[752]Probleme der Staatssoziologie
[Bericht der Neuen Freien Presse]
Der Vortragende begann seine Ausführungen damit, er wolle die soziologische Art der Behandlung rein staatlicher Probleme zur Anschauung bringen. Die Soziologie tritt mit anderen Mitteln an die Betrachtung des Staates als geschichtliche Erscheinung heran, als es das Staatsrecht zu tun pflegt. Wenn auch die beiderseitigen Begriffe scheinbar sehr oft dieselben sind, so ist der Sinn der Begriffe ein verschiedener. In dem einen Falle handelt es sich darum, zu ermitteln, was nach den Regeln des juristischen Denkens gelten soll, in dem anderen Falle um die Ermittlung dessen, was unter gegebenen Bedingungen voraussichtlich geschehen wird. Der Unterschied tritt besonders deutlich hervor, wenn man den Begriff der Staatsverfassung im staatsrechtlichen Sinne einerseits, im soziologischen Sinne anderseits sich vor Augen hält. Jede staatsrechtliche Verfassung enthält Lücken, und diese sind nicht zufällig. Die allerwenigsten geschriebenen Verfassungen enthalten beispielsweise Bestimmungen darüber, was geschieht, wenn eine Einigung über das Budget zwischen den gesetzgebenden Faktoren nicht zustande kommt.
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Es ist aus diesem Grunde sogar die Anschauung vertreten worden, daß über diesen Punkt das Staatsrecht überhaupt nichts auszusagen hat.[752] Hier spielt Max Weber auf die aktuelle Lage in Österreich an. Die Regierung unter Ministerpräsident Ernst Ritter Seidler von Feuchtenegg, die seit dem 23. Juni 1917 an der Macht war, regierte mit einem zeitlich begrenzten Budgetprovisorium, weil das Abgeordnetenhaus der Budgetvorlage nicht zugestimmt hatte. Im Oktober 1917 wurden die Verhandlungen zwischen der Regierung und den im Parlament vertretenen nationalen Klubs, d. h. parteiähnlichen Organisationen der im Vielvölkerstaat Österreich vorkommenden Nationalitäten, wieder aufgenommen, um eine Mehrheit herzustellen. Dies gelang nicht, so daß Ministerpräsident Seidler schießlich am 25. Juli 1918 sein Amt niederlegen mußte. Vgl. dazu Ehrle, Max Weber und Wien (wie oben, S. 747, Anm. 11), S. 83, sowie den Artikel: Die Mehrheit für das Budgetprovisorium, in: Neue Freue Presse, Wien, Nr. 19 083 vom 7. Okt. 1917, Mo.Bl., S. 7 f.
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Die Staats[753]verfassung im soziologischen Sinne muß dagegen gerade auf die Frage eingehen, was in solchen Fällen voraussichtlich geschehen wird, denn daran knüpft sich das politische Interesse; damit rechnen sämtliche Faktoren, welche an der Herstellung des Budgets beteiligt sind, und danach richtet sich der politische Typus des betreffenden Staatswesens. Die soziologische Staatsbetrachtung sucht zu Regeln des Geschehens zu gelangen, welche aussagen, was unter bestimmten Verhältnissen geschehen wird und warum etwas unter bestimmten Verhältnissen so und nicht anders verlaufen sei. Die staatsrechtliche Behandlung will Regeln entwickeln, welche aussagen, was legalerweise geschehen sollte. Max Weber scheint hier auf die These von Georg Jellinek anzuspielen, der im Fall einer ausbleibenden Budgeteinigung zwischen Regierung und Parlament keinen juristisch-staatsrechtlichen Lösungsansatz, sondern nur die Möglichkeit einer historisch-politisch bedingten Konfliktbereinigung sah. Damit wandte sich Jellinek gegen die großangelegte Studie von Paul Laband über das Budgetrecht, die in Folge des preußischen [753]Verfassungskonflikts 1862–1867 entstanden war und die staatsrechtliche Lückenlosigkeit im Konfliktfall unter Beweis stellen wollte. Vgl. Jellinek, Georg, Das Budgetrecht, in: HdStW3, Band 3, 1909, S. 308–323, bes. S. 321 f., sowie Laband, Paul, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Verfassungsurkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes. – Berlin: J. Guttentag 1871.
Der Vortragende erklärte, er wolle sich aller aktuellen Fragen des Gegenwartsstaates enthalten und lediglich an einigen Beispielen zeigen, mittels welcher Methode die Staatssoziologie ihrer Aufgabe gerecht zu werden sucht. Der Bau einer bestimmten Form des Herrschaftsverhältnisses von Menschen zu Menschen fügt sich denjenigen Kategorien ein, in welche die Soziologie den Tatbestand der Herrschafts-(Autoritäts-)Begriffe
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gliedert. Dies geschieht nach Ansicht des Vortragenden am zweckmäßigsten durch Anknüpfung an die Frage, welchen Charakter der Legitimitätsanspruch habe, auf welchen ein bestimmtes Herrschaftsverhältnis seine Geltung im Durchschnittsbewußtsein der Herrschenden und Beherrschten stützt. Der Vortragende legte nun eingehend dar, daß es drei reine Typen dieser Legitimität gebe, aus deren Mischung die Mannigfaltigkeit[753]A: Herrschafts-(Autoritäts)Begriffe
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der autoritären Herrschafts- und Staatsbildungen sich zusammensetze: 1. Die Herrschaft der vereinbarten oder oktroyiertenA: Manigfaltigkeit
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rationalen Regeln, wie sie innerhalb des staatlichen Herrschaftsverbandes das System der bureaukratischen, nach Kompetenzen und Instanzen hierarchisch gegliederten Rechtsprechung am reinsten darbiete, welche nach als unabänderbar geltenden Regeln Recht spricht und Gehorsam erzwingt. Das System beruht wirtschaftlich innerhalb der Staatsherrschaft ganz ebenso unvermeidlich auf der Trennung des [754]Verwaltenden von den Verwaltungs- und Betriebsmitteln der Herrschaft wie die ganz gleichartige Herrschaft in der Sphäre der Privatwirtschaft auf der Trennung des Arbeiters von den Wirtschafts- und Betriebsmitteln. Ihm steht als zweite Form gegenüber die Herrschaft kraft traditioneller Autorität, die Herrschaft des ewig Gestrigen, Herkömmlichen und deshalb als heilig und unabänderbar Geltenden. Die reinste Form dieser Herrschaft ist innerhalb der privaten Sphären die Hauswirtschaft des Hausvaters, innerhalb der politischen Herrschaftssphäre der patriarchale und patrimoniale Staat. Die Verwaltung und Rechtsprechung innerhalb dieses Typus erfolgt nach traditionellen Regeln, welche als unabänderbar und von jeher gleichmäßig geltend angesehen werden. Die Organe der Herrschaft sind in der Hauswirtschaft sowohl wie in der politischen Herrschaft nicht Vorgesetzte und Beamte im heutigen Sinne, sondern persönliche Diener oder persönliche Vertrauensmänner des Hausherrn oder Fürsten. Der Begriff der Kompetenz ist unbekannt und wird ersetzt durch die rein privatwirtschaftliche, auf der Triebfeder der Sportelinteressen ruhende, höchst mannigfaltige und irrationale Machtsphäre der einzelnen Vertrauensleute und Diener. Soweit die Heiligkeit der Tradition Spielraum läßt, ist ein Recht freier Willkür und Gnade des Herrn gegeben, innerhalb dessen er nach rein persönlichen Gesichtspunkten und ohne Bindung an formale Regeln schaltet. Wo dieses System ganz rein und ungebrochen besteht, herrscht der Patriarch ausschließlich durch solche Organe, und es fehlt jegliche Teilung der Gewalt. Dies trifft dort zu, wo der Herr genötigt ist, seine Gewalt mit anderen zu teilen, und das ist überall da der Fall, wo wirtschaftlich die Menage nicht ausschließlich in den Händen des Herrn liegt, sondern das System der Selbstequipierung im Heere und der Verwaltung auf eigene Rechnung in den sonstigen Sphären der Herrschaft besteht. Dies ist der Fall, wenn die Ämter verpfründet, verpachtet oder verkauft werden oder wo sie in die Hände selbständiger, nur durch ein feudales Treuhand verbundener Gewalten geraten. Dieses System der patrimonialen Gewaltenteilung ist die erste Quelle aller Rechtsgarantien innerhalb traditioneller Herrschaftsgebilde und hat in Europa seinen höchsten Typus in dem ständischen Staat gefunden. Allen traditionalistischen, vor allem den streng patriarchalen Staatswesen gemeinschaftlich ist ihre innere Fremdheit gegenüber der rationalen Wirtschaft. Es findet sich zwar der Kapitalismus der Steuerpächter und Staatslieferanten, daneben der Kapitalismus des Han[755]dels, dagegen ist die Entstehung rationeller gewerblicher Betriebsformen im heutigen Sinne durch die Gebundenheit des Rechtes und die Irrationalität der Willkür des Herrn und der Beamten ausgeschlossen. Denn der Kapitalismus beruht auf Kalkulation und verlangt ein kalkulierbares, vorausberechenbares Verhalten der Richter und Verwaltungsbeamten, wie es nur der rationale Staat bietet. In noch gesteigertem Maße gilt dies von der dritten legitimen Herrschaftsform, welche im Anschlusse an gelegentliche Ausführungen Rudolf Sohms als charismatische bezeichnet wurde.A: oktroierten
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Die Herrschaft gründet sich hier weder auf zweckvoll gesetzte Regeln, noch auf unverbrüchliche Tradition, sondern auf außeralltägliche[755] Zu Webers Rekurs auf Sohm, Kirchenrecht, bezüglich seiner „Charisma“-Konzeption vgl. die Ausführungen der Einleitung, oben, S. 38–41.
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Qualitäten des Herrn oder seiner Diener: Magie, Offenbarung oder Heldentum. Das Recht und die Verwaltung ist gänzlich irrational, weil an Schöpfung durch Offenbarung oder Beispiel geknüpft. Der Herrschaft der Tradition setzt die Herrschaft des Propheten oder Kriegshelden den Grundsatz entgegen: Es steht geschrieben, ich aber sage euch![755]A: alltägliche
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Durch die ganze bekannte Geschichte hindurch zieht sich der Gegensatz der beiden Legitimitätsformen, der Tradition und des Charismaten. Der Vortragende zeigte nun eingehend, in welcher Art aus einem freien Charisma des Propheten und Heilands durch Veralltäglichung die Prinzipien der Amtslegitimität, Erblegitimität und andere Legitimitätsprinzipien erwachsen sind und welche Motive dafür bestimmend waren. Schließlich ging er zu der Darlegung über, wie die moderne Entwicklung der okzidentalen Staatswesen durch das allmähliche In Anlehnung an Matthäus 5, 21 und 22, wo es heißt: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist […]. Ich aber sage euch: […]“.
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Entstehen eines vierten Legitimitätsgedankens charakterisiert war, derjenigen Herrschaft, welche wenigstens offiziell ihre eigene Legitimität aus dem Willen der Beherrschten ableitet. Sie ist in ihren Anfangsstadien noch weit entfernt von allen modernen demokratischen Gedanken. Ihr spezifischer Träger aber ist das soziologische Gebilde der okzidentalen Stadt, welche sich von allen stadtartigen Gebilden anderer Zeiten und Völker schon in der Art ihrer Entstehung und ihres soziologischen Sinnes im Altertume ebenso wie im Mittelalter unterscheidet. Sie ruht in ihren höchst entwickelten [756]Exemplaren ursprünglich darauf, daß ein Wehrverband der Stadtbürger als Schwurbrüderschaft sich zusammenschließt und durch Beamte sich selbst verwaltet. Hierbei verwies der Vortragende eingehend darauf, wie diese Einzigartigkeit der okzidentalen Stadt bestimmten teils militärtechnischen, teils aber religiösen Momenten folgte, und wie sich die Stadtbildungen außerhalb des Okzidents durch die magisch bedingte Alleinherrschaft der Sippen und Berufskörperschaften davon unterscheiden. Die Stadt des Okzidents ist die Geburtsstätte nicht nur des okzidentalen Kapitalismus, die allen anderen soziologischen Strukturformen der Stadt fehlt, sondern ebenso des soziologischen Amtsbegriffes[,] der militärischen Disziplin[,] der politischen Partei,A: allmäliche
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die außerhalb ihrer in dieser Form nirgends vorkommt[,] und der charakteristischen Figur des Demagogen, dessen Gefolgschaft die politische Partei bildet. Verbunden mit der rationalen Bureaukratisierung der monarchischen Militärstaaten und des rationalen Kapitalismus, auf deren welthistorisch wichtigem Bündnis in der Neuzeit die Entstehung des modernen Staates beruht, bildet die Stadt und die durch sie zuerst entwickelte Art der Politik und Wirtschaftspolitik die dritte unentbehrliche historische Komponente der modernen politischen Herrschaftsformen.[756]A: Parteien,
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A: Wirtschaftsformen.