialismus war, seinem Strukturprinzip entsprechend, der spezifische Ort der Entwicklung des „Günstlings“-Wesens: Vertrauensstellungen beim Herren mit ungeheurer Macht, aber stets mit der Chance plötzlichen, nicht sachlich, sondern rein persönlich motivierten Sturzes in dramatischen Peripetien sind ihm charakteristisch. Bei Entwicklung von spezifischen Formen eines politischen Zentralamts ist der in seinem Typus dem patrimonialen Prinzip am reinsten entsprechende Fall der, daß ein Hofbeamter, welcher nach seiner Funktion die am meisten rein persönliche Vertrauensstellung beim Herren einnimmt, formell oder faktisch auch die politische Zentralverwaltung leitet. So etwa der Hüter des Harems oder ein ähnlicher intim mit den persönlichsten Angelegenheiten des Herren befaßter Angestellter. Oder eine spezifisch politische Vertrauensstellung entwickelt sich dazu. In manchen Negerreichen ist in naturalistischer Art der sichtbare Repräsentant des Blutbanns, der Scharfrichter, ständiger und einflußreichster Begleiter des Fürsten.
85
[414] Eine Ehrenstellung hatte der Oberscharfrichter im Reich der Dahomé (Nordwestafrika), bei den Aschanti (Goldküste) und im Kongo. Vgl. Post, Afrikanische Jurisprudenz (wie oben, S. 177, Anm. 38), S. 256 f.; Max Weber stützt sich zur Beschreibung afrikanischer Verhältnisse explizit auf die Studie von Post (vgl. Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 108 mit Anm. 20).
Auch sonst pflegen mit Entfaltung der Banngewalt die richterlichen Funktionen des Fürsten in den Vordergrund zu rücken, und dann tritt oft ein dem fränkischen Pfalzgrafen entsprechender Beamter besonders hervor.
86
Das Amt des Pfalzgrafen (comes palatii regis) wurde im 6. Jahrhundert von den Merowingerkönigen eingerichtet. Der Pfalzgraf war für die Leitung der königlichen Hofhaltung zuständig und versah wichtige Funktionen in der Reichsverwaltung, wobei er allerdings mit dem Hausmeier schon seit Ende des 6. Jahrhunderts stark konkurrierte. In der Rechtsprechung des Reiches erlangte er eine bedeutende Stellung, als Karl der Große die Mehrzahl der am Königsgericht anfallenden Prozesse dem nun eingerichteten Pfalzgericht übertrug, zu dessen Vorsitzenden er den Pfalzgrafen ernannte. Vgl. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte II,24 (wie oben, S. 167, Anm. 18), S. 76 ff.
In militärisch aktiven Staaten ist es der Kronfeldherr und in Feudalstaaten der oft mit diesem identische, aber über die Lehen verfügende Beamte (Shogun,
87
Minamoto Yoritomo (1147–1199) war nicht nur der erste Shōgun, der vom japanischen Kaiser den Titel eines Kronfeldherrn, „Seii Taishōgun“ („die Barbaren unterwerfender Großfeldherr“) erhielt, sondern auch der erste, der sich die Lehnsvergabe aneignete. Er begann damit, für das Obereigentum des Kaisers an allen Ländereien, das seit 645 existierte, aber in Vergessenheit geraten war, Verleihungsbriefe auszustellen. De [415]facto verfügte damit der Shōgun und nicht der Kaiser in den nachfolgenden Jahrhunderten über die Lehnsvergabe. Vgl. Fukuda, Japan (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 91.
Hausmeier). Im Orient findet sich [415]ganz regelmäßig die Figur des „Großvezirs“; wir werden später noch sehen,
88
Siehe den Text „Erhaltung des Charisma“, unten, S. 560 f. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 375 mit Anm. 33.
aus welchem Grunde er dort eine „konstitutionelle“ Notwendigkeit ist, ganz ebenso wie der verantwortliche Ministerpräsident in modernen Staaten. Ganz allgemein läßt sich nur sagen: daß einerseits die Existenz einer solchen monokratisch einheitlichen Spitze für die Herrenstellung des Fürsten besonders dann gefährlich werden kann, wenn in der Hand des betreffenden Beamten die Verfügung über die ökonomische Ausstattung der Vasallen und Unterbeamten liegt, so daß er in der Lage ist, diese dem Fürsten gegenüber an seine eigene Person zu fesseln, – wie die bekannten Beispiele Japans und des Merowingerreichs zeigen.
89
Zu den japanischen Verhältnissen vgl. oben, S. 414 f., Anm. 87. Das merowingische Königsgeschlecht wurde im Jahre 751 durch seine Hausmeier, die später als Karolinger bezeichnet wurden, abgelöst. Pippin der Mittlere hatte 680 erstmals das gesamtfränkische Hausmeieramt erlangt und seit 687 die faktische Herrschaft im Merowingerreich ausgeübt. Vgl. dazu auch die Ausführungen oben, S. 340, Anm. 52, und S. 398, Anm. 56.
Andererseits aber pflegt das gänzliche Fehlen einer solchen einheitlichen Spitze regelmäßig die Konsequenz eines Zerfalls des Reiches zu haben, – wofür das Beispiel der Karolinger mit ihrer aus eigener Erfahrung erklärlichen Scheu vor der Schaffung eines zentralen Großamts lehrreich ist.
90
Das Karolingerreich zerbrach bereits unter den Enkeln Karls des Großen in der Mitte des 9. Jahrhunderts in drei Teilreiche; es hatte keine hundert Jahre Bestand.
Wir kommen bald auf die Art der Lösungen der dadurch gegebenen Probleme [A 738]zurück.
91
Der Bezug ist unklar. Ansätze zur Erläuterung des Problems finden sich unten, S. 416 f.
Die hier zunächst interessierende Erscheinung ist vornehmlich: daß infolge zunehmender Stetigkeit und Kompliziertheit der Verwaltungsarbeit, vor allem aber infolge der Entwicklung des den patrimonialen und feudalen Gebilden charakteristischen Verleihungs- und Privilegienwesens, und endlich als Folge steigender Rationalisierung der Finanzen, die Schreib- und Rechenbeamten eine steigende Rolle zu spielen beginnen. Ein Herrenhaushalt, dem sie fehlen, ist zur Unstetheit und Ohnmacht verurteilt. Je entwickelter das Schreib- und Rechenwesen, desto stärker, auch im reinen Feudalstaat (z. B. im normannischen England und im Osma[416]nenreich in der Zeit seiner stärksten Machtentfaltung)
92
[416] Zum anglo-normannischen Lehnsstaat vgl. die Ausführungen oben, S. 381, Anm. 4, und zum Osmanischen Reich oben, S. 394, Anm. 47.
die Zentralgewalt. Im antiken Ägypten beherrschten die Schreiber die Verwaltung.
93
„Schreiber“ war bereits im Alten Reich, d. h. im 3. Jahrtausend v. Chr., ein Titel für Beamte, die eine Ausbildung absolviert und mehrere Prüfungen abgelegt hatten. Sie konnten in der inneren Verwaltung die höchsten Stellen besetzen. Der Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Macht fiel in die Zeit des Neuen Reichs (1550–1070/69 v. Chr.). Vgl. Thurnwald, Altes Ägypten (wie oben, S. 206, Anm. 96), S. 706.
In Neupersien hatten die Rechenbeamten mit ihrer traditionsgeweihten Geheimkunst eine sehr erhebliche Rolle usurpiert,
94
Gemeint sind die „mestofi“, die seit dem 16. Jahrhundert durch Geheimschrift und soziale Abschließung ihre Machtposition ausbauten. Vgl. dazu oben, S. 215 mit Anm. 13.
im Okzident bildet meist der Kanzler, der Chef der Schreibstube, die zentrale Figur der politischen Verwaltung. Oder es ist das Rechenbüro, in der Normandie und später in England der Exchequer,
95
In der Normandie hieß die Finanz- und Schatzkammer „Échiquier“. Sie spielte im 12. Jahrhundert als oberste Reichsbehörde und Gerichtshof eine bedeutende Rolle. Der englische „Exchequer“ ist für die Zeit Wilhelms des Eroberers belegt. In der zeitgenössischen Literatur war es umstritten, ob es sich beim englischen Exchequer um eine direkte Übertragung der normannischen Institution des Échiquier gehandelt habe. Vgl. dazu Gneist, Englische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 180, Anm. 43), S. 177 ff.
der Keim, aus dem sich die ganze Zentralverwaltung entwickelt hat. Solche Ämter werden regelmäßig zugleich die Keime der Bürokratisierung, indem an Stelle der vornehmen Hofwürdenträger, die ihre offiziellen Träger waren, die eigentlichen Arbeitsbeamten, im Mittelalter meist Kleriker, die faktische Leitung gewinnen.
Von der Entstehung
m
[416]m–m(bis S. 418: nicht entwickelt. –) Petitdruck in A.
der großen kollegialen Zentralbehörden als einer Begleiterscheinung der qualitativen Erweiterung der Verwaltungsaufgaben ist schon früher, im speziellen Zusammenhang mit der steigenden Bedeutung des spezialisierten Fachwissens, welches zur Bürokratisierung drängt und als einer Vorstufe derselben die Rede gewesen
n
In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. oben S. 221–223.
.
96
Siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 221–228.
Natürlich sind keineswegs alle den Herren beratenden Körperschaften vorbürokratischer Staaten Vorstufen
o
A: Vorsteher
moderner Bürokratie gewesen. Die beratenden Versammlungen der Zentralbeamten finden sich vielmehr in den verschiedensten patrimonialen [417]und feudalen politischen Gebilden über die ganze Erde verbreitet. Sie dienen dem Herren oft als Gegengewicht, nicht – wie jene frühbürokratischen Bildungen – gegen die Macht des Fachwissens, sondern einfach gegen die Machtstellung des einzelnen Zentralbeamten, daneben aber als Mittel, Stetigkeit in die Verwaltung zu bringen. Insofern also sind sie überall Produkte einer gewissen Stufe qualitativer Entwicklung der Verwaltungsaufgaben und nehmen dann, bei immer weiterem Fortschreiten jener Entwicklung, um so mehr eine, jenen Erscheinungen des Frühbürokratismus ähnliche, Struktur: den Charakter einer in geregeltem Verfahren beschließenden kollegialen „Behörde“[,] an, je mehr die Ämterverfassung und die Art der Verwaltung der Beamten des Patrimonialstaats sich bürokratischem Charakter nähert: die Grenze ist hier ja durchaus flüssig, wie z. B. China und Ägypten zeigen. Zu unterscheiden sind sie als „Typus“, trotz aller natürlich auch hier vorhandenen Lückenlosigkeit der Übergänge, von denjenigen kollegialen Körperschaften, welche nicht kraft Auftrags der Herren, sondern kraft eignen Rechts (nach Art des „Rats
p
[417]A: „Rechts
der Alten“ oder einer Honoratiorenvertretung) Anteil an der Herrschaft nehmen und von denen später kurz die Rede sein soll.
97
[417] Der Bezug ist unklar. Ansätze finden sich im Text „Herrschaft“, oben, S. 141–144, und im Text „Bürokratismus“, oben, S. 224–226, und in Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 189 f. Vgl. auch den Editorischen Bericht, oben, S. 375, Anm. 33 und 34.
Denn diese liegen nicht auf der Weglinie vom Patrimonialismus zum Bürokratismus, sondern auf dem einer „Teilung“ der Gewalt zwischen dem Herren und andern Mächten, sei es „charismatischen“[,] sei es ständischen Charakters.
Die Beeinflussung der allgemeinen Kultur durch die patrimoniale oder feudale Struktur politischer Gebilde kann hier nicht abgehandelt werden. Patrimonialismus, am meisten der nicht stereotypierte, arbiträre Patrimonialismus einerseits, und Feudalismus andrerseits unterscheiden sich untereinander ganz außerordentlich stark auf dem Gebiet, welches überall die wichtigste Angriffsfläche für die Beeinflussung der Kultur durch die Herrschaftsstruktur bietet: dem der Erziehung. Dem Wenigen, was schon früher über deren Zusammenhang mit der Herrschaftsstruktur gesagt werden konnte,
98
Siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 229–233.
sind hier [418]nur einige allgemeine Bemerkungen darüber hinzuzufügen. Wo immer das Feudalsystem das Stadium der Entwicklung einer bewußt „ritterlich“ lebenden Schicht erreicht, da entsteht ein System der Erziehung zur ritterlichen Lebensführung mit allen seinen Konsequenzen: die hier nicht zu schildernden typischen Entfaltungen von bestimmten künstlerischen Kulturgütern (auf literarischem Gebiet wie dem der Musik und der bildenden Künste), als Mittel der Selbstverklärung und der Entwicklung und Erhaltung des Nimbus der Herrenschicht gegenüber den Beherrschten stellt die „musische“ Erziehung neben die zunächst vornehmlich militärisch-gymnastische, und es bildet sich jener in sich höchst vielgestaltige Typus der „Kultivations“-Erziehung aus, [A 739]welche den radikalen Gegenpol gegen die „Fachbildung“ der rein bürokratischen Struktur darstellt. Wo die Herrschaftsstruktur „präbendal“ organisiert ist, pflegt die Erziehung den Charakter der intellektualistisch-literarischen „Bildung“ anzunehmen, also in der Art ihres Betriebs dem bürokratischen Ideal der Beibringung von „Fachwissen“ innerlich nahe verwandt zu sein. So in besonders reiner Form in China und – wovon später zu reden sein wird
p
[418] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Unten S. 451.
99
[418] Siehe unten, S. 451 f., aber auch im Text „Umbildung des Charisma“, unten, S. 553 f.
– überall, wo die Theokratie die Bildung in die Hand nimmt. Dies letztere pflegt im höchsten Grade da der Fall zu sein, wo der weltliche Staat den Typus des arbiträren Patrimonialstaats an sich trägt und seinerseits eigne Erziehungssysteme gar nicht entwickelt.
m
m(ab S. 416: Von der Entstehung)m Petitdruck in A.

[Patrimoniale und feudale Strukturformen der Herrschaft in ihrem Verhältnis zur Wirtschaft.]
a
Leerzeile und Zwischenüberschrift fehlen in A. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 378 f.

Über allgemeine rein ökonomische Bedingungen der Entstehung patrimonialer und feudaler Gebilde ist nicht viel Bestimmtes zu sagen. Das Bestehen und die vorwaltende Bedeutung von fürstlichen und adligen Grundherrschaften ist zwar für ein Lehenswesen, voll entwickelt und in sehr geringer Eindeutigkeit, auch allgemeingültige Basis für alle Formen feudaler „Organisation“. Und das in seiner Art [419]konsequenteste patrimoniale politische Gebilde: der chinesische Beamtenstaat, ruht nicht auf der Basis von Grundherrschaften, sondern ist, wie wir sahen
b
[419] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 2) Vgl. S. 326 f.
,
1
[419] Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 326–328 und 333–335.
gerade infolge ihres Fehlens so geschlossen patrimonial geartet. Der Patrimonialismus ist mit Eigenwirtschaft und Verkehrswirtschaft, kleinbürgerlicher und grundherrlicher Agrarverfassung, Fehlen und Existenz kapitalistischer Wirtschaft vereinbar. Der bekannte marxistische Satz: daß die Handmühle ebenso den Feudalismus postuliere, wie die Dampfmühle den Kapitalismus,
2
In Auseinandersetzung mit Proudhons Schrift „Système des Contradictions économiques ou Philosophie de la Misère“ behauptete Karl Marx, daß neue Produktionsweisen eine Veränderung der sozialen Verhältnisse nach sich zögen. „Die Handmühle ergiebt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ Vgl. Marx, Das Elend der Philosophie, S. 91; es wird hier nach der deutschen Volksausgabe in der „Internationalen Bibliothek“ zitiert, die Max Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 16, bereits 1898 angeführt hatte.
ist nur allenfalls in seinem zweiten Teil begrenzt richtig. Auch dafür freilich nur begrenzt: die Dampfmühle fügt sich auch einer staatssozialistischen Struktur der Wirtschaft ohne weiteres ein. In seinem ersten Teil ist er aber gänzlich unrichtig: die Handmühle hat alle überhaupt denkbaren ökonomischen Strukturformen und politischen „Überbauten“ durchlebt. Und auch vom Kapitalismus im allgemeinen kann man nur sagen, daß er, weil seine Expansionsmöglichkeiten, aus gleich zu erörternden Gründen,
3
Siehe unten, S. 425–440.
unter feudalen und patrimonialen Herrschaftsformen begrenzt sind, eine Macht ist, deren Interessenten jene Herrschaftsformen regelmäßig, aber nicht unbedingt immer, zugunsten der Bürokratisierung oder einer plutokratischen Honoratiorenherrschaft zu ersetzen trachten. Auch dies gilt aber nur für den Kapitalismus modernen Gepräges innerhalb der Produktionssphäre, der auf rationalem Betrieb, Arbeitsteilung und stehendem Kapital ruht, während der politisch orientierte Kapitalismus ebenso wie der kapitalistische Großhandel mit dem Patrimonialismus ausgezeichnet verträglich sind. Wir haben ja gesehen,
4
Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 264–270.
daß eine starke verkehrswirtschaftliche Entwicklung, welche die Möglichkeit hinlänglicher Geldsteuern zum Ankauf von Sklavensoldaten oder zur Bezahlung von Söldnern bot, geradezu die Grundlage für [420]die Entwicklung des orientalischen Sultanismus gab, also der – an unserem okzidentalen „Rechtsstaat“ gemessen – modernen Staatsformen fernstgelegenen, streng patriarchalen Spielart von patrimonialer Herrschaft
c
[420] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 3) Vgl. S. 267–270.
. Ganz anders verhält sich dagegen zur Verkehrswirtschaft der Feudalismus. Für die Frage: ob Patrimonial- oder Feudalgebilde, ist allerdings eine allgemeine Formel ökonomischer Determination nicht zu finden, außer der Selbstverständlichkeit: daß die Grundherrschaft den Feudalismus in seinen verschiedenen Formen stark in der Entwicklung begünstigt. Wir sahen:
5
[420] Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 321–326 und 343.
die Rationalisierung der Wasserwirtschaft im alten Orient, der Umstand also: daß das Anbauland planvoll durch organisierte Untertanenfrohnden der Wüste abzugewinnen war, wirkte, ebenso wie die chinesische, umfassende Bautenpolitik, zugunsten halbbürokratischer politischer Patrimonialgebilde, die in beiden Fällen doch andererseits schon entstanden sein mußten, um jene Bauten zu ermöglichen. Im Gegensatz zu der Gewinnung des Neulands durch Waldrodungen in Nordeuropa, welche die Grundherrschaft und also den Feudalismus begünstigte.
6
Eine umfassende Rodung des einst dicht bewaldeten Raumes nördlich der Alpen setzte seit dem 10. Jahrhundert ein. Bis zu dieser Zeit stand der Boden des Reiches, der nicht Privateigentum war, im ideellen Eigentum des Königs (Bodenregal). Die Urbarmachung des Bodens und die Landnahme war daher mit einer Abgabe an den Fiskus verbunden. Als aber die Könige seit dem 10. Jahrhundert ihr Bodenregal nicht mehr durchzusetzen vermochten und „das Landrecht zersplittert in vielen Hunderten grundherrlicher Hände ruhte“, wurden die Grundherrschaften selbst zu den wichtigsten Unternehmern der nun verstärkt einsetzenden Rodungstätigkeit. Vgl. Lamprecht, Karl, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes, Band 1,1. – Leipzig: Alphons Dürr 1886, S. 132 f., Zitat: S. 109, sowie Inama-Sternegg, Karl Theodor von, Deutsche Wirthschaftsgeschichte bis zum Schluß der Karolingerperiode, Band 1. – Leipzig: Duncker & Humblot 1879, S. 216 f.
Doch hat dieser, wie wir sahen,
7
Siehe oben, S. 384–394.
auch im Orient, wenn auch in weit gebrocheneren Formen, seine Stätte gehabt. Im übrigen läßt sich allgemein [A 740]nur sagen: schwache Entwicklung der technischen Verkehrs- und also der politischen Kontrollmittel in Verbindung mit vorwaltender Naturalwirtschaft haben, infolge der Schwierigkeit, ein rationales Abgabensystem und damit die Vorbedingungen für eine zentralisierte Patrimonialbeamtenverwaltung durchzuführen, die [421]dezentralisierten Formen der Patrimonialgebilde: das Tributärsatrapentum, begünstigt und drängten dazu, das persönliche feudale Treueband und den feudalen Ehrenkodex als Kitt des politischen Zusammenhalts zu verwerten, wo immer dies möglich war, und das hieß: wo die Grundherrschaft die soziale Gliederung bestimmte.
Für die Entwicklung starker zentralisierter Patrimonialbürokratien dagegen, im Gegensatz gegen den Feudalismus[,] war sehr oft ein fester, von der Wissenschaft bisher immer wieder übersehener Faktor historisch wichtig: der Handel.
8
[421] Max Weber scheint sich hier der These Eduard Meyers über die Bedeutung des Handels und des Geldes anzuschließen, die Meyer exemplarisch an der Entwicklung der antiken Großreiche belegt hatte. Vgl. Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung (wie oben, S. 326, Anm. 13), S. 7 ff. Die Darstellung richtete sich insbesondere gegen die Ansichten von Johann K. Rodbertus und Karl Bücher, die für die Antike und frühe Gesellschaften von der „Oikenwirtschaft“ bzw. der geschlossenen Hauswirtschaft ausgegangen waren.
Wir sahen früher:
9
Siehe den Text „Patrimonialismus“. oben, S. 308 f.; dort mit einem Vorverweis.
die Machtstellung aller über den primitiven Dorfhäuptling hinausragenden Fürsten ruhte auf ihrem Schatz von Edelmetallen in roher oder verarbeiteter Form. Sie bedurften dieses „Horts“ in erster Linie zum Unterhalt des Gefolges, der Leibwachen, Patrimonialheere, Söldner und vor allem: der Beamten. Gespeist wurde der Schatz durch Geschenkaustausch mit anderen Fürsten – der tatsächlich oft den Charakter des Tauschhandels an sich trug – durch regulären Eigenhandel (speziell oft Küstenzwischenhandel) der Fürsten selbst, der zu einer direkten Monopolisierung des auswärtigen Güterverkehrs führen kann[,] oder endlich: durch anderweitige Nutzbarmachung des auswärtigen Handels für den Fürsten. Diese geschah entweder direkt in der Form der Besteuerung durch Zölle, Geleitsgelder und andere Abgaben, oder indirekt durch Marktkonzessionen und Städtegründungen: überall fürstliche Prärogative, welche hohe Grundrenten und steuerkräftige Untertanen lieferten. Diese letztere Art der Nutzbarmachung des Handels ist in historischer Zeit systematisch bis zu den zahllosen Städten, welche zuletzt noch beim Beginn der Neuzeit polnische Grundherren gegründet und mit den aus dem Westen auswandernden Juden besiedelt haben,
10
Im Zuge der östlichen Expansion Polens, vor allem nach der Lubliner Union von 1569, erwarben polnische Magnaten und Adelige Latifundien in der Ukraine und in Weißrußland. Sie gründeten eigene Städte und Dörfer, die sie mit Juden und Armeniern besiedelten. Den Juden räumten sie neben Steuerfreiheit und politischen Rechten auch [422]praktische Vorteile ein, so z. B. die Bereitstellung von Grundstücken oder Baumaterial für Synagogen. Die aus Spanien, Portugal, aber auch aus deutschen, österreichischen und böhmischen Städten vertriebenen Juden verfügten über organisatorische Fähigkeiten, die nicht nur für den Handel, sondern auch für die Verwaltung der neuerworbenen Gebiete unentbehrlich waren. Die galizischen Städte, wie z. B. Bolechów, Brody, Dukla, Zamošč, oder Dubno in Wolhynien waren private Gründungen, die noch im 18. Jahrhundert hauptsächlich mit Juden besiedelt waren. Vgl. Weinryb, Bernard D., The Jews of Poland. A Social and Economie History of the Jewish Community in Poland from 1100 to 1800. – Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1972, S. 107–118, 136 f., 147 f., und Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 246 f. mit Anm. 143.
unternommen wor[422]den. Wohl ist es eine typische Erscheinung: daß patrimoniale politische Gebilde bei einem im Verhältnis zu ihrer Fläche und Volkszahl relativ nur mäßig oder geradezu schwach entwickelten Handel fortbestehen und sich territorial ausdehnen: so China, das Karolingerreich. Aber die primäre Entstehung patrimonialer politischer Herrschaft, ohne daß Handel dabei eine erhebliche Rolle spielte, kommt zwar vor (das Mongolenreich, die Völkerwanderungsreiche), aber nicht häufig und fast immer so: daß Stämme, welche an Gebiete mit hochentwickelter Geldwirtschaft angrenzen, erobernd und Edelmetall raubend in diese einbrechen und auf ihrem Boden Herrschaften gründen. Das direkte Handelsmonopol des Fürsten findet sich über die ganze Welt hin verbreitet: In Polynesien ganz ebenso wie in Afrika und im antiken Orient. Noch in jüngster Zeit sind z. B. alle größeren politischen Bildungen an der westafrikanischen Küste infolge der Beseitigung des Zwischenhandelsmonopols der betreffenden Häuptlinge durch die Europäer zusammengebrochen.
11
Gemeint sind insbesondere die Reiche der Aschanti und Dahomé, deren Entstehung und Machtposition – so die These von Heinrich Schurtz – mit dem Sklavenhandel an der Guineaküste zusammenhing. Sie hatten bis ins 19. Jahrhundert den Handel der Kolonialmächte zwischen Küste und Binnenland kontrolliert. Ein Tausch von Handelsplätzen zwischen Engländern und Holländern 1871/72 führte zu kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die Aschantis unterlagen. Die Dahomé wurden 1851 und 1894 endgültig geschlagen. Vgl. Schurtz, Afrika (wie oben, S. 253, Anm. 17), S. 450–454, 478, sowie Cruickshank, Goldküste Afrika’s (wie oben, S. 336, Anm. 39), S. 167 f. (zitiert in: Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 108).
Die Standorte der meisten ältesten bekannten größeren patrimonialen politischen Bildungen hängen mit dieser Funktion des Handels eng zusammen.
Sehr oft erst sekundär ist dagegen die etwaige Sondermachtstellung der Fürsten als Grundherren. Selbstverständlich ist der erste Ausgangspunkt fürstlicher und adliger Machtstellung meist „grund[423]herrlich“ oder, für solche Gegenden, wo noch Bodenüberfluß besteht (wie in manchen Reichen der Gegend zwischen Kongo und Sambesi),
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[423] Zu den bedeutenden Staaten im Inneren Afrikas zwischen Sambesi und Kongo zählte Heinrich Schurtz das „Marutse-Mambunda-Reich“ sowie das Lunda-(oder Muata Jamwo-)Reich. Das erstgenannte beruhte auf Ausbeutung der unterworfenen Stämme, während das Lunda-Reich „in feudalem Geist“ verwaltet worden sei. Vgl. Schurtz, Afrika (wie oben, S. 253, Anm. 17). S. 460–465, Zitat: S. 463.
richtiger ausgedrückt: an Menschen- und Viehbesitz in der Art, daß er der rententragenden Ackerbearbeitung dient, geknüpft. Denn arbeitsloses Renteneinkommen ist selbstverständlich nötig für jene Lebensführung, welche den Fürsten und adligen Mann sozial erst schafft. Aber die Weiterentwicklung von da aus zu einer eine „Grundrente“ monopolisierenden Stellung ist außerordentlich oft durch Handelsgewinnste mitbedingt. Wo ein Fürst geradezu als Grundherr (nicht nur: als Oberlehnsherr) des ganzen Landes gilt – was auf den verschiedensten Kulturstufen sehr verbreitet ist, – da pflegt dies nicht Grundlage und Ausgangspunkt[,] [A 741]sondern umgekehrt: Folge seiner politischen Herrenstellung und der dadurch gegebenen Vorzugschancen im Erwerb beweglichen Besitzes: bei den Kaffern
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Bei den Kaffem (Bantu-Negerstämmen im Osten Afrikas) beanspruchte der König – neben den regulären Vieh- und Ernteabgaben – einen Anteil an der Jagdbeute und an jedem geschlachteten Ochsen. (Vgl. Post, Afrikanische Jurisprudenz (wie oben, S. 177, Anm. 38), S. 118, 275). Je mehr Frauen ein Kaffer besaß, um so höher war sein sozialer Status. Frauen wurden jedoch als Arbeitskräfte ausgenutzt. (Vgl. Spencer, Herbert, The Principles of Sociology, Vol. 1. – London: Williams and Norgate 1876, S. 687; hinfort: Spencer, Principles of Sociology). Pauschal äußerte sich Schurtz zum sozialen Stellenwert von Vieh-, Frauen- und Sklavenbesitz in Afrika. Vgl. Schurtz, Afrika (wie oben, S. 253, Anm. 17), S. 406.
Menschen-(Weiber-) und Viehbesitz, regelmäßig aber namentlich der durch Edelmetallbesitz bedingten ökonomischen Fähigkeit zur Haltung von patrimonialen Soldaten oder Söldnern zu sein. In Küstenstaaten pflegt es mit der monopolistischen Grundherrenstellung des Adels nicht anders zu stehen: Schuldknechte sind im hellenischen Altertum und wahrscheinlich auch im alten Orient ein wichtiger Bestandteil der bäuerlichen Arbeitskräfte.
14
Die Schuldknechtschaft – als zeitlich befristete Selbstverpfändung oder als Folge nicht gezahlter Schulden – wurde in Attika durch die solonischen Reformen (594/3 v. Chr.) abgeschafft. Die bäuerlichen Schuldknechte hießen Hektemoroi (Aristoteles, Athenaion politeia 2, 2). Bekannt war die Schuldknechtschaft auch in allen arischen und semitischen Völkern des Altertums, so z. B. in Babylon (vgl. oben, S. 248 f. mit Anm. 2). Zur Auflehnung der sumerischen und israelitischen Bauern gegen das Institut vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 107.
Von ihnen [424]läßt der stadtsässige Patriziat seine Äcker gegen Anteil an der Ernte bestellen, und direkte oder indirekte Handelsgewinnste geben dauernd die Mittel zur Boden- und Menschenakkumulation. In einem naturalwirtschaftlichen Milieu war selbst ein bescheidener Edelmetallschatz von außerordentlicher Bedeutung für die Machtstellung und Staatenbildung. Das änderte natürlich nichts daran, daß der Schwerpunkt der Bedarfsdeckung dabei in hohem Grade naturalwirtschaftlich bleiben konnte und meist blieb. Beides darf aber nicht durcheinander geworfen werden, wie es allzuoft geschieht,
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[424] Gegen die These Karl Büchers, der Tausch sei „ursprünglich ganz unbekannt“ gewesen (Bücher, Volkswirtschaft (wie oben, S. 11, Anm. 55), S. 59), hatte Eduard Meyer die Behauptung gesetzt, daß der Handel schon „in sehr primitiven Verhältnissen […] eine sehr große Rolle“ gespielt habe (Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung (wie oben, S. 326, Anm. 13), S. 7), ohne sich jedoch zu der Behauptung zu versteigen, daß damit auch schon die Basis der Bedarfsdeckung eine geldwirtschaftliche gewesen sei.
wenn man von der „Bedeutung“ des Handels in primitiven Zeiten spricht. – Eindeutig ist die ursächliche Bedeutung des Handels für die Prägung des politischen Verbandes gewiß nicht. Weder sind, wie schon gesagt,
16
Der Bezug ist unklar. Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 262–264, dort geht es um die Umwandlung der Oikenwirtschaft durch Geldwirtschaft und Handel, oder oben, S. 421 f., wobei es an dieser Stelle um die Bedeutung des Handels für die Weiterentwicklung patrimonialer politischer Gebilde geht, nicht aber um den Handel als Entstehungsbedingung.
schlechthin alle Anfänge patrimonialer Herrengewalt notwendig durch ihn bedingt, noch ist überall, wo Handel war, ein patrimoniales politisches Gebilde entstanden: auch Honoratiorenherrschaften waren sehr oft sein primäres Produkt. Aber der Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des einfachen Häuptlings zum Fürsten ist allerdings in einer sehr großen Zahl von Fällen durch ihn bedingt. Dagegen steht der Handel dem strengen Lehenssystem und den straffen Formen feudaler Hierarchie überhaupt im ganzen stark antagonistisch gegenüber. „Stadtfeudalismus“ eines grundherrlichen Patriziats hat er, vor allem im Mittelmeerbecken, in typischer Art geschaffen. Aber in Japan und Indien wie im Okzident und im islamischen Orient ist die Feudalisierung des politischen Verbandes mit geringer Entwicklung, oft mit Rückgang der Verkehrswirtschaft Hand in Hand gegangen. Dabei war nun allerdings das eine ebenso oft Ursache wie Folge des anderen. Im Okzident entstand Feudalismus als Folge von Naturalwirtschaft als einzig möglicher Form der Beschaf[425]fung eines Heeres, in Japan und in Vorderasien im Mittelalter umgekehrt. Woher stammt die letztere Erscheinung?
Beide Herrschaftsformen, aber der Feudalismus wesentlich stärker und typischer als der Patrimonialismus, können sehr energisch in der Richtung der Stabilisierung der Wirtschaft wirken. Der Patrimonialismus deshalb, weil unter seiner Herrschaft im allgemeinen nur die Großbeamten, deren Amtsführung sich einer stetigen Kontrolle des Herrn entzieht, die Chance schnellen und großen Vermögenserwerbs haben: so die Mandarinen in China.
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[425] Das Ausmaß der Bereicherungen der obersten chinesischen Beamten, die zugleich Steuerpächter in den Provinzen waren, beschrieb Isidor Singer im Zusammenhang mit anderen Mißständen in der Mandarinen-Verwaltung des chinesischen Kaiserreichs. (Vgl. Singer, Ostasien (wie oben, S. 59, Anm. 62), S. 24 f.). Er erwähnt dort das Beispiel eines Zollpächters in der Provinz Kanton, der im Laufe seiner dreijährigen Amtszeit ein Drittel der Provinzeinnahmen (umgerechnet ca. 1 Mio. Mark) für sich behalten habe. Max Weber rekurriert in seiner Konfuzianismus-Studie direkt auf dieses Beispiel. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 257, Fn. 1; dort findet sich auch der Hinweis des Bandherausgebers auf die Studie von Singer (ebd., Anm. 5).
Quelle der Akkumulation von Vermögen ist dabei nicht der Tauscherwerb, sondern die Ausnutzung der Steuerkraft der Untertanen, und die Nötigung für diese, innerhalb des weiten Bereichs freier Gnade und Willkür alle Amtsakte des Herrn wie der Beamten von Fall zu Fall zu erkaufen. Ihre Schranke findet andererseits die Macht des patrimonialen Beamten wesentlich nur an der Tradition, die zu verletzen auch für den mächtigsten gefährlich ist: Neuerungen, sachliche und persönliche, neue nicht traditionsgeweihte Klassen, neue traditionswidrige Erwerbs- und Betriebsarten sind daher durchaus prekär gestellt und mindestens der Willkür des Herrn und seiner Beamten völlig preisgegeben. Beides: Traditionsgebundenheit sowohl wie Willkür berührt nun insbesondere die Entwicklungschancen des Kapitalismus sehr tief. Entweder bemächtigen sich der Herr oder seine Beamten
d
[425]A: Beamte
selbst der neuen Erwerbschancen, monopolisieren sie und entziehen so der privatwirtschaftlichen Kapitalbildung den Nährboden. Oder die überall vorhandenen Widerstände des Traditionalismus finden an ihnen eine Stütze in der Hinderung ökonomischer Neuerungen, welche das soziale Gleichgewicht gefährlich erschüttern könnten oder auf religiöse und ethische Bedenken stoßen, die sie beachten müssen, weil ja die eigene Herrschaft des patrimonialen Herrschers [426]auf der [A 742]Heiligkeit der Tradition ruht. Andererseits kann der weite Bereich unreglementierter Herrenwillkür die traditionsbrechende Macht des Kapitalismus im Einzelfall auch sehr stark begünstigen, wie dies in der Zeit absoluter Fürstengewalt in Europa geschah. Freilich hatte – von anderen Besonderheiten dieser Art von privilegiertem Kapitalismus vorerst abgesehen – diese Fürstengewalt schon bürokratisch-rationale Struktur. In der Regel tritt dagegen die negative Seite der Willkür in den Vordergrund. Denn – das ist die Hauptsache: – es fehlt dort die für die Entwicklung des Kapitalismus unentbehrliche Berechenbarkeit des Funktionierens der staatlichen Ordnung, welche die rationalen Regeln der modernen bürokratischen Verwaltung ihm darbieten. Unberechenbarkeit und unstete Willkür höfischer oder lokaler Beamter,
e
[426]A: Beamten,
Gnade und Ungnade des Herrn und seiner Diener stehen
f
A: steht
an ihrer Stelle. Dabei kann sehr wohl ein einzelner Privatmann durch geschickte Benutzung der Umstände und persönlichen Beziehungen eine privilegierte Stellung erschleichen, welche ihm fast grenzenlose Erwerbschancen eröffnet. Aber ein kapitalistisches System der Wirtschaft ist dabei offenbar außerordentlich erschwert. Denn die einzelnen Entwicklungsrichtungen des Kapitalismus sind gegenüber solchen Unberechenbarkeiten von verschiedener Empfindlichkeit. Am relativ leichtesten weiß sich der Großhandel damit abzufinden und allen wechselnden Bedingungen anzupassen, und auch das eigene Interesse des Herrn gebietet, soweit er nicht selbst, wie in einfachen und übersehbaren Verhältnissen, den Handel monopolisiert, die Zulassung von Vermögensakkumulation, um Steuerpächter, Lieferungspächter und Anleihequellen zu besitzen. Schon die Zeit Hammurabis kennt daher den „Geldmann“,
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[426] Zur Zeit des babylonischen Königs Hammurabi (1728–1688 v. Chr., nach zeitgenössischer Forschung datiert auf ca. 2130–2088) war der „Geldmann“ (tamkarum) ein Geschäftsmann, Kaufherr und Geldverleiher. Meist ließ er seine Geschäfte durch reisende Agenten (samallûm) ausführen, denen er Geld vorstreckte oder Waren zum Verkauf übergab. Weber stützt sich hier auf die von Kohler und Peiser edierte „wörtliche“ Übersetzung des zwischen 1897 und 1899 aufgefundenen Gesetzestextes. Vgl. Kohler, Josef, Ernst Felix Peiser, Hammurabi’s Gesetz, Band 1: Übersetzung. Juristische Wiedergabe. Erläuterung. – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1904, bes. S. 27–35 et passim (hinfort: Hammurabi’s Gesetz I); zum Begriff: Kohler, Josef, Arthur Ungnad, Hammurabi’s Gesetz, Band 2: Syllabische und zusammenhängende Umschrift nebst vollständigem [427]Glossar. – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1909, S. 176, 171, die entsprechenden Gesetzesstellen: ebd., S. 34–43.
und die Bildung von Handelskapital ist überhaupt unter [427]fast allen denkbaren Bedingungen der Herrschaftsstruktur, wenn auch in verschiedenem Umfang, möglich, speziell auch im Patrimonialismus. Anders der industrielle Kapitalismus. Er bedeutet, wo er zur typischen Form des Gewerbebetriebs werden soll, eine Organisation der Arbeit mit dem Ziel des Massenabsatzes und hängt an der Möglichkeit sicherer Kalkulationen, und zwar um so mehr, je kapitalintensiver, speziell je gesättigter mit stehendem Kapital er wird. Er muß auf die Stetigkeit, Sicherheit und Sachlichkeit des Funktionierens der Rechtsordnung, auf den rationalen, prinzipiell berechenbaren Charakter der Rechtsfindung und Verwaltung zählen können. Sonst fehlen jene Garantien der Kalkulierbarkeit, welche für den großkapitalistischen Industriebetrieb unentbehrlich sind. Sie fehlen ganz besonders stark in Patrimonialstaaten von geringer Stereotypierung, wie sie umgekehrt im Optimum innerhalb des modernen Bürokratismus vorhanden sind. Nicht der Islam als Konfession der Individuen hinderte die Industrialisierung. Die Tataren sind im russischen Kaukasien oft sehr „moderne“ Unternehmer.
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Welche Informationen Max Weber bei dieser Aussage zu Grunde lagen, konnte nicht ermittelt werden. Die These von der Anpassung des Islam an moderne Kulturbedingungen hat Ignaz Goldziher in seinen „Vorlesungen über den Islam“ vertreten und dort neben Indien vor allem die „unter russischer Herrschaft stehenden Tataren“ genannt. Damit meinte er allerdings ihr Streben nach besserer Ausbildung und den Freiheitskampf der kaukasischen Völker unter muslimischer Führung, nicht aber ihre unternehmerischen Leistungen. Vgl. Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 81), S. 313 ff., Zitat: S. 313. Nach einer Studie des Armeniers B. Ischchanian, die auf den Zahlen der russischen Volkszählung von 1897 beruhte, waren die Tataren mit 1,5 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Volksgruppe im Kaukasus und zugleich die einflußreichste „unter allen mohammedanischen Elementen“. Ihr Anteil am industriellen Sektor belief sich nur auf 6,0 %, im Handel sogar nur auf 3,6 %. Der Autor stützte damit seine These von der industriell-kapitalistischen Vorrangstellung der Armenier und sah in den Tataren – im Gegensatz zu Max Weber – die Repräsentanten der alten agrarisch-feudalen Strukturen. Vgl. Ischchanian, B., Nationaler Bestand, berufsmäßige Gruppierung und soziale Gliederung der kaukasischen Völker. Statistisch-ökonomische Untersuchungen. – Berlin, Leipzig: G. J. Göschen 1914, Zitat: S. 7, Prozentangaben: S. 68.
Sondern die religiös bedingte Struktur der islamischen Staatengebilde, ihres Beamtentums und ihrer Rechtsfindung.
Diese negative, den Kapitalismus hemmende Wirkung der Willkür im arbiträren Patrimonialstaat kann nun aber noch verschärft werden durch eine bisher fast ganz übersehene positive Konsequenz, die [428]sie, unter sonst geeigneten Bedingungen, gerade bei entwickelter Geldwirtschaft haben kann. Im Gefolge der Labilität aller Rechtsgarantien auf dem Boden patrimonialer Justiz und Verwaltung kann eine besondere Art künstlicher Immobilisierung von Vermögen eintreten. Ihr weitaus wichtigstes Beispiel sind ein gewisser Typus byzantinischer Klosterstiftungen und die in offenbarer Anlehnung an diese Rechtsform entstandenen Wakufs des islamitischen Mittelalters.
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[428] Max Weber meint hier vermutlich die sog. Charistikarier-Klöster, die um die Wende des 10. Jahrhunderts entstanden und im 11./12. Jahrhundert in Byzanz vorherrschend waren. Sie beruhten auf kaiserlichen oder privaten Gründungen mit einem zumeist karitativen Stiftungszweck. Der Besitz der Klosterstiftungen war unantastbar, d. h. jedem Zugriff von Kirche und Staat entzogen. Ein direkter Beleg für die von Weber geäußerte These über den Zusammenhang der byzantinischen Institution der Charistikarier-Klöster und den islamischen Stiftungen (Wakuf) ließ sich jedoch nicht finden (dem entspricht die etwas vorsichtigere Formulierung Webers, unten, S. 628). In der Islamwissenschaft hatte jedoch Carl Heinrich Becker die Herkunft der Wakuf-Institution aus dem arabischen Recht bestritten und auf mögliche griechische Vorbilder hingewiesen (vgl. Becker, Waqfinstitution (wie oben, S. 61, Anm. 80), S. 404 f.). Innerhalb seines Fachs vertrat er damit eine Außenseiterposition, der sich Max Weber hier anzuschließen scheint.
Der fragliche Typus der byzantinischen Klosterstiftungen sieht im Schema z. B. so aus: gestiftet werden Terrains, in einem Fall z. B. Baugelände in Konstantinopel, dessen Wert und Ertrag durch eine zu gewärtigende Hafenanlage gewaltig steigen wird.
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Die nachfolgenden Ausführungen (bis unten, S. 430, Zeile 1) beruhen wegen der von Weber erwähnten Details ganz offensichtlich auf einer Spezialstudie (vgl. Nissen, Waldemar, Die Diataxis des Michael Attaleiates von 1077. Ein Beitrag zur Geschichte des Klosterwesens im byzantinischen Reiche. Inaugural-Dissertation an der Universität Jena. – Jena: Frommannsche Hof-Buchdruckerei 1894; hinfort: Nissen, Diataxis). Diese behandelt ausführlich die Stiftungsurkunde (Diataxis) des byzantinischen Rechtsgelehrten Michael Attaleiates aus dem Jahr 1077. Attaleiates wurde wahrscheinlich unter Konstantin X. Dukas (1059–1067) zum kaiserlichen Richter ernannt (ebd., S. 25). Die Urkunde bezieht sich auf ein Kloster in Konstantinopel (in Marktnähe) und eine mit ihm verbundene Armenanstalt. Die finanzielle Basis für das Kloster und die Armenfürsorge boten ausgedehnte Besitzungen in Thrakien und Mazedonien, vor allem in und bei der Hafenstadt Rhaedestos (antikes Bisanthe, heutiges Rodosto). Nissen betonte, mit welcher Umsicht der geschäftstüchtige Jurist Attaleiates Grundstücke in der Hafengegend von Rhaedestos (nicht: von Konstantinopel, wie Weber meint) erwarb, um darauf Mietshäuser zu errichten, „die ihm einen immer steigenden Gewinn abwarfen. Denn mit der wachsenden Ausdehnung ihres Handels ließen sich namentlich die Venetianer im XI. Jahrhundert mehr und mehr an diesem Mittelpunkte des thracischen Getreidegeschäfts nieder […].“ (Ebd., S. 24).
Das gestiftete Kloster hat einer bestimmt begrenzten Anzahl Mönche ihre fest begrenzten Präbenden zu leisten, einer fest begrenzten Anzahl Armer [429]ebenfalls fest begrenzte Almosen zu verabfolgen,
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[429] Die Stiftungsurkunde gibt an, daß langfristig sieben Mönche – in der Anfangszeit wegen der beschränkten Mittel jedoch nur fünf – mit Tagegeldern und Naturalien ausgestattet werden sollten. Für die Armenanstalt in Konstantinopel war vorgeschrieben: „Verteilungen von Geld und Brot an dem Thore des Hauses; tägliche Speisung von 6 Armen; Lieferung von Getreide an 18 würdige Arme, je 12 Scheffel jährlich.“ Ebenso war das Gehalt für den Verwalter (Oekonomos) festgelegt sowie die Aufwendungen für Gottesdienste und Feste. (Ebd., S. 40–45, 120; Zitat: S. 40).
wozu noch die sonstigen Verwaltungsausgaben kommen. Der gesamte Überschuß der Klostereinnahmen über die Kloster[A 743]ausgaben aber fällt an die Familie des Stifters.
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Die Diataxis des Michael Attaleiates sah vor, daß nach Abzug aller Ausgaben ein Drittel der Einkünfte an die „Anstaltskasse“ und zwei Drittel an die Familie des Stifters abzuführen seien. Vgl. Nissen, Diataxis (wie oben, S. 428, Anm. 21), S. 41.
Es ist klar, daß in dieser letzteren Bestimmung der eigentliche Zweck der Stiftung liegt: in der Form der Klostergründung, in Wahrheit ein sakral geschütztes, insbesondere, als Klostergut, gegen den Zugriff der weltlichen – und das hieß der patrimonial-bürokratischen – Gewalten geschütztes Familienfideikommiß mit voraussichtlich steigenden Einkünften. (Nebenher erreicht der Stifter noch den Zweck, das Wohlgefallen Gottes und der Menschen zu erringen und, unter Umständen, seiner Familie Einfluß auf die Besetzung der Mönchspfründen und also Gelegenheit zu Gefälligkeiten an einflußreiche Familien
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Die Urkunde sah eigens die Aufnahme von „Männer[n] der höheren Stände von gutem Charakter“ und von „Blutsverwandten des Stifters“ vor (ebd., S. 42, 44).
– denn die Mönchspräbenden waren oft tatsächlich so gut wie pflichtlose Sinekuren für Konstantinopeler Garçons, da nicht nur Klausur, sondern auch Residenzpflicht fehlte
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Hier thematisiert Max Weber die Auswüchse des sog. Charistikarierwesens, auf die Nissen ebenfalls zu sprechen kommt (ebd., S. 63). Oft nutzte der an der Spitze des Klosters stehende Charistikarios (meist ein Adeliger) Mönche und Einkünfte ausschließlich für eigene Zwecke aus. Ein Teil der Klöster hatte die Verpflichtung, Laien durch eine Klosterstelle zu unterhalten, was durch die rein formale Aufnahme in das Kloster geschah, jedoch für den Betreffenden keinerlei Bindungen an das Klosterleben mit sich brachte. Diese Einrichtung heißt „Adelphaton“. Einer der schärfsten Gegner der Mißbräuche des Charistikarierwesens war der Patriarch von Antiochien Johannes IV. Oxeites (Patriarch ca. 1089–1110), der die Dekadenz des Mönchtums und seiner Ideale dem Laieneinfluß zuschrieb. Vgl. Beck, Hans-Georg, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich. – München: C. H. Beck 1959, S. 136 f., sowie Chalandon, Ferdinand, Essai sur le règne d’Alexis Ier Comnène (1081–1118). – Paris: A. Picard et fils 1900, S. 282 ff.; dort mit einer auszugsweisen Wiedergabe der Kritik des Johannes.
– und auch Einfluß auf die Art der Verwaltung einer Fami[430]lienkapelle zu sichern).
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[430] Der Unterhalt des Erbbegräbnisses sowie die Abhaltung von Gedenkfeiern für die Verstorbenen der Stifterfamilie war Teil der von Nissen behandelten Klostersatzung (Nissen, Diataxis (wie oben, S. 428, Anm. 21), S. 39, 44).
Das Ganze
g
[430]A: ganze
war eine Art von geldwirtschaftlichem Surrogat für das „Eigenkirchenwesen“ des feudalen Okzidents. Es scheint, daß Stiftungen in ganz ähnlicher Form schon unter der altägyptischen Patrimonialherrschaft vorkommen.
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Wie Max Weber in seinem Handwörterbuchartikel „Agrarverhältnisse im Altertum“ bereits ausgeführt hatte, enthielten ägyptische Grabinschriften des dritten Jahrtausends v. Chr., die nach Ansicht der französischen Forscher Moret und Boulard eventuell sogar noch früher zu datieren seien, Hinweise auf religiöse Stiftungen. Die Stifter – meist Getreue des Pharaos – gaben Land an Priestergemeinschaften mit der Auflage, den Grabesdienst zu erfüllen. Die Erblichkeit des Beneficiums war an die Ausübung dieser Funktion gebunden. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 83 f.; dort der Hinweis auf Moret, Alexandre und Boulard, Louis, Donations et fondations en droit égyptien, in: Recueil de travaux relatifs à la philologie et à l'archéologie égyptiennes et assyriennes, tome 29, 1907, S. 57–95.
Genau die gleiche Erscheinung findet sich jedenfalls im mittelalterlichen Islam als „Wakuf“ (Stiftung für Moscheen u. dgl.) wieder, wie es die Urkunden bezeugen.
28
Die Urkunden waren meist in verkürzter Form als Inschriften an den jeweiligen Stiftungsgütern angebracht, um diese zu schützen. Vgl. auch die nachfolgende Anmerkung (unten, S. 431, Anm. 29).
Und zwar wurden auch damals gerade Objekte, welche Geldwert, und zwar steigenden, tragen: Baugrund, Ergasterien (vermietbare Werkstätten) gestiftet, ganz ohne Zweifel zu dem gleichen Zweck und aus dem gleichen Grunde: weil die Weihe zum Kirchengut, wenn auch keine absolute Sicherheit, so doch das Optimum von Garantie gegen die willkürlichen Eingriffe der weltlichen Beamtenschaft bot. So wirkt die Willkür und Unberechenbarkeit der patrimonialen Herrschaft ihrerseits dahin, das Gebiet sakralrechtlicher Gebundenheit zu verstärken. Und da andererseits die theoretische Starrheit und Unabänderlichkeit der Scharī’a
h
A: Scharî’a
in ihrer subjektiven und oft ganz unberechenbaren Interpretation durch die Richter ihre „Korrektur“ fand, so steigerten sich die beiden der Entwicklung des Kapitalismus gleich feindlichen Bestandteile des Patrimonialismus gegenseitig. Denn daß die höchst nachhaltige Immobilisierung akkumulierten Besitzes in Gestalt der Wakufgebundenheit – ganz dem Geist der antiken Wirtschaft entsprechend, welche akkumuliertes Vermögen als Rentenfonds, nicht als Erwerbskapital benutzte – für die ökonomische Entwicklung des Orients von [431]sehr großer Bedeutung gewesen ist, nimmt C[arl] H[einrich] Becker sicher mit Recht an.
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[431] Carl Heinrich Becker vertrat die These, daß das Wakuf-System „einer der Hauptgründe für den wirtschaftlichen Niedergang des Orients“ gewesen sei. Vgl. dessen Aufsatz, Zur Kulturgeschichte Nordsyriens im Zeitalter der Mamlūken, in: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients, Band 1, 1910, S. 93–100, Zitat: S. 95. Es handelt sich um eine Besprechung einer Inschriften-Publikation, die Wakuf-Bestimmungen aus Urkunden und Erlassen Nordsyriens vom 8. bis 10. Jahrhundert wiedergab.
(Durch spanische Vermittlung ist dann das, wahrscheinlich eine säkularisierte Nachbildung des Wakuf bildende, Institut des profanen „Fideikommisses“, welches dort zuerst auftaucht, im 17. Jahrhundert nach Deutschland importiert worden.)
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Durch die Herrschaft der muslimischen Umaiyaden auf der Iberischen Halbinsel (756–1012/31) könnte die Wakuf-Institution nach Spanien gelangt sein. – Eine Thematisierung dieses Zusammenhangs findet sich in der zeitgenössischen Literatur indes nicht. – Entstanden ist das Majorat in Form eines Familienstammguts mit Primogenitur im 13. Jahrhundert in Kastilien. Über Italien und Österreich gelangte es im 17. Jahrhundert nach Deutschland. Die Aufdeckung dieser romanistischen Rechtstradition bei den Familienfideikommissen ging in der zeitgenössischen Forschungsdiskussion auf die Studie von Pfaff, Leopold und Hofmann, Franz, Excurse über österreichisches allgemeines bürgerliches Recht. Beilagen zum Commentar, Band 2, 3. Heft. – Wien: Manz 1884, S. 277–315, zurück.
Und endlich war dem Patrimonialismus gerade auf dem Boden einer relativ entwickelten Geldwirtschaft und speziell in Epochen, wo er sich einem rationalen bürokratischen System stark annähert, noch eine Art der Einwirkung auf die ökonomische Entwicklung eigen, die aus der Form seiner Bedarfsdeckung folgte. Wie der „Patrimonialstaat“ sich leicht in ein Bündel von Privilegien auflöste, so lag ihm auch einerseits die monopolistisch-erwerbswirtschaftliche, andererseits die privilegierende Bedarfsdeckung (im früher besprochenen Sinn des Wortes)
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Siehe Weber, Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen, MWG I/22-1, S. 98–100.
besonders nahe. Mit Hilfe eines gut funktionierenden Patrimonialbeamtentums ließen sich alle Arten fiskalischer Unternehmungen und Monopole besonders leicht durchführen. Sowohl der ägyptische wie der spätrömische Staat und die Staaten des nahen und fernen Ostens haben in teilweise sehr umfassender Weise Staatsbetriebe geschaffen und auch Monopole ausgenutzt, und die Regiegewerbe von Fürsten der beginnenden Neuzeit liegen in dieser Richtung. Die erwerbswirtschaftliche öffentliche Bedarfsdeckung ist keineswegs auf den Patrimonialismus beschränkt geblieben: auch die Kommunen haben im Mittelalter und im Beginn der Neuzeit [432]sich, oft mit großen Verlusten (so Frankfurt a.M.),
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[432] Max Weber meint hier den Ankauf großer Teile des Mansfelder Kupferbergwerks in Eisleben durch den Rat der Stadt Frankfurt im Jahr 1554. Allerdings erwies sich das Engagement als Verlustgeschäft, da der Rat über die finanziellen Verbindlichkeiten der Gesellschaft zuvor getäuscht worden war. Vgl. Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Band 1. – Frankfurt a.M.: Hermann Minjon 1910, S. 298 ff., sowie Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 243 mit Anm. 139.
auch an recht gewagten gewerblichen oder Handelsunternehmungen von reinem Erwerbscharakter beteiligt. Aber der Wirkungsradius von Monopolen für die öffentliche Erwerbswirtschaft war bei Patrimonialstaaten, allgemein gesprochen, naturgemäß größer und daher die öffentlichen Monopole [A 744]im ganzen häufiger und tiefer eingreifend. Aber oft noch stärker konnte die privilegierende Bedarfsdeckung in die Wirtschaft eingreifen. Die negativ privilegierende Bedarfsdeckung, das Leiturgiewesen, ist gerade von den rationalsten patrimonial-bürokratischen Großstaatgebilden der Antike: Ägypten und, nach seinem Vorbild, der spätrömischen und byzantinischen Monarchie in umfassendster Art durchgeführt worden. Die ägyptische Wirtschaft der Pharaonenzeit gewann dadurch einen eigentümlich „staatssozialistischen“ Einschlag,
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Als „une sorte de socialisme d'Etat“ hatte Eugène Revillout das auf dem gesamten Land lastende Abgabensystem beschrieben, von dem es nur gesonderte und zeitlich befristete Ausnahmen gegeben hätte. Ausgeprägt sei es unter den Pharaonen von der 4. bis zum Ende der 12. Dynastie (ca. 2639/2589–1794/93 v. Chr.) und den Ramessiden (1292–1070/69 v. Chr.) gewesen. Vgl. Revillout, Eugène, Précis du droit égyptien comparé aux autres droits de l’antiquité, 1er tome. – Paris: V. Giard & E. Brière 1903, S. 6, 79 f. (erwähnt bei Weber, Agrarverhältnisse3, S. 184). Seine Fortsetzung fand das System in der spätrömischen origo-Lehre. Vgl. dazu oben, S. 325 mit Anm. 10.
verbunden mit einer periodisch ziemlich weitgehenden zünftlerischen und, in gewissen Zeiten, auch grundherrlichen erblichen Berufs- und Schollengebundenheit, und hat diesen Zug auf die spätrömische übertragen.
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Erich Ziebarth ging der Frage von Berufsverbänden und Handwerkergilden in Ägypten zur Zeit der Ptolemäer nach. Er zog Verbindungslinien von der „altägyptischen Rechtssitte“ des Zunftzwangs „mit seinen zunftartig abgeschlossenen Kasten“ zu den staatlich anerkannten Zünften der späteren Zeit. Vgl. Ziebarth, Erich, Das griechische Vereinswesen (Preisschrift der Fürstlich Jablonowski'schen Gesellschaft zu Leipzig, Band 34). – Leipzig: S. Hirzel 1896, S. 100 f., sowie deren Erwähnung in: Weber, Agrarverhältnisse3, S. 172 und 186.
Es ist klar, daß dadurch die private Kapitalbildung und der kapitalistische Erwerbsspielraum stark verengert wurden. Neben und statt dieser, die Kapitalbildung und also den Privatkapitalismus erstickenden Art der öffentlichen Bedarfsdeckung liegt aber im Patrimonialismus auch die positiv pri[433]vilegierende, in der Form der Konzessionierung von privilegierten Handels- oder Gewerbemonopolen an Private gegen hohe Gebühren oder Gewinnanteil oder feste Rente. Derartiges findet sich in sehr vielen Patrimonialstaaten der Vergangenheit auf der ganzen Erde. Die letzte und bedeutendste Rolle aber hat es im Zeitalter des „Merkantilismus“ gespielt, als die erwachende kapitalistische Organisation des Gewerbes, die bürokratische Rationalisierung der patrimonialen Herrschaft und die steigenden Geldansprüche der äußeren, militärischen und inneren Verwaltung die Revolutionierung der Finanzgebarung der europäischen Staaten herbeiführten. Überall und in den mannigfachsten Formen versucht die Fürstengewalt, die der Stuarts und Bourbonen ebenso wie die theresianische, katharinische, friederizianische, durch monopolistische Industriezüchtung sich selbst Geldeinnahmen, und zwar von der Bewilligung der Stände unabhängige Geldeinnahmen, in den ständischen und parlamentarischen Staaten oft direkt als politisches Kampfmittel gegen sie, zu schaffen. Die charakteristischen Züge des patrimonialstaatlichen Kapitalismus – und die Bürokratie des „aufgeklärten Despotismus“ ist noch ebenso stark patrimonial[,] wie es die Grundauffassung vom „Staat“, auf der er ruhte, überhaupt war – sind auch hier eingetreten, wie namentlich H[ermann] Levy
i
[433]A: Lenz
neuerdings an dem großartigsten Beispiel: dem England der Stuarts, hübsch gezeigt hat.
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[433] Hermann Levy hat in zwei Büchern die Monopolpolitik der Stuarts sowie die heftige Reaktion des Parlaments gegen sie dargestellt. Es handelt sich um: Levy, Monopole. Kartelle und Trusts in ihren Beziehungen zur Organisation der kapitalistischen Industrie. Dargestellt an der Entwicklung in Großbritannien. – Jena: Gustav Fischer 1909, und Levy, Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft. – Jena: Gustav Fischer 1912. Obwohl die Materialbasis in beiden Büchern nahezu identisch ist, spricht jedoch einiges dafür, daß sich Max Weber auf die Ende 1912 erschienene Schrift bezieht, da sie den weltanschaulichen Kampf zwischen bürgerlichem Liberalismus und sozialstaatlichem Autoritarismus pointierter faßt (Levy, Ökonomischer Liberalismus, S. 18 ff.) und – im Gegensatz zur Monographie von 1909 – den Zusammenhang von Monopol- und Wohlfahrtspolitik der Stuarts thematisiert, wie er unten S. 435 (mit Anm. 39) von Weber angesprochen wird. Die Studie von 1912 fügt Max Weber übrigens bei der Erörterung des gleichen Sachverhalts in die Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“ 1920 ein. Vgl. Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 17–206, insbes. S. 73, Fn.1 und S. 201 f., Fn. 1 (hinfort: Weber, Protestantische Ethik, 1920).
Dort bildete die Frage der „Monopole“ einen der Hauptgegenstände im Kampfe zwischen der nach finanzieller Unabhängigkeit vom Parlament und [434]nach rational-bürokratischer Organisation des gesamten Staatswesens und der Volkswirtschaft als eines cäsaropapistischen „Wohlfahrtsstaates“ strebenden Königsmacht einerseits und den im Parlament zunehmend maßgebenden Interessen der aufsteigenden bürgerlichen Klassen andrerseits.
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[434] Als Höhepunkt des Streits zwischen Krone und Parlament um die Frage der Monopolgewährung nennt Levy, Ökonomischer Liberalismus, S. 22, 32, die „großen Monopoldebatten“ der Jahre 1597 und 1601, in denen sich Francis Bacon und Robert Cecil Burleigh als Verteidiger der Monopolpolitik von Elisabeth I. nicht gegen die Mehrheit des Unterhauses durchsetzen konnten.
Mitglieder und Günstlinge der königlichen Familie, Personen aus der Hofgesellschaft, reich gewordene Militärs und Beamte, daneben Großspekulanten und abenteuernde Erfinder nationalökonomischer „Systeme“ vom Typus Laws (außerhalb Englands vielfach auch Juden)
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Die Aktivitäten des Schotten John Law werden vor allem mit dem Zusammenbruch der französischen Finanzen im Jahr 1720 verbunden. Er hatte durch die mit königlicher Privilegierung gegründete französische Notenbank und durch seine Beteiligung an der Compagnie d’Occident, der sog. „Mississippikompagnie“, zu viele und nicht gedeckte Banknoten und Wechsel in Umlauf gebracht, was zur Inflation und dann zur Wirtschaftskrise führte. Außer zwei frühen Schriften zur Reformierung des schottischen Handels- und Banksystems von 1700 bzw. 1705 hat er aber keine nationalökonomische Theorie hinterlassen, weshalb in der Literatur nur vom „sogenannten System“ John Laws gesprochen wurde. Vgl. insbes. den Artikel von Adler, A[braham], Law, John, in: HdStW3, Band 6, 1910, S. 417–421, sowie Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 109, der auf Samuel Bernhard, den Finanzmann Ludwigs XIV. und Vorgänger Laws in der französischen Fondsspekulation, hinwies und somit den Einfluß jüdischer Finanzexperten am französischen Königshof hoch veranschlagte.
sind auch damals die ökonomischen „Interessenten“ der vom König verliehenen Monopole auf der auf Grund dieser importierten, gezüchteten und geschützten Industrien.
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Bei Levy, Ökonomischer Liberalismus, S. 21 f., heißt es: „Auch die höfische Umgebung Karl[s] I. war aufs engste mit der Monopolgewährung und Monopolspekulation verknüpft. Hochgestellte Lords, verabschiedete Generäle und Admirale nutzten ihre Konnektionen zur Krone für die Erlangung von Ausschlußrechten und Konzessionen aus […].“ So wurde z. B. der ehemalige Admiral Robin Manzell Glashüttenunternehmer, Sir Walter Raleigh Inhaber des Zinnmonopols, der Günstling von Elisabeth I., Sir Thomas Barlett, Financier des Stecknadelmonopols oder Lord Stirling Mitunternehmer am Biberhutmonopol. Während in England die Juden seit Eduard I. im Jahre 1290 vertrieben worden waren und erst unter Cromwell mehr oder weniger offiziell wieder zugelassen wurden, hatten sie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in vielen europäischen Königreichen und Fürstentümern als Geldgeber, vor allem als Heereslieferanten, eine Monopolstellung inne und waren insbesondere am Aufbau des Kolonialhandels beteiligt. Vgl. dazu Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 49 ff.
Es ist der Versuch, den vom Staat lebenden Kapitalismus, wie er im Altertum und Mittelalter des Ostens und Westens mit [435]nur kurzen Pausen überall immer wieder existiert hat, auf das Gebiet der modernen Industrien zu übertragen. Sicherlich ist dadurch der „Unternehmungsgeist“, für den Augenblick wenigstens, oft stark gefördert, oft geweckt worden. Der Versuch selbst mißlang aber im wesentlichen: sowohl die stuartischen wie die ludovizianischen, petrinischen, friederizianischen Manufakturen haben nur zum allerkleinsten Teil und für Spezialitäten die Periode ihrer Züchtung überdauert. In England brach mit dem autokratischen Wohlfahrtsstaat der Stuarts auch die imperative Monopolindustrie zusammen.
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[435] Hermann Levy vertrat die hier geäußerte These, daß der königliche Wirtschaftsdirigismus mit der Armenfürsorge der Jahre 1604 bis 1640 Hand in Hand ging. (Vgl. Levy, Ökonomischer Liberalismus, S. 75). Die Existenz der von den Stuarts geförderten Industrien, wie z. B. die verfeinerte Glasindustrie, die Stecknadelfabrikation, der Salzbergbau oder die Alaungewinnung, beschränkte sich auf denselben Zeitraum (ebd., S. 98).
Weder die Colbertsche noch die friederizianische oder petrinische Periode haben ihre Länder zu Industriestaaten zu machen vermocht. Die Nichtberücksichtigung der gegebenen Standortsverhältnisse, in England und auch sonst vielfach die qualitative Mangelhaftigkeit der monopolgeschützten Produkte und die Hemmung der durch die Markt[A 745]lage indizierten Richtung der Kapitalverwertung waren das ökonomische, die Unsicherheit der rechtlichen Basis infolge der stets unsicheren Dauerhaftigkeit der Monopole gegenüber stets möglichen Neuprivilegierungen: also wieder der Willkürcharakter der patrimonialen Herrschaftsform, welche nun einmal den gewerblichen Privatkapitalismus hemmt, das politisch bedingte Schwächemoment. –
Abweichend von dieser den modernen Kapitalismus teils direkt fördernden, teils ablenkenden Wirkung des Patrimonialismus ist die Wirkung der feudalen Ordnung auf die Wirtschaft. Während der Patrimonialstaat das ganze Gebiet der freien Gnade des Herren als Beuteland für Vermögensbildung zur Verfügung stellt, der Bereicherung des Herrschers selbst, seiner Hofbeamten, Günstlinge, Statthalter, Mandarinen, Steuereinheber, Vermittler und Verkäufer von Gnadenerweisen aller Art, der großen Händler und Geldbesitzer als Steuerpächter, Lieferanten, Kreditgeber, freie Hand gewährt überall da, wo nicht Traditionsgebundenheit oder Stereotypierung feste Grenzen ziehen, und während dabei Gnade und Ungnade des Herrn, Privilegien und Konfiskationen fortwährend Vermögensneubildun[436]gen provozieren und wieder vernichten, – wirkt die feudale Herrschaftsstruktur mit ihren fest umschriebenen Rechten und Pflichten im allgemeinen stabilisierend nicht nur auf das wirtschaftliche System als Ganzes, sondern auch auf die individuelle Vermögensverteilung. Zunächst schon durch den Grundcharakter der Rechtsordnung. Der feudale Verband und auch die ihm nahestehenden ständisch stereotypierten Patrimonialgebilde bilden eine Synthese von lauter konkreten Rechten und Pflichten individuellen Inhalts. Sie konstituieren, wie ausgeführt wurde,
40
[436] Siehe oben, S. 404–408.
einen „Rechtsstaat“ auf der Basis nicht „objektiver“ Rechtsordnungen, sondern „subjektiver“ Rechte. An Stelle eines Systems abstrakter Regeln, bei deren Innehaltung jedem die Freiheit des Schaltens mit seinen ökonomischen Mitteln eröffnet ist, steht hier ein Bündel wohl erworbener Rechte Einzelner, welches die Freiheit des Erwerbs auf Schritt und Tritt hemmt und seinerseits nur wieder auf dem Wege der Verleihung konkreter Privilegien, – wie sie den ältesten Manufakturschöpfungen durchweg zugrunde liegen, – dem kapitalistischen Erwerb Raum gibt. Dieser erhält zwar dadurch eine Unterlage, die weit stetiger ist als die stets arbiträr wandelbare persönliche Gnade des patriarchalen Patrimonialismus, immerhin aber, da ältere erworbene Rechte unberührt bleiben, stets die Gefahr der Anfechtung der erteilten Privilegien in sich schließt. Noch mehr aber hemmen die spezifisch ökonomischen Grundlagen und Konsequenzen des Feudalismus die kapitalistische Entwicklung. Das zu Lehen vergebene Land wurde immobilisiert, weil normalerweise unveräußerlich und unteilbar, denn an dem Zusammenhalt des Besitzes hängt die Fähigkeit des Vasallen, die schuldigen Dienste zu leisten, ritterlich zu leben und seine Kinder standesgemäß zu erziehen. Nicht selten ist den Vasallen sogar für ihren privaten Grundbesitz die Veräußerung verboten oder, z. B. durch Verbot der Veräußerung an Nichtstandesgenossen[,] beschränkt worden (so z. B. auch in Japan den Dienstmannen – Gokenin – des Shogun).
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„Gokenin“ waren die „Hausmannen“ oder direkten Vasallen des Shōgun. Als gemeine Fußsoldaten, z. T. mit kleineren Verwaltungsposten, bildeten sie die unterste Stufe des Krieger-Standes. (Vgl. Yoshida, Staatsverfassung (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 67). Im Jahre 1239 wurde ihnen – so Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 23 f., Anm. 2 – verboten, ihren Privatbesitz an Nicht-Gokenin zu verkaufen.
Und da die Einkünfte aus dem verliehenen, aber [437]normalerweise nicht selbst, und jedenfalls nicht kapitalistisch, bewirtschafteten Lande von der Prästationsfähigkeit der Bauern abhängen, setzt sich innerhalb der Grundherrschaft die Bindung von Besitz und Wirtschaftsführung nach unten zu fort. Seit der Durchführung des Feudalismus in Japan beginnen dort die Verbote der Parzellierung, die Verkaufsverbote, – um Latifundienbildung zu hemmen – und die Verbote, die Scholle zu verlassen:
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[437] Im „Jōei-Kodex“ von 1232, der ersten Kodifikation des gewohnheitsmäßig geübten Feudalrechts in Japan, waren bereits Bestimmungen über die Unveräußerlichkeit und Erblichkeit des Lehnsbesitzes enthalten. Das Lehen durfte nur ungeteilt an einen einzigen Erben – zumeist den erstgeborenen Sohn – vererbt werden; die Parzellierung des Lehnsbesitzes wurde dadurch unterbunden. (Vgl. Fukuda, Japan (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 101–104). Nach Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 519, unterlagen die Grundbesitzer in Japan Dispositionsbestimmungen, die zum einen die Leistungsfähigkeit der Bauern erhalten und zum anderen die Latifundienbildung verhindern sollten. Dies geschah unter der Tokugawa-Regierung durch Teilungs- und Verkaufsverbote. Den Bauern war es verboten, die Stelle zu verlassen, was im 13. Jahrhundert noch erlaubt war und am Ende der Tokugawa-Herrschaft auch wieder weniger streng geahndet wurde.
alles im Interesse der Erhaltung der Prästationsfähigkeit der Bauern durch Schutz der bestehenden „Nahrungen“. Daß im Orient genau die gleiche Entwicklung stattgefunden hat, ist bekannt genug. Diese Bindungen und die feudale Struktur überhaupt sind nun zwar keineswegs notwendig – wie wohl gesagt worden ist
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In Anlehnung an die nationalökonomische Stufentheorie wurde die Naturalwirtschaft mit der mittelalterlichen Feudalgesellschaft ineinsgesetzt sowie umgekehrt die Geldwirtschaft mit der Stadt und dem aufkommenden Bürgertum. Durch diese Gegenüberstellung wurde die Rolle des Bürgertums bei der Überwindung des Feudalstaates stark betont. Zur Wirkung dieses Erklärungsmodells vgl. Knies, Karl, Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpuncte, 2. Aufl. – Braunschweig: C. A. Schwetschke und Sohn 1883, S. 377.
– der Geldwirtschaft feindlich. Auch Zölle, Geldabgaben und geldtragende Hoheitsrechte, darunter namentlich die Gerichtsgewalt, wurden als Lehen verliehen. Wo die Bauern ökonomisch dazu imstande waren, war der Grundherr sehr geneigt, ihre Dienste in Geldabgaben umzu[A 746]wandeln, wie dies schon früh in England geschah.
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Dieser Vorgang setzte in England – so Hatschek – seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ein. Neben die Ablösung der gutsbäuerlichen Dienste und Pflichten trat die Landflucht der Hörigen, so daß die klassische Form der Grundherrschaft durch ein Verpachtungssystem abgelöst wurde. Vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 191, Anm. 66), S. 177 f.
Und wo sie dazu ökonomisch nicht imstande sind, neigt er zum Übergang in Fronbetrieb, also direkt zur Erwerbswirtschaft. Überall, wo er konnte, hat der feudale Grund[438]herr oder politische Herr versucht, durch Veräußerung der Überschüsse seiner Naturalrenten zu Gelde zu kommen. Die japanischen Daimyos hatten, nach Rathgens Schilderung, ihre Agenturen in Osaka in erster Linie zum Verkauf von Reisüberschüssen.
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[438] Nach Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 38, hatte jeder Daimyō während der Tokugawa-Herrschaft (1603–1867) einen Agenten in Osaka, der für den Verkauf des „Steuer-Reises“ sowie für andere Geld- und Warengeschäfte zuständig war.
Und in großartigstem Maßstabe hat der Deutsche Ordensstaat – ein von gemeinsam lebenden Mönchsrittern, deren Lehensmannen die ländlichen Gutsbesitzer waren, rational bewirtschaftetes Gemeinwesen – durch seine Verkaufskontore in Brügge sich am Handel beteiligt:
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Der Deutsche Ordensstaat entstand im 13. Jahrhundert auf dem Gebiet der unterworfenen heidnischen Prussen sowie weiterer Eroberungen und wurde mit aus Deutschland angeworbenen Bauern und Adeligen besiedelt, die der strikten Verwaltung der Ordensritter unterstanden. Spätestens seit dem Ende des 13. Jahrhunderts ging der Orden zum Eigenhandel über und stieg im 14. Jahrhundert zu einer bedeutenden Handelsmacht auf. Organisiert wurde die Ausfuhr und der Handel mit Getreide, Bernstein, Kupfer, Pelzen und Wachs durch die beiden Großschäffereien des Ordens in Königsberg und Marienburg. Diese unterhielten in Flandern, dem damals wichtigsten Umschlagsgebiet für den nordwesteuropäischen Handel, eigene Lieger, d. h. bevollmächtigte Handelsvertreter. Der Umfang der über Brügge laufenden Geschäfte des Ordens war durch die Edition der überlieferten Rechungsbücher für die Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert dokumentiert worden. Vgl. Sattler, Carl, Handelsrechnungen des Deutschen Ordens. – Leipzig: Duncker & Humblot 1887.
der Gegensatz gegen die preußischen Städte, Danzig und Thorn vor allem, welche zum Abfall dieser zu den Polen und zum Verlust Westpreußens für das Deutschtum führten,
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Die sechs preußischen Städte, die Mitglieder der Hanse waren, unterstanden dem Deutschen Orden als ihrem Landesherrn. Der Orden nutzte seine politische Vorrangstellung und bedrängte dadurch die Städte in ihrem „Nahrungs- und Erwerbsspielraum“. (Vgl. Werminghoff, Albert, Der Deutsche Orden und die Stände in Preußen bis zum zweiten Thorner Frieden im Jahre 1466. – München, Leipzig: Duncker & Humblot 1912, Zitat: S. 18). Im Kampf um ihre Selbständigkeit gingen die Städte ein Bündnis mit den unzufriedenen Adeligen ein und suchten den Schutz der Könige von Polen und Litauen. Der Orden wurde 1410 und schließlich 1466 besiegt, konnte aber in der Zwischenzeit seine Oberhoheit über die preußischen Städte wiederherstellen und ließ die Bürgermeister von Danzig und Thorn wegen ihres Abfalls hinrichten. Im zweiten Thorner Frieden kam Westpreußen beiderseits der Weichsel (außer Marienwerder) mit Marienburg, dem Hauptsitz des Ordens, unter polnische Herrschaft.
hatte ja seinen Grund wesentlich in dieser Konkurrenz der Gemeinwirtschaft des Ordens gegen das Bürgertum und in der handelspolitischen Interessengemeinschaft des polnischen, Getreide absetzenden Adels im Hinterland mit dem städtischen Zwischenhandel gegenüber den Monopolansprüchen des Ordens. Aber keineswegs nur Absatz eigener Grundrentenbezü[439]ge, sondern natürlich ebenso auch beliebiger anderer Produkte konnte den Gegenstand des feudalherrlichen Außenhandels darstellen. Der feudale Grundherr oder politische Herr kann erwerbswirtschaftlicher Produzent oder Kreditgeber sein, wie dies ebenfalls bei den Daimyos der Fall war.
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[439] Karl Rathgen, auf den sich Weber hier offensichtlich stützt, spricht von den „wirtschaftlichen Unternehmungen“ der Daimyō, die durch Privilegien und Darlehen vom Shōgunat unterstützt worden seien. Der Daimyō ist in diesem Fall Kreditnehmer und nicht Kreditgeber, wie Weber schreibt, Vgl. Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 38.
Die feudalen Grundherren haben nicht selten mit Hilfe ihrer hörigen Arbeitskräfte Gewerbebetriebe, grundherrliche Hausindustrien[,] namentlich aber, z. B. in Rußland,
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Aufgrund des Adelsprivilegs, Leibeigene halten zu dürfen, gründeten russische Gutsherrn vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – als Reaktion gegen die staatliche Förderung der nicht-adeligen Fabrikunternehmer unter Peter d.Gr. – auf ihren Besitzungen gutseigene Betriebe, in denen sie ihre leibeigenen Bauern als Fronarbeiter einsetzten. Die Bauern übten diese Zwangsarbeit nur widerwillig aus, wurden oft mit Gewalt diszipliniert und wie Sträflinge behandelt. Erst durch die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 wurden die Reste dieses Systems beseitigt. Wie der russische Wirtschaftshistoriker Tugan-Baranowsky schrieb, wußte man wenig über das Ausmaß der sog. Erbguts- oder Adeligenfabriken, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Großteil der unfreien Arbeiterschaft vor allem in der Tuch-, Stahl- und Gußeisenfabrikation beschäftigten. Vgl. Tugan-Baranowsky, Michail Ivanovič, Geschichte der russischen Fabrik (Socialgeschichtliche Forschungen, hg. von Stephan Bauer und Ludo Moritz Hartmann, Heft 5). – Berlin: Emil Felber 1900, S. 120–128.
auch Fronfabriken geschaffen. Die patrimoniale Grundlage des Feudalismus ist also durchaus nicht identisch mit Gebundenheit an Naturalwirtschaft. Allein zum Teil eben deshalb ist sie eine Hemmung der Entfaltung der modernen Form des Kapitalismus als Wirtschaftssystem.
j
[439]A: Wirtschaftssystems.
Diese hängt an der Entwicklung der Massenkaufkraft für Industrieprodukte. Die oft sehr schweren Abgaben und Leistungen der Bauern an die Grundherren oder auch feudalen Gerichtsherren konfiszieren aber einen bedeutenden Teil ihrer Kaufkraft, welche den Markt für das Gewerbe hätte bilden helfen. Die dadurch auf der anderen Seite entstehende Kaufkraft der Grundherren aber kommt nicht den Massenartikeln, von denen der moderne gewerbliche Kapitalismus vornehmlich lebt, sondern Luxusbedürfnissen, vor allem aber der Haltung einer rein konsumtiv verwendeten persönlichen Dienerschaft zugute. Die grundherrlichen Gewerbebetriebe ferner ruhen auf Zwangsarbeit. Sie und überhaupt die Zwangsdienste des stets mit unbezahlten Arbeitskräften, daher mit Menschenver[440]schwendung fungierenden grundherrlichen Haushalts und Gewerbebetriebs entziehen die Arbeitskräfte dem freien Markt und verwenden sie zum erheblichen Teil in nicht kapitalbildender, gelegentlich in kapitalverzehrender Form. Soweit jene Gewerbebetriebe mit dem städtischen Gewerbe auf dem Markt konkurrieren können, entspricht die Billigkeit oder geradezu Unentgeltlichkeit der Arbeitskräfte, welche dies eventuell ermöglicht, einem entsprechenden Ausfall der Entwicklung von Massenkaufkraft aus Lohnerträgen. Soweit sie auf dieser Basis dennoch infolge technischer „Rückständigkeit“ nicht frei konkurrieren können, – und dies ist die Regel –, sucht der Grundherr das städtische Gewerbe durch Repressionsmaßregeln der politischen Gewalt in der kapitalistischen Entwicklung zu hemmen. Ganz allgemein liegt aber der feudalen Schicht die Neigung nahe, die Vermögensanhäufung in bürgerlichen Händen entweder zu unterbinden oder mindestens den entstandenen Neureichtum sozial zu deklassieren. Dies ist in besonders starkem Maße im feudalen Japan geschehen, wo schließlich, vor allem im Interesse der Stabilisierung der sozialen Ordnung, der gesamte Außenhandel fest und eng kontingentiert war.
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[440] Seit 1639 war den Kaufleuten, die zur untersten Gesellschaftsklasse gehörten, der freie Zugang zum Außenhandel verwehrt. Er stand unter der Kontrolle der Shōgunatsregierung. Erst 1853/54 ging Japans zweihundertjährige Abschließungspolitik (Sakokurei) zu Ende. Vgl. Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 41.
In irgendwelchem Grade aber findet Ähnliches sich überall wieder. Andererseits bildet das soziale Prestige der Grundherren für den sich entwickelnden Neureichtum einen Anreiz, erworbenes Vermögen nicht kapitalistisch werbend zu verwerten, sondern in Grundbesitz anzulegen, um möglichst in den Adel aufzusteigen. Dies alles hemmt die Bildung von Erwerbskapital, [A 747]eine für das Mittelalter, namentlich das deutsche, in hohem Maße typische Erscheinung.
Wenn so der Feudalismus die moderne kapitalistische Entwicklung bald stärker, bald schwächer hemmt oder ablenkt und daneben ganz allgemein auch durch seinen stets stark traditionalistischen Zug die allen Neubildungen mißtrauisch gegenüberstehenden autoritären Mächte stärkt, – so ist andererseits die, gegenüber dem nichtstereotypierten Patrimonialstaat immerhin weit größere, Stetigkeit der Rechtsordnung ein Element, welches der kapitalistischen Entwicklung, in freilich sehr verschiedenem Grade, zugute kommen kann. [441]Wo nicht die Unterbindung der bürgerlichen Vermögensbildung so weit
k
[441]A: soweit
geht wie in Japan,
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[441] Ein Bürgertum im europäischen Sinne gab es Japan nicht. Die städtischen Bewohner wurden in der Tokugawa-Zeit als „chōnin“ bezeichnet; zu ihnen gehörten u. a. die Kaufleute. Grund- oder Hausbesitz wurde den „chōnin“ nahezu unmöglich gemacht, da er mit aufwendigen Verpflichtungen für Nachbarschaft und Verwaltung verbunden war. Den Kaufleuten wurde 1643 der Erwerb von Land gesetzlich verboten. Sie unterlagen zusätzlich willkürlichen Akten der Regierung. Vgl. Rathgen, Japans Volkswirtschaft, S. 519; Hall, Japanisches Kaiserreich (wie oben, S. 114, Anm. 92), S. 202; Japan-Handbuch, hg. von Hammitzsch, Horst, in Zusammenarbeit mit Lydia Brüll. – Wiesbaden: Franz Steiner 1981, Sp. 378–383 (hinfort: Japan-Handbuch).
wird diese zwar verlangsamt werden, aber was dadurch, namentlich gegenüber dem jähen Entstehen (und: Vergehen) von Erwerbschancen für den Einzelnen[,] gegenüber dem Patrimonialstaat verloren wird, kann eventuell in Gestalt einer langsameren und stetigeren Entwicklung der Entstehung eines rationalen kapitalistischen Systems als solchen zugute kommen und sein Eindringen in die Lücken und Fugen des feudalen Systems befördern. Die Chance individuellen hazardartigen Vermögenserwerbs war namentlich in den nordischen Ländern des okzidentalen Mittelalters ganz gewiß weitaus geringer als für die Beamten und Staatslieferanten des Assyrer- oder des Khalifenreichs und der Türkei oder für die chinesischen Mandarinen, spanischen und russischen Staatslieferanten oder Staatskreditoren. Aber gerade weil diese Art von Chancen fehlte, strömte das Kapital nun in die Kanäle rein bürgerlichen Erwerbes im hausindustriellen Verlag und in den Manufakturen. Und je erfolgreicher sich die feudale Schicht gegen das Eindringen des entstehenden Neureichtums abschloß, je mehr sie ihn von der Teilnahme an den Ämtern und der politischen Gewalt ausschloß und ihn sozial deklassierte, ihm den Erwerb von adligem Grundbesitz unterband, desto mehr drängte sie diese Vermögen in die Bahn rein bürgerlich-kapitalistischer Verwertung.
Der patriarchale Patrimonialismus ist darin ganz wesentlich duldsamer. Zwar selbständige, für ihn unangreifbare ökonomische und soziale Machtstellungen liebt der Patrimonialfürst nicht, und eben deshalb begünstigt er den rationalen Betrieb auf dem Boden der Arbeitsorganisation, also des Gewerbes, nicht. Aber ständische Schranken der Erwerbs- und Verkehrsfreiheit, die er ja selbst als unbequeme Hemmungen seiner Macht empfindet, begünstigt er auch im Ver[442]hältnis der „Untertanen“ zueinander – außer wo leiturgische Bindungen bestehen – keineswegs. So hat im Ptolemäerreich volle ökonomische Verkehrsfreiheit und durchgeführte Geldwirtschaft bis in den letzten Haushalt hinein bestanden,
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[442] Für das Ptolemäerreich ist eine Verkehrssteuer („Enkyklion“) belegt, mit der alle Veränderungen im mobilen und immobilen Besitzstand belastet wurden. Daraus lassen sich Rückschlüsse über den Grad der Verkehrsfreiheit ziehen. Ulrich Wilcken bewies durch die von ihm ausgewerteten Tonscherben und privaten Wirtschaftsbücher, daß die ägyptischen Einzelhaushalte vom dritten vorchristlichen bis zum dritten nachchristlichen Jahrhundert keine autarken Wirtschaftseinheiten waren, sondern zuerst auf Tausch und dann zunehmend auf Geld angewiesen waren. Einkäufe und Steuerzahlungen wurden in Geld abgewickelt. Vgl. Wilcken, Ostraka (wie oben, S. 173, Anm. 31), S. 182 f., 674–679, sowie dessen Erwähnung in: Weber, Agrarverhältnisse3, S. 126 f. und 187.
trotzdem aber die volle patrimoniale Herrengewalt des Königs und seine persönliche Göttlichkeit, ganz wie in den Zeiten des pharaonischen Staatssozialismus,
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Vgl. dazu die Erläuterungen, oben, S. 432, Anm. 33.
weiterbestanden und tiefgehende praktische Wirkungen geübt. Inwieweit nun ferner der Patrimonialismus in seiner Stellung zum Privatkapitalismus mehr eigenmonopolistische und also kapitalfeindliche oder mehr direkt kapitalprivilegierende Züge an sich trägt, hängt von verschiedenen Gruppen von Umständen ab. Die wichtigsten sind zwei, beide von politischer Art. Einerseits die mehr ständische oder mehr patriarchale Struktur der patrimonialen Herrschaft. Im ersteren Fall ist der Fürst in der freien Entwicklung gerade von Eigenmonopolen unter sonst gleichen Bedingungen naturgemäß gehemmter. Daß trotzdem der Okzident in der Neuzeit sehr zahlreiche Eigenmonopole der Patrimonialfürsten gesehen hat, weit stärkere als z.Β. in China, in der Neuzeit wenigstens, bestanden haben, ist richtig, ebenso aber auch, daß die meisten von ihnen nur in Form von Verpachtung oder Konzessionierung an Kapitalisten, also privatkapitalistisch, genutzt wurden, und ferner, daß die Eigenmonopole hier eine höchst wirksame Reaktion der Beherrschten hervorriefen, wie sie in dieser Stärke bei streng patriarchaler Herrschaft schwer möglich gewesen wäre, obwohl allerdings der Staatsmonopolismus – wie auch die chinesische Literatur zu bestätigen scheint
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Vermutlich meint Max Weber hier die Proteste des Historikers und Literaten Ssu-ma Kuang (1019–1086) gegen die Versuche von Kanzler Wang An-shih, Staatsmonopole auch für Handel, Bankwesen und Gewerbe einzuführen. Isidor Singer, der diese Zeit als „staatssocialistische Ära Chinas“ beschrieb, nannte insbesondere die Mandarine als [443]Boykotteure dieser Monopolisierungsversuche. Vgl. Singer, Ostasien (wie oben, S. 59, Anm. 62), S. 13 ff., Zitat: S. 15, sowie Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 246.
– überall das [443]gleiche Odium, aber meist den Haß der Konsumenten, [A 748]nicht, wie im Okzident, der (bürgerlichen) Produzenten trägt. Der zweite Umstand ist in anderem Zusammenhang schon erwähnt:
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Siehe Weber, Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen, MWG I/22-1, S. 106 f.; dort (S. 106, Anm. 48) mit einem Vorverweis.
die Privilegierung des privaten Kapitals war in den Patrimonialverbänden stets um so entwickelter, je mehr die Konkurrenz mehrerer politischer Verbände um die Macht sie nötigten, das bewegliche und freizügige Geldkapital zu umwerben. Der von der politischen Macht privilegierte Kapitalismus blühte in der Antike, solange eine Mehrzahl von Mächten um die Macht und Existenz rang[,] und scheint auch in China in der entsprechenden Vergangenheit entwickelt gewesen zu sein.
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Gemeint ist die Teilstaatenzeit bis zur Reichseinigung 221 v. Chr. Vgl. dazu auch die Ausführungen in: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 226 und 256.
Er blühte im Zeitalter des „Merkantilismus“ im Okzident, als die modernen Machtstaaten ihren politischen Konkurrenzkampf begannen. Er schwand im Römerreich, als es „Weltreich“ geworden war und nur noch Grenzen zu schützen hatte,
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Mit der Einstellung der Eroberungskriege durch Tiberius 17 n. Chr. waren die Grenzen des römischen Reiches festgelegt. Wie Weber in seiner Schrift „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ vom Mai 1896 ausführte, setzte mit dem Ende der „expansiven Tendenz des Römerreiches“ der allmähliche Wandel von einer durch Sklaven getragenen Wirtschaftsstruktur zu einer ländlichen und „verkehrslosen“ Binnenkultur ein. Vgl. Weber, Soziale Gründe, S. 66.
fehlt fast ganz in China und war relativ schwach in den orientalischen und hellenistischen Weltreichen (je mehr sie dies waren[,] um so schwächer) und auch im Khalifenreich entwickelt. Gewiß hat nicht etwa jede politische Machtkonkurrenz die Privilegierung des Kapitals herbeigeführt; denn damit dies geschehen könne, mußte Kapitalbildung bereits im Zuge sein. Wohl aber hat umgekehrt die Befriedung und der damit abnehmende politische Kapitalbedarf der großen Weltreiche die Privilegierung des Kapitals beseitigt.
Zu den wichtigsten Objekten der Eigenmonopole gehört die Münzprägung. Die Patrimonialfürsten haben sie in erster Linie zu rein fiskalischen Zwecken monopolisiert. Herabdrückung des Barrenwerts durch Monopolisierung des Barrenhandels und Steigerung des Münzwerts durch Geltungsmonopol der eigenen Münzen sind dafür im okzidentalen Mittelalter die normalen, Münzverschlechte[444]rung das abnorme Mittel. Aber dieser Zustand kennzeichnet schon einen stark entwickelten allgemeinen Münzgebrauch. Nicht nur der ägyptischen und babylonischen Antike, sondern ebenso der phönikischen und der vorhellenistischen indischen Kultur fehlt die Münze völlig, und im persischen Reich ebenso wie in Karthago war sie ausschließlich Mittel zur Leistung von Edelmetallzahlungen seitens der politischen Gewalt bei Entlohnung von Gefolgsleuten und von ausländischen, an Münzzahlung gewohnten (in Karthago hellenischen) Söldnern,
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[444] In Karthago wurde die Münzprägung 409 v. Chr. speziell zur Entlohnung der Söldnerheere auf Sizilien eingeführt. Vgl. Meyer, Münzwesen (wie oben, S. 322, Anm. 2), S. 830 f.
nicht aber ein Mittel für den Tauschverkehr, der sich für den kaufmännischen Umsatz pensatorisch,
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„Pensatorisch“ (von lat. pensum: „das Abgewogene“) bedeutet die Wägung von naturalen Tausch- oder Zahlungsmitteln, zumeist von Edelmetallbarren.
für den Kleinverkehr durch Konventionalgeldformen zu behelfen hatte. Daher beschränkte sich die Prägung in Persien auf Goldstücke,
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Die persische Goldmünze, der Dareikos, ist nach Darius I. (Großkönig von 522 bis 486 v. Chr.) benannt, der die Goldprägung zum königlichen Regal machte. Vgl. Meyer, Münzwesen (wie oben, S. 322, Anm. 2), S. 829. Er setzte sich aber nur im Großverkehr durch, während sonst Tauschverkehr und Naturalwirtschaft dominant blieben. Vgl. Meyer, Geschichte des Alterthums III1, S. 79–82.
umgekehrt schuf die fürstliche Prägung in China bis in die Gegenwart nur Tauschmittel für den Kleinverkehr, während der Handel sich pensatorischer Mittel bediente.
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Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts bediente sich der chinesische Großhandel insbesondere der „pensatorischen Silberwährung“, d. h. der Zahlung bzw. Berechnung in Silberbarren. Dagegen gab der Staat zumeist nur Kupfermünzen bzw. Münzen aus Kupfer-, Blei-, Zink- oder Zinnverbindungen aus, die nur dem Kleinhandel dienlich waren. Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 145–147.
Die beiden zuletzt genannten[,] scheinbar entgegengesetzten Erscheinungen allein schon müssen davor warnen, im Zustand der Münzprägung an sich ein Symptom für den Grad der geldwirtschaftlichen Entwicklung zu sehen (zumal in China, wo das „Papiergeld“ bekannt war).
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Staatliche Papiergeldemissionen sind in China vom Anfang des 9. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts belegt. Sie endeten zumeist mit einer völligen Entwertung. Verboten wurde das Papiergeld 1620 unter der Ming-Dynastie. Vgl. Biot, Édouard, Sur le Système monétaire des Chinois [4 Folgen], in: Journal Asiatique, 3ème Série, tome 3, 1837, S. 422–465, tome 4, 1837, S. 97–141, 209–252, 441–467, hier: tome 4, S. 217, 456, sowie Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 143–146.
Vielmehr finden sich beide Symptome für den gleichen Tatbestand: die Extensität der patrimonialen Verwaltung und ihrer daraus folgenden Ohnmacht, den Kaufleuten die Pro[445]dukte der staatlichen Münze aufzuzwingen. Gleichwohl ist natürlich kein Zweifel daran, daß die Rationalisierung der Münzprägung durch den politischen Verband und der zunehmende Münzgebrauch ein hervorragendes Mittel der technischen Entwicklung des Verkehrs darstellte: die handelstechnische Überlegenheit der Hellenen während der 1¾ Jahrtausende seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert bis zur Suprematie Venedigs und Genuas einerseits, des sarazenischen Handels andererseits,
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[445] Venedig beherrschte seit dem 13. Jahrhundert den Handel im östlichen Mittelmeer (Adria, Ägäis, Jerusalem), Genua den Handel im ligurischen Meer mit Korsika und Sardinien, während die Araber (mlat. „Sarazenen“) zur führenden Handelsmacht im westlichen Mittelmeer aufgestiegen waren.
stützte sich in ihrer Entstehung sicherlich mit darauf, daß sie diese Erfindung als die ersten rezipierten. Die intensive geldwirtschaftliche Entwicklung des Orients bis Indien nach der Eroberung durch Alexander
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In den Jahren 327 bis 325 v. Chr. eroberte Alexander d.Gr. Indien. Danach wurden in seinem Reich von der Adria bis zum Indus – mit Ausnahme von Ägypten – der philippische Goldstater und die Alexanderdrachme eingeführt.
ist dadurch wenigstens technisch mit herbeigeführt worden. Allerdings war auch das Schicksal der Wirtschaft nun intimer als vorher mit den Peripetien der Finanzlage der münzprägenden Gewalten verknüpft: die Katastrophe der römischen Finanzen im 3. Jahrhundert infolge der steigenden Donative
l
[445]A: Donation
an die Armee und die daraus folgende Zerrüttung des Geldwesens
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Wie aus einer Parallelstelle – Weber, Agrarverhältnisse3, S. 181 – hervorgeht, stützte sich Max Weber in dieser Frage auf die Untersuchungen des Heidelberger Althistorikers Alfred von Domaszewski. Dieser hatte nachgewiesen, wie sich die Soldzahlungen, einschließlich der Geldgeschenke (Donative), an die römischen Soldaten vom Ausgang der Republik bis zur Zeit des severischen Kaisers Caracalla vervielfacht hatten. Er kam daher zu der These, daß das Heer „allmählich zu einem Giftbaum [erwuchs], der das Mark des Staates aussog, und die ganze Regierungskunst des dritten Jahrhunderts gipfelt darin, Geld für die Gier der Söldner zu schaffen.“ Vgl. v. Domaszewski, Truppensold (wie oben, S. 274, Anm. 66), Zitat: S. 240.
war zwar in keiner Art die Ursache der naturalwirtschaftlichen Rückbildung der spätantiken Wirtschaft, aber sie half sie immerhin befördern. Im ganzen [A 749]freilich war Maß und Art der Geldregelung durch die politischen Verbände ungleich mehr bedingt durch die gegebenen Anforderungen der Wirtschaft an die öffentliche Gewalt, wie sie aus den eingelebten Gepflogenheiten des kaufmännischen Zahlungswesens folgten, als daß sie selbst eine Bedingung der ökonomischen Entwicklung gewesen wäre. In der Anti[446]ke wie im Mittelalter sind überall die Städte die Träger des Bedarfs nach rationaler Münzprägung gewesen, und das Maß städtischer Entwicklung im Sinn des Okzidents, vor allem also des freien Gewerbes und seßhaften Kleinhandels, nicht aber der Grad der Entwicklung und Bedeutung des Großhandels, drückt sich in der Rationalisierung der Münzprägung aus.
Nachhaltiger als die Schaffung dieser technischen Mittel des Verkehrs aber war auf den Gesamthabitus der Völker die Einwirkung der Herrschaftsstruktur durch die Art der „Gesinnung“, welche sie erzeugte. Darin nun unterschieden sich der Feudalismus auf der einen Seite, der patriarchale Patrimonialismus auf der anderen außerordentlich stark. Beide prägten sehr stark abweichende politische und soziale Ideologien und dadurch eine sehr verschiedene Art der Lebensführung.
Der Feudalismus, speziell in der Form der freien Vasallität und vor allem des Lehenswesens, appelliert an „Ehre“ und persönliche[,] frei gewährte und gehaltene „Treue“ als konstitutive Beweggründe des Handelns. „Pietät“ und persönliche „Treue“ liegt auch vielen der plebejischen Formen des patrimonialen oder leiturgischen Feudalismus (Sklavenheere, Kolonen- oder Klientenaufgebot, als Kleruchen oder Bauern und Grenzer angesiedelte Soldaten) zugrunde, speziell den Klienten- und Kolonenaufgeboten. Allein es fehlt ihnen die ständische „Ehre“ als integrierender Bestandteil. Andererseits ist, bei der „stadtfeudalen“ Heeresorganisation, die ständische Ehre in sehr starkem Maß als Motiv engagiert: das Standeswürdegefühl der Spartiaten vor allem
m
[446]A: allem,
ruht auf der ritterlichen Kriegerehre und Kriegeretikette, kennt die „Reinigungsmensur“ desjenigen, der in der Schlacht „gekniffen“ oder die Etikette verletzt hat,
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[446] In Sparta verlor ein Krieger, der sich in der Schlacht feige verhalten hatte, das Aktivbürgerrecht so lange, bis die Schande wieder behoben war. Überliefert ist die Geschichte von Aristodemos, der als einziger Überlebender aus der Thermopylenschlacht (480 v. Chr.) nach Sparta zurückkehrte und der Ehrlosigkeit und Verachtung seiner Mitbürger anheimfiel. Er tilgte seinen Makel im darauffolgenden Jahr in der Schlacht bei Plataiai (vgl. Herodot, Historien 7, 229 ff.). Max Weber vergleicht diesen Vorgang hier mit dem seit Beginn des 19. Jahrhunderts geltenden Verhaltenskodex der schlagenden studentischen Verbindungen in Deutschland. Wer sich im Zweikampf („Mensur“) nicht vorschriftsmäßig verhielt („Kneifen“), mußte eine „Reinigungsmensur“ fechten, um seine Ehre wiederherzustellen.
und in einem [447]allerdings abgeschwächten Sinn war dies auch bei den althellenischen Hoplitenheeren überhaupt der Fall. Aber die persönliche Treuebeziehung fehlte. In der Kreuzzugszeit hat der orientalische präbendale Feudalismus ein ritterliches Standesgefühl getragen, im ganzen aber ist seine Eigenart durch den patriarchalen Charakter der Herrschaft bestimmt geblieben. Die Kombination von „Ehre“ und „Treue“ kannte, sahen wir,
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[447] Siehe oben, S. 388–397.
nur der Lehensfeudalismus okzidentalen und der Gefolgschaftsfeudalismus japanischen Gepräges. Mit dem hellenischen Stadtfeudalismus teilen beide: daß sie Grundlage einer besonderen ständischen Erziehung, und zwar der Erziehung in einer spezifischen, auf ständischer „Ehre“ ruhenden Gesinnung waren. Im Gegensatz zum hellenischen Feudalismus aber haben sie dabei die „Vasallentreue“ zum Mittelpunkt einer Lebensanschauung gemacht, welche die verschiedensten sozialen Beziehungen: zum Heiland ebenso wie zur Geliebten, unter diesen Aspekt rückte. Die feudale Vergesellschaftung stiftete also hier eine Durchtränkung der wichtigsten Lebensbeziehungen mit streng persönlichen Banden, deren Eigenart zugleich es mit sich bringt, daß das ritterliche Würdegefühl in dem Kult gerade dieses Persönlichen lebt, in dem äußersten Gegenpol aller sachlich-geschäftlichen Beziehungen also, welche deshalb der feudalen Ethik als das spezifisch Würdelose und Gemeine gelten müssen und auch immer gegolten haben. Der Gegensatz gegen das geschäftlich Rationale entspringt aber noch einer Anzahl anderer Wurzeln. Zunächst dem spezifischen militärischen Charakter des feudalen Systems, welches ja auf die Herrschaftsstruktur erst übertragen ist. Das spezifische Lehensheer ist ein Ritterheer, und das heißt: der individuelle Heldenkampf, nicht die Disziplin des Massenheeres spielt die ausschlaggebende Rolle. Nicht Massenabrichtung zur Anpassung an eine organisierte Gesamtleistung wie in diesen, sondern individuelle Vollendung in der persönlichen Waffenkunst war das Ziel der militärischen Erziehung. Daher findet in der Heranbildung und Lebensführung andauernd ein Element seine Stätte, welches, als Form der Einübung lebensnützlicher Qualitäten, der urwüchsigen Kräfteökonomie der Menschen ebenso wie [A 750]der Tiere angehört, aber durch jede Rationalisierung des Lebens zunehmend ausgeschaltet wird: das Spiel. Es ist un[448]ter diesen gesellschaftlichen Bedingungen so wenig wie im organischen Leben ein „Zeitvertreib“, sondern die naturgewachsene Form, in welcher die psychophysischen Kräfte des Organismus lebendig und geschmeidig erhalten werden, eine Form der „Übung“, welche in ihrer ungewollten und ungebrochenen animalischen Triebhaftigkeit noch jenseits jeder Spaltung von „Geistigem“ und „Materiellem“, „Seelischem“ und „Körperlichem“ steht, mag es auch noch so sehr konventionell sublimiert werden. Eine spezifisch künstlerische Vollendung in freier Naivität hat es im Lauf der geschichtlichen Entwicklung einmal: auf dem Boden der ganz oder halb feudalen hellenischen Kriegergesellschaft, ausgehend von Sparta, gefunden. Innerhalb der okzidentalen Lehensritterschaft und des japanischen Vasallentums setzte die aristokratische ständische Konvention mit ihrem strengeren Distanz- und Würdegefühl dieser Freiheit engere Schranken als in der (relativen) Demokratie der Hoplitenbürgerschaft. Allein auch im Leben dieser ritterlichen Schichten spielt unvermeidlich das „Spiel“ die Rolle einer höchst ernsten und wichtigen Angelegenheit: ein Gegenpol alles ökonomisch rationalen Handelns, der diesem den Weg verlegte. Jene Verwandtschaft mit künstlerischer Lebensführung, welche sich daraus ergab, speiste sich aber auch aus der Quelle der „aristokratischen“ Gesinnung der feudalen Herrenschicht ganz direkt. Das Bedürfnis nach „Ostentation“, nach äußerem Glanz und imponierender Pracht, nach Ausstattung der Lebensführung mit Gebrauchsobjekten, welche nicht im „Nutzen“ ihren Daseinsgrund haben, sondern im Wildeschen Sinn unnütz im Sinn von „schön“ sind,
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[448] Oscar Wilde bekennt sich in der Vorrede zu seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ zum reinen Ästhetizismus. Die Kunst bzw. das künstlerische Schaffen werden darin nicht nur von moralischen Vorstellungen, sondern auch von allen Nützlichkeitserwägungen entbunden: „Alle Kunst ist völlig nutzlos.“ (Vgl. Wilde, Dorian Gray, S. 324; das Vorwort ist hier am Ende des Bandes abgedruckt). Nur die Schönheit habe „ihr göttliches Hoheitsrecht“ (ebd., S. 31), Der Roman, der im englischen künstlerisch-aristokratischen Milieu angesiedelt ist, richtet sich in seinen reflexiven Passagen gegen die wissenschaftliche Weltanschauung und den neu aufkeimenden „strengen, häßlichen Puritanismus“ (ebd., S. 187). Er thematisiert aber auch die Brüchigkeit des reinen Schönheitsideals und der aristokratischen Welt. Max Weber besaß einige Werke von Oscar Wilde in deutscher Übersetzung, u. a. auch den hier genannten Roman (Handexemplar Max Webers, Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München). Vgl. dazu auch die Karte Max Webers an Marianne Weber vom 3. März 1908, MWG II/5, S. 439 mit Anm. 4.
entspringt – sahen wir
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Siehe Weber, „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“, MWG I/22-1, S. 265–267, aber auch oben, S. 439 f.
– primär dem ständi[449]schen Prestigebedürfnis, als ein eminentes Machtinstrument zur Behauptung der Herrenstellung durch Massensuggestion. Der „Luxus“ im Sinn der Ablehnung zweckrationaler Orientierung des Verbrauchs ist für feudale Herrenschichten nichts „Überflüssiges“, sondern eines der Mittel ihrer sozialen Selbstbehauptung. Und endlich: das eigene Dasein funktionell, als Mittel im Dienst einer „Mission“, einer zweckvoll durchzuführenden „Idee“ anzuschauen, liegt positiv privilegierten ständischen Schichten, sahen wir,
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[449] Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, Abschnitt 7, MWG I/22-2, S. 252, sowie Weber, „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“, MWG I/22-1, S. 263 f., aber auch Weber, Religiöse Gemeinschaften, Abschnitt 7, MWG I/22-2, S. 227 f. – auf diese Stelle hatten die Erstherausgeber hingewiesen (vgl. die textkritische Anm. n).
ganz fern
n
[449] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. die einschlägigen Ausführungen in der „Religionssoziologie“ (oben S. 270).
. Ihre spezifische Legende ist der Wert ihres „Seins“. Nur der ritterliche Glaubenskämpfer ist darin anders orientiert, und wo immer das Glaubensrittertum das Leben dauernd beherrschte: am stärksten im Islam, hat denn auch das freie künstlerische Spiel nur begrenzten Raum gehabt. In jedem Fall aber steht so der Feudalismus innerlich der bürgerlich-geschäftlichen Sachlichkeit mit ablehnender Geringschätzung gegenüber und empfindet sie als schmutzigen Geiz und als die ihm spezifisch feindliche Lebensmacht. Seine Lebensführung erzeugt das Gegenteil rationaler Wirtschaftsgesinnung und ist Quelle jener Nonchalance in Geschäftsangelegenheiten, welche allen feudalen Herrenschichten im Gegensatz nicht nur zum Bürger, sondern ebenso, nur in anderer Art, auch zur „Bauernschlauheit“, stets eignete und noch eignet. Dies Gemeinschaftsgefühl der feudalen Gesellschaft ruht auf einer Erziehungsgemeinsamkeit, welche ritterliche Konvention, ständischen Stolz und ein daran orientiertes Gefühl für „Ehre“ anerzieht, durch ihre diesseitige Orientierung der charismatischen magischen Propheten- und Heldenaskese, durch ihre Ausrichtung auf kriegerische Heldengesinnung der literarischen „Bildung“, durch ihre spielmäßige und künstlerische Formung der rationalen Fachschulung entgegengesetzt ist.
In fast allen diesen Punkten wirkt nun der patriarchale Patrimonialismus abweichend auf die Lebensführung. Der Feudalismus in allen seinen Formen ist die Herrschaft der Wenigen, Wehrhaften. Der pa[450]triarchale Patrimonialismus ist Massenbeherrschung durch einen Einzelnen. Er bedarf durchweg der „Beamten“ als Organe der Herrschaft, während der Feudalismus den Bedarf an solchen minimisiert. Er ist, soweit er sich nicht auf fremdbürtige Patrimonialheere stützt, sehr stark auf den guten Willen der Untertanen angewiesen, dessen der Feudalismus [A 751]sehr weitgehend entbehren kann. Gegen die Aspirationen der ihm gefährlichen privilegierten Stände spielt der Patriarchalismus die Massen aus, welche überall seine gegebenen Anhänger gewesen sind. Nicht der Held, sondern der „gute“ Fürst war überall das Ideal, welches die Massenlegende verklärt. Der patriarchale Patrimonialismus hat sich daher als Pfleger der „Wohlfahrt“ der Untertanen vor sich selbst und vor diesen zu legitimieren. Der „Wohlfahrtsstaat“ ist die Legende des Patrimonialismus, erwachsen nicht auf der freien Kameradschaft angelobter Treue, sondern auf der autoritären Beziehung von Vater und Kindern: der „Landesvater“ ist das Ideal der Patrimonialstaaten. Der Patriarchalismus kann daher Träger einer spezifischen „Sozialpolitik“ sein und ist dies überall da geworden, wo er hinreichenden Anlaß hatte, sich des Wohlwollens der Massen zu versichern. So in der Neuzeit in England unter dem Regime der Stuarts in ihrem Kampf gegen die autoritätsfeindlichen Mächte des puritanischen Bürgertums und der halbfeudalen Honoratiorenschichten: die Laudsche christliche Sozialpolitik
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[450] Mit der „Laudschen christlichen Sozialpolitik“ ist die englische Armengesetzgebung in den Jahren von 1631 bis 1640 gemeint, die unter Karl I. mit Hilfe eines zentralen Verwaltungsapparates von dem Erzbischof und Mitglied des „Privy Council“ William Laud durchgesetzt wurde. Die effektive Versorgung der Armen und Arbeitslosen sollte nach Laud, unter der Führung des Königs und der anglikanischen Kirche, eine christlich-soziale Wirtschaftsorganisation etablieren, um politische und fiskalisch-monopolistische Vorteile für die Stuarts zu erreichen. Vgl. Weber, Protestantische Ethik, 1920 (wie oben, S. 433, Anm. 35), S. 73, Fn. 1 und den dortigen Hinweis auf: Levy, Ökonomischer Liberalismus, S. 69 ff.
war teils kirchlich, teils patrimonial motiviert. Der Minimisierung der Verwaltungsfunktionen des Feudalismus, der sich nur soweit um das Ergehen der Hintersassen kümmert, als im Interesse der eigenen ökonomischen Existenz unentbehrlich ist, steht gerade umgekehrt die Maximalisierung der Verwaltungsinteressen des Patriarchalismus gegenüber. Denn jede neue Verwaltungsfunktion, welche der Patrimonialfürst sich zueignet, bedeutet eine Erhöhung seiner Machtstellung und ideellen Bedeutung einerseits, schafft anderer[451]seits neue Pfründen für seine Beamten. An einer Stereotypierung der Besitzverteilung, speziell der Grundbesitzverteilung, hat andererseits der Patrimonialfürst keinerlei Interesse. Ökonomische Bindungen pflegt er nur so weit vorzunehmen, als er seinen Bedarf leiturgisch deckt, dann aber in der Form der Samthaftung, welche innerhalb der Haftungsgemeinschaften der Zerspaltung des Besitzes freien Raum läßt. Vollends bei geldwirtschaftlicher Bedarfsdeckung ist Parzellenbesitz und intensivste Nutzung des Bodens bei freier Beweglichkeit des Bodenbesitzes mit seinen Interessen vortrefflich vereinbar. Neubildung von Besitz durch rationalen Erwerb perhorresziert er nicht im mindesten, begünstigt ihn vielmehr, unter der einen Voraussetzung, daß dadurch nicht Gewalten entstehen, welche eine von der freien Gnade und Willkür des Herrn unabhängige Autorität gewinnen. Der zähe Aufstieg aus dem Nichts, aus Sklaventum und niedrigem Herrendienst zur prekären Allmacht des Günstlings ist ihm typisch. Was er im Interesse seiner Macht bekämpfen muß, ist die von der Herrengunst unabhängige ständische Selbständigkeit des Feudaladels ebenso wie die ökonomische Unabhängigkeit des Bürgertums. In seinen letzten Konsequenzen muß ihm jegliche Eigenwürde und jegliches Würdegefühl der „Untertanen“ rein als solches als autoritätsfeindlich verdächtig sein; die innere Hingabe an die landesväterliche Autorität hat denn auch überall in der entsprechenden Richtung gewirkt. In England hat die Minimisierung der effektiven Verwaltung der Honoratiorenherrschaft und die Angewiesenheit der Herrengewalt auf die freiwillige Mitwirkung der Honoratiorenschicht, in Frankreich und den romanischen Ländern die gelungenen Revolutionen, in Rußland die Vorurteilslosigkeit der sozialrevolutionären Gesinnung das Entstehen oder den Fortbestand jener verinnerlichten, auf den fremden Beschauer als Würdelosigkeit wirkenden Hingabe an die Autorität gehindert oder zerbrochen, welche in Deutschland ein schwerlich auszurottendes Erbteil der ungehemmten patrimonialen Fürstenherrschaft geblieben ist. Politisch betrachtet war und ist der Deutsche in der Tat der spezifische „Untertan“ im innerlichsten Sinn des Wortes und war daher das Luthertum die ihm adäquate Religiosität. Der patriarchale Patrimonialismus kennt ein spezifisches Erziehungssystem nur in Form der „Bildung“ für die Zwecke des Beamtendienstes, und nur diese „Bildung“ gibt unter seiner Herrschaft die Basis einer in ihrer konsequentesten Form ständischen Schichtung. Diese kann entweder den uns bekannten Ty[452]pus
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[452] Siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 232 f., den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 331–333, und oben, S. 418 (mit einem Vorverweis), wobei die Referenzsteile im Text „Patrimonialismus“ am aussagekräftigsten ist.
der chinesischen Bildungsschicht annehmen. Oder sie bleibt in den Händen der Geistlichkeit, als dem Träger der für die patrimoniale Beamtenverwaltung – mit ihrem, [A 752]dem Feudalismus unbekannten Rechen- und Schreibwerk – nützlichen Künste,
o
[452] Satz in A defekt; er lautet dort: als der Träger der für die patrimoniale Beamtenverwaltung mit ihren, dem Feudalismus unbekannten Rechen- und Schreibwerk, nützlichen Künsten,
wie im vorderasiatischen Orient und im Mittelalter. Sie ist alsdann spezifisch literarischen Charakters. Oder sie kann den Typus der weltlichen fachjuristischen Bildung annehmen, wie auf den Universitäten des Mittelalters:
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Mit der Rezeption des antiken römischen Rechts setzte seit dem 12. Jahrhundert die Etablierung der juristischen Ausbildung an den Universitäten ein, zunächst und vor allem in Bologna, dann in Padua und Perugia, aber auch in Paris, Oxford und Cambridge sowie – seit dem 14. Jahrhundert – in Deutschland.
auch dann ist sie ebenfalls literarischer Art und führt, mit zunehmender Rationalisierung, zum Fachmenschentum und „Berufs“-Ideal der modernen Bürokratie. Immer aber fehlen ihr jene Züge von Spiel und Wahlverwandtschaft mit Künstlertum, von Heldenaskese und Heldenverehrung, Heldenehre und heldischer Feindschaft gegen die „Sachlichkeit“ des „Geschäfts“ und „Betriebs“, welche der Feudalismus erzieht und bewahrt. In der Tat ist der amtliche „Betrieb“ ein sachliches „Geschäft“: nicht von dem „Sein“ des patrimonialen Beamten, sondern von seinen „Funktionen“ empfängt dieser seine Ehre, von seinen „Leistungen“ erwartet er Vorteile und Avancement, der Müßiggang, das Spiel und die geschäftliche Nonchalance des Ritters muß innerhalb seines Tuns als Verlotterung und Untüchtigkeit erscheinen. Die ihm adäquate Standesethik lenkt in diesem prinzipiellen Punkt in die Bahnen der bürgerlichen Geschäftsmoral ein. Schon die altägyptische Beamtenphilosophie, wie sie uns in Vermahnungen von Schreibern und Beamten an ihre Söhne vorliegt,
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Bekanntestes Beispiel waren zur Zeit Max Webers die Ermahnungen des ägyptischen Schreibers Duauf an seinen Sohn Pepi (heute als „Lehre des Cheti“ bezeichnet). Der Text stammt aus der Zeit der 12. Dynastie (1976–1794/93 v. Chr.) und wurde von Gaston Maspero neben anderen Ermahnungen aus dem 15. vorchristlichen Jahrhundert in französischer Übersetzung publiziert. Vgl. Maspero, Gaston, Du genre épistolaire chez les égyptiens de l’époque pharaonique. – Paris: Librairie A. Franck (F. Vieweg) 1872, S. 24–75. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums I,22 (wie oben, S. 37, [453]Anm. 48), S. 249 f., verweist auf die Arbeit von Maspero (ebd., S. 250); bei diesen Ausführungen von Meyer finden sich Anstreichungen und Marginalien im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München).
trägt denn auch durchaus utilitarisch-bürgerlichen
p
A: utilitarisch bürgerlichen
Charakter. Und [453]prinzipiell hat sich seitdem nichts geändert, außer der zunehmenden Rationalisierung und fachmäßigen Spezialisierung des patrimonialen Beamtentums zur modernen „Bürokratie“. Der Beamtenutilitarismus unterscheidet sich von der spezifisch „bürgerlichen“ Moral von jeher wesentlich durch seine Perhorreszierung des „Erwerbs“-Strebens, wie dies bei dem auf festes Gehalt oder feste
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[453]A: festen
Sporteln gestellten, seinem Ideal nach unbestechlichen Beamten, dessen Leistung ja ihre Würde darin finden muß, nicht Quelle von marktmäßiger Bereicherung sein zu können, selbstverständlich ist. Insofern steht allerdings der „Geist“ der patrimonialen Verwaltung, an Ruhe, Erhaltung der traditionellen „Nahrung“ und Zufriedenheit der Untertanen interessiert, der kapitalistischen, die gegebenen Lebensbedingungen revolutionierenden Entwicklung fremd und mißtrauisch gegenüber, am stärksten, wie wir sahen,
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Siehe den Text „Patrimonialismus“, oben, S. 331–335, und Weber, Religiöse Gemeinschaften, Abschnitt 7, MWG I/22-2, S. 233 f.
in der konfuzianischen Beamtenethik, in mäßigem Grade aber überall, zumal die Eifersucht auf die entstehenden selbständigen ökonomischen Mächte dazu trat. Insofern ist es kein Zufall, daß der spezifisch moderne Kapitalismus sich gerade dort – in England – zuerst entfaltete, wo durch die Struktur der Herrschaft eine Minimisierung der Beamtenherrschaft bedingt war, – ebenso wie übrigens schon der antike Kapitalismus unter ähnlichen Bedingungen seine Akme erreicht hatte. Jene Eifersucht, verbunden mit der traditionellen, aus der ständischen Lage der Bürokratie folgenden Stellung zum rationalen ökonomischen Gewinn, sind denn auch die Motive gewesen, an welche die moderne staatliche Sozialpolitik anknüpfen konnte und die ihr gerade in bürokratischen Staaten den Weg ebneten, andererseits auch ihre Schranken und ihre Eigenart bestimmten.