[157][A 650] [Bürokratismus.]a[157]A: Bürokratie Zur Änderung des Titels vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 156. In A geht der Überschrift voran: Kapitel VI. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[157]A: Bürokratie Zur Änderung des Titels vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 156. In A geht der Überschrift voran: Kapitel VI. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Die spezifische Funktionsweise des modernen Beamtentums drückt sich in folgendem aus:
I. Es besteht das Prinzip der festen, durch Regeln: Gesetze oder Verwaltungsreglements[,] generell geordneten behördlichen Kompetenzen, d. h.: 1. Es besteht eine feste Verteilung der für die Zwecke des bürokratisch beherrschten Gebildes erforderlichen, regelmäßigen Tätigkeiten als amtlicher Pflichten; – 2. Die für die Erfüllung dieser Pflichten erforderlichen Befehlsgewalten sind ebenfalls fest verteilt und in den ihnen etwa zugewiesenen (physischen oder sakralen oder sonstigen) Zwangsmitteln durch Regeln fest begrenzt; – 3. Für die regelmäßige und kontinuierliche Erfüllung der so verteilten Pflichten und die Ausübung der entsprechenden Rechte ist planmäßige Vorsorge getroffen durch Anstellung von Personen mit einer generell geregelten Qualifikation.
Diese drei Momente konstituieren in der öffentlichrechtlichen Herrschaft den Bestand einer bürokratischen „Behörde“, in der
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privatwirtschaftlichen den eines bürokratischen „Betriebes“. In diesem Sinn ist diese Institution in den politischen und kirchlichen Gemeinschaften erst im modernen Staat, in der Privatwirtschaft erst in den fortgeschrittensten Gebilden des Kapitalismus voll entwickelt. Kontinuierliche Behörden mit fester Kompetenz sind auch in so umfangreichen politischen Bildungen wie denen des alten Orients, ebenso in den germanischen und mongolischen Eroberungsreichen und in vielen feudalen Staatsbildungen nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Gerade die wichtigsten Maßregeln vollzieht der Herrscher dort durch persönliche Vertraute, Tischgenossen oder Hofbedienstete mit für den Einzelfall zeitweilig geschaffenen und nicht fest begrenzten Aufträgen und Befugnissen. A: den
II. Es besteht das Prinzip der Amtshierarchie und des Instanzenzuges, d. h. ein fest geordnetes System von Über- und Unterordnung der Behörden unter Beaufsichtigung der unteren durch die oberen, – ein System, welches zugleich dem Beherrschten die fest geregelte [158]Möglichkeit bietet, von einer unteren Behörde an deren Oberinstanz zu appellieren. Bei voller Entwicklung des Typus ist diese Amtshierarchie monokratisch geordnet. Das Prinzip des hierarchischen Instanzenzuges findet sich ganz ebenso wie bei staatlichen und kirchlichen auch bei allen anderen bürokratischen Gebilden, etwa großen Parteiorganisationen und privaten Groß[A 651]betrieben, gleichviel ob man deren private Instanzen auch „Behörden“ nennen will. Bei voller Durchführung des „Kompetenz“prinzips ist aber, wenigstens in den öffentlichen Ämtern, die hierarchische Unterordnung nicht gleichbedeutend mit der Befugnis der „oberen“ Instanz, die Geschäfte der „unteren“ einfach an sich zu ziehen. Das Gegenteil bildet die Regel, und daher ist im Fall der Erledigung eines einmal eingesetzten Amts dessen Wiederbesetzung unverbrüchlich.
III. Die moderne Amtsführung beruht auf Schriftstücken (Akten), welche in Urschrift oder Konzept aufbewahrt werden, und auf einem Stab von Subalternbeamten und Schreibern aller Art. Die Gesamtheit der bei einer Behörde tätigen Beamten mit dem entsprechenden Sachgüter- und Aktenapparat bildet ein „Büro“ (in Privatbetrieben oft „Kontor“ genannt). Die moderne Behördenorganisation trennt grundsätzlich das Büro von der Privatbehausung. Denn sie scheidet überhaupt die Amtstätigkeit als gesonderten Bezirk von der privaten Lebenssphäre, die amtlichen Gelder und Mittel von dem Privatbesitz des Beamten. Dies ist ein Zustand, der überall erst Produkt einer langen Entwicklung ist. Heute findet er
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sich ganz ebenso in öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Betrieben, und zwar erstreckt er sich in diesen auch auf den leitenden Unternehmer selbst. Kontor und Haushalt, geschäftliche und Privatkorrespondenz, Geschäftsvermögen und Privatvermögen sind, je folgerechter der moderne Typus der Geschäftsgebarung durchgeführt ist – die Ansätze finden sich schon im Mittelalter –[,] prinzipiell geschieden. Man kann ganz ebenso als die Besonderheit des modernen Unternehmers hinstellen: daß er sich als „ersten Beamten“ seines Betriebes geriere, wie der Beherrscher eines spezifisch bürokratischen modernen Staates sich als dessen „ersten Diener“ bezeichnete.[158]A: es
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Die [159]Vorstellung, daß staatliche Bürotätigkeit und privatwirtschaftliche Kontortätigkeit etwas innerlich wesensverschiedenes seien, ist europäisch-kontinental und den Amerikanern im Gegensatz zu uns gänzlich fremd. [158] Der preußische König Friedrich II. d.Gr. äußerte mehrfach, daß der Herrscher „der erste Diener des Staates“ sei, zuerst im „Antimachiavell“, dann im „Politischen Testament“ von 1752. Die erweiterte Form: „der erste Diener und Beamte des Staates“ findet sich in [159]den „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“. Vgl. Die Werke Friedrichs des Großen, hg. von Gustav Berthold Volz, Band 7: Antimachiavell und Testamente. – Berlin: Reimar Hobbing 1913, S. 6, 154; dass., Band 1: Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg, ebd., 1913, S. 117.
IV. Die Amtstätigkeit, mindestens alle spezialisierte Amtstätigkeit – und diese ist das spezifisch Moderne – setzt normalerweise eine eingehende Fachschulung voraus. Auch dies gilt zunehmend vom modernen Leiter und Angestellten eines privatwirtschaftlichen Betriebs ganz ebenso wie von den staatlichen Beamten.
V. Beim vollentwickelten Amt nimmt die amtliche Tätigkeit die gesamte Arbeitskraft des Beamten in Anspruch, unbeschadet des Umstandes, daß das Maß seiner pflichtmäßigen Arbeitszeit auf dem Büro fest begrenzt sein kann. Dies ist als Normalfall ebenfalls erst Produkt einer langen Entwicklung im öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Amt. Das Normale war früher in allen Fällen umgekehrt die „nebenamtliche“ Erledigung der Geschäfte.
VI. Die Amtsführung der Beamten erfolgt nach generellen, mehr oder minder festen und mehr oder minder erschöpfenden, erlernbaren Regeln. Die Kenntnis dieser Regeln stellt daher eine besondere Kunstlehre dar (je nachdem: Rechtskunde, Verwaltungslehre, Kontorwissenschaft),
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in deren Besitz die Beamten sich befinden. Die von Max Weber genannten Zweige der Beamtenausbildung gehen auf die Kameral- oder Polizeiwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts zurück. Die Kontorwissenschaft umfaßte u. a. die Fächer Buchhaltung und kaufmännische Korrespondenz; sie galt als der praktische Teil der Handelswissenschaften.
Die Regelgebundenheit der modernen Amtsführung ist so sehr in ihrem Wesen begründet, daß die moderne wissenschaftliche Theorie z. B. annimmt: eine gesetzlich einer Behörde eingeräumte Befugnis zur Ordnung bestimmter Materien durch Verordnung berechtige diese nicht zur Regelung durch Einzelbefehle von Fall zu Fall, sondern nur zur abstrakten Regelung,
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– der äußerste Gegensatz gegen [160]die, wie wir sehen werden, Max Weber spielt hier auf das den Verwaltungen eingeräumte Verordnungsrecht und die damit in Zusammenhang stehenden Theorien der Verwaltungsrechtler an. Im Gegensatz zu den für Einzelfälle geltenden Verwaltungsverfügungen oder -vorschriften wurde für die „Verordnungen“ der allgemein regulative Charakter (Rechtssatzcharakter) betont. Sie wurden definiert als „von Organen der Verwaltung ausgehende obrigkeitli[160]che Willenserklärungen, welche eine allgemeine Regel für die Ordnung der in ihnen bezeichneten Tatbestände geben“. Vgl. Schoen, Paul, Deutsches Verwaltungsrecht, in: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, hg. von Josef Kohler, Band 4, 2. Aufl. – München, Leipzig: Duncker & Humblot und Berlin: J. Guttentag 1914, S. 193–315, Zitat: S. 258 (hinfort: Schoen, Deutsches Verwaltungsrecht), sowie Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1, 1. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1895, S. 93, 122 ff. (hinfort: Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht I).
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z. B. für den Patrimonialismus schlechthin beherrschende Art der Regelung aller nicht durch heilige Tradition festgelegten Beziehungen durch individuelle Privilegien und Gnadenverleihungen. – Siehe den Text „Patrimonialismus“, unten, S. 289–295 und 312–315.
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[160] Petitdruck in A.
Für die innere und äußere Stellung der Beamten hat dies alles folgende Konsequenzen:
I. Das Amt ist „Beruf“. Dies äußert sich zunächst in dem Erfordernis eines fest vorgeschriebenen, meist die ganze Arbeitskraft längere Zeit hindurch in Anspruch nehmenden Bildungsganges und in generell vorgeschriebenen Fachprüfungen als Vorbedingungen der Anstellung. Ferner in dem Pflichtcharakter der Stellung des Beamten, durch welchen die innere Struktur seiner Beziehungen folgendermaßen [A 652]bestimmt wird: die Innehabung eines Amts wird rechtlich und faktisch nicht als Besitz einer gegen Erfüllung bestimmter Leistungen ausbeutbaren Renten- oder Sportelquelle – wie normalerweise im Mittelalter und vielfach bis an die Schwelle der neusten Zeit – und auch nicht als ein gewöhnlicher entgeltlicher Austausch von Leistungen, wie im freien Arbeitsvertrag, behandelt. Sondern der Eintritt in das Amt gilt auch in der Privatwirtschaft als Übernahme einer spezifischen Amtstreuepflicht gegen Gewährung einer gesicherten Existenz. Für den spezifischen Charakter der modernen Amtstreue ist entscheidend, daß sie, beim reinen Typus, nicht – wie z. B. im feudalen oder patrimonialen Herrschaftsverhältnis – eine Beziehung zu einer Person nach Art der Vasallen- oder Jüngertreue herstellt, sondern, daß sie einem unpersönlichen sachlichen Zweck gilt. Hinter diesem sachlichen Zweck pflegen natürlich, ihn ideologisch verklärend, als Surrogat des irdischen oder auch überirdischen persönlichen Herren, in einer Gemeinschaft realisiert gedachte „Kulturwertideen“: „Staat“, „Kirche“, „Gemeinde“, „Partei“, „Betrieb“ zu stehen. Der politische Beamte z. B. gilt, wenigstens im vollentwickelten [161]modernen Staat[,] nicht als ein persönlicher Bediensteter eines Herrschers. Aber auch der Bischof, Priester, Prediger, ist der Sache nach heute nicht mehr, wie in urchristlicher Zeit, Träger eines rein persönlichen Charisma, dessen überweltliche Heilsgüter er in persönlichem Auftrag jenes Herrn und im Prinzip nur ihm verantwortlich, jedem darbietet, der ihrer würdig scheint und darnach verlangt. Sondern er ist, trotz des teilweisen Fortlebens der alten Theorie, ein Beamter im Dienste eines sachlichen Zwecks geworden, welcher in der heutigen „Kirche“ zugleich versachlicht und auch wieder ideologisch verklärt ist.
II. Die persönliche Stellung des Beamten gestaltet sich bei all dem folgendermaßen:
1. Auch der moderne, sei es öffentliche, sei es private, Beamte erstrebt immer und genießt meist den Beherrschten gegenüber eine spezifisch gehobene, „ständische“ soziale Schätzung. Seine soziale Stellung ist durch Rangordnungsvorschriften
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und, bei politischen Beamten, durch besondere strafrechtliche Bestimmungen für „Beamtenbeleidigungen“, „Verächtlichmachung“ staatlicher und kirchlicher Behörden usw. garantiert.[161] Obwohl es für die Reichsbeamten im wilhelminischen Kaiserreich formal gesehen keine Rangordnung gab, folgte man dem Preußischen Rangreglement von 1817 und seinen Ergänzungen, das fünf Rangklassen für Beamte vorsah. Entscheidend war die Rangklasse für den gesellschaftlichen Verkehr; nur Beamte der ersten und zweiten Rangklasse galten als hoffähig. Vgl. Brand, Beamtenrecht (wie oben, S. 30, Anm. 4), S. 93–103, bes. S. 95.
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Die tatsächliche soziale Stellung der Beamten ist am höchsten normalerweise da, wo in alten Kulturländern ein starker Bedarf nach fachgeschulter Verwaltung besteht, zugleich starke und nicht labile soziale Differenzierung herrscht und der Beamte nach der sozialen Machtverteilung oder infolge der Kostspieligkeit der vorgeschriebenen Fachbildung und der ihn bindenden Standeskonventionen vorwiegend den sozial und ökonomisch privilegierten Schichten entstammt. Der an anderer Stelle Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (10. Aufl., 1912) § 196 (zur strafrechtlichen Verfolgung bei Beamtenbeleidigungen) und §§ 131 und 166 (zu Geld- oder Gefängnisstrafen wegen Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen oder Kirchen).
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zu erörternde[161] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Weiter unten S. 229 und in der „Rechtssoziologie“. (Anm. d. Herausgeb.)
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Einfluß der Bildungspatente, an deren Besitz die Quali[162]fikation zum Amt gebunden zu sein pflegt, steigert naturgemäß das „ständische“ Moment in der sozialen Stellung der Beamten. Es findet im übrigen vereinzelt – so im deutschen Heere – eine eindrucksvolle ausdrückliche Anerkennung in der Vorschrift, daß die Aufnahme unter die Aspiranten der Beamtenlaufbahn von der Zustimmung („Wahl“) der Mitglieder des Beamtenkörpers (Offizierskorps) abhängt. Siehe unten, S. 229–233. Der Verweis könnte sich auch auf eine Passage außerhalb des Textes „Bürokratismus“ beziehen, was die Verweisformulierung nahelegt.
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Ähnliche, eine zunftartige Abschließung der Beamtenschaft fördernde, Erscheinungen finden sich typisch auf dem Boden des patrimonialen, speziell präbendalen Beamtentums der Vergangenheit. Bestrebungen, sie in umgestalteter Form wiederentstehen zu lassen, sind in der modernen Beamtenherrschaft keineswegs ganz selten und spielten z. B. auch in Forderungen der stark proletarisierten Fachbeamten („trety[162] Im preußischen Heer wurde durch ein Reglement vom 6. August 1808 eine gesonderte Offizierslaufbahn festgeschrieben. Nach den bestandenen Prüfungen und auf Vorschlag des Leutnants wurde der Fähnrich erst dann zum Offizier ernannt, wenn er vorher von den Offizieren des Regiments einstimmig gewählt worden war. Die Wahl bezweckte den Ausschluß nicht ehrenhafter Mitglieder und diente zugleich der Wahrung ständischer Interessen. Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 1, 2. Aufl. – Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1960, S. 236 f. (hinfort: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I).
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element“) während der russischen Revolution[162]A: („tretyj
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Die Emendation folgt der von Max Weber selbst autorisierten Schreibweise in seinem Aufsatz „Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland“, MWG I/10, S. 123.
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eine Rolle. Als „drittes Element“ („tretij ėlement“) wurden in Rußland die besoldeten Angestellten der Zemstva, d. h. der seit 1864 auf dem Land bestehenden Selbstverwaltungsorgane, bezeichnet. Zu ihnen gehörten Ärzte, Veterinäre, Statistiker, Agronomen usw., die sich von den einflußreichen, ehrenamtlichen Beamten abgrenzten und durch ihre sozialrevolutionären und sozialistischen Ansichten zum radikalen Flügel der Russischen Revolution von 1905 zählten. Organisiert waren sie im „Bund der Semstwoangestellten“, der in seiner konstituierenden Versammlung 1905 folgende Forderungen erhob: materielle Besserstellung, Stimmrecht in den Zemstvo-Versammlungen, Entscheidungsbefugnisse bei der Einstellung und Entlassung von Zemstvo-Angestellten, Pensionskasse und Zwangsversicherung. Vgl. Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: MWG I/10, S. 71–279, hier: S. 106 f. mit Anm. 6.
Die soziale Schätzung der Beamten als solcher pflegt besonders gering da zu sein, wo – wie oft in Neusiedelungsgebieten – vermöge des großen Erwerbsspielraums und der starken Labilität der sozialen Schichtung sowohl der Bedarf an fachgeschulter Verwaltung wie [163]die Herrschaft ständischer Konventionen besonders schwach sind. So namentlich in den Vereinigten Staaten.
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[163] Die Mißachtung der Beamten, die durch Parteipatronage an ihr Amt gekommen seien, beschreibt Weber – im Rückgriff auf angeblich während seiner USA-Reise 1904 gemachte Erfahrungen – in seinem 1918 in Wien gehaltenen Vortrag „Der Sozialismus“. Dort gibt er die Meinung amerikanischer Arbeiter wieder, die es vorzögen, durch korrupte Beamte regiert statt durch gebildete Beamte selbst verachtet zu werden (Vgl. Weber, Max, Der Sozialismus, in: MWG I/15, S. 597–633, hier: S. 604). Ganz ähnlich beschreibt James Bryce die amerikanische Haltung, die den Amtsträger daran mahne, „that he is the servant of the people and not their master, like the bureaucrats of Europe“. Vgl. Bryce, American Commonwealth II (wie oben, S. 42, Anm. 1), S. 128.
[A 653]2. Der reine Typus der bürokratischen Beamten wird von einer übergeordneten Instanz ernannt. Ein von den Beherrschten gewählter Beamter ist keine rein bürokratische Figur mehr. Natürlich bedeutet das formelle Bestehen einer Wahl noch nicht, daß dahinter sich nicht dennoch eine Ernennung verbirgt: innerhalb des Staats insbesondere durch die Parteichefs. Ob dem so ist, hängt nicht von den Staatsrechtssätzen, sondern von der Art des Funktionierens der Parteimechanismen ab, welche, wo sie fest organisiert bestehen, die formal freie Wahl in eine bloße Akklamation eines vom Chef der Partei designierten Kandidaten, regelmäßig aber in einen nach bestimmten Regeln sich abspielenden Kampf um die Stimmen für einen von zwei designierten Kandidaten verwandeln können. Unter allen Umständen aber modifiziert die Bestellung
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der Beamten durch Wahl der Beherrschten die Straffheit der hierarchischen Unterordnung. Ein durch Wahl der Beherrschten ernannter Beamter steht den ihm im Instanzenzug übergeordneten Beamten gegenüber grundsätzlich selbständig da, denn er leitet seine Stellung nicht „von oben“, sondern „von unten“ her oder doch nicht von der ihm in der Amtshierarchie vorgesetzten Instanz als solcher, sondern von den Parteimachthabern (Bossen) ab, die auch seine weitere Karriere bestimmen. Er ist in seiner Karriere nicht oder nicht in erster Linie von seinen Vorgesetzten innerhalb des Verwaltungsdienstes abhängig. Der nicht gewählte, sondern von einem Herren ernannte Beamte funktioniert normalerweise, rein technisch betrachtet, exakter, weil, unter sonst gleichen Umständen, mit größerer Wahrscheinlichkeit rein fachliche Gesichtspunkte und Qualitäten seine Auslese und seine Karriere bestimmen. Die Beherrschten als Nichtfachmänner kön[164]nen das Maß der fachmännischen Qualifikation eines Amtskandidaten erst an der Hand der gemachten Erfahrungen, also nachträglich, kennen lernen. Parteien vollends pflegen ganz naturgemäß bei jeder Art von Bestellung der Beamten durch Wahl – sei sie eine Designation der formell frei gewählten Beamten durch Parteigewalthaber bei Herstellung der Kandidatenliste oder sei sie eine freie Ernennung durch den seinerseits gewählten Chef – nicht fachliche Gesichtspunkte[,] sondern die Gefolgschaftsdienste gegenüber dem Parteigewalthaber ausschlaggebend sein zu lassen. Allerdings ist der Gegensatz relativ. Denn der Sache nach Gleichartiges gilt auch da, wo legitime Monarchen und deren Untergebene die Beamten ernennen, nur daß hier die Gefolgschaftseinflüsse unkontrollierbarer sind. Da, wo der Bedarf nach fachlich geschulter Verwaltung bedeutend ist oder wird, wie jetzt auch in den Vereinigten Staaten,[163]A: Bezeichnung
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und wo die Parteigefolgschaften mit einer intellektuell stark entwickelten, geschulten und sich frei bewegenden „öffentlichen Meinung“ rechnen müssen (die freilich in den Vereinigten Staaten jetzt überall da fehlt, wo das Einwandererelement in den Städten als „Stimmvieh“ fungiert)[164] Die Durchsetzung von „qualifying“ und „competitive examinations“ waren die Hauptschlagworte der „civil service reform“-Bewegung, die seit den 1870er Jahren immer stärker wurde. Ein erster Erfolg war der sog. Pendleton Act von 1883, der ein Prüfungssystem für Amtsanwärter auf höchster Regierungsebene einführte und einen Ausschuß in Washington mit der Durchführungskontrolle beauftragte. Ziel der Reformer war aber vor allem die Bekämpfung des Patronage-Systems (spoils system) auf lokaler Ebene. Vgl. Bryce, American Commonwealth I (wie oben, S. 139 f., Anm. 29), S. 616; dass., Band II (wie oben, S. 42, Anm. 1), S. 489, 713, Zitate: ebd., S. 133, sowie Weber, Max, The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, in: MWG I/8, S. 200–243, hier: S. 221 mit Anm. 16.
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– fällt die Anstellung unqualifizierter Beamten auf die herrschende Partei bei den Wahlen zurück, naturgemäß besonders dann, [165]wenn die Beamten vom Chef ernannt werden. Die Volkswahl nicht nur des Verwaltungschefs, sondern auch der ihm unterstellten Beamten pflegt daher, wenigstens bei großen und schwer übersehbaren Verwaltungskörpern, neben der Schwächung der hierarchischen Abhängigkeit, auch die Fachqualifikation der Beamten und das präzise Funktionieren des bürokratischen Mechanismus stärker zu gefährden. Bekannt war die überlegene Qualifikation und Integrität der vom Präsidenten ernannten Bundesrichter gegenüber den gewählten Richtern in den Vereinigten Staaten, obwohl beide Arten von Beamten in erster Linie nach Parteirücksichten ausgewählt wurden. Die großen, von den Reformern geforderten Umgestaltungen der großstädtischen Kommunalverwaltung dagegen gingen in Amerika im wesentlichen alle von gewählten Mayors aus, die mit einem von ihnen ernannten Beamtenapparat – also: „cäsaristisch“ – arbeiteten. Die Einwanderer in den großen Städten, namentlich New York, Brooklyn, Philadelphia, Chicago und San Francisco, rechnete James Bryce der untersten Bevölkerungsschicht zu (Bryce, American Commonwealth II (wie oben, S. 42, Anm. 1), S. 290). Im Gegensatz zu den in Amerika geborenen Arbeitern seien die Einwanderer (Iren, Deutsche, Polen, Italiener und Farbige) nach der Ansicht von Bryce unwissend und blinde Gefolgsleute der zwielichtigen Parteibosse. Bryce charakterisierte sie als ein der amerikanischen politischen Kultur fremdes Element, da sie nicht „amenable to the ordinary intellectual and moral influences“ seien (ebd., S. 291). Die Bezeichnung „voting cattle“ in bezug auf die Einwanderer findet sich bei Ostrogorski, Moisei Jakovlevich, Democracy and the Organization of Political Parties, 2 Bde. – London: Macmillan & Co. 1902, Band 2, S. 96 (hinfort: Ostrogorski, Political Parties I, II), war aber auch unabhängig davon als „Stimmvieh“ im deutschen Schrifttum geläufig.
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Die Leistungsfähigkeit des oft aus der Demokratie herauswachsenden „Cäsarismus“ als Herrschaftsorganisation beruht überhaupt[,] technisch betrachtet, auf der Stellung des „Cäsar“ als freien, traditionsentbundenen Vertrauensmannes der Massen (des Heeres oder der Bürgerschaft) und als eben deshalb uneingeschränkten Herren eines von ihm persönlich frei [A 654]und ohne Hinblick auf Tradition und andere Rücksichten ausgelesenen Stammes von höchstqualifizierten Offizieren und Beamten. Diese „Herrschaft des persönlichen Genies“[165] Gegen die Korruption, das „spoils system“ und damit gegen die nahezu unkontrollierbare Macht der Parteiapparate richteten sich die Reformbestrebungen insbesondere in den Städten an der Ostküste. Zwischen 1882 und 1885 erhielten die Mayors der Städte Brooklyn, Boston und New York außerordentliche Vollmachten. Die vom Volk direkt gewählten Verwaltungschefs der Städte, deren Position der von Gouverneuren auf bundesstaatlicher Ebene entsprach, konnten nun beliebig führende städtische Beamte ein- und absetzen und Entscheidungen des Stadtrates (municipal council) durch Vetorecht aussetzen. Moisei Ostrogorski nennt sie daher „municipal dictator[s]“ (Ostrogorski, ebd., Band 2, S. 522 f.). Einer der erfolgreichsten Mayors war Seth Low in Brooklyn, dessen Erfahrungsbericht bei James Bryce unter dem Titel „An American View of Municipal Government in the United States“ (Bryce, American Commonwealth I (wie oben, S. 139 f., Anm. 29), S. 620–635) abgedruckt ist.
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steht aber mit dem formal „demokratischen“ Prinzip des durchgängigen Wahlbeamtentums im Widerspruch. Max Weber schreibt dieses Zitat – wie aus späteren Parallelverwendungen in seinem Werk hervorgeht (WuG1, S. 141, 157; MWG I/23) – Napoleon I. zu. Dieser hatte sich zwar in militärischer Hinsicht als „Genie“ bezeichnet, z. B. in einem Gespräch mit dem Dichter und Günstling Louis de Fontanes am 21. März 1804 (vgl. Gespräche Napoleons des Ersten in drei Bänden, hg. von Friedrich Max Kircheisen, Band 1. – Stuttgart: Robert [166]Lutz 1911, S. 205), aber daran keine legitimatorische Theorie geknüpft. Dies geschah zuerst durch seinen Neffen, den späteren Napoleon III., der als der eigentliche Begründer des Bonapartismus gilt (vgl. dazu die Einleitung, oben, S. 45 f.) und eine Kombination demokratischer Elemente mit einer straffen zentralistisch-hierarchischen Organisation ohne Zwischengewalten proklamierte. Aus der Eigenschaft des „génie supérieur“, sich mit den Empfindungen des Volkes zu identifizieren, begründete er die autoritative Stellung des Herrschers sowie sein Recht, alle Beamten auszuwählen und die gesamte Verantwortung für deren Handlungen selbst zu übernehmen. (Vgl. Des idées napoléoniennes par le Prince Napoléon-Louis Bonaparte. – Paris: Paulin 1839, S. 71, Zitat: S. 11). Der Ausdruck „Herrschaft des Genies“ findet sich bei v. Wieser, Friedrich, Über die gesellschaftlichen Gewalten. Rectoratsrede in der Aula der k.k. deutschen Carl-Ferdinands-Universität in Prag am 6. November 1901. – Prag: Selbstverlag der k.k. deutschen Carl-Ferdinands-Universität 1901, S. 27, hier zwar ohne direkten Bezug auf Napoleon, aber systematisch eingebettet in seine Ausführungen über die persönlichen Qualitäten von Führern in Massengesellschaften.
[166]3. Es besteht, wenigstens in den öffentlichen und in den ihnen nächststehenden bürokratischen Gebilden, zunehmend aber auch in anderen, normalerweise Lebenslänglichkeit der Stellung, welche als faktische Regel auch da vorausgesetzt wird, wo Kündigung oder periodische Neubestätigung vorkommen. Auch im Privatbetrieb kennzeichnet dies normalerweise den Beamten im Gegensatz zum Arbeiter. Diese rechtliche oder faktische Lebenslänglichkeit gilt jedoch nicht, wie in vielen Herrschaftsformen der Vergangenheit, als ein „Besitzrecht“ des Beamten am Amt.
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Sondern wo – wie bei uns für alle richterlichen Im 13. und 14. Jahrhundert behaupteten die deutschen Fürsten ein „Recht auf das Amt“, das sie „als erblichen Familienbesitz auf Grund des Lehnsrechts“ betrachteten. (Vgl. Schmoller, Gustav, Der deutsche Beamtenstaat vom 16.–18. Jahrhundert, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. – Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 289–313, Zitat: S. 292). In der zeitgenössischen juristischen Diskussion war die Frage, ob es in Preußen ein „Recht am Amt“ gebe, umstritten. Bezweifelt wurde dieses Recht u. a von Brand, Jellinek und Laband, behauptet u. a. von Dahlmann und Preuß. Vgl. Brand, Beamtenrecht (wie oben, S. 30, Anm. 4), S. 2, 46.
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und zunehmend auch für Verwaltungsbeamte[166]A: rechtlichen
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– Rechtsgarantien gegen willkürliche Absetzung oder Versetzung entstanden, haben sie lediglich den Zweck: eine Garantie für die streng [167]sachliche, von persönlichen Rücksichten freie Ableistung der betreffenden spezifischen Amtspflicht zu bieten. Innerhalb der Bürokratie ist daher auch das Maß der durch jene Rechtsgarantie gewährten „Unabhängigkeit“ keineswegs immer eine Quelle gesteigerter konventioneller Schätzung des derart gesicherten Beamten. Oft, speziell in Gemeinschaften mit alter Kultur und sozialer Differenzierung, das Gegenteil. Denn da die Unterordnung unter die Willkür des Herren, je straffer sie ist, desto mehr auch die Aufrechterhaltung des konventionellen Herrenstils der Lebensführung gewährleistet, so kann die konventionelle Schätzung des Beamten gerade infolge des Fehlens jener Rechtsgarantien ganz ebenso steigen, wie im Mittelalter die Schätzung der Ministerialen auf Kosten der Freien, des Königsrichters auf Kosten des Volksrichters. „Richterliche Beamte“ waren höhere Justizbeamte, wie Aufsichtsrichter, Landgerichts- und Oberlandesgerichtspräsidenten, die neben ihrer richterlichen Tätigkeit auch Verwaltungstätigkeiten ausübten. Bereits in der preußischen Verfassung von 1850 wurden sie gegen willkürlichen Amts- oder Einkommensentzug geschützt, während ein entsprechendes Gesetz für die nicht zum Richterstand gehörenden Staatsbeamten im Deutschen Reich erst 1873 und in einigen Bundesstaaten erst 1908/09 zustande kam. Vgl. Brand, ebd., S. 4, 41.
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Der Offizier oder Verwaltungsbeamte ist bei uns teils jederzeit, teils jedenfalls weit leichter aus dem Amt zu entfernen als der „unabhängige“ Richter,[167] Zur Stellung der Ministerialen vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 796. Im Verlauf des 6. Jahrhunderts ersetzten die fränkischen Könige den durch das Volk gewählten Richter (centenarius) durch den Königsrichter (iudex fiscalis), einen vom König bestellten Grafen. Dieser war Richter und Vollzugsbeamter. Das Richteramt des alsbald erblich gewordenen Grafenamtes befestigte das Prestige der lokalen Adelsfamilie und trug zur Sicherung ihrer Herrschaft bei. Vgl. Waitz, Georg, Deutsche Verfassungsgeschichte. Die Verfassung des fränkischen Reiches, Band 2, 2. Teil, 4. Aufl. – Berlin: Weidmann 1882, S. 159 ff. (hinfort: Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte II,24).
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den auch der gröbste Verstoß etwa gegen den „Ehrenkodex“ oder gegen gesellschaftliche Salonkonventionen niemals das Amt zu kosten pflegt. Aus eben diesem Grunde aber ist die „Gesellschaftsfähigkeit“ des Richters in den Augen der Herrenschicht unter sonst gleichen Umständen geringer als die jener Beamten, deren größere Abhängigkeit vom Herrn eine stärkere Garantie für die „Standesgemäßheit“ ihrer Lebensführung ist. Der Durchschnitt der Beamten selbst erstrebt naturgemäß ein „Beamtenrecht“, Eine unbefristete Amtsentziehung war bei Offizieren und politischen Beamten (Preußisches Gesetz vom 21. Juli 1854 § 87 und Reichsbeamtengesetz § 25) zulässig, während sie bei Richtern nur aus bestimmten Gründen, z. B. bei Behördenumbildung, möglich war (Gerichtsverfassungsgesetz § 8 Abs. 3). Vgl. Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht (Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, hg. v. Karl Binding, 6. Abt., Band 2), 1. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1896, S. 226 f.; mit Korrekturen und Erweiterungen, dass., 2. Aufl. – München, Leipzig: Duncker & Humblot 1917, S. 274–276.
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welches, neben materieller Sicher[168]stellung im Alter, auch die Garantien gegen willkürliche Entziehung des Amts erhöht. Indessen hat dies Streben seine Grenze. Eine sehr starke Entwicklung des „Rechts auf das Amt“ erschwert naturgemäß die Besetzung der Ämter nach technischen Zweckmäßigkeitsrücksichten und auch die Karrierechancen strebsamer Anwärter. Dieser Umstand, außerdem aber und in erster Linie die Neigung, lieber von ihresgleichen als von den sozial untergeordneten Beherrschten abzuhängen, führt dazu, daß die Beamten im ganzen die Abhängigkeit „von oben“ nicht schwer empfinden. Die jetzige konservative Bewegung unter den Geistlichen Badens, anläßlich der Angst vor der vermeintlich drohenden Trennung von Staat und „Kirche“, war ausgesprochenermaßen bedingt durch den Wunsch, nicht „aus einem Herren ein Diener der Gemeinde zu werden“ Das „Beamtenrecht“ regelt die Beziehungen zwischen Staat und Beamten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg umfaßte es neben Ehrenrechten auch materielle Versorgungs- und Sicherheitsleistungen des Staates (Gehalt, Umzugs- und Reisekosten, Pension, [168]Witwen-, Waisen- und Unfallfürsorge, vermögensrechtliche Ansprüche). Vgl. Brand, Beamtenrecht (wie oben, S. 30, Anm. 4).
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.[168] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vor dem Weltkrieg geschrieben.
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Gegen die Politik des von Nationalliberalen und Sozialdemokraten getragenen Großblocks in Baden (1905–1914), der u. a. die „Trennung von Kirche und Staat“, aber auch die Kürzung der Staatsdotationen für Pfarrer beabsichtigte, formierte sich seit 1908 in Baden der Widerstand konservativer evangelischer Geistlicher in Form der kurzlebigen „Karlistenbewegung“. Ihr Wortführer war der ehemals nationalliberale Pfarrer Wilhelm Adam Karl, der ein „evangelisches Zentrum“ begründen und die gesellschaftliche wie politische Vorrangstellung der Pfarrer wiederherstellen wollte. (Vgl. Lehmann, Ernst, Der Aufbau der evangelischen Volkskirche in Baden. – Heidelberg: Evangelischer Verlag [1919], S. 76, und Hübinger, Gangolf, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1994, S. 96 ff.). Das von Max Weber hier angeführte, paraphrasierende Zitat gehört eigentlich in den Kontext der Auseinandersetzungen der französischen Revolution um das gebundene bzw. freie Mandat der Abgeordneten. Der Gedanke einer ungebundenen Repräsentation, bei der der Abgeordnete „le maître de tous les autres“ sei, war in der politischen Theorie zuvor bereits von Montesquieu, De l’esprit des lois, S. 145, formuliert worden.
4. Der Beamte bezieht regelmäßig Geldentlohnung in Gestalt eines normalerweise festen Gehalts und Alterssicherung durch Pension. Der Gehalt ist der lohnartigen Abmessung nach der Leistung im Prinzip entzogen, vielmehr „standesgemäß“, d. h. nach der Art der Funktionen (dem „Rang“) und daneben eventuell nach der Dauer der Dienstzeit bemessen. Die relativ große Sicherheit der Versorgung des Beamten und daneben der in der sozialen Schätzung liegende Entgelt machen in Ländern mit nicht mehr kolonialen Erwerbschancen das Amt gesucht und gestatten daher dort eine verhältnismäßig meist niedrige Bemessung seines Gehalts.
[169][A 655]5. Der Beamte ist, entsprechend der hierarchischen Ordnung der Behörden, auf eine „Laufbahn“ von den unteren[,] minder wichtigen und minder bezahlten Stellen zu den oberen eingestellt. Der Durchschnitt der Beamten erstrebt naturgemäß die möglichst mechanische Fixierung der Bedingungen des Aufrückens, wenn nicht in die Ämter, dann in die Gehaltsstufen nach der „Anciennität“, eventuell, bei entwickeltem Fachprüfungswesen, unter Berücksichtigung der Fachprüfungsnote – welche demgemäß hie und da in der Tat einen lebenslänglich nachwirkenden Charakter indelebilis des Beamten bildet. In Verbindung mit der erstrebten Stärkung des Rechts auf das Amt und der zunehmenden Tendenz zur berufsständischen Entwicklung und zur ökonomischen Sicherung der Beamten bewegt sich diese Entwicklung in der Richtung zur Behandlung der Ämter als „Pfründen“ der durch Bildungspatent Qualifizierten. Die Notwendigkeit, die allgemeine persönliche und geistige Qualifikation unabhängig von dem oft subalternen Merkmal des Fachbildungspatents zu berücksichtigen, hat dahin geführt, daß durchweg gerade die höchsten politischen Ämter, insbesondere die „Minister“-Posten, grundsätzlich unabhängig von Bildungspatenten besetzt werden. –
Die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen dieser modernen Gestaltung des Amtes sind:
I.
k
Entwicklung der Geldwirtschaft, soweit die heute durchaus vorherrschende Geldentlohnung der Beamten in Betracht kommt. Diese ist für den gesamten Habitus der Bürokratie von sehr großer Wichtigkeit. Allerdings ist sie allein keineswegs entscheidend für deren Existenz. Die quantitativ größten historischen Beispiele eines einigermaßen deutlich entwickelten Bürokratismus sind: a) Ägypten in der Zeit des neuen Reichs,[169]A: 1.
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Emendiert entsprechend der römischen Zählung, unten, S. 177.
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jedoch mit stark patrimonialem Einschlag; – b) der spätere römische Prinzipat, insbesondre aber die diokletianische Monarchie und das aus ihr entwickelte byzantinische Staatswesen,[169] Gemeint ist die Zeit von der 18. bis zur 20. Dynastie (1550–1070/69 v. Chr.).
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jedoch mit starken feudalen und patrimonialen Ein[170]schlägen; – c) die römisch-katholische Kirche, zunehmend seit dem Ende des 13. Jahrhunderts; Die Vollendung der Bürokratisierung wurde gemeinhin auf die diokletianisch-konstantinischen Reformen um die Wende des 3. zum 4. Jahrhundert datiert. Das sog. Dominat löste endgültig die Zeit der Principes ab. Dieser Prozeß ging einher mit der Verlagerung des Machtzentrums von Rom nach Byzanz; die endgültige Teilung beider Reiche erfolgte 395.
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– d) China von den Zeiten Shi-hoang-ti’s bis in die Gegenwart,[170] Max Weber bezieht sich hier auf die Ausdehnung des päpstlichen Verwaltungsapparats (Kurie), die vom 13. bis zum 15. Jahrhundert mit einem gesteigerten Fiskalismus Hand in Hand ging. Um die vom Papst auch für weltliche Dinge beanspruchte oberste Gewalt ausüben zu können, wurden eine Reihe von neuen Behörden eingerichtet, wie z. B. die „Poenitentiaria apostolica“ zur Verwaltung des Buß-, Ablaß- und Dispensationswesens oder die „S. Rota Romana“ für die Appellationsgerichtsbarkeit, sowie die Kompetenzen bereits bestehender Behörden erweitert, wie z. B. der für das Steuer- und Abgabenwesen zuständigen „Camera apostolica“. Zu den Details vgl. Bresslau, Harry, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Band 1. – Leipzig: Veit & Comp. 1889, S. 216–228.
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aber mit stark patrimonialem und präbendalem Einschlag; – e) in immer reinerer Form der moderne europäische Staat und zunehmend alle öffentlichen Körperschaften seit der Entwicklung des fürstlichen Absolutismus; – f) der moderne kapitalistische Großbetrieb, je größer und komplizierter er ist, desto mehr. Die Fälle a) bis d) ruhen in sehr starkem Maße, teilweise überwiegend, auf Naturalienentlohnung der Beamten. Sie zeigen dennoch viele der charakteristischen Züge und Wirkungen der Bürokratie. Das historische Muster aller späteren Bürokratien – das neue Reich in Ägypten – ist zugleich eines der großartigsten Beispiele naturalwirtschaftlicher Organisation. Dies Zusammentreffen erklärt sich allerdings hier aus durchaus eigenartigen Bedingungen. Denn im ganzen sind die sehr erheblichen Einschränkungen, welche man bei der Zurechnung jener Gebilde zum Bürokratismus machen muß, eben durch die Naturalwirtschaft bedingt. Ein gewisser Grad geldwirtschaftlicher Entwicklung ist normale Voraussetzung[,] wenn nicht für die Schaffung, dann für den unveränderten Fortbestand rein bürokratischer Verwaltungen. Denn ohne sie ist es nach geschichtlicher Erfahrung kaum vermeidbar, daß die bürokratische Struktur ihr inneres Wesen stark verändert oder geradezu in eine andere umschlägt. Schon die Zuweisung von festen Naturaldeputaten aus den Vorräten in den Speichern des Herrn oder aus dessen laufenden Naturaleinkünften, wie sie in Ägypten und China jahrtausendelang herrschte, dann in der spätrömischen Monarchie und auch sonst eine [171]bedeutende Rolle gespielt hat, bedeutet leicht einen ersten Schritt zur Aneignung der Steuerquellen und deren Nutzung als eigenen Privatbesitz durch den Beamten. Die Naturaliendeputate schützen den Beamten gegen die oft schroffen Schwankungen der Kaufkraft des Geldes. Gehen aber die auf Naturalsteuern ruhenden Bezüge, wie es in jedem Fall eines Nachlassens der Anspannung der Herrengewalt bei Naturaleinkünften die Regel ist, unregelmäßig ein, so wird sich der Beamte, ermächtigt oder nicht, an die Abgabepflichtigen seines [A 656]Gewaltbereichs direkt halten. Der Gedanke, durch Verpfändung oder Überweisung der Abgaben und damit der Steuergewalt oder durch Verleihung nutzbringender Grundstücke des Herrn zur Eigennutzung den Beamten gegen jene Schwankungen zu sichern, liegt nahe, und jede nicht ganz straff organisierte Zentralgewalt ist versucht, ihn freiwillig oder durch die Beamten gezwungen zu beschreiten. Dies kann dann so geschehen, daß der Beamte entweder sich aus den Nutzungen in Höhe seines Gehaltanspruchs befriedigt und den Überschuß abliefert oder – da dies naheliegende Versuchungen enthält und daher meist unbefriedigende Ergebnisse für den Herrn zeitigt – dergestalt, daß der Beamte „auf festes Geld gesetzt“ wird, wie dies vielfach in der Vorzeit des deutschen Beamtentums, Max Weber vertritt hier die These, daß die Bürokratisierung mit der Reichseinigung durch Shih Huang-ti im Jahr 221 v. Chr. Hand in Hand gegangen sei und sich bis zur Qing-Dynastie (1644–1912) fortgesetzt habe. Vgl. dazu die ausführliche Beschreibung Max Webers, unten, S. 331 ff., sowie Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 194–200, 210 (Shih Huang-ti sei der „erste rein bureaukratische Herrscher“ gewesen).
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in größtem Maßstabe aber in allen Satrapieverwaltungen des Ostens geschehen ist: er liefert einen festgesetzten Betrag ab und behält die Überschüsse. [171] Vermutlich meint Max Weber hier das System der sog. Generalpachten, nach dem Vogteien und Ämter gegen feste Jahrespachten vergeben wurden. Angewendet wurde es z. B. von 1511 bis 1525 durch Markgraf von Brandenburg Joachim I. (1484–1535). Vgl. Isaacsohn, Siegfried, Geschichte des Preußischen Beamtenthums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, Band 1. – Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1874, S. 49, 124 f.
Er ist dann ökonomisch einem Pachtunternehmer ziemlich ähnlich gestellt, und es kommt auch geradezu ein reguläres Amtspachtverhältnis, sogar unter Vergebung nach dem Höchstgebot, vor. Auf privatwirtschaftlichem Boden ist die Umbildung der Villikationsordnung in ein Pachtverhältnis
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eines der wichtigsten aus den zahlrei[172]chen Beispielen. Der Herr kann auf diesem Wege insbesondere auch die Mühe der Umwandlung seiner Naturalbezüge in Geld auf den pachtenden bzw. auf festes Geld gesetzten Beamten abwälzen. So stand es offenbar mit manchen orientalischen Statthaltern des Altertums. Die Villikationsordnung war die im Frühmittelalter vorherrschende Form der Grundherrschaft. Der Herrenhof (curtis) und das Herrenland (terra indominicata) waren räumlich umgeben von den abhängigen Bauernstellen (Hufen), deren Inhaber dem Herrenhof zu Diensten und Abgaben verpflichtet waren. Seit dem Hochmittelalter wurden die [172]Leistungen in Zins und Rente umgewandelt sowie die Einnahmerechte verpachtet, womit die „Rentengrundherrschaft“ vorherrschend wurde.
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Vor allem die Verpachtung der öffentlichen Steuererhebung selbst statt deren eigener Regie dient diesem Zweck. Dadurch ergibt sich vor allem die Möglichkeit des sehr wichtigen Fortschritts in der Ordnung seiner Finanzen zum System der Etatisierung, d. h.: statt des für alle Frühstadien öffentlicher Haushalte typischen Lebens von der Hand in den Mund aus den jeweiligen unberechenbaren Eingängen kann ein fester Voranschlag der Einnahmen und dem entsprechend auch der Ausgaben treten. Andrerseits wird dabei auf Kontrolle und volle Ausnutzung der Steuerkraft zu eignem Nutzen des Herrn verzichtet und je nach dem Maße der dem Beamten oder Amts- oder Steuerpächter gelassenen Freiheit auch deren Nachhaltigkeit durch rücksichtslose Ausbeutung gefährdet, da ein Kapitalist daran kein derart dauerndes Interesse hat, wie der Herr. Hingegen sucht sich dieser durch Reglements zu sichern. Die Gestaltung der Verpachtung oder Überweisung der Abgaben kann demgemäß eine sehr verschiedene sein, und je nach dem Stärkeverhältnis zwischen Herrn und Pächter kann das Interesse des Letzteren an freier Ausbeutung der Steuerkraft der Beherrschten oder das Interesse des Herrn an deren Nachhaltigkeit das Übergewicht behaupten. Wesentlich auf dem Mit- und Gegeneinanderwirken jener erwähnten Motive: Ausschaltung des Schwankens der Erträgnisse, Möglichkeit der Etatisierung, Sicherung der Leistungsfähigkeit der Untertanen durch Schutz gegen unwirtschaftliche Ausbeutung, Kontrolle der Er[173]trägnisse des Pächters zwecks Aneignung des möglichen Maximums durch den Staat, beruht z. B. die Art der Gestaltung des Steuerpachtsystems im Ptolemäerreich, bei welchem der Pächter allerdings noch, wie in Hellas und Rom, Als Beispiele für diese Art des Staatspächtertums nannte Max Weber in den „Agrarverhältnissen“ Ägypten seit Alexander d.Gr. und die Verwaltung der Diadochenreiche im Osten, speziell das Seleukidenreich. Der Staat vergab die Naturalabgaben an Pächter, „die ihm ein Geldfixum als Verkaufsertrag“ garantierten, so daß der Staat sein Budget in Geld ausgleichen konnte. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 126; dort verweist er speziell auf die Vorsteher der ägyptischen Provinzialverwaltungen (Nomarchen), die bereits unter der Perserherrschaft die eingezogenen Naturalien in Geld umwandeln mußten. Diese Aussage stützt sich auf Julius Beloch, Griechische Geschichte, Band 3: Die griechische Weltherrschaft, Abt. 1. – Straßburg: Karl J. Trübner 1904, S. 334 f., Anm. 4 (hinfort: Beloch, Griechische Geschichte III,1), vgl. dazu die Erläuterung des Herausgebers Jürgen Deininger in MWG I/6 [[MWG I/6, S. 552, Anm. 46]].
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ein privater Kapitalist ist, die Erhebung der Steuern aber bürokratisch vollzogen und staatlich kontrolliert wird, der Profit des Pächters nur in einem Anteil an den etwaigen Überschüssen über seine Pachtsumme, die in Wahrheit eine Garantiesumme ist, sein Risiko aber in dem Zurückbleiben des Abgabenertrages hinter jener Summe besteht.[173] Steuerpächter hießen in Griechenland „telonai“ und in Rom „publicani“. Sie traten in Athen insbesondere in der klassischen Zeit, in Rom während der Republik auf. Es handelte sich um Einzelpersonen (meist Kaufleute und Kapitalanleger) oder Gesellschaften, die auf eine bestimmte Zeit staatliche Einkünfte pachteten. Vergeben wurden diese durch Auktion. Gegenüber dem Staat mußten Sicherheiten in Form von Vorauszahlungen gestellt werden, in Athen waren zusätzlich Bürgen erforderlich. Die eigentliche Einnehmer-Tätigkeit übergaben die Pächter an „gemiethete Menschen oder Sklaven“. Vgl. Böckh, August, Die Staatshaushaltung der Athener, 3. Aufl., hg. und mit Anmerkungen begleitet von Max Fränkel, Band 1. – Berlin: Georg Reimer 1886, S. 188 f., 406, Zitat: S. 407.
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Die Vergabe der Steuerpacht im Ptolemäerreich war durch Steuergesetze geregelt. Zwischen Pächter und Regierung wurde ein Einjahresvertrag abgeschlossen, worin sich der Pächter zur Zahlung einer Pauschsumme verpflichtete. Kontrolliert wurde der Pächter durch königliche Beamte, den Oikonomos und seinen Sekretär, was aufgrund der Steuerquittungen jederzeit möglich war. Im Gegensatz zum Steuerpachtsystem der Römerzeit griffen die königlichen Beamten der Ptolemäerzeit auch kontrollierend in die Steuererhebung ein. (Vgl. Wilcken, Ulrich, Griechische Ostraka aus Ägypten und Nubien. Ein Beitrag zur antiken Wirtschaftsgeschichte, Band 1. – Leipzig, Berlin: Giesecke & Devrient 1899, S. 515 ff. (hinfort: Wilcken, Ostraka), sowie Weber, Agrarverhältnisse3, S. 64, 130). Den Unterschied zwischen der Steuerpacht in den durch Magistraturen verwalteten Poleis (Athen und dem republikanischen Rom) und den hellenistischen Monarchien (insbesondere dem ptolemäischen Ägypten) arbeitete Rostowzew, Michail, Geschichte der Staatspacht in der römischen Kaiserzeit bis Diokletian, in: Philologus, Supplementband 9, Heft 3, 1904, S. 329–512, zu Beginn seiner Untersuchung (ebd., S. 331–369), heraus.
l
[173] Petitdruck in A.
Die rein ökonomische Auffassung des Amts als einer privaten Erwerbsquelle des Beamten kann, wenn der Herr in die Lage gerät, nicht sowohl laufende Einkünfte, als vielmehr Geldkapital zu brauchen, z. B. zur Kriegsführung oder Schuldenabzahlung, auch direkt zum Amtskauf führen, wie er als ganz reguläre Einrichtung gerade in den Staaten der Neuzeit, im Kirchenstaat ebensogut wie in Frankreich und England, und zwar für Sinekuren ebenso wie für sehr ern[174]ste Ämter, z. B. auch für Offizierspatente, in Resten bis ins 19. Jahrhundert,
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existiert hat. Im Einzelfall kann der ökonomische Sinn eines solchen Verhältnisses sich dahin wandeln, daß die Einkaufsumme teilweis oder ganz den Charakter einer Kaution für die Amtstreue trägt. Aber die Regel war dies nicht. [174] In England wurde der Verkauf von Offiziersstellen erst 1871 durch königliche Prärogative abgeschafft. Vgl. Low, Sidney, Die Regierung Englands. Übersetzt von Johannes Hoops. Mit einer Einleitung von Georg Jellinek. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1908, S. 246.
Immer aber bedeutet jede Art der Überweisung von Nutzungen, Abgaben und Diensten, welche dem Herrn als solchem zustehen, an den Beamten zur eigenen Ausbeutung eine Preisgabe des reinen Typus der bürokratischen Organisation. Der Beamte in dieser Lage hat ein eigenes Besitzrecht am Amt. In noch höherem [A 657]Grade ist dies dann der Fall, wenn Amtspflicht und Entgelt derart in Beziehung zueinander gesetzt werden, daß der Beamte überhaupt keine Einkünfte aus den ihm überlassenen Objekten abliefert, sondern über diese ganz allein für seine privaten Zwecke verfügt und dagegen dem Herrn Dienste persönlichen oder militärischen oder sonst politischen oder kirchlichen Charakters leistet. In den Fällen der lebenslänglichen Zuweisung von irgendwie dinglich fixierten Rentenzahlungen oder wesentlich ökonomischen Nutzungen an Land oder anderen Rentenquellen, als Entgelt der Erfüllung reeller oder fiktiver Amtspflichten, für deren ökonomische Sicherung jene Güter dauernd vom Herrn bestimmt sind, wollen wir von „Pfründen“ und von „präbendaler“ Amtsorganisation sprechen. Der Übergang von da zum Gehaltsbeamtentum ist flüssig. „Präbendal“ ist im Altertum und Mittelalter, aber auch bis in die Neuzeit, sehr oft die ökonomische Ausstattung
m
der Priesterschaft gewesen, aber die gleiche Form hat sich fast zu jeder Zeit auch auf anderen Gebieten gefunden. Im chinesischen Sakralrecht hat der spezifische „Pfründen“-Charakter aller Ämter die Folge, daß die während der rituellen Trauerzeit um den Vater und andere Hausautoritäten vorgeschriebene Enthaltung von dem Genuß des Besitzes (ursprünglich wegen des Übelwollens des toten Hausherrn, dem es gehörte) den Trauernden zum Verzicht [175]auf sein Amt zwingt,[174]A: Ausschaltung
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welches eben rein präbendal als Rentenquelle angesehen wurde. – Eine weitere Stufe der Entfernung von der reinen Gehaltsbürokratie bedeutet es dann, wenn nicht nur wirtschaftliche, sondern auch Herrschaftsrechte zur eigenen Ausübung verliehen und als Gegenleistung persönliche Dienste für den Herren ausbedungen werden. Jene verliehenen Herrschaftsrechte selbst können dabei verschiedenen, z. B. bei politischen Beamten mehr grundherrlichen oder mehr amtlichen Charakters sein. In beiden Fällen, jedenfalls aber im letzteren, ist eine völlige Zerstörung der spezifischen Eigenart der bürokratischen Organisation eingetreten: wir befinden uns im Bereich der „feudalen“ Organisation der Herrschaft. [175] Der Toten- und Ahnenkult stand von alters her im Mittelpunkt chinesischer Religiosität. Noch im Kriminal- und Strafbuch der Qing-Dynastie von 1647 („Ta Ch’ing lü-li“) war es den Gebildeten und Mandarinen verboten, während der dreijährigen Trauerzeit Amtsgeschäfte auszuüben oder sich zu einer Staatsprüfung anzumelden. Die Trauerzeit von 27 Monaten (das chinesische Jahr zählte nur neun Monate) galt beim Tod der Eltern und manchmal auch beim Tod der Großeltern. (Vgl. Zi, Examens littéraires (wie oben, S. 59 f., Anm. 64), S. 24). Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die Trauerzeit z. T. durch kaiserliche Verfügung auf 100 Tage begrenzt. Vgl. dazu auch Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 219, Anm. 46 et passim.
Alle Arten solcher Zuweisungen von Naturalleistungen und Naturalnutzungen als Ausstattung an Beamte haben die Tendenz einer Lockerung des bürokratischen Mechanismus, insbesondere einer Abschwächung der hierarchischen Unterordnung. Diese Unterordnung ist in der modernen Beamtendisziplin am straffsten entwickelt. Nur wo die Unterwerfung der Beamten gegenüber dem Herrn auch rein persönlich eine absolute war, also bei Verwaltung durch Sklaven oder sklavenartig behandelte Angestellte, läßt sich eine ähnliche Präzision wenigstens bei sehr energischer Leitung erreichen, wie sie der kontraktlich angestellte Beamte des heutigen Okzidents darbietet.
Im Altertum sind in den naturalwirtschaftlichen Ländern, z. B.
o
die ägyptischen Beamten, soweit nicht rechtlich, doch tatsächlich Sklaven des Pharao.Satz in A defekt; , z. B. sinngemäß ergänzt.
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Die römischen Grundherrschaften vertrauten [176]wenigstens die direkte Kassenführung sehr gern Sklaven an, wegen der Möglichkeit der Tortur. Die ägyptischen Beamten wurden aus freien Untertanen rekrutiert, die bereits im Kindesalter mit dem Eintritt in die Schreiberschule ihre Familien verließen und nach abgeschlossener Ausbildung im Land beliebig versetzbar waren. Der Gehorsam gegenüber dem Herrn bildete, wie die überlieferten Ermahnungen zeigen (vgl. unten, S. 452 f. mit Anm. 74), einen Hauptbestandteil der Erziehung.
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In China sucht man durch ausgiebige Verwendung des Bambus als Disziplinarmittels Ähnliches zu erzielen.[176] Sklaven als Wirtschafter und Schatzmeister („servi dispensatores“) wurden zunächst von privaten Grundherren, dann aber auch seit Augustus von den Kaisern mit der Verwaltung ihres Privatbesitzes beauftragt. Max Weber schließt sich hier offenbar der Vermutung von Theodor Mommsen an, daß man die oft sehr reichen Sklaven nicht freiließ, um die Möglichkeit der Folter zu behalten. Vgl. Mommsens Kommentar zu einer Inschrift aus Pola (Nr. 83), in: Inscriptiones Galliae Cisalpinae Latinae, 1. Teil, hg. von Theodor Mommsen (Corpus Inscriptionum Latinarum, Band V,1). – Berlin: Georg Reimer 1872, S. 15, sowie die Erwähnung desselben durch Max Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 348 f., Fn. 117 mit Anm. 106.
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Allein die Chancen für die Stetigkeit des Funktionierens direkter Zwangsmittel sind höchst ungünstige. Daher bieten erfahrungsgemäß ein gesicherter Geldgehalt, verbunden mit der Chance einer nicht rein von Zufall und Willkür abhängigen Karriere, einer straffen, aber das Ehrgefühl schonenden Disziplin und Kontrolle, ferner die Vermutlich bezieht sich Max Weber auf die Zustände unter der Qing-Dynastie (1644–1912), in deren Strafbuch man den Amtsanwärtern und Mandarinen mit Bambusstockschlägen drohte. Vgl. Zi, Examen littéraires (wie oben, S. 59 f., Anm. 64), S. 21–23, sowie Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 219, Fn. 68.
p
Entwicklung des Standesehrgefühls und die Möglichkeit der öffentlichen Kritik, das relative Optimum für das Gelingen und den Bestand einer straffen Mechanisierung des bürokratischen Apparats, und er funktioniert in dieser Hinsicht sicherer als alle rechtliche Versklavung. Und zwar ist ein starkes Standesbewußtsein der Beamten mit der Bereitwilligkeit zur willenlosesten Unterordnung unter die Vorgesetzten nicht nur verträglich, sondern es ist – wie beim Offizier – als innerer Ausgleich für das Selbstgefühl der Beamten dessen Konsequenz. Der rein „sachliche“ Berufscharakter des Amts mit seiner prinzipiellen Trennung der Privatsphäre des Beamten von derjenigen seiner Amtstätigkeit erleichtert die Eingliederung in die ein für allemal fest gegebenen sachlichen Bedingungen des auf Disziplin gegründeten Mechanismus.[176]A: der
n
Petitdruck in A.
Wenn also auch die volle Entwicklung der Geldwirtschaft keine unentbehrliche Vorbedingung der Bürokratisierung ist, so ist dies doch, als eine spezifisch stetige [A 658]Struktur, an eine Voraussetzung geknüpft: das Vorhandensein stetiger Einnahmen zu ihrer Erhaltung. Wo diese nicht aus dem privaten Profit – wie bei der bürokratischen [177]Organisation moderner Großunternehmungen – oder aus festen Grundabgaben – wie bei der Grundherrschaft – gespeist werden können, ist also ein festes Steuersystem Vorbedingung der dauernden Existenz bürokratischer Verwaltung. Für dieses aber bietet die durchgeführte Geldwirtschaft aus bekannten allgemeinen Gründen die allein sichere Basis. Der Grad der Bürokratisierung einer Verwaltung ist daher in städtischen Gemeinwesen mit voll entfalteter Geldwirtschaft nicht selten ein relativ erheblicherer gewesen als in den gleichzeitigen viel größeren Flächenstaaten. Sobald freilich diese letzteren ein geregeltes Abgabensystem entwickeln konnten, entfaltete sich die Bürokratie bei ihnen weit umfassender als in den Stadtstaaten, welchen, solange ihr Umfang sich in mäßigen Grenzen hält, überall die Tendenz zu einer plutokratischen kollegialen Honoratiorenverwaltung die adäquateste ist. Denn der eigentliche Boden für die Bürokratisierung der Verwaltung war von jeher eine spezifische Art der Entwicklung der Verwaltungsaufgaben, und zwar zunächst:
II. ihre quantitative Entfaltung. Auf politischem Gebiete z. B. ist der klassische Boden der Bürokratisierung der Großstaat und die Massenpartei.
Allerdings nicht
q
in dem Sinn, daß jede historisch bekannte eigentliche Großstaatbildung eine bürokratische Verwaltung mit sich gebracht hätte. Denn zunächst hat der rein zeitliche Bestand einer einmal bestehenden Großstaatbildung oder die Einheitlichkeit der von einer solchen getragenen Kultur nicht immer an einer bürokratischen Struktur des Staates gehaftet. Beides ist allerdings, z. B. im chinesischen Reich, in starkem Maße der Fall.q–q(bis S. 182: Parteien gehören.) Petitdruck in A.
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Der Bestand der zahlreichen großen Negerreiche[177] Shih Huang-ti schuf durch seine Siege über die meisten Teilstaaten das chinesische Einheitsreich (221 v. Chr.) und galt Max Weber als der Begründer einer zentralisierten bürokratischen Verwaltung. Vgl. oben, S. 170.
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und ähnlicher Bildungen ist in erster [178]Linie infolge des Fehlens eines Beamtenapparats ephemer gewesen. Ebenso zerfiel die staatliche Geschlossenheit des Karolingerreichs mit dem Verfall seiner Beamtenorganisation, Von den größeren schwarzafrikanischen Reichen verfügten die meisten zwar über Hofbeamte, aber nur wenige auch über Verwaltungs- und Finanzbeamte, wie z. B. Abessinien (Äthiopien), Bornû (im mittleren Sudan) und Dahomé (in Nordwestafrika). Vgl. Post, Albert Hermann, Afrikanische Jurisprudenz. Ethnologisch-juristische Beiträge zur Kenntniss der einheimischen Rechte Afrikas, 1. Band. – Oldenburg, Leipzig: Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei (A. Schwartz) 1887, S. 263 (hinfort: Post, Afrikanische Jurisprudenz).
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die allerdings vorwiegend patrimonialen, nicht bürokratischen, Charakters war. Rein zeitlich betrachtet, haben dagegen das Khalifenreich und seine Vorgänger auf asiatischem Boden[178] Das Ende des gesamtfränkischen Reiches, das im Teilungsvertrag von Verdun 843 besiegelt wurde, war nach Ansicht der zeitgenössischen Forschung mit dem inneren Verfall der Reichsverfassung eng verknüpft. Demnach wurde die karolingische Grafschaftsverfassung bereits in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts durch die Tendenz zur Verselbständigung des lokalen Adels im Zuge der Vererbbarkeit des Grafenamtes (These Mühlbachers), wie auch durch den Zusammenbruch des Königsbotensystems (These von Waitz) zunehmend unterhöhlt. (Vgl. Mühlbacher, Engelbert, Deutsche Geschichte unter den Karolingern. – Stuttgart: J. G. Cotta 1896, S. 655 ff. (hinfort: Mühlbacher, Karolinger), und Waitz, Georg, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 5: Die Deutsche Reichsverfassung von der Mitte des neunten bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts, 1. Teil, 2. Aufl. – Berlin: Weidmann 1893, S. 39 f.). Die Übertragung öffentlicher Gerichtsbezirke an geistliche Institutionen durch Exemtionen, mit der die Könige der Nachfolgereiche in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts auf den Zusammenbruch der Grafschaftsverfassung reagierten, leistete dem Verfall der inneren Organisation weiteren Vorschub, da der König nicht mehr in der Lage war, seine Herrenrechte gegenüber den davon betroffenen Untertanen auszuüben. Vgl. v. Below, Staat des Mittelalters1 (wie oben, S. 33, Anm. 24), S. 258 ff.
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mit wesentlich patrimonialer und präbendaler Ämterorganisation und das heilige römische Reich trotz fast völligen Fehlens der Bürokratie ansehnliche Zeiträume überdauert und dabei auch eine wenigstens annähernd so starke Kultureinheit dargestellt, wie sie bürokratische Staatswesen zu schaffen pflegen. Und das antike Römerreich ist trotz zunehmender Bürokratisierung, ja gerade während ihrer Durchführung, von innen her zerfallen, infolge der Art der mit ihr verbundenen staatlichen Lastenverteilung, welche die Naturalwirtschaft begünstigte. Gemeint ist wohl vor allem das Sassanidenreich, das zweite persische Großreich, das sich am Höhepunkt seiner Macht im 6. Jahrhundert n. Chr. von Ktesiphon (dem heutigen Bagdad) bis zum Hindukusch nach Osten ausdehnte. Die Sassaniden wurden 642 von den islamischen Arabern besiegt. Explizit betont Max Weber an anderer Stelle, daß die Abbasiden-Kalifen an das Vorbild der Sassanidenherrschaft anknüpften (Weber, Recht § 5, S. 5; WuG1, S. 473); auf das System der Land- und Pfründenvergabe geht Weber später ein (vgl. unten, S. 385 f. mit Anm. 20).
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Allerdings [179]aber war der zeitliche Bestand jener zuerst genannten Bildungen[,] auf die Intensität ihrer rein politischen Einheitlichkeit hin angesehen, wesentlich ein labiler und nomineller, konglomeratartiger Zusammenhalt mit im Ganzen stetig abnehmender politischer Aktionsfähigkeit und war die relativ große Kultureinheit bei ihnen das Produkt teils streng einheitlicher, im mittelalterlichen Okzident zunehmend bürokratischer, kirchlicher Gebilde, teils einer weitgehenden Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen Struktur, welche ihrerseits wieder die Nachwirkung und Umbildung der einstmaligen politischen Einheit war: Beides Erscheinungen einer den labilen Gleichgewichtsbestand begünstigenden, traditionsgebundenen Kulturstereotypierung. Beides hatte so starke Tragkraft, daß selbst großartige Expansionsversuche wie die Kreuzzüge trotz fehlender intensiver politischer Einheit sozusagen als „Privatunternehmungen“ gemacht werden konnten, Die volle Durchführung der Bürokratisierung fällt in die Spätzeit des Kaiserreichs unter Diokletian und Konstantin. Als Gründe für den inneren Zerfall des römischen Reiches, der durch die Völkerwanderung nur besiegelt wurde, nannte Weber 1896 die Umwandlung von einer Sklaven-, Stadt- und Küstenkultur in einen Binnenstaat auf naturalwirtschaftlicher Basis. Vgl. Weber, Soziale Gründe, S. 57–77; dort auch zu der Umwandlung des Besteuerungssystems in ein naturalwirtschaftliches (ebd., S. 71 f.).
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deren Scheitern und politisch vielfach irrationaler Verlauf allerdings mit dem Fehlen einer dahinter stehenden einheitlichen und intensiven Staatsgewalt zusammenhing. Und unzweifelhaft bleibt nicht nur, daß die Keime von intensiver, „moderner“ Staatenbildung im Mittelalter überall hervortraten in Gemeinschaft mit der Entwicklung bürokratischer Gebilde, sondern auch, daß es die bürokratisch entwickeltsten politischen Bildungen gewesen sind, welche schließlich jene, wesentlich auf einem labilen Gleichgewichtszustande ruhenden Konglomerate zersprengten. [179] Die Durchführung der Kreuzzüge lag weder in den Händen der Päpste noch in der Verantwortung weltlicher Fürsten. Die Kreuzfahrer organisierten sich dagegen „bald dicht geschaart um einen machtvoll herrschenden König oder Kaiser, bald wieder in lockeren Haufen dahinziehend, so daß von einer durchgreifenden Verstaatlichung der Kreuzzüge füglich nicht die Rede sein kann.“ Vgl. Kugler, Bernhard, Geschichte der Kreuzzüge (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, hg. von Wilhelm Oncken, 2. Hauptabtheilung, 5. Theil). – Berlin: G. Grote 1880, S. 424.
Der Zerfall des antiken Römerreiches wurde teilweise geradezu durch die Bürokratisierung seines Armee- und Beamtenapparates mitbedingt: diese war nur unter gleichzeitiger Durchführung einer Methode der staatlichen Lastenverteilung vollziehbar, welche zu einer wachsenden relativen Bedeutung der Naturalwirtschaft führen mußte. Es spielen also stets individuelle Komponenten mit. Auch daß die „Intensität“ der staatlichen Aktion nach außen und innen, nach außen: die expansive Stoßkraft und im Innern die staatliche Beeinflussung der Kultur in direk[A 659]tem Verhältnis zu dem Grad der Bü[180]rokratisierung standen, kann für das erstere
r
nur als das „Normale“, nicht aber als ausnahmslos geltend, hingestellt werden. Denn zwei der expansivsten politischen Gebilde: das Römerreich und das englische Weltreich, ruhten gerade in ihrer expansiven Periode nur zum kleinen Teil auf bürokratischer Grundlage. Das normannische Staatswesen in England hat hier straffe Organisation auf dem Boden der Lehenshierarchie durchgeführt.[180]A: erstere,
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Seine Einheitlichkeit und Stoßkraft hat es allerdings in hohem Grade durch die im Vergleich zu andern politischen Gebilden des Feudalzeitalters relativ außerordentlich straffe Bürokratisierung des königlichen Rechnungswesens (Exchequer) empfangen. Daß der englische Staat dann weiterhin die kontinentale Entwicklung zum Bürokratismus nicht mitmachte, sondern auf dem Boden der Honoratiorenverwaltung stehen blieb, hatte ebenso wie die republikanische Verwaltung Roms neben dem (relativen) Fehlen des kontinentalen Charakters auch sonst durchaus individuelle Voraussetzungen, die in England heute im Schwinden begriffen sind. Zu diesen besonderen Voraussetzungen gehörte die Entbehrlichkeit eines so großen stehenden Heeres, wie es bei gleicher Expansionstendenz der Kontinentalstaat mit seinen Landgrenzen braucht. Daher schritt auch in Rom die Bürokratisierung mit dem Übergang vom Küsten- zum Kontinentalreich[180] Charakteristisch für den „anglonormannischen Lehnsstaat“ (1066–1272) waren – im Gegensatz zu den kontinentalen Lehnsreichen – vor allem der auch von den Untervasallen und größeren Freisassen dem König direkt zu leistende Treueid sowie die Anlage eines umfassenden Katasters, das später zur Grundlage für die Lehnsmatrikel wurde („Doomsday Book“). Vgl. Gneist, Rudolf, Englische Verfassungsgeschichte. – Berlin: Julius Springer 1882, Zitate: S. 94 und 101 ff. (hinfort: Gneist, Englische Verfassungsgeschichte).
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A: Kontinentalring
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fort. Im übrigen war in der römischen Herrschaftsstruktur die technische Leitung eines bürokratischen Apparats: Präzision und Geschlossenheit des Funktionierens für die Verwaltung, zumal die außerhalb der Stadtgrenze sich vollziehende Verwaltung[,] durch den streng militärischen Charakter der Magistratsgewalten, wie ihn in dieser Art kein anderes Volk kennt, ersetzt Gemeint ist die Umwandlung des römischen Reiches in einen Binnenstaat. Vgl. dazu die oben (S. 178, Anm. 41) bereits erwähnten Thesen Max Webers. In seinem Vortrag über die „sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ hatte er sich auch über das stehende Heer geäußert. Vgl. Weber, Soziale Gründe, S. 72 ff.
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und die Kontinuierlichkeit durch die [181]ebenfalls einzigartige Stellung des Senats gewährleistet.A: ersetzt,
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Und eine nicht zu vergessende Voraussetzung für diese Entbehrlichkeit der Bürokratie war hier wie in England, daß die Staatsgewalt nach Innen zu den Umkreis ihrer Funktionen zunehmend „minimisierte“, d. h. auf das beschränkte, was die unmittelbare „Staatsraison“ schlechterdings forderte. Die kontinentalen Staatsgewalten der beginnenden Neuzeit haben sich allerdings durchweg in den Händen derjenigen Fürsten zusammengeballt, welche den Weg der Bürokratisierung der Verwaltung am rücksichtslosesten beschritten. Daß der moderne Großstaat je länger[,] je mehr technisch auf eine bürokratische Basis schlechthin angewiesen ist, und zwar je größer er ist, und vor allem je mehr er Großmachtstaat ist oder wird, desto unbedingter, ist handgreiflich. Der Charakter eines nicht, wenigstens nicht im vollen technischen Sinn, bürokratischen Staatswesens, welchen die Vereinigten Staaten noch an sich tragen,[181] Zum Imperium der Magistratsgewalten außerhalb der Stadtmauer (pomerium) und zur Sonderstellung des Senats vgl. die Erläuterungen unten, S. 554, Anm. 38, und S. 224, Anm. 36.
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weicht unvermeidlich auch formell allmählich der bürokratischen Struktur, je größer die Reibungsfläche nach außen und je dringlicher die Bedürfnisse nach Einheit der Verwaltung im Innern werden. Materiell ist überdies dort die teilweise unbürokratische Form der Struktur des Staats ausgeglichen durch eine um so straffer bürokratische Struktur der in Wahrheit politisch herrschenden Gebilde: der Parteien unter der Leitung von berufsmäßigen Fachspezialisten (professionals) der Organisations- und Wahltaktik. Für die Bedeutung des rein Quantitativen als Hebel der Bürokratisierung sozialer Gebilde ist das augenfälligste Beispiel gerade die zunehmende bürokratische Organisation aller eigentlichen Massenparteien, zu denen bei uns vor allem die Sozialdemokratie, Den USA fehlte – wie Max Weber oben, S. 164, ausführte – vor allem eine fachliche Beamtenausbildung und damit auch ein objektives Kriterium für die Stellenbesetzungen und den Aufstieg innerhalb des Verwaltungsapparats.
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im [182]Ausland im größten Maßstab die beiden „historischen“ amerikanischen Parteien Der Ausbau der Sozialdemokratie zu einer Massenpartei erfolgte erst nach 1890 von ca. 100.000 zu 1,1 Mio. Mitgliedern im Jahr 1914. Max Weber hatte sich bereits im Oktober 1907 zu diesem Prozeß geäußert: Die Sozialdemokratie stehe „heute ersichtlich im Begriff, sich in eine gewaltige bureaukratische Maschine zu verwandeln, die ein ungeheures Heer von Beamten beschäftigt […].“ (Weber, Max, Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte. Diskussionsbeitrag auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik am 2. Oktober 1907, in: MWG I/8, S. 300–315, Zitat: S. 307). In diesem Sinne hatte sich auch Michels, Robert, Die deutsche Sozialdemokratie. I. Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, in: AfSSp, Band 23, 1906, S. 471–556, [182]bes. S. 543 (hinfort: Michels, Deutsche Sozialdemokratie), geäußert. Zu den Mitgliederzahlen vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 2: Machtstaat und Demokratie. – München: C. H. Beck 1992, S. 555 (hinfort: Nipperdey, Deutsche Geschichte II).
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gehören. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bauten die beiden großen amerikanischen Parteien – die seit 1828 bestehende Demokratische Partei und die seit 1854 aus den Whigs hervorgegangene Republikanische Partei – vor allem in den Großstädten sog. party machines auf. Diese dienten vorrangig der Stimmenbeschaffung für die Besetzung lokaler und bundesstaatlicher Ämter. Diese Wahlkampfbüros waren straff organisiert, während es eine formelle Parteimitgliedschaft (regelmäßige Beitragszahlungen) nicht gab. Zur amerikanischen Parteienorganisation vgl. insbes. Bryce, American Commonwealth II (wie oben, S. 42, Anm. 1), S. 72 ff., und Ostrogorski, Political Parties II (wie oben, S. 164, Anm. 13), S. 367 ff.
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[182] q(ab S. 177: Allerdings nicht)–q Petitdruck in A.
III. Mehr als die extensive und quantitative ist aber die intensive und qualitative Erweiterung und innere Entfaltung des Aufgabenkreises der Verwaltung Anlaß der Bürokratisierung. Die Richtung, in der sich diese Entwicklung vollzieht, und ihr Anlaß können dabei sehr verschiedenartig sein. In dem ältesten Land bürokratischer Staatsverwaltung, Ägypten, war es die technisch-ökonomische Unvermeidlichkeit gemeinwirtschaftlicher Regulierung der Wasserverhältnisse für das ganze Land von oben her, welche den Schreiber- und Beamtenmechanismus schuf, der dann in der außerordentlichen, militärisch organisierten Bautätigkeit schon in früher Zeit seinen zweiten großen Geschäftskreis fand.
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Meist haben, wie schon erwähnt, Im Alten Reich (ca. 2707/2657–2170/20 v. Chr.), aber zum Teil schon früher, wurde in der Regel für jeden Pharao eine neue Residenz errichtet und ein bzw. zwei Pyramiden mit den dazugehörigen Tempelanlagen erbaut. Vgl. Meyer, Geschichte des Altertums I,22 (wie oben, S. 37, Anm. 48), S. 145, 162 ff., mit Anstreichungen im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München).
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in der Richtung der Bürokratisierung Bedürfnisse gewirkt, welche durch die machtpolitisch bedingte Schaffung stehender Heere und die damit verbundene Entwicklung des Finanzwesens entstanden. Im modernen Staat drängen aber nach der gleichen Richtung außerdem die durch steigende Kompliziertheit der Kultur bedingten wachsenden Ansprüche an die Verwaltung überhaupt. Während sehr bedeutende Expansionen nach außen, speziell die Überseeexpansion, auch und gerade von Staaten mit Honoratiorenherr[183]schaft (Rom, England, Venedig) [A 660]betrieben worden sind, ist – wie sich gelegentlich noch zeigen wird Siehe oben, S. 180 f.
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– „Intensität“ der Verwaltung, d. h. die Übernahme möglichst vieler Aufgaben zu kontinuierlicher Bearbeitung und Erledigung im eigenen Betrieb des Staats, in den großen Honoratiorenstaaten, namentlich Rom und England, relativ äußerst schwach entwickelt gewesen, verglichen mit bürokratischen Staatswesen. Richtig verstanden: Die Struktur der Staatsgewalt hat in beiden Fällen die Kultur sehr stark beeinflußt. Aber relativ wenig in der Form staatlichen Betriebs und staatlicher Kontrolle. Das gilt von der Justiz angefangen bis zur Erziehung. Diese wachsenden Kulturansprüche sind ihrerseits, wenn auch in verschiedenem Maße, durch die Entfaltung des Reichtums der im Staat einflußreichsten Schichten[183] Siehe unten, S. 185 f., 201–204, sowie den Text „Patrimonialismus“, unten, S. 351–361, und den Text „Feudalismus“, unten, S. 450 f.
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bedingt. Insoweit ist dann zunehmende Bürokratisierung Funktion zunehmenden konsumtiv verfügbaren und konsumtiv verwendeten Besitzes und einer, den dadurch gegebenen Möglichkeiten entsprechenden, zunehmend raffinierten Technik der äußeren Lebensgestaltung. In seiner Rückwirkung auf den allgemeinen Bedürfnisstand bedingt dies zunehmende subjektive Unentbehrlichkeit organisierter gemeinwirtschaftlicher und interlokaler, also: bürokratischer, Fürsorge für die verschiedensten, früher entweder unbekannten oder privatwirtschaftlich oder lokal gedeckten Lebensbedürfnisse. Von rein politischen Momenten wirkt in der Richtung der Bürokratisierung besonders nachhaltig das steigende Bedürfnis einer an feste absolute Befriedung gewöhnten Gesellschaft nach Ordnung und Schutz („Polizei“) auf allen Gebieten. Es führt ein stetiger Weg von der bloß sakralen oder bloß schiedsrichterlichen Beeinflussung der Blutfehde, welche die Rechts- und Sicherheitsgarantie für den Einzelnen gänzlich auf die Eideshilfe- und Rachepflicht seiner Sippegenossen legt, zu der heutigen Stellung des Polizisten als des „Stellvertreters Gottes auf Erden“.[183]A: Schichten,
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Von anderen Momenten wirken in erster Linie die mannigfachen sog. „sozialpolitischen“ Aufgaben, welche der moderne Staat teils von den Interessenten zugeschoben bekommt, teils, sei es aus machtpolitischen, sei es aus ideologi[184]schen Motiven, usurpiert. Diese sind natürlich in stärkstem Maße ökonomisch bedingt. Von wesentlich technischen Faktoren endlich kommen die spezifisch modernen, teils notwendigerweise, teils technisch zweckmäßigerweise, gemeinwirtschaftlich zu verwaltenden Verkehrsmittel (öffentliche Land- und Wasserwege, Eisenbahnen, Telegraphen usw.) als Schrittmacher der Bürokratisierung in Betracht. Sie spielen dabei heute vielfach eine ähnliche Rolle wie im alten Orient etwa die Kanäle Mesopotamiens und die Nilregulierung. Ironische Übertragung der auf Papst Innocenz III. zurückgehenden Lehre, daß der Papst der Stellvertreter Gottes (vicarius Christi) auf Erden sei.
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Auf der anderen Seite ist der Grad der Entwicklung der Verkehrsmittel eine für die Möglichkeit bürokratischer Verwaltung[,] wenn auch nicht allein ausschlaggebende, aber doch entscheidend wichtige Bedingung. In Ägypten hätte ohne die natürliche Verkehrsstraße des Nil die bürokratische Zentralisierung auf einer fast rein naturalwirtschaftlichen Basis sicherlich nie den tatsächlich erreichten Grad erlangen können. Im modernen Persien wurden die Telegraphenbeamten als solche offiziell mit der Berichterstattung über alle Vorkommnisse in den Provinzen über den Kopf der Lokalbehörden hinweg an den Schah betraut und außerdem[184] Die Einführung einer zentralisierten Verwaltung wurde von der zeitgenössischen Forschung für Mesopotamien auf die Herrschaftszeit Hammurabis (1728–1688 v. Chr.) und für Ägypten auf die Früh- oder Thinitenzeit (ca. 3032/2982–2707/2657 v. Chr.) datiert. Vgl. Thurnwald, Richard, Staat und Wirtschaft in Babylon zu Hammurabis Zeit, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 81, 1903, S. 644–675, bes. S. 650 ff. (hinfort: Thurnwald, Babylon), und Meyer, Geschichte des Altertums I,22 (wie oben, S. 37, Anm. 48), S. 142 ff., mit An- und Unterstreichungen im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München).
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jedermann das Recht direkter telegraphischer Beschwerde eröffnet,[184] Zu ergänzen wäre: wurde
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um die bürokratische Zentralisation zu fördern. Der moderne Staat des Okzidents kann so, wie es tatsächlich geschieht, nur verwaltet werden, [185]weil er Beherrscher des Telegraphennetzes ist und Post und Eisenbahnen ihm zur Verfügung stehen. Im englisch-persischen Telegraphenvertrag von 1874 wurde festgelegt, daß der erste, 1862 errichtete Draht unter die Leitung der persischen Telegraphenbeamten gestellt und ausschließlich den inländischen Drahtberichten vorbehalten sei. Die von den Ortsbehörden unabhängigen Telegraphenbeamten wurden unter Nâsiruddîn Shah (1848–1896) eingesetzt, um die Willkür der Provinzialgouverneure zu beschränken. Das Beschwerderecht war altpersischen Ursprungs, konnte jedoch von den Untertanen in den Provinzen vor Einführung des Telegraphen kaum praktiziert werden. Vgl. Greenfield, James, Die Verfassung des persischen Staates nebst einem Anhang über Gesetze, Bildungswesen, sanitäre und wirtschaftliche Zustände im heutigen Persien. – Berlin: Franz Vahlen 1904, S. 294 f. (hinfort: Greenfield, Persischer Staat). Eine inhaltlich identische Aussage zu der Max Webers findet sich ebd., S. 247.
Diese ihrerseits wieder hängen mit der Entwicklung eines interlokalen Massengüterverkehrs aufs Engste zusammen, welcher damit unter die ursächlichen Begleiterscheinungen moderner Staatenbildung rückt. Das gilt aber für die Vergangenheit nicht unbedingt, wie wir früher gesehen haben.
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[185] Siehe Weber, Machtprestige und Nationalgefühl, MWG I/22-1, S. 226–231.
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[185]Petitdruck in A.
IV. Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Dis[A 661]kretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert. Sofern es sich um komplizierte Aufgaben handelt, ist bezahlte bürokratische Arbeit nicht nur präziser, sondern im Ergebnis oft sogar billiger als die formell unentgeltliche ehrenamtliche. Ehrenamtliche Tätigkeit ist Tätigkeit im Nebenberuf, funktioniert schon deshalb normalerweise langsamer, weniger an Schemata gebunden und formloser, daher unpräziser, uneinheitlicher, weil nach oben unabhängiger, diskontinuierlicher und schon infolge der fast unvermeidlich unwirtschaftlicheren Beschaffung und Ausnutzung des Subaltern- und Kanzleiapparats auch oft faktisch sehr kostspielig. Dies gilt namentlich dann, wenn man nicht nur an die baren Kosten der öffentlichen Kasse – die allerdings sich bei bürokratischer Verwaltung besonders im Vergleich mit ehrenamtlicher Honoratiorenverwaltung wesentlich zu steigern pflegen –, sondern an die häufigen wirtschaftlichen Verluste der Beherrschten durch Zeitversäumnis und mangelnde Präzision denkt. Die Möglichkeit ehrenamtlicher Honoratiorenverwaltung ist dauernd normalerweise nur da gegeben, wo die Geschäfte „im Nebenamt“ ausreichend besorgt werden können. Sie erreicht mit der qualitativen Steigerung der Aufgaben, vor welche sich die Verwaltung gestellt sieht – heute [186]auch in England
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–, ihre Grenze. Kollegial organisierte Arbeit andererseits bedingt Reibungen und Verzögerungen, Kompromisse zwischen kollidierenden Interessen und Ansichten und verläuft dadurch unpräziser, nach oben unabhängiger, daher uneinheitlicher und langsamer. Alle Fortschritte der preußischen Verwaltungsorganisation sind gewesen und werden auch künftig sein: Fortschritte des bürokratischen, speziell des monokratischen Prinzips. [186] Anspielung auf die seit 1832 in England einsetzende „civil service reform“, in deren Verlauf zunehmend ehrenamtliche Funktionen von besoldeten und geprüften Beamten übernommen wurden. Vgl. dazu auch unten, S. 360 mit Anm. 15.
Die Forderung einer nach Möglichkeit beschleunigten, dabei präzisen, eindeutigen, kontinuierlichen Erledigung von Amtsgeschäften wird heute an die Verwaltung in erster Linie von seiten des modernen kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs gestellt. Die ganz großen modernen kapitalistischen Unternehmungen sind selbst normalerweise unerreichte Muster straffer bürokratischer Organisation. Ihr Geschäftsverkehr ruht durchgehends auf zunehmender Präzision, Stetigkeit und vor allem Schleunigkeit der Operationen. Dies wieder wird durch die Eigenart der modernen Verkehrsmittel bedingt, zu welcher u. a. auch der Nachrichtendienst in der Presse gehört. Die außerordentliche Beschleunigung in der Übermittlung von öffentlichen Bekanntmachungen, von wirtschaftlichen oder auch rein politischen Tatsachen übt nun schon rein als solche einen stetigen scharfen Druck in der Richtung auf möglichste Beschleunigung des Reaktionstempos der Verwaltung gegenüber den jeweils gegebenen Situationen, und das Optimum darin ist normalerweise nur durch straffe bürokratische Organisation gegeben. (Daß der bürokratische Apparat auch wieder bestimmte Hemmungen für eine dem individuellen Fall angepaßte Erledigung erzeugen kann und tatsächlich erzeugt, gehört im einzelnen nicht hierher.)
Vor allem aber bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre. „Sachliche“ Erledigung bedeutet in diesem Fall in erster Linie Erledigung „ohne Ansehen der Person“ nach berechenbaren Regeln. „Ohne Ansehen der Person“ aber ist auch die Parole des „Marktes“ [187]und aller nackt ökonomischen Interessenverfolgung überhaupt. Die konsequente Durchführung der bürokratischen Herrschaft bedeutet die Nivellierung der ständischen „Ehre“, also, wenn das Prinzip der Marktfreiheit nicht gleichzeitig eingeschränkt wird, die Universalherrschaft der „Klassenlage“. Wenn diese Konsequenz bürokratischer Herrschaft nicht überall parallel mit dem Maße der Bürokratisierung eingetreten [A 662]ist, hat dies
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seinen Grund in der Verschiedenheit der möglichen Prinzipien der Bedarfsdeckung der politischen Gemeinschaften. Aber auch für die moderne Bürokratie hat das zweite Element: die „berechenbaren Regeln“[,] die eigentlich beherrschende Bedeutung. Die Eigenart der modernen Kultur, speziell ihres technisch-ökonomischen Unterbaues aber, verlangt gerade diese „Berechenbarkeit“ des Erfolges. Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des „sine ira ac studio“. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so vollkommener, je mehr sie sich „entmenschlicht“, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachgerühmt wird, die Ausschaltung von Liebe, Haß und allen rein persönlichen, überhaupt aller irrationalen, dem Kalkül[187] Satz defekt; dies sinngemäß ergänzt.
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sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte gelingt. Statt des durch persönliche Anteilnahme, Gunst, Gnade, Dankbarkeit, bewegten Herren der älteren Ordnungen verlangt eben die moderne Kultur für den äußeren Apparat, der sie stützt, je komplizierter und spezialisierter sie wird, desto mehr den menschlich unbeteiligten, daher streng „sachlichen“ Fachmann. All dies aber bietet die bürokratische Struktur in günstigster Verbindung. Namentlich schafft regelmäßig erst sie der Rechtsprechung den Boden für die Durchführung eines begrifflich systematisierten und rationalen Rechts, auf der Grundlage von „Gesetzen“, wie es in hoher technischer Vollendung zuerst die spätere römische Kaiserzeit geschaffen hat.A: Kalkul
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Im Mittelal[188]ter ging die Rezeption dieses Rechts Hand in Hand mit der Bürokratisierung der Rechtspflege: dem Eindringen des rational geschulten Fachspezialistentums an Stelle der alten, an die Tradition oder irrationale Voraussetzungen gebundenen Rechtsfindung. [187] Erst mit Kaiser Hadrian begann die Zusammenfassung der bis dahin bestehenden prätorischen Einzeledikte, die zeitlich begrenzte Regeln für die Prozeßführung enthielten. Die vom Kaiser beauftragten Juristen nahmen Rechtssystematisierungen vor, die es ermöglichten, daß Zivilprozesse von beamteten Richtern durchgeführt werden konnten. Insofern ging diese Entwicklung – wie Weber oben schreibt – mit der Entstehung eines juristisch ausgebildeten Beamtentums einher und gehört somit dem Schwerpunkt nach in die Zeit des sog. Dominats.
Der „rationalen“
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Rechtsfindung auf der Basis streng formaler Rechtsbegriffe steht gegenüber eine Art der Rechtsfindung, welche in erster Linie sich an geheiligte Traditionen bindet, den konkreten[,] aus dieser Quelle nicht eindeutig entscheidbaren Fall aber erledigt entweder („charismatische“ Justiz): durch konkrete „Offenbarung“ (Orakel, Prophetensprüche oder Gottesurteil), oder – und diese Fälle interessieren uns hier allein: – 1. unformal nach konkreten ethischen oder anderen praktischen Werturteilen: die „Kadi-Justiz“ (wie R[ichard] Schmidt sie zutreffend genannt hat),[188] b–b(bis S. 194: Zusammenhang kennen.) Petitdruck in A.
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oder 2. zwar formal, aber nicht durch Unterordnung unter rationale Begriffe, sondern durch Heranziehung von „Analogien“ und in Anlehnung an und Ausdeutung von konkreten „Präjudizien“: „empirische Justiz“.[188] Richard Schmidt beschreibt die „‚Kadi‘- oder Paschajustiz“ bereits 1898 in der 1. Auflage seines „Lehrbuchs des deutschen Civilprozessrechts“ als „eine den ‚gesunden Menschenverstand‘ des Richters“ verklärende Ansicht, die von den Gegnern des formellen Zivilprozeßrechtes angeführt werde. Diese forderten, das bestehende Prozeßrecht durch ein „formfreies, patriarchalisches, alles oder möglichst viel dem Scharfsinn und Gerechtigkeitsgefühl des einzelnen Richters, dem ‚richterlichen Ermessen‘ überlassendes Verfahren“ zu ersetzen (Schmidt, Lehrbuch1, S. 8; dieselbe Formulierung findet sich auch 1906 in der 2., erweiterten Auflage des Lehrbuchs: Schmidt, Lehrbuch2, S. 34). In einem 1908 erschienenen Aufsatz stellt Schmidt die Ziele der „Kadijustiz“ denen des Rechtsstaates als grundlegend differierend gegenüber (Schmidt, Zivilprozeßreform, S. 266).
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Die Kadijustiz kennt gar keine, die empirische Justiz bei reinem Typus, keine in unserem Sinne rationalen „Urteilsgründe“. Der konkrete [189]Werturteilscharakter der Kadijustiz kann sich bis zu prophetischem Bruch mit aller Tradition steigern, die empirische Justiz andererseits zu einer Kunstlehre sublimiert und rationalisiert werden. Da – wie anderwärts erörtert wird Max Weber versteht unter „empirischer Justiz“ oder „empirischer Jurisprudenz“ die am Einzelfall ausgerichtete, induktiv verfahrende Rechtslehre, die meist durch Praktiker und Honoratioren ausgeübt werde. Sie stehe damit der systematisch-rationalen Rechtslehre gegenüber, die von universitär ausgebildeten Fachjuristen vertreten werde. (Vgl. Weber, Recht § 2, S. 3 f. (WuG1, S. 457 f.); dass. § 6, S. 8 (WuG1, S. 491), sowie dass. § 8 (WuG1, S. 508–510)). Seit 1900 bezeichnete sie auch eine Richtung innerhalb der deutschsprachigen Jurisprudenz, die von Ernst Fuchs, Eugen Ehrlich und in moderaterer Form von Hermann Kantorowicz vertreten wurde. Sie war bestrebt, das Rechtsleben empirisch zu erforschen und bildete einen Ausgangspunkt für die sich konstituierende Rechtssoziologie. Vgl. Kantorowicz, Hermann, Rechtswissenschaft und Soziologie, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 275–310, und die anschließende Debatte (ebd., S. 310–335), an der sich auch Max Weber intensiv beteiligte (ebd., S. 323–330; MWG I/12).
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– die nicht bürokratischen Herrschaftsformen ein eigentümliches Miteinander einer Sphäre strenger Traditionsgebundenheit einerseits, freier Willkür und Gnade des Herrn andererseits aufweisen, so sind andererseits Kombinations- und Übergangsformen zwischen beiden Prinzipien sehr häufig. In England z. B. ist – wie Mendelssohn anschaulich macht,[189] Siehe den Text „Patrimonialismus“, unten, S. 257–259, 291–295, 314 f. – Die Verweisformulierung legt jedoch einen Bezug außerhalb des Bereichs „Herrschaft“ nahe. Zur Stellung dieses Exkurses über die nicht-formalen bzw. nicht-rationalen Tendenzen der Rechtsfindung vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 153 f.
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– eine breite Unterschicht der Justiz noch jetzt der Sache nach in einem so hohen Grade „Kadijustiz“, wie man es sich auf dem Kontinent nicht leicht vorstellt. Unsere Geschworenenjustiz, welche ja die Angabe der Gründe des Wahrspruchs ausschließt, Albrecht Mendelssohn Bartholdy zeigte an vielen, der englischen Tagespresse entnommenen Justizfällen der Jahre 1906 und 1907, wie stark der Prozeßausgang von der Person des Richters abhängig war. Der Begriff „Kadijustiz“ fällt bei ihm zwar nicht, es wird aber von „arbiträrer Richtergewalt“ und von der Vergleichbarkeit mit dem „aufgeklärten Despotismus“ gesprochen. Mendelssohn Bartholdy, Imperium des Richters, Zitate: S. 85, 120.
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funktioniert in der Praxis bekanntlich nicht selten ebenso – wie man sich denn überhaupt hüten muß zu glauben: „demokratische“ Justizprinzipien seien mit „rationaler“ (im Sinn von formaler) Rechtsfindung identisch. Im Gegen[190]teil, wie an anderer Stelle dargelegt wird. Der Wahrspruch oder das Verdikt (von lat.: vere dictum) ist die Form der Urteilsverkündung im schwurgerichtlichen Verfahren. Sie unterscheidet sich diametral vom richterlichen Urteilsspruch, der nach der Deutschen Zivilprozeßordnung und der Deutschen Strafprozeßordnung (1877/79) die Entscheidungsgründe mit enthalten mußte. Der Wahrspruch basierte hingegen auf der Gewissensentscheidung der Geschworenen, die über die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten zu befinden hatten. Die Schwurgerichte waren im fränkischen, normannischen und angelsächsischen Rechtswesen beheimatet, in Deutschland wurden sie unter französischem Einfluß 1798 zuerst in den linksrheinischen Gebieten eingeführt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren sie in juristischen Fachkreisen umstritten, da sie das Laienelement in der Rechtsprechung über die juristische Fachkompetenz stellten. (Vgl. Weber, Recht § 8, WuG1, S. 510; MWG I/22-3). Auch für Max Weber entbehrte der Wahrspruch „alle[r] logisch rationalen Begründungen der konkreten Entscheidung“ (Weber, Recht § 3, S. 5; WuG1, S. 402) und beinhaltete wegen der fehlenden Kontrollmöglichkeiten die Gefahr, eine „Kadijustiz praeter und auch contra legem“ zu werden (Weber, Max, Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Hermann Kantorowicz, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 327; MWG I/12).
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Andererseits ist die englische (und amerikanische) Justiz der großen Reichsgerichte[190] Siehe unten, S. 195–197, oder Weber, Recht § 5, S. 3 (WuG1, S. 469 f.). – Zur Stellung dieses Exkurses vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 153 f.
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immer noch in hohem Maße empirische, speziell Präjudizienjustiz. Der Grund des Scheiterns aller rationalen Kodifikationsbestrebungen und ebenso der Rezeption des römischen Rechts lag in England in dem erfolgreichen Widerstand der großen einheitlich organisierten Anwaltszünfte, einer monopolistischen Honoratiorenschicht, aus deren Mitte die Richter der großen Gerichtshöfe hervorgingen. Seit den Justizreformen 1873 und 1876 gab es in England neben den beiden älteren höchsten Gerichtshöfen, dem House of Lords und dem Judicial Committee des Privy Council, den Supreme Court. Trotz der damit verbundenen Hierarchisierung und Selbstbindung der Richter an vorausgegangene Präzedenzfälle blieb der mittelalterliche Gedanke, daß der Richter auch Recht schaffen könne, erhalten. (Vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I (wie oben, S. 20, Anm. 24), S. 110–112.). – In den USA sei das Urteil des Richters – so Weber, Recht § 8, WuG1, S. 509 (MWG I/22-3) – seine „persönliche Schöpfung“. Diese Möglichkeit, das gesatzte Recht durch Präjudizienjustiz zu umgehen, trug zu dem hohen Prestige der Richter des Supreme Court und der höchsten Gerichtshöfe (Federal und State Courts) bei. Vgl. Bryce, American Commonwealth II (wie oben, S. 42, Anm. 1), S. 512 ff.
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Sie behielten die juristische Erziehung[,] nach Art einer empirischen Kunstlehre technisch hoch entwickelt[,] in ihrer Hand und kämpften erfolgreich gegen die, ihre soziale und materielle Stellung bedrohenden, Bestrebungen nach rationalem Recht, wie sie besonders von den geistlichen Gerichten, zeitweilig auch von den Universitäten ausgingen. Der Kampf der Common-Law-Advokaten gegen das römische und kirchliche Recht und gegen die Machtstellung der Kirche überhaupt war dabei zum erheblichen Teil öko[A 663]nomisch: durch ihr Sportelinteresse verursacht, wie die Art der Eingriffe des Königs in [191]diesen Kampf deutlich zeigt. Die Ursprünge der Anwaltsinnungen (inns of court) gehen wohl auf das 14. Jahrhundert zurück. Die vier großen, in London ansässigen Innungen umfaßten den gesamten gelehrten Juristenstand des Common Law. Bereits im 16. Jahrhundert mußte ihnen die Krone das ausschließliche Recht der Anwaltsausbildung zugestehen. Die Richter der großen Reichsgerichte wurden noch zu Webers Zeit aus ihrem Kreis ausgewählt. Vgl. Hatschek, Julius, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Band 2: Die Verwaltung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1906, S. 176–179 (hinfort: Hatschek, Englisches Staatsrecht II), sowie Gneist, Rudolph, Geschichte und heutige Gestalt der Ämter in England mit Einschluß des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats (Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1. Theil). – Berlin: Julius Springer 1857, S. 495 ff. (hinfort: Gneist, Englisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht I).
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Aber ihre diesen Kampf siegreich bestehende Machtstellung war durch die politische Zentralisation bedingt. In Deutschland fehlte, und zwar aus vornehmlich politischen Gründen, ein sozial machtvoller Honoratiorenstand, der nach Art der englischen Anwälte Träger einer nationalen Rechtsübung hätte sein und das nationale Recht zum Rang einer Kunst mit geregelter Lehre entwickeln und welcher dem Eindringen der technisch überlegenen Schulung der römisch-rechtlich gebildeten Juristen hätte Widerstand leisten können. Nicht etwa die bessere Angepaßtheit des materiellen römischen Rechts an die Bedürfnisse des entstehenden Kapitalismus entschied hier dessen Sieg, – geradezu alle spezifischen Rechtsinstitute des modernen Kapitalismus sind ja dem römischen Recht fremd und mittelalterlichen Ursprungs. Sondern seine rationale Form und vor allem die technische Notwendigkeit, das Prozeßverfahren angesichts des, durch die steigend komplizierten praktischen Rechtsfälle und angesichts des[191] Von der „Sportelsucht der Common-Law-Juristen“ im Kampf gegen die geistlichen Gerichte seit dem 13. Jahrhundert und ihrem „Brotneid“ gegen das im 16. Jahrhundert von der Krone geförderte römische Recht spricht Hatschek, Julius, Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria. – München, Berlin: R. Oldenbourg 1913, S. 187, 348 (hinfort: Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte); dass. auch in: Hatschek, Englisches Staatsrecht I (wie oben, S. 20, Anm. 24), S. 12 f., 602 f.
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von der zunehmend rationalisierten Wirtschaft an Stelle der überall urwüchsigen Wahrheitsermittlung durch konkrete Offenbarung oder sakrale Bürgschaft geforderten, rationalen Beweisverfahrens, in die Hand rational geschulter – und das heißt: auf den Universitäten am römischen Recht geschulter – Fachmänner zu legen. Diese Situation war natürlich in starkem Maße durch die verwandelte Struktur der Wirtschaft mitbedingt. Aber dieses Moment wirkte überall, auch in England, wo die Königsgewalt das rationale Beweisverfahren zugunsten vor allem der Kaufleute einführte.[191]A: der
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Der überwiegende Grund des trotzdem [192]vorhandenen Unterschiedes in der Entwicklung des materiellen Rechts in England und Deutschland lag, wie schon daraus hervorgeht, nicht hier, sondern er entsprang einer Eigengesetzlichkeit der Entwicklung der beiderseitigen Herrschaftsstruktur: in England zentralisierte Justiz und zugleich Honoratiorenherrschaft, in Deutschland Fehlen der politischen Zentralisation und zugleich Bürokratisierung. Das in der Neuzeit kapitalistisch zuerst höchstentwickelte Land, England, behielt dadurch eine minder rationale und minder bürokratische Justiz. Der Kapitalismus aber konnte sich in England damit namentlich deshalb so gut abfinden, weil dort die Art der Gerichtsverfassung und des Prozeßverfahrens bis in die Neuzeit einer weitgehenden Justizverweigerung gegenüber den ökonomisch Schwachen im Erfolg gleichkam. Diese Tatsache und die, gleichfalls durch ökonomische Advokateninteressen bedingte, Zeit- und Kostspieligkeit Wie Max Weber in einer Parallelstelle (Weber, Recht § 6, S. 2; WuG1, S. 483) ausführt, meint er hier die Entwicklung seit Heinrich II. (1154–1189) und insbesondere unter Eduard III. (1327–1377). Die spätere Einführung des Equity-Verfahrens, das Elemente des unter den ausländischen Kaufleuten gepflegten römischen Rechts aufnahm, ermöglichte eine schnelle und sachliche Streitbeilegung. Insbesondere jüdische und italienische Händler verlangten Rechtssicherheit im Kapitalverkehr. Die Hervorhebung Heinrichs II. als Gesetzgeber, der die formelle Anklage und die Anklagejury einführte, findet sich in [192]der zeitgenössischen Forschungsliteratur bei Maitland, Frederic William, The Constitutional History of England. A Course of Lectures Delivered. – Cambridge: University Press 1908, S. 10 ff., 127 ff. (hinfort: Maitland, Constitutional History), sowie ders., und Pollock, Frederick, The History of English Law Before the Time of Edward I., Band 1, 1. Aufl. – Cambridge: University Press 1895, S. 447 ff.
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der Grundbesitzübertragung hat andererseits auch die Agrarverfassung Englands tiefgehend zugunsten der Bodenakkumulation und -immobilisierung[192]Lies: Zeit und Kosten verursachende Art
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beeinflußt. A: -Immobilisierung
Die römische Rechtsfindung ihrerseits war in der Zeit der Republik eine eigentümliche Mischung von rationalen, empirischen und selbst von Kadijustizelementen. Die Geschworenenbestellung als solche und die anfänglich zweifellos „von Fall zu Fall“ gegebenen actiones in factum des Prätors
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enthielten ein Element der letzteren Art. Die „Kautelarjurisprudenz“ und alles, was aus ihr erwachsen ist, [193]einschließlich eines Teils noch der Responsenpraxis der klassischen Juristen, Im Rahmen seiner zivilgerichtlichen Tätigkeit stand dem Prätor das Recht zu, die Geschworenen zu bestellen und die Form des Verfahrens zu regeln. Weber meint hier vor allem die Zustände der frühen Republik, in denen der Prätor aus der Geschworenenliste ihm beliebige Geschworene für das jeweils anstehende Verfahren auswählen konnte. Seit C. Sempronius Gracchus mußte sich der Prätor zu Beginn seiner Amtszeit auf eine bestimmte Anzahl von Geschworenen festlegen. (Vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht II,13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 228 ff.). Die „actiones in factum" sind Klagen, bei denen die Umschreibung der Urteilsvoraussetzungen von einer Tatsachenbeschreibung und nicht von festgefügten Rechtsbegriffen ausgeht. (Vgl. auch Weber, Recht § 4, S. 5; WuG1, S. 462). Eine Selbstbindung setzte hier mit den prätorischen Edikten (vgl. dazu unten, Anm. 70) ein.
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trug „empirischen“ Charakter. Die entscheidende Wendung des juristischen Denkens zum rationalen wurde zuerst durch die technische Art der Prozeßinstruktion an der Hand der auf Rechtsbegriffe abgestellten Formeln des prätorischen Ediktes[193] Bei der Kautelarjurisprudenz handelt es sich um eine juristisch betriebene, vorsorgliche Interessenwahrung zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten. Max Weber definiert sie an anderer Stelle als „Tätigkeit von Rechtskonsulenten, welche die Vertragsschemata für die Parteien entwarfen“. (Vgl. Weber, Recht § 4, S. 5; WuG1, S. 462). Die „Responsenpraxis“ bezeichnet das schriftlich erstellte Gutachten, das in republikanischer Zeit Grundlage für das Urteil des iudex war. Beide Verfahren waren fallbezogen und bis in die Kaiserzeit vorherrschend.
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vorbereitet. (Heute, unter der Herrschaft des Substanziierungsprinzips, Im edictum praetorium verkündete der Prätor die für seine Amtszeit gültigen Regeln der Rechtsprechung. Die Formeln überdauerten oft die jeweilige Amtszeit und wurden von Kaiser Hadrian 130 n. Chr. im edictum perpetuum zusammengefaßt. Zur Zeit Max Webers war es umstritten, ob man das prätorische Edikt als Prozeßordnung bezeichnen könne. Vgl. Karlowa, Otto, Römische Rechtsgeschichte in zwei Bänden, Band 1: Staatsrecht und Rechtsquellen. – Leipzig: Veit & Comp. 1885, S. 461 ff. (hinfort: Karlowa, Römische Rechtsgeschichte I).
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wo der Vortrag der Tatsachen entscheidet, einerlei unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt sie die Klage begründet erscheinen lassen, fehlt ein solcher Zwang zur eindeutigen formalen Herausarbeitung des Umfangs der Begriffe, wie ihn die technische Hochkultur des römischen Rechts erzeugt hat.) Insoweit also waren wesentlich prozeßtechnische, nur indirekt aus der Struktur des Staats folgende, Entwicklungsfaktoren im Spiel. Vollendet aber, als ein geschlossenes, wissenschaftlich zu handhabendes Begriffssystem, wurde die Rationalisierung des römischen Rechts – welche dieses von allem[,] was der Orient und auch was das Hellenentum hervorgebracht hatte[,] so scharf scheidet – erst in der Epoche der Bürokratisierung des Staatswesens. Im deutschen Prozeßrecht ist die Substantiierung einer Klage, d. h. die Angabe aller klagebegründenden Tatsachen, erforderlich und u.U. bestimmend für den Prozeßverlauf. Vgl. § 253 III Nr. 3 ZPO (Die Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich. Auf der Grundlage des Kommentars von L. Gaupp erläutert von Friedrich Stein, Band 1, 8. und 9. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1906, S. 552 ff.), und Weber, Recht § 4, S. 5 (WuG1, S. 462); dort – im Originalmanuskript – findet sich auch die für Weber charakteristische Schreibweise „Substanziierung“, die daher nicht emendiert wurde.
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D.h. in der späteren Kaiserzeit; vgl. oben S. 187 mit Anm. 57.
Ein typisches Beispiel nicht rationaler und doch „rationalistischer“, streng traditionsgebundener empirischer Justiz sind die Re[194]sponsen der Rabbiner im Talmud.
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Reine, traditionsentbundene „Kadi“-Justiz endlich ist jeder Prophetenwahrspruch nach dem Schema: „Es steht geschrieben – ich aber sage Euch“.[194] Gemeint sind die auf Anfrage der jüdischen Gemeinden, zumeist von den rabbinischen Autoritäten der babylonischen Talmudschulen, ausgefertigten Rechtsgutachten, die seit Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. im Talmud gesammelt wurden und häufig durch die Interpretation von Bibel und Mischna in religionsgesetzlichen, rituellen oder ethischen Fragen autorisierte Entscheidungen darstellten.
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Je stärker der religiöse Charakter der Stellung des Kadi (oder gleichartigen Richters) betont ist, desto freier schaltet innerhalb der nicht durch heilige Tradition gebundenen Sphäre die regelfreie Beurteilung des Einzelfalles. Daß z. B. in Tunis das geistliche Gericht (Chara) über den Grundbesitz nach „freiem Ermessen“ – wie der Europäer es ausdrückt – entschied, blieb für ein Menschenalter nach der französischen Okkupation ein sehr fühlbares Hemmnis der Entfaltung des Kapitalismus. In Anlehnung an Matthäus 5, 21–22; dort heißt es: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist […]. Ich aber sage euch […].“
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– Die soziologische Grundlage jener älteren Typen der Justiz in der Herrschaftsstruktur lernen wir in anderem Zusammenhang kennen. Offensichtlich bezieht sich Max Weber auf eine 1912 erschienene Studie von Rudolf Leonhard über die aktuellen Grundbesitz- und Rechtsverhältnisse in Tunis, das seit 1881 unter französischem Protektorat stand. Dort heißt es: „Es gab wohl auch vor den französischen Okkupationen einen geistlichen Gerichtshof, die Chara, die über Streitigkeiten aus Grundstückssachen zu entscheiden hatte, und die jetzt noch bei Streitigkeiten zwischen Eingeborenen angerufen werden kann. Sie fällt ihre Entscheidungen aber nach freiem Ermessen, ohne sich an feststehende Satzungen zu halten, ein für Europäer unmöglicher Zustand.“ (Vgl. Leonhard, Rudolf, Die französische Kolonisation in Tunis, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 99, 1912, S. 145–174, Zitat: S. 157). Die Franzosen hätten in Tunis für den europäischen Grundbesitz bereits 1884 „die Torrenssche Bodengesetzgebung“, d. h. Vermessung und Eintragung von Grundbesitz in Grundbücher, eingeführt, um Rechtssicherheit zu schaffen (ebd., S. 158). In Algerien, der älteren französischen Kolonie in Nordafrika, hätten hingegen „noch 40 Jahre nach der Okkupation höchst unklare Rechtsverhältnisse bezüglich des Bodenbesitzes“ geherrscht (ebd., S. 157). Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 152 mit Anm. 16.
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Siehe beispielsweise den Text „Patrimonialismus“, unten, S. 257–259, den Text „Feudalismus“, unten, S. 385–390, den Text „Charismatismus“, unten, S. 468 f., sowie den Text „Staat und Hierokratie“, unten, S. 634. Es könnte sich hier auch um einen pauschalen Hinweis auf die Texte zu den vor- bzw. nicht-bürokratischen Herrschaftsformen, S. 247 ff., handeln. – Zur Stellung dieses Exkurses vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 153 f.
b
[194]b(ab S. 188: Der „rationalen“)–b Petitdruck in A.
[195][A 664]Es ist nun vollkommen wahr, daß „Sachlichkeit“ und „Fachmäßigkeit“ nicht notwendig identisch sind mit Herrschaft der generellen abstrakten Norm. Nicht einmal auf dem Boden der modernen Rechtsfindung. Der Gedanke des lückenlosen Rechts ist bekanntlich prinzipiell heftig angefochten, und die Auffassung des modernen Richters als eines Automaten,
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in welchen oben die Akten nebst den Kosten hineingeworfen werden, damit er unten das Urteil nebst den mechanisch aus Paragraphen abgelesenen Gründen ausspeie, wird entrüstet verworfen, – vielleicht gerade deshalb, weil eine gewisse Annäherung an diesen Typus an sich in der Konsequenz der Rechtsbürokratisierung liegen würde. Auch auf dem Gebiet der Rechtsfindung gibt es Gebiete, auf denen der bürokratische Richter direkt zu „individualisierender“ Rechtsfindung vom Gesetzgeber angewiesen ist. – Und vollends pflegt man gerade für das Gebiet der eigentlichen Verwaltungstätigkeit – d. h. für alle staatliche Tätigkeit, die nicht in das Gebiet der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung fällt – die Freiheit und Herrschaft des Individuellen in Anspruch zu nehmen, der gegenüber die generellen Normen überwiegend als Schranken der positiven, niemals zu reglementierenden „schöpferischen“ Betätigung des Beamten eine negative Rolle spielten. Die Tragweite dieser These möge hier dahingestellt sein. Das Entscheidende bliebe doch: daß diese „frei“ schaffende Verwaltung (und eventuell: Rechtssprechung) nicht, wie wir das bei den vorbürokratischen Formen finden werden, ein Reich der freien Willkür und Gnade, der persönlich motivierten Gunst und Bewertung bilden würde. Sondern daß stets als Norm des Verhaltens die Herrschaft und rationale Ab[196]wägung „sachlicher“ Zwecke und die Hingabe an sie besteht. Auf dem Gebiete der staatlichen Verwaltung speziell gilt gerade der das „schöpferische“ Belieben des Beamten am stärksten verklärenden Ansicht als höchster und letzter Leitstern seiner Gebarung der spezifisch moderne, streng „sachliche“ Gedanke der „Staatsraison“. In die Kanonisierung dieser abstrakten und „sachlichen“ Idee untrennbar eingeschmolzen sind dabei natürlich vor allem die sicheren Instinkte der Bürokratie für die Bedingungen der Erhaltung ihrer Macht im eigenen Staat (und durch ihn, anderen Staaten gegenüber). Letztlich diese eigenen Machtinteressen geben jenem an sich keineswegs eindeutigen Ideal meist erst einen konkret verwertbaren Inhalt und in zweifelhaften Fällen den Ausschlag. Dies ist hier nicht weiter auszuführen. Entscheidend ist für uns nur: daß prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler „Gründe“, d. h. entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln steht. [195] Das Postulat von der Lückenlosigkeit des Rechts und daraus resultierend das der strengen richterlichen Gebundenheit wurde von den Rechtspositivisten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verfochten und stieß vor allem bei den Vertretern des germanischen Rechts auf scharfe Kritik. Die Karikatur des „zu einem maschinenmäßigen ,Subsumtions‘-Automaten“ degradierten Richters, in den „man auf der einen Seite das Zehnpfennigstück des konkreten Thatbestandes hineinwirft, um dann auf der andern vermöge des geräuschlos in ihm arbeitenden Gesetzesapparates das Urteil, vollendet bis ins einzelnste, herausfallen zu sehen“, zeichnete Schmidt, Bruno, Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens. – Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 15. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte die neue Freirechtsbewegung die Kritik am Rechtspositivismus fort, indem sie das rechtsschöpferische Element des richterlichen Amtes betonte, so z. B. auch Hermann Kantorowicz beim Ersten Deutschen Soziologentag im Oktober 1910. Vgl. dessen Vortrag „Rechtswissenschaft und Soziologie“, in: Verhandlungen DGS 1910, S. 279, 285–288, sowie Max Webers kritische Einwände dazu, ebd., S. 312, 326 f. (MWG I/12).
Auch hier ist die Stellungnahme jeder „demokratischen“, d. h. in diesem Fall: auf Minimisierung der „Herrschaft“ ausgehenden Strömung notwendig zwiespältig. Die „Rechtsgleichheit“ und das Verlangen nach Rechtsgarantien gegen Willkür fordern
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die formale rationale „Sachlichkeit“ der Verwaltung im Gegensatz zu dem persönlichen freien Belieben aus der Gnade der alten Patrimonialherrschaft. Das „Ethos“ aber, wenn es in einer Einzelfrage die Massen beherrscht – und wir wollen von anderen Instinkten ganz absehen –, stößt mit seinen am konkreten Fall und der konkreten Person orientierten Postulaten nach materieller „Gerechtigkeit“ mit dem Formalismus und der regelgebundenen kühlen „Sachlichkeit“ der bürokratischen Verwaltung unvermeidlich zusammen und muß dann aus diesem Grund emotional verwerfen, was rational gefordert worden war. Insbesondere ist den besitzlosen Massen mit einer formalen „Rechtsgleichheit“ und einer „kalkulierbaren“ Rechtsfindung und Verwaltung, wie sie die „bürgerlichen“ Interessen fordern, nicht gedient. Für sie haben naturgemäß Recht und Verwaltung im Dienst des Ausgleichs der ökonomischen und sozialen Lebenschancen gegenüber den Besitzenden zu stehen, und diese Funktion können sie allerdings nur dann versehen, wenn sie weitgehend einen unformalen, weil inhaltlich „ethischen“, („Kadi“-)Charakter annehmen. [197]Nicht nur jede Art von „Volksjustiz“ – die nach rationalen „Gründen“ und „Normen“ nicht zu fragen pflegt –, sondern auch jede Art von intensiver Be[A 665]einflussung der Verwaltung durch die sog. „öffentliche Meinung“, d. h. unter den Bedingungen der Massendemokratie: durch ein aus irrationalen „Gefühlen“ geborenes, normalerweise von Parteiführern und Presse inszeniertes oder gelenktes Gemeinschaftshandeln, kreuzt den rationalen Ablauf der Justiz und Verwaltung ebenso stark und unter Umständen weit stärker als es die „Kabinettsjustiz“ eines „absoluten“ Herrschers tun konnte. [196]A: fordert
V. Die bürokratische Struktur geht Hand in Hand mit der Konzentration der sachlichen Betriebsmittel in der Hand des Herrn. So in bekannter typischer Art in der Entwicklung der privatkapitalistischen Großbetriebe, die darin ihr wesentliches Merkmal finden. Entsprechend aber auch bei den öffentlichen Gemeinschaften. Das bürokratisch geleitete Heer der Pharaonen, der Spätzeit der römischen Republik und des Prinzipats und vor allem des modernen Militärstaats ist gegenüber den Volksheeren agrarischer Stämme, ebenso den Bürgerheeren der antiken und den Milizen der frühmittelalterlichen Städte und gegenüber allen Lehensheeren dadurch charakterisiert, daß bei diesen die Selbstequipierung und Selbstverpflegung der Heerfolgepflichtigen das Normale ist, beim bürokratischen Heere aber die Ausrüstung und Verpflegung aus den Magazinen des Herrn erfolgt. Der heutige Krieg als Maschinenkrieg macht dies letztere technisch ebenso unbedingt notwendig wie die Herrschaft der Maschine im Gewerbe die Konzentration der Betriebsmittel beförderte. Die bürokratischen, vom Herrn equipierten und verpflegten Heere der Vergangenheit dagegen sind meist entstanden, wenn soziale und wirtschaftliche Entwicklungen die Schicht der zur Selbstequipierung ökonomisch fähigen Bürger absolut oder relativ vermindert hatten, so daß deren Zahl zur Aufstellung der erforderlichen Heere nicht mehr ausreichte. Mindestens relativ: nämlich im Verhältnis zum beanspruchten Machtumfang des Staatswesens, nicht. Denn nur die bürokratische Heeresform ermöglichte die Aufstellung stehender Berufsheere, wie sie sowohl zur dauernden Befriedung großer Flächenstaaten als zur Kriegführung gegen weit entfernte Feinde, namentlich über See, notwendig sind. Auch die spezifische militärische Disziplin und technische Abrichtung ist normalerweise, mindestens in ihrem modernen Höhengrade[,] nur im bürokratischen Heere voll entfaltungsfähig.
[198]Die Bürokratisierung des Heeres hat sich historisch überall parallel vollzogen mit der Abwälzung des bis dahin ein Ehrenvorrecht der Besitzenden bildenden Heeresdienstes auf die Besitzlosen (auch einheimische, wie in den Heeren der römischen Feldherrn der Spätrepublik und des Kaiserreichs und in den modernen Heeren bis in das 19. Jahrh[undert,] oder auch fremde, wie in den Soldheeren aller Zeiten). Neben dem dabei überall mitwirkenden
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Grunde: daß mit steigender Volksdichte und damit Intensität und Anspannung der wirtschaftlichen Arbeit, welche die zunehmende „Unabkömmlichkeit“ der erwerbenden Schichten für Kriegszwecke bedingt,A: mitwirkendem
i
jener Vorgang mit steigender, materieller und geistiger Kultur überhaupt in typischer Art Hand in Hand gehtIn A folgt: geht Verb an das Satzende verschoben.
j
. Zeiten starken ideologischen Schwunges abgerechnet, pflegt neben der Eignung auch die Neigung besitzender Schichten mit raffinierter, zumal städtischer, Kultur für die grobe Kriegsarbeit des gemeinen Soldaten gering zu sein, und die Qualifikation und Neigung zum Offiziersberuf pflegt unter sonst gleichen Umständen den besitzenden Schichten des platten Landes wenigstens stärker zu eignen. Erst wo die zunehmende Maschinenmöglichkeit des Kriegsbetriebs von den Führern „Techniker“-Eigenschaften verlangt, gleicht sich dies aus. – Die Bürokratisierung des Kriegsbetriebs kann privatkapitalistisch gestaltet sein, wie jedes andere Gewerbe. Die privatkapitalistische Heeresbeschaffung und -verwaltungFehlt in A; geht sinngemäß ergänzt.
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war in den Soldheeren namentlich im Okzident, in sehr verschiedenen Formen, durchweg die Regel bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts. Im Dreißigjährigen Kriege war in Brandenburg meist noch der Soldat selbst Eigentümer der sachlichen Mittel seines Gewerbes: Waffen, Pferde, Bekleidung, obwohl sie allerdings der Staat bereits, sozusagen als „Verleger“[,] lieferte.A: -Verwaltung
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Im stehenden [199]Heer Preußens war später der Kompagniechef Eigentümer jener sachlichen Kriegsmittel, und erst seit dem Tilsiter Frieden trat endgültig die Konzentration der Betriebsmittel in die Hand des Staates ein[198] Falls der angeworbene Soldat seine Ausstattung nicht selbst mitbrachte, wurden in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Kosten für Waffen, Rüstung und Kleidung vom Sold abgezogen. Die erworbenen Gegenstände gingen in den Besitz des Soldaten über und wurden nach seiner Abdankung oft von der Regierung zurückgekauft und in den Zeughäusern zur weiteren Verwendung aufbewahrt. Vgl. Jany, Curt, Geschichte der Königlich Preußischen Armee bis zum Jahre 1807, Band 1: Von den Anfängen bis 1740, 1. Aufl. – Berlin: Karl Siegismund 1928, S. 35 (hinfort: Jany, Königlich Preußische Armee I).
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und zugleich damit erst die allgemeine Durchführung der Uniformierung, welche vorher – soweit nicht einzelnen Truppenteilen bestimmte Uniformen vom König „verliehen“ waren (zuerst 1620 der Leibgarde, dann häufiger unter Friedrich II.)[199] Nach der Niederlage Preußens unter die napoleonischen Truppen, besiegelt durch den Frieden von Tilsit am 9. Juli 1807 und den Pariser Vertrag vom 8. September 1808, wurde die Reform des Heeres eingeleitet, die auch zur vollständigen Ablösung der sog. Kompaniewirtschaft führte. Nach dem, aus den Zeiten der Söldnerheere stammenden Brauch waren die Kompaniechefs für die Besoldung, Verpflegung und Ausstattung ihrer Truppenteile zuständig. Durch die Reformen wurde auch die Beschaffung der „Kleinen Montur“ (Vorschuhe, Sohlen, Stiefelklappen usw.) von den regimentseigenen Handwerksstätten übernommen und damit die Uniformierung vollständig unter staatliche Aufsicht gestellt.
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– Die von Kurfürst Johann Sigismund 1615 gegründete „Kompagnie Leibguardi“ wurde im September 1620 von Konrad von Burgsdorff übernommen. Zu diesem Zeitpunkt findet sich die erste Erwähnung der blauen Uniform, die später typisch für das brandenburgisch-preußische Heer (sog. „Blauröcke“) wurde. Zwischen 1743 und 1753 erließ Friedrich II. d.Gr. Bekleidungsvorschriften für die verschiedenen Regimenter und legte ein detailliertes Musterbuch für die Uniformen vor. Jany, Königlich Preußische Armee I (wie oben, S. 198, Anm. 78), S. 47, 70, und dass., Band 2: Die Armee Friedrichs des Großen 1740–1763. – Berlin: Karl Siegismund 1928, S. 273–282.
l
[A 666]weitgehend der Willkür des Regimentschefs anheimgestellt blieb. Begriffe z. B. wie „Regiment“ einerseits, „Bataillon“ andererseits hatten daher noch im 18. Jahrh[undert] regelmäßig einen ganz verschiedenen Sinn: nur das letztere war eine taktische Einheit (wie heut beide), das erstere dagegen eine durch die „Unternehmer“-Position des Obersten geschaffene ökonomische Betriebseinheit.[199] Gedankenstrich fehlt in A.
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„Offiziöse“ Seekriegsunternehmungen (wie die genuesischen „maonae“) Der Oberst finanzierte Werbung und Unterhalt der Soldaten seines Regiments, die Truppenkasse war sein persönliches Eigentum. Dem Herrscher war somit der Einfluß auf die Ausstattung der Truppe sowie die Auswahl und Beförderung der Offiziere genommen. Erst mit der Einführung der staatlichen Heeresverwaltung wurde das Regiment zu einer taktischen Einheit, bestehend aus mehreren Bataillonen. Vgl. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst IV (wie oben, S. 132 f., Anm. 13), S. 66 f., und Jany, Curt, Geschichte der Preußischen Armee vom 15. Jahrhundert bis 1914, Band 1, 2. Aufl. – Osnabrück: Biblio-Verlag 1967, S. 96, 309 f.
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und [200]Heeresbeschaffung gehören zu den ersten privatkapitalistischen „Riesenbetrieben“ mit weitgehend bürokratischer Struktur. Ihre „Verstaatlichung“ hat darin in derjenigen der (von Anfang an staatlich kontrollierten) Eisenbahnen eine moderne Parallele. Die „Maona“ war eine im mittelalterlichen Genua übliche Sozietät von privaten Staatsgläubigern zur Finanzierung öffentlicher Vorhaben. Die Einlagen, welche mehr als 1000 Lire betrugen, waren frei verkäuflich, vererblich und steuerfrei. Der Staat beglich seine Schulden durch Verpachtung von Staatseinkünften. Der bekannteste Fall war die [200]Maona der Giustiniani, ein Konsortium aus anfänglich 29 Reedern, die auf eigene Kosten Chios, Alt- und Neuphokäa eroberten und gegen einen Jahreszins alle Nießbrauchsrechte an den eroberten Gebieten beanspruchen durften. Vgl. Goldschmidt, Levin, Universalgeschichte des Handelsrechts, Erste Lieferung, 3. Aufl. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1891, S. 292 ff. (hinfort: Goldschmidt, Handelsrecht).
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[200] Petitdruck in A.
Ganz ebenso geht in anderen Sphären die Bürokratisierung der Verwaltung mit der Konzentration der Betriebsmittel Hand in Hand. Die alte Satrapen- und Statthalterverwaltung, ebenso die Verwaltung durch Amtspächter, Amtskäufer, und am meisten die Verwaltung durch Lehensleute dezentralisiert die sachlichen Betriebsmittel: der lokale Bedarf der Provinz, einschließlich der Kosten des Heeres und der Unterbeamten, wird regelmäßig vorab aus den lokalen Einnahmen bestritten und nur der Überschuß gelangt in die Zentralkasse. Der belehnte Beamte verwaltet ganz aus eigener Tasche. Der bürokratische Staat dagegen bringt die gesamten staatlichen Verwaltungskosten auf seinen Etat und stattet die Unterinstanzen mit den laufenden Betriebsmitteln aus, in deren Verwendung er sie reglementiert und kontrolliert. Für die „Wirtschaftlichkeit“ der Verwaltung bedeutet dies das gleiche wie der kapitalistisch zentralisierte Großbetrieb.
Auch auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrbetriebs ist die Bürokratisierung in den jetzt
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vorhandenen „Instituten“ der Universitäten (deren erstes großbetriebliches Beispiel Liebigs Laboratorium in Gießen war)A: stets
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Funktion des steigenden Bedarfs an sachlichen Betriebsmitteln, welche, durch ihre Konzentration in den Händen des staatlich privilegierten Leiters[,] die Masse [201]der Forscher und Dozenten von ihren „Produktionsmitteln“ ebenso trennt, wie der kapitalistische Betrieb die Arbeiter von den ihrigen. In Gießen gründete Justus Liebig als Professor für Chemie mit Unterstützung des Großherzogs von Hessen 1826 ein chemisch-pharmazeutisches Institut, das dem Universitätsstudium dienen sollte. Es grenzte sich von den bisherigen privaten Instituten ab und wurde zum Vorbild für die Errichtung neuer Laboratorien. Die steigenden Studentenzahlen und die baulichen Erweiterungen machten eine straffe Organisation erforderlich, was sich an den Lehrplänen und der Einrichtung von Filiallaboratorien, die den Assistenten unterstanden, ablesen läßt. Vgl. Volhard, Jakob, Justus von Liebig, Band 1. – Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1909, S. 57–85.
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[201] Petitdruck in A.
Wenn trotz all dieser zweifellosen technischen Überlegenheit der Bürokratie diese überall ein relativ spätes Entwicklungsprodukt gewesen ist, so trugen dazu zunächst eine Reihe von Hemmungen bei, welche erst unter bestimmten sozialen und politischen Bedingungen endgültig zurücktraten. Die bürokratische Organisation ist nämlich regelmäßig zur Herrschaft gelangt:
VI. auf der Basis einer, mindestens relativen, Nivellierung der ökonomischen und sozialen Unterschiede in ihrer Bedeutsamkeit für die Innehabung der Verwaltungsfunktionen. Sie ist insbesondere eine unvermeidliche Begleiterscheinung der modernen Massendemokratie im Gegensatz zu der demokratischen Selbstverwaltung kleiner homogener Einheiten. Zunächst schon infolge des ihr charakteristischen Prinzips: der abstrakten Regelhaftigkeit der Herrschaftsausübung. Denn diese folgt aus dem Verlangen nach „Rechtsgleichheit“ im persönlichen und sachlichen Sinn, also: aus der Perhorreszierung des „Privilegs“ und aus der prinzipiellen Ablehnung der Erledigung „von Fall zu Fall“. Dann aber auch aus den sozialen Vorbedingungen ihrer Entstehung. Jede nicht bürokratische Verwaltung eines quantitativ großen sozialen Gebildes beruht in irgendeiner Art darauf, daß ein bestehender sozialer, materieller oder Ehrenvorrang mit Verwaltungsfunktionen und -pflichten in Verbindung gebracht ist. Regelmäßig mit der Folge, daß die direkt oder indirekt ökonomische oder auch die „soziale“ Ausbeutung der Stellung, welche jede Art von verwaltender Tätigkeit ihren Trägern verleiht, den Entgelt für deren Übernahme darstellt. Die Bürokratisierung und Demokratisierung bedeutet daher innerhalb der staatlichen Verwaltung trotz ihres normalerweise „wirtschaftlicheren“ Charakters gegenüber jenen Formen eine Steigerung der baren Ausgaben der öffentlichen Kassen. Die Überlassung fast der gesamten Lokalverwaltung und der niederen Gerichtsbarkeit an die Grundherren im Osten Preußens war bis in die neueste Zeit
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die – wenigstens vom Kassenstandpunkt des [202]Staats aus gesehen – billigste Art der Deckung des Bedürfnisses nach Verwaltung. Ebenso die Friedensrichterverwaltung in England.[201] Erst durch die Kreisordnung vom 13. Dezember 1872 für die sechs östlichen Provinzen des preußischen Staates (Posen ausgenommen) wurde die Patrimonialgerichtsbarkeit der Rittergutsbesitzer aufgehoben und neue Amtsdistrikte eingerichtet. Vgl. Hintze, Otto, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, 1. Aufl. – Berlin: Paul Parey 1915, S. 660, sowie unten, S. 349 mit Anm. 79.
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Die Massendemo[A 667]kratie, welche mit feudalen, patrimonialen und – wenigstens der Absicht nach – plutokratischen Vorrechten in der Verwaltung aufräumt, muß unweigerlich bezahlte Berufsarbeit an die Stelle der überkommenen nebenamtlichen Honoratiorenverwaltung setzen. Dies gilt nicht nur von staatlichen Gebilden. Es ist kein Zufall, daß gerade die demokratischen Massenparteien (in Deutschland die Sozialdemokratie[202] Zur Friedensrichterverwaltung vgl. die ausführliche Darstellung Max Webers, unten, S. 351 ff.
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und die agrarische Massenbewegung, Die Sozialdemokratische Partei konnte sich erst nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 zu einer Massenpartei entwickeln (1914 ca. 1,1 Mio. Mitglieder). Sie wurde vom Stadtviertel bis zur Reichsebene straff organisiert. Zunehmend stellte die Partei hauptberufliche Parteisekretäre und -redakteure ein. Kritisch beschrieb Robert Michels 1907 ihren Zustand: Sie sei zu „einer ausschließlichen Zeitungsleser- und Wähler-Partei mit großem bureaukratischem Apparat“ degeneriert, deren „ganzer Mechanismus lediglich auf die Erringung von Wahlsiegen zugeschnitten“ sei. Michels, Robert, Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbände. Eine kritische Untersuchung, in: AfSSp, Band 25, 1907, S. 148–231, Zitat: S. 230.
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in England zuerst die von Birmingham aus seit den 70er Jahren organisierte Gladstone-Chamberlainsche Caucusdemokratie, Gemeint ist der 1893 gegründete „Bund der Landwirte“ (BdL), der – unter starkem Einfluß des preußischen Junkertums stehend – beanspruchte, die politische Interessenorganisation der gesamten deutschen Landwirtschaft zu sein. 1913 zählte er 330.000 Mitglieder und unterhielt im Jahr 1912 161 fest besoldete Wahlredner, während die Führungspositionen in den Händen der Großagrarier und ihrer Verbandsfunktionäre verblieben. Wirksam war er durch seinen Pressedienst und die gezielte Einflußnahme auf die Wahlen (1908 waren z. B. 243 von 442 Abgeordneten des preußischen Abgeordnetenhauses dem BdL verpflichtet). Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte II (wie oben, S. 181 f., Anm. 47), S. 583 ff.
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in Amerika beide Parteien seit Jacksons Administration) In England wies die parlamentarische Reformakte von 1867 den großen Industriestädten je drei Unterhausmandate zu, allerdings war das Wahlrecht mit einem hohen Schutz der Minderheiten versehen. Diese als antidemokratisch angesehene Klausel veranlaßte Joseph Chamberlain, Bürgermeister von Birmingham, und Francis Schnadhorst, Sekretär der Liberal Association, ein neues System der außerparlamentarischen Parteiorganisation zu schaffen, das sie als „Birmingham plan“ bezeichneten und das durch Steuerung der Stimmabgabe der liberalen Partei zu Größe und Mehrheiten verhalf. Mit Hilfe des rhetorisch begabten William Ewart Gladstone wurde dieses System in Massenveranstaltungen über ganz England verbreitet und von dem Konservativen Lord Beaconsfield mit dem amerikanischen „nickname“ „caucus“ belegt. Vgl. Ostrogorski, Political Parties I (wie oben, S. 164, Anm. 13), S. 161–182.
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in ihrer eigenen [203]Parteiorganisation am vollständigsten mit der überkommenen und bei den altkonservativen, aber auch bei den alten liberalen Parteien noch vielfach vorherrschenden, auf persönlichen Beziehungen und persönlichem Ansehen ruhenden Honoratiorenherrschaft gebrochen und sich bürokratisch unter der Leitung von Parteibeamten, berufsmäßigen Partei- und Gewerkschaftssekretären usw. organisiert haben. In Frankreich scheiterte immer wieder der Versuch einer straffen Organisation politischer Parteien auf der Basis eines diese erzwingenden Wahlsystems wesentlich an dem Widerstand der lokalen Honoratiorenkreise gegen die dann auf die Dauer unvermeidliche, ihren Einfluß brechende, das ganze Land umspannende Parteibürokratisierung. General Andrew Jackson errang 1828 den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen durch einen perfekt organisierten Wahlkampf der oppositionellen Kräfte, die als „Demo[203]kratische Partei“ firmierten. Sie führten die „national conventions“ ein und gestalteten die neue Partei zu einem Instrument der Stimmenbeschaffung. Den Wahlhelfern wurden bei Sieg Stellen in der Lokal- und Staatsverwaltung in Aussicht gestellt (spoils system). Die Whigs (seit 1854 „Republikanische Partei“) übernahmen das System.
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Denn jeder Fortschritt der einfachen[,] mit Ziffern rechnenden Wahltechnik, wie etwa (wenigstens unter Großstaatverhältnissen) das Proportionalwahlsystem, bedeutet straffe, interlokale bürokratische Organisation der Parteien und damit zunehmende Herrschaft der Parteibürokratie und der Disziplin unter Ausschaltung der lokalen Honoratiorenkreise. Innerhalb der staatlichen Verwaltung selbst liegt der Fortschritt der Bürokratisierung in Frankreich, Nordamerika, jetzt England als Parallelerscheinung der Demokratie offen zutage. Dabei ist natürlich stets zu beachten, daß der Name „Demokratisierung“ irreführend wirken kann: der Demos im Sinn einer ungegliederten Masse „verwaltet“ in größeren Verbänden nie selbst, sondern wird verwaltet und wechselt nur die Art der Auslese der herrschenden Verwaltungsleiter und das Maß von Beeinflussung, welches er oder richtiger: andere Personenkreise aus [204]seiner Milte durch die Ergänzung einer sog. „öffentlichen Meinung“ auf den Inhalt und die Richtung der Verwaltungstätigkeit auszuüben imstande sind. „Demokratisierung“ in dem hier gemeinten Sinn muß nicht etwa notwendig Zunahme des aktiven Anteils der Beherrschten an der Herrschaft innerhalb des betreffenden Sozialgebildes bedeuten. Diese kann Folge des hier gemeinten Vorgangs sein, muß es aber nicht sein. Vielmehr hat man sich gerade hier sehr nachdrücklich ins Bewußtsein zu rufen: daß der politische Begriff der Demokratie aus der „Rechtsgleichheit“ der Beherrschten noch die ferneren Postulate: Das in Frankreich herrschende Mehrheitswahlrecht ermöglichte den Abgeordneten Einzelkandidaturen in den Arrondissements und legte den Schwerpunkt weniger auf die Pflege der überregionalen Parteiarbeit als auf die lokalen Wahlkomitees. Während Republikaner und Radikalsozialisten am Vorabend des Ersten Weltkrieges für die Bewahrung des alten Wahlrechts eintraten, scheiterten die Minderheitsparteien, wie z. B. die Sozialisten unter Jean Jaurès sowie die vereinigten Katholiken und Nationalisten, das Verhältniswahlrecht durchzusetzen. Dieses hätte durch die „Listenwahl mit proportionaler Vertretung der Parteien“ zu einer strafferen Organisation beigetragen. Vgl. Garr, Max, Die Frage der Wahlreform in Frankreich, in: Zeitschrift für Politik, Band 3, 1910, S. 397–412, bes. S. 404 f., sowie Albertini, Rudolf von, Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich 1789–1940, in: HZ, Band 193, 1961, S. 529–600, Zitat: S. 568 (hinfort: v. Albertini, Parteiorganisation).
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1. Hinderung der Entwicklung eines geschlossenen „Beamtenstandes“, im Interesse der allgemeinen Zugänglichkeit der Ämter[,] und 2. Minimisierung ihrer Herrschaftsgewalt im Interesse tunlichster Verbreiterung[204]A: Postulate Doppelpunkt sinngemäß ergänzt.
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der Einflußsphäre der „öffentlichen Meinung“ ableitet, also, wo immer möglich, kurzfristige Besetzung durch widerrufliche Wahl ohne Bindung an fachmäßige Qualifikation erstrebt. Dadurch gerät sie mit den von ihr – infolge ihres Kampfes gegen die Honoratiorenherrschaft – erzeugten Tendenzen der Bürokratisierung unvermeidlich in Widerstreit. Mithin kommt die überhaupt unpräzise Bezeichnung „Demokratisierung“ hier nicht in Betracht, sofern darunter die Minimisierung der Herrschaftsgewalt der „Berufsbeamten“ zugunsten der möglichst „direkten“ Herrschaft des „Demos“, das heißt aber praktisch: seiner jeweiligen Parteiführer, verstanden wird. Das Entscheidende ist vielmehr hier ausschließlich die Nivellierung der beherrschten gegenüber der herrschenden, bürokratisch gegliederten Gruppe, welche dabei ihrerseits sehr wohl faktisch, oft aber auch formal, eine ganz autokratische Stellung besitzen kann. A: Vertreibung
In Rußland war die Zerbrechung der Stellung des alten grundherrlichen Adels durch Regelung des Mjestnitschestwo
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(Rangordnung)A: Mjeschtschitelstwo
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und die dadurch bedingte Durchsetzung alten Adels mit Dienstadel eine charakteristische Zwischenerscheinung in der Ent[205]wicklung zur Bürokratisierung. In China bedeutet die Ein[A 668]schätzung des Ranges nach der Zahl der bestandenen Examina und der dadurch gegebenen Amtsqualifikation[204] Die Entstehung des „Mestničestvo“-Systems, eines komplizierten Systems von Rang- und Ämterzuweisungen nach Herkunft und Verdiensten, wird auf das 15. Jahrhundert datiert. Es wurde 1682 abgeschafft und 1722 von Peter d.Gr. durch eine Rangtabelle ersetzt, die nur noch Dienste und Leistungen berücksichtigte. Die im Text überlieferte Schreibweise wurde hier entsprechend der sonst üblichen und von Max Weber autorisierten Form emendiert (vgl. z. B. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 183, 302).
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Ähnliches in einer, theoretisch wenigstens, noch schärferen Konsequenz. In Frankreich haben die Revolution und entscheidend der Bonapartismus die Bürokratie allherrschend gemacht.[205] Ein strenges staatliches Prüfungssystem wurde unter der Han-Dynastie (206 v. Chr-220 n. Chr.) eingeführt und war bis ins 20. Jahrhundert die Basis für Rang- und Amtszuweisungen. Damit verband sich der Anspruch, daß die geistig und moralisch am meisten Qualifizierten die staatlichen Spitzenpositionen besetzen sollten. Jede Form von Erb- oder Standesvorrechten bei der Ämterbesetzung sollte damit beseitigt werden. Vgl. Biot, Édouard, Essai sur l’histoire de l’instruction publique en Chine et de la corporation des lettrés, depuis les anciens temps jusqu’à nos jours, 2 Teile. – Paris: Benjamin Duprat 1845, 1847, S. 99 f. (hinfort: Biot, Essai).
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In der katholischen Kirche war die durch Gregor VII. begonnene, durch das Tridentinum und Vaticanum und zuletzt die Verfügungen Pius’ X. Die Revolution von 1789 beseitigte die alten Provinzen und ständischen Zwischengewalten, das Land wurde in gleichmäßige Departements aufgeteilt. Der Konvent hob die Selbständigkeit der Gemeinden auf und forderte die Einführung einer nationalen, zentralistischen Verwaltung. Napoléon Bonaparte schuf durch die Konsularverfassung (1799) und das Gesetz vom 28. Pluviôse des Jahres VIII. (1800) einen hierarchisch organisierten Verwaltungsapparat. In ihm setzte sich bei Anstellung und Beförderung das Verdienst- und Gleichheitsprinzip durch. An die Stelle der alten Rangordnung trat seit 1807 daher ein neuer, durch Besoldung, Orden, Titel und Majorate gegliederter Adel. Vgl. Treitschke, Heinrich von, Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus, in: ders., Historische und politische Aufsätze, Band 3, 5. Aufl. – Leipzig: S. Hirzel 1886, S. 43–425 (hinfort: Treitschke, Bonapartismus).
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abgeschlossene Beseitigung zuerst der feudalen, dann auch aller selbständigen lokalen Zwischenmächte und ihre Verwandlung in reine Funktionäre der Zentralinstanz, verbunden mit stetiger Steigerung der vor allem durch die politische [206]Parteiorganisation des Katholizismus begründeten faktischen Bedeutung der formell gänzlich abhängigen Kapläne: Max Weber skizziert hier die Zentralisierung der Macht in der römisch-katholischen Kirche und zieht die Entwicklungslinie von dem Verbot der Laieninvestitur durch Gregor VII. (1075/78) über das Tridentinum (1545–63) und das 1. Vatikanum (1869/70), das mit dem Unfehlbarkeitsdogma den Primat des Papstes verankerte, bis hin zu den zeitgenössischen Reformen von Pius X. Offenbar folgt Weber hier der These von Ulrich Stutz, der in den Bestrebungen von Pius X. den Versuch der päpstlichen Kurie sah, die letzten Reste des Eigenkirchenwesens bei der Besetzung der niederen Kirchenämter zu beseitigen. Festgeschrieben wurde der zentralistische Anspruch durch den Codex iuris canonici, der unter Pius X. ausgearbeitet, aber erst nach seinem Tod zu Pfingsten 1917 veröffentlicht wurde. (Vgl. Stutz, Ulrich, Der Geist des Codex iuris canonici. Eine Einführung in das auf Geheiss Papst Pius X. verfasste und von Papst Benedikt XV. erlassene Gesetzbuch der katholischen Kirche. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1918). Einige Neuregelungen waren aber bereits vorab bekannt geworden, so z. B. das Dekret „Maxima cura“ vom 20. August 1910, das zwischen inamoviblen und jederzeit abrufbaren Pfarrern unterschied (ebd., S. 42).
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ein Vormarsch der Bürokratie also und zugleich der in diesem Fall sozusagen „passiven“ Demokratisierung, d. h. der Nivellierung der Beherrschten. Der Ersatz des auf Selbstequipierung ruhenden Honoratiorenheeres durch das bürokratische Heer ist ebenfalls überall ein Prozeß „passiver“ Demokratisierung in dem Sinn, wie jede Aufrichtung einer absoluten Militärmonarchie an Stelle des Feudalstaats oder der Honoratiorenrepublik es ist. Dies galt auch, dem Prinzip nach, trotz aller Besonderheiten, für die staatliche Entwicklung schon in Ägypten.[206] Max Weber betont hier die politische Funktion der Kapläne als Vereinsgeistliche und informelle Agitatoren für das Zentrum. Auf lokaler Ebene verfügte das Zentrum kaum über eine eigene Parteiorganisation, stützte sich aber auf die Wahlhilfe örtlicher Geistlicher. Von Weber wird die Form ihrer Herrschaftsausübung an anderer Stelle als „Kaplanokratie“ bezeichnet (Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 373).
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Im römischen Prinzipat ging die Bürokratisierung der Verwaltung der Provinzen, z. B. auf dem Gebiet der Steuerverwaltung, Hand in Hand mit der Eliminierung der Plutokratie einer unter der Republik übermächtigen Kapitalistenklasse und damit schließlich des antiken Kapitalismus selbst. Eine feudale Periode in der Geschichte Ägyptens datiert Max Weber (unten, S. 321–324) auf die Zeit des Mittleren Reichs (ca. 2119–1794/93 v. Chr.). Erst nach Beseitigung der auf sie folgenden Fremdherrschaft der Hyksos im Jahre 1539 oder 1536 v. Chr. wurde ein Berufsheer aufgebaut, das hauptsächlich aus fremden Söldnern bestand. Die vorwiegend ägyptischen Offiziere wurden in Kadettenschulen ausgebildet und bildeten im Neuen Reich (1550–1070/69 v. Chr.) einen eigenen Berufsstand. Vgl. Thurnwald, Richard, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, 4. Jg., 1901, S. 697–714, 769–788, hier: S. 769 f. (hinfort: Thurnwald, Altes Ägypten).
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[206] Petitdruck in A.
Es liegt auf der Hand, daß bei solchen „demokratisierenden“ Entwicklungen fast immer irgendwelche ökonomischen Bedingungen mitwirkend im Spiele sind. Sehr häufig eine ökonomisch bedingte Entstehung neuer Klassen, sei es nun plutokratischen oder kleinbürgerlichen oder proletarischen Charakters, welche eine politische Macht, sei diese nun legitimen oder cäsaristischen Gepräges, zu Hilfe oder auch erst ins Leben rufen oder zurückrufen, um durch ihre Hilfe ökonomische oder soziale Vorteile zu erlangen. Allein auf der anderen Seite sind ebenso möglich und historisch bezeugt die Fälle, in welchen die Initiative „von oben“ her kam und rein politischer Natur [207]war, aus politischen, namentlich auch außenpolitischen, Konstellationen ihren Vorteil zog und sich der gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze und Klasseninteressen nur als eines Mittels für ihren eigenen rein politischen Machtzweck bediente, sie zu diesem Behuf aus ihrem, fast stets labilen, Gleichgewicht warf und ihre latenten Interessengegensätze zum Kampfe aufrief. Etwas Allgemeines darüber auszusagen, scheint kaum möglich. – Maß und Art des Weges, auf dem ökonomische Momente mitgewirkt haben, ist sehr verschieden, ebenso aber auch die Art des Einflusses der politischen Machtbeziehungen. In der hellenischen Antike war der Übergang zum disziplinierten Hoplitenkampf und weiterhin in Athen die steigende Bedeutung der Flotte die Grundlage für die Eroberung der politischen Macht durch diejenigen Volksschichten, auf deren Schultern jeweils die Heereslast ruhte.
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Schon in Rom aber erschütterte die gleiche Entwicklung die Honoratiorenherrschaft des Amtsadels nur zeitweilig und scheinbar. Das moderne Massenheer vollends ist zwar überall das Mittel gewesen, die Honoratiorenmacht zu brechen, ist aber selbst in keiner Art ein Hebel aktiver, sondern lediglich passiver Demokratisierung geblieben. Dabei spielt allerdings mit, daß das antike Bürgerheer ökonomisch auf Selbstequipierung, das moderne auf bürokratischer Bedarfsdeckung ruhte. [207] Die Hoplitentaktik setzte sich seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland durch und löste die Vorrangstellung der Adelsgeschlechter in Heer und Staat ab. Die Vollbürgerschaft erhielt jeder, der die Fähigkeit zur Panhoplie hatte, d. h. die vollständige Hoplitenrüstung selbst stellen konnte (vgl. Aristoteles, Athenaion politeia 4). Die 483/2 v. Chr. erfolgreich betriebene Flottenpolitik des Themistokles führte zur radikalen Demokratie, die Perikles vollendete.
Daß das Vordringen der bürokratischen Struktur auf ihrer „technischen“ Überlegenheit beruhte, führt, wie auf dem ganzen Gebiet der Technik, so auch hier dazu: daß dieser Vormarsch gerade da am langsamsten sich vollzog, wo ältere Strukturformen in einer ihrerseits besonders entwickelten technischen Angepaßtheit an die bestehenden Bedürfnisse funktionierten. Dies war z. B. so bei der Honoratiorenverwaltung in England, welche daher am langsamsten von allen der Bürokratisierung erlegen oder zum Teil zu erliegen erst im Begriff ist. Dies ist die gleiche Erscheinung, wie etwa die, daß eine hoch und mit großen stehenden Kapitalien entwickelte Gasbeleuchtung oder [208]Dampfeisenbahn stärkere Hemmnisse der Elektrisierung bieten, als Gebiete, die als völliges Neuland dafür erschlossen werden. –
s
[208] Petitdruck in A.
Eine einmal voll durchgeführte Bürokratie gehört zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden. Die Bürokratisierung ist das spezifische [A 669] Mittel, „Gemeinschaftshandeln“ in rational geordnetes „Gesellschaftshandeln“ zu überführen. Als Instrument der „Vergesellschaftung“ der Herrschaftsbeziehungen war und ist sie daher ein Machtmittel allerersten Ranges für den, der über den bürokratischen Apparat verfügt. Denn unter sonst gleichen Chancen ist planvoll geordnetes und geleitetes „Gesellschaftshandeln“ jedem widerstrebenden „Massen“- oder auch „Gemeinschaftshandeln“ überlegen. Wo die Bürokratisierung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist, da ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Form der Herrschaftsbeziehungen geschaffen. Der einzelne Beamte kann sich dem Apparat, in den er eingespannt ist, nicht entwinden. Der Berufsbeamte ist, im Gegensatz zum ehren- und nebenamtlich verwaltenden „Honoratioren“, mit seiner ganzen materiellen und ideellen Existenz an seine Tätigkeit gekettet. Er ist – der weit überwiegenden Mehrzahl nach – nur ein einzelnes, mit spezialisierten Aufgaben betrautes, Glied in einem nur von der höchsten Spitze her, nicht aber (normalerweise) von seiner Seite, zur Bewegung oder zum Stillstand zu veranlassender, rastlos weiterlaufender Mechanismus, der ihm eine im wesentlichen gebundene Marschroute vorschreibt. Und er ist durch all dies vor allem festgeschmiedet an die Interessengemeinschaft aller in diesen Mechanismus eingegliederten Funktionäre daran, daß dieser weiterfunktioniere und die vergesellschaftet ausgeübte Herrschaft fortbestehe. Die Beherrschten ihrerseits ferner können einen einmal bestehenden bürokratischen Herrschaftsapparat weder entbehren noch ersetzen, da er auf Fachschulung, arbeitsteiliger Fachspezialisierung und festem Eingestelltsein auf gewohnte und virtuos beherrschte Einzelfunktionen in planvoller Synthese beruht. Stellt er seine Arbeit ein oder wird sie gewaltsam gehemmt, so ist die Folge ein Chaos, zu dessen Bewältigung schwer ein Ersatz aus der Mitte der Beherrschten zu improvisieren ist. Dies gilt ganz ebenso auf dem Gebiet der öffentlichen wie der privatwirtschaftlichen Verwaltung. Die Gebundenheit des materiellen Schicksals der Masse an das stetige korrekte Funktionieren der zunehmend [209]bürokratisch geordneten privatkapitalistischen Organisationen nimmt stetig zu, und der Gedanke an die Möglichkeit ihrer Ausschaltung wird dadurch immer utopischer. Die „Akten“ einerseits und andererseits die Beamtendisziplin, d. h. Eingestelltheit der Beamten auf präzisen Gehorsam innerhalb ihrer gewohnten Tätigkeit[,] werden damit im öffentlichen wie privaten Betrieb zunehmend die Grundlage aller Ordnung. Vor allem aber – so praktisch wichtig die Aktenmäßigkeit der Verwaltung ist – die „Disziplin“. Der naive Gedanke des Bakuninismus: durch Vernichtung der Akten zugleich die Basis der „erworbenen Rechte“ und die „Herrschaft“ vernichten zu können,
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vergißt, daß unabhängig von den Akten die Eingestelltheit der Menschen auf die Innehaltung der gewohnten Normen und Reglements fortbesteht. Jede Neuordnung geschlagener und aufgelöster Truppenformationen und ebenso jede Herstellung einer durch Revolten, Panik oder andere Katastrophen zerstörten Verwaltungsordnung vollzieht sich durch einen Appell an jene bei den Beamten einerseits, den Beherrschten andererseits gezüchtete Eingestelltheit auf das gehorsame Sichfügen in jene Ordnungen, der, wenn er Erfolg hat, den gestörten Mechanismus sozusagen wieder zum „Einschnappen“ bringt. Die objektive Unentbehrlichkeit des einmal bestehenden Apparats in Verbindung mit der ihm eigenen „Unpersönlichkeit“ bringt es andererseits mit sich, daß er – im Gegensatz zu den feudalen, auf persönlicher Pietät ruhenden Ordnungen – sich sehr leicht bereit findet, für jeden zu arbeiten, der sich der Herrschaft über ihn einmal zu bemächtigen gewußt hat. Ein rational geordnetes Beamtensystem funktioniert, wenn der Feind das Gebiet besetzt, in dessen Hand unter Wechsel lediglich der obersten Spitzen tadellos weiter, weil es im Lebensinteresse aller Beteiligten, einschließlich vor allem des Feindes selbst, liegt, daß dies geschehe. Nachdem Bis[210]marck im Laufe langjähriger Herrschaft seine Ministerkollegen durch Eliminierung aller selbständigen Staatsmänner in bedingungslose bürokratische Abhängigkeit von sich gebracht hatte, mußte er bei seinem Rücktritt zu seiner Überraschung erleben, daß diese ihres Amts [A 670]unbekümmert und unverdrossen weiter walteten, als sei nicht der geniale Herr und Schöpfer dieser Kreaturen, sondern eine beliebige Einzelfigur im bürokratischen Mechanismus gegen eine andere ausgewechselt worden.[209] In den Michail Bakunin zugeschriebenen „Statuts secrets“ der von ihm begründeten „Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie“ wird die Vernichtung der staatlichen und juristischen Organisation, einschließlich der Aktenverbrennung, gefordert. „Par conséquent abolition et auto-da-fé de tous les titres de propriété, actes d’héritage, de vente, de donation, de tous les procès – de toute la paperasse [Papierfetzen] juridique et civile en un mot.“ Abgedruckt in: L’Alliance de la démocratie socialiste et l’Association internationale des travailleurs. Rapport et documents publiés par ordre du Congrès international de la Haye. – Londres: A. Darson 1873, S. 130; in deutscher Übersetzung auszugsweise wiedergegeben bei Eltzbacher, Paul, Anarchismus. – Berlin: J. Guttentag 1900, S. 120 f.
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Unter allem Wechsel der Herren in Frankreich seit der Zeit des ersten Kaiserreichs[210] Bei Bismarcks Rücktritt im März 1890 blieben zunächst alle preußischen Minister im Amt, entsprechend der Ansicht, daß allein der Monarch über den Rücktritt zu befinden habe. Darüber war Bismarck erzürnt, aber auch über seinen ehemaligen Mitarbeiter, den preußischen Staatsminister und Staatssekretär im Reichsamt des Innern Karl Heinrich von Boetticher (seit 1888 Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums), den er als einen Drahtzieher seines Sturzes ansah. „Und wie Boetticher, so sind andere Planeten, die von meiner Sonne ihr Licht bezogen haben, im Handumdrehen Kometen geworden mit einem langen Schweif zum … (der Fürst machte hier mit dem Zeigefinger eine Bewegung, die mir das Wedeln und Bücken zu bedeuten schien)“, so der Bericht des Redakteurs Anton Memminger über sein Gespräch mit Bismarck am 16. August 1890 in Bad Kissingen, vollständig veröffentlicht in der „Neuen Bayrischen Landeszeitung“, Würzburg, 1898, hier zitiert nach dem Abdruck in: Bismarck, Gespräche, hg. und bearb. von Willy Andreas (Bismarck, Gesammelte Werke, Band 9). – Berlin: Otto Stollberg 1926, S. 86.
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blieb der Herrschaftsapparat im wesentlichen derselbe. Indem dieser Apparat, wo immer er über die modernen Nachrichten- und Verkehrsmittel (Telegraph) verfügt, eine „Revolution“ im Sinn der gewaltsamen Schaffung ganz neuer Herrschaftsbildungen rein technisch und auch durch seine innere durchrationalisierte Struktur zunehmend zur Unmöglichkeit macht, hat er – wie in klassischer Weise Frankreich demonstriert – an die Stelle der „Revolutionen“ die „Staatsstreiche“ gesetzt, Wie oben (S. 205 mit Anm. 93) bereits ausgeführt wurde, bildete sich unter Napoleon I. ein zentralistisches Verwaltungssystem aus. Heinrich von Treitschke beschrieb es als „schlagfertig, gleichförmig, zweckmäßig, nach dem Grundsatze der Arbeitstheilung übersichtlich geordnet, […] aber kostspielig, geistlos und durch und durch despotisch. Diese Verwaltungsordnung ist Frankreichs heutige Verfassung. In ihr lag ,das Capital von Autorität‘, das der Kaiser, wie die Napoleoniden heute mit Recht versichern, allen späteren Regierungen Frankreichs hinterlassen hat. In einem solchen Staate durfte jeder Herrscher getrost das Wort des Kaisers wiederholen: ,mit meinen Präfecten, Gensdarmen und Priestern werde ich immer thun was mir beliebt.‘“ Vgl. Treitschke, Bonapartismus (wie oben, S. 205, Anm. 93), S. 53.
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– denn alle gelingenden Umwälzungen liefen dort auf solche hinaus. – Die von Claude Chappe erfundene optische Telegraphie wurde bereits in den Revolutionskriegen, besonders aber von Napoleon I. verwendet. Unter Louis Philippe (1830–[211]1848) verfügte Frankreich bereits über ein umfangreiches Telegraphennetz. Bezogen auf den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851, der Napoleon III. an die Macht brachte, schrieb Heinrich von Treitschke: „Fünfunddreißig Millionen Franzosen empfingen durch den Telegraphen die Nachricht, daß ihr Staat seine Form geändert habe, und sie fügten sich ohne Widerstand der neuen Ordnung.“ Am 27. Dezember 1851, wurde die Telegraphie zum Staatsregal erhoben. Vgl. Treitschke, ebd., S. 238, sowie Fischer, P. D., Telegraphie und Telephonie, in: HdStW3, Band 7, 1911, S. 1150–1169, bes. S. 1150, 1160.
[211]Es ist klar, daß die bürokratische Organisation eines sozialen, insbesondere eines politischen, Gebildes ihrerseits weitgehende wirtschaftliche Folgen haben kann und regelmäßig hat. Welche? – Das hängt naturgemäß von der ökonomischen und sozialen Machtverteilung im Einzelfall und speziell von dem Gebiet ab, welches der entstehende bürokratische Mechanismus okkupiert, von der Richtung also, welche ihm die Mächte, welche sich seiner bedienen, weisen. Sehr häufig ist eine krypto-plutokratische Machtverteilung das Ergebnis gewesen. Hinter den bürokratischen Parteiorganisationen in England und namentlich in Amerika stehen regelmäßig Parteimäzenaten, welche sie finanzieren und dadurch weitgehend zu beeinflussen vermochten. Das Mäzenatentum z. B. der Brauereien in England,
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der sog. schweren Industrie mit ihrem Wahlfonds und des Hansabundes mit dem seinigen in Deutschland Angeblich sollen eine Reihe von Peers Brauereianteile besessen haben, so z. B. bei Bass, Ratcliff, Gretton sowie bei Watney, Combe, Reid & Co. Der Eigentümer von Bass, selbst Unterhaus- und dann Oberhausmitglied, unterstützte seinen Parteifreund Gladstone. Vgl. Mendelssohn Bartholdy, Albrecht, Die Reform des Oberhauses. Zur Geschichte und Psychologie einer politischen Bewegung im 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 3, 1909, S. 139–218, hier: S. 149 f.
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sind bekannt genug. Auch die Bürokratisierung und soziale Nivellierung innerhalb politischer, insbesondere staatlicher Gebilde, verbunden mit der Spren[212]gung der lokalen und feudalen, ihr entgegenstehenden Privilegien, ist in der Neuzeit sehr häufig den Interessen des Kapitalismus zugute gekommen, oft direkt im Bund mit ihm vollzogen worden. So bei dem großen historischen Bündnis der absoluten Fürstenmacht mit den kapitalistischen Interessen. Seit dem Herbst 1908 unterhielt der „Zentralverband der Industriellen“, der insbesondere die Interessen der Schwerindustrie vertrat, einen Wahlfonds. Wie Emil Lederer in seiner „Sozialpolitischen Chronik“ mitteilte, war der Öffentlichkeit nichts Genaues über Art und Umfang des Fonds bekannt. (Lederer, Emil, Die Interessentenorganisationen und die politischen Parteien, in: AfSSp, Band 34, 1912, S. 307–374, hier: S. 335). Entsprechend seiner schutzzöllnerischen und patriarchalisch-sozialpolitischen Ausrichtung wird der Verband vorwiegend konservative Abgeordnete unterstützt haben. Demgegenüber förderte der am 6. Juni 1909 gegründete „Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie“ mit seinem Wahlfonds die Interessen des freihändlerisch und liberal gesinnten Erwerbsbürgertums. Bei den Reichstagswahlen 1912 unterstützte er mir einem Fonds von 1 bis 2 Mio. Mark vor allem Kandidaten der Nationalliberalen Partei und der Fortschrittlichen Volkspartei. Vgl. Fricke, Dieter, Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie (HB) 1909–1934, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Band 3. – Köln: Pahl-Rugenstein 1985, S. 91–108.
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Denn im allgemeinen pflegt eine rechtliche Nivellierung und die Sprengung fest gefügter lokaler, von Honoratioren beherrschter Gebilde den Bewegungsspielraum des Kapitalismus zu erweitern. Auf der anderen Seite ist aber auch eine dem kleinbürgerlichen Interesse an der gesicherten traditionellen „Nahrung“ entgegenkommende, oder auch eine staatssozialistische, die privaten Gewinnchancen einschnürende, Wirkung der Bürokratisierung in verschiedenen geschichtlich weittragenden Fällen, speziell in der Antike, zweifellos und vielleicht auch bei uns als Zukunftsentwicklung zu erwarten.[212] Gemeint ist hier das Zeitalter des Absolutismus mit seiner als „Merkantilismus“ bezeichneten Wirtschaftspolitik, die ansatzweise als kapitalistisch zu bezeichnen ist. Näheres dazu wird unten, S. 433–435, ausgeführt.
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Die sehr verschiedene Wirkung einer im Prinzip wenigstens sehr ähnlichen politischen Organisation in Ägypten unter den Pharaonen, dann in hellenistischer, dann in römischer Zeit zeigt die sehr verschiedenen Möglichkeiten der ökonomischen Bedeutung der Bürokratisierung je nach der Richtung der sonst vorhandenen Komponenten. Die bloße Tatsache der bürokratischen Organisation allein sagt über die konkrete Richtung ihrer stets irgendwie vorhandenen wirtschaftlichen Wirkung noch nichts Eindeutiges aus, jedenfalls nicht soviel, wie sich über ihre soziale, mindestens relativ nivellierende Wirkung aussagen läßt. Und auch in dieser Hinsicht ist zu bedenken, daß die Bürokratie, rein an sich, ein Präzisionsinstrument ist, welches sehr verschiedenen, sowohl rein politischen wie rein ökonomischen, wie irgendwelchen anderen Herrschaftsinteressen sich zur Verfügung stellen kann. Daher darf auch das Maß ihres Parallelgehens mit der Demokratisierung, so typisch es In diesem Sinne prognostizierte Robert Michels die „Verkleinbürgerung“ der deutschen Sozialdemokratie. Das Versorgungsinteresse ginge mit der Bürokratisierung einher. Vgl. Michels, Deutsche Sozialdemokratie (wie oben, S. 181 f., Anm. 47), bes. S. 541–545.
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ist, nicht übertrieben werden. Auch feudale Herrenschichten haben jenes Instrument unter Umständen in ihren Dienst genommen, und es ist auch die Möglichkeit gegeben und vielfach, so im [213]römischen Prinzipat und auch in manchen der Form nach absolutistischen Staatenbildungen[,] Tatsache geworden, daß eine Bürokratisierung der Verwaltung mit Ständebildungen absichtsvoll verbunden oder durch die Gewalt der bestehenden sozialen Machtgruppierungen verquickt wurde. Ausdrückliche Vorbehalte von Ämtern für bestimmte Stände sind sehr häufig, [A 671]faktische noch mehr. Die, sei es wirkliche, sei es vielleicht nur formale, Demokratisierung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit im modernen Sinn des Worts ist zwar ein besonders günstiger, aber durchaus nicht der einzig mögliche Boden für Bürokratisierungserscheinungen überhaupt, welche ja nur die Nivellierung der ihnen auf dem Gebiete, das sie im Einzelfall zu okkupieren trachten, im Wege stehenden Gewalten anstreben. Und sehr zu beachten ist die uns schon mehrfach begegnete und auch weiterhin noch wiederholt zu erörternde Tatsache:[212]A: sie
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daß die „Demokratie“ als solche trotz und wegen ihrer unvermeidlichen[,] aber ungewollten Förderung der Bürokratisierung Gegnerin der „Herrschaft“ der Bürokratie ist und als solche unter Umständen sehr fühlbare Durchbrechungen und Hemmungen der bürokratischen Organisation schafft. Stets ist also der einzelne historische Fall daraufhin zu betrachten, in welcher speziellen Richtung gerade bei ihm die Bürokratisierung verlief. – [213] Siehe zum Beispiel oben, S. 196 f., 201–204, und unten, S. 231 f.
Es soll daher hier auch unentschieden bleiben, ob gerade die modernen Staaten, deren Bürokratisierung überall fortschreitet, dabei auch ausnahmslos eine universelle Zunahme der Macht der Bürokratie innerhalb des Staatswesens aufweisen. Die Tatsache, daß die bürokratische Organisation das technisch höchstentwickelte Machtmittel in der Hand dessen ist, der über sie verfügt, besagt noch nichts darüber: welchen Nachdruck die Bürokratie als solche ihren Auffassungen innerhalb des betreffenden sozialen Gebildes zu verschaffen vermag. Und auch die stets zunehmende „Unentbehrlichkeit“ des zu Millionenziffern angeschwollenen Beamtentums entscheidet darüber ebensowenig, wie z. B. – nach der Ansicht mancher Vertreter der proletarischen Bewegung
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– die ökonomische Unentbehrlich[214]keit der Proletarier das Maß ihrer sozialen oder politischen Machtstellung bestimmt: bei vorherrschender Sklavenarbeit hätte ja sonst, da die Freien unter solchen Bedingungen die Arbeit als entehrend zu scheuen pflegen, die mindestens ebenso „unentbehrliche“ Sklavenschaft jene Machtstellung einnehmen müssen. Ob die Macht der Bürokratie als solcher zunimmt, ist also a priori aus solchen Gründen nicht zu entscheiden. Die Zuziehung von Interessenten oder von anderen fachkundigen Nichtbeamten oder umgekehrt von fachfremden Laienvertretern, die Schaffung beschließender lokaler oder interlokaler oder zentraler parlamentarischer oder anderer repräsentativer oder berufsständischer Organe scheint dem ja direkt entgegenzulaufen. Inwieweit dieser Schein Wahrheit ist, gehört im einzelnen in ein anderes Kapitel Robert Michels kritisierte in einer Besprechung der Dissertation von Elsbeth Georgi über „Theorie und Praxis des Generalstreiks in der modernen Arbeiterbewegung“, daß die Autorin den wirtschaftlichen und ethischen Aspekt ihres Gegenstandes völlig ignoriert habe. Michels behauptete dagegen: „Der Generalstreik ist die klassischste Form [214]der Rebellion des Produzenten gegen den Besitzer der Produktionswerkzeuge, die große Probe aufs Exempel, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht ohne Arbeitermassen auskommen kann.“ Der Streik gebe „den herrschenden Klassen einen Begriff […] von der ‚wirtschaftlichen Notwendigkeit des Proletariats‘.“ Vgl. Michels, Robert, [Rezension von:] Georgi, Elsbeth: Theorie und Praxis des Generalstreiks in der modernen Arbeiterbewegung. Jena 1908. Verlag von Gustav Fischer. 144 S., in: Zeitschrift für Soziologie, 1. Jg., Heft 4, April 1909, S. 281–285.
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als in diese rein formale und kasuistische Erörterung. Hier kann allgemein nur etwa folgendes gesagt werden: Im Zuge der Debatten um die Reform des preußischen Wahlrechts wurden von einigen konservativen Verbänden, wie dem „Bund der Landwirte“, dem „Verein Deutscher Arbeitgeberverbände“ und dem „Reichsdeutschen Mittelstandsverband“, berufsständische Ideen verbreitet. Insbesondere in den Jahren 1911/12 erlebten diese antiparlamentarischen und gegen die Interessenvertretung durch die politischen Parteien ausgerichteten Ideen eine Renaissance. (Vgl. Stegmann, Dirk, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897–1918. – Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 283 ff.). Obwohl das Thema bereits vor dem Ersten Weltkrieg virulent war, äußerte sich Max Weber öffentlich erst seit 1917 in verschiedenen politischen Schriften und Reden dazu, z. B. Weber, Das preußische Wahlrecht, in: MWG I/15, S. 222–235, hier: S. 232, ders., Wahlrecht und Demokratie, MWG I/15, S. 355, 370, ders., Parlament und Regierung, MWG I/15, S. 455 f., und ders., Politik als Beruf, MWG I/17, S. 197.
Stets ist die Machtstellung der vollentwickelten Bürokratie eine sehr große, unter normalen Verhältnissen eine überragende. Einerlei, ob der „Herr“, dem sie dient, ein mit der Waffe der „Gesetzesinitiative“, des „Referendums“ und der Beamtenabsetzung ausgerüstetes „Volk“, ein mit dem Recht oder der faktischen Maßgeblichkeit des „Mißtrauensvotums“ ausgerüstetes, nach mehr aristokratischer oder mehr „demokratischer“ Basis gewähltes Parlament oder [215]ein rechtlich oder faktisch sich selbst ergänzendes aristokratisches Kollegium oder ein vom Volk gewählter Präsident oder ein erblicher „absoluter“ oder „konstitutioneller“ Monarch ist, – stets befindet er sich den im Betrieb der Verwaltung stehenden geschulten Beamten gegenüber in der Lage des „Dilettanten“ gegenüber dem „Fachmann“. Diese Überlegenheit des berufsmäßig Wissenden sucht jede Bürokratie noch durch das Mittel der Geheimhaltung ihrer Kenntnisse und Absichten zu steigern. Bürokratische Verwaltung ist ihrer Tendenz nach stets Verwaltung mit Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Bürokratie verbirgt ihr Wissen und Tun vor der Kritik, soweit sie irgend kann. Preußische Kirchenbehörden drohen jetzt für den Fall, daß ihre an die Pfarrer gerichteten Verweise oder andere Maßregelungen von diesen überhaupt irgendwie Dritten zugänglich gemacht werden, Disziplinarmaßregeln an, weil dadurch die Möglichkeit einer Kritik an ihnen „verschuldet“ werde.
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Die Rechnungsbeamten des persischen Schah machten aus der Etatisierungskunst [A 672]direkt eine Geheimlehre und bedienten sich einer Geheimschrift.[215] Das bekannteste zeitgenössische Disziplinarverfahren richtete sich gegen den Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub, der am 5. Juli 1912 aus dem Dienst entlassen wurde. In der Urteilsbegründung des Evangelischen Oberkirchenrates in Berlin hieß es, daß er wegen seiner öffentlich geübten Kritik, u. a. am Fall Jatho, „das Ansehen der Landeskirche und ihrer Organe gefährdet“ und damit gegen seine Pflichten als Kirchenbeamter verstoßen habe (Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt, 36. Jg., 1912, S. 39–84, Zitat: S. 41. Um weitere Kundgebungen im Anschluß an den Fall Traub zu verhindern, ermahnte der Oberkirchenrat die Pfarrer in einem „Runderlaß“ vom 18. Januar 1913, die „Grenzen zwischen öffentlicher Demonstration und amtlichem Verkehr“ einzuhalten (Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt, 37. Jg., 1913, S. 9–17, Zitat: S. 15). Falls es zu einem fortgesetzten und groben Verstoß gegen die äußeren Ordnungen der Kirche kommen sollte, drohte er mit „disziplinarer Rüge“ und „scharfer Ahndung“ (ebd., S. 9, 11). Die gesellschaftspolitische Brisanz des Falls Traub lag darin, daß die evangelische Kirchenbehörde hier den formal-bürokratischen Weg gewählt und damit die vermittelnde Institution des „Spruchkollegiums“ zur Abgleichung abweichender Lehrmeinungen umgangen hatte. Anhänger des kirchlich-liberalen Lagers sahen darin eine bürokratische Erstarrung der Kirche und mußten ihrerseits – falls sie Staatsbeamte waren und ihren Protest öffentlich bekundeten – mit Beeinträchtigungen rechnen.
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Die preu[216]ßische amtliche Statistik Die Rechenbeamten (mestofi) bildeten seit der Dynastie der Sefaviden (1502–1736) bis ins 19. Jahrhundert eine abgeschlossene Gruppe innerhalb des persischen Beamtentums. Ihre Rechenkunst (elmi siaq) bestand aus einer komplizierten Zeichenschrift für Gewichte und Zahlen, die auf losen Blättern eingetragen wurde. Das System war für Außenstehende nicht verständlich, denn die Beamten waren zusätzlich bestrebt, diese Geheimkunst nur an ihre Kinder weiterzugeben. Vgl. Greenfield, Persischer Staat (wie oben, S. 184, Anm. 54), S. 233 f.
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publiziert im allgemeinen nur, was den Absichten der machthabenden Bürokratie nicht schädlich sein kann. Die Tendenz zur Sekretierung folgt auf bestimmten Verwaltungsgebieten aus deren sachlicher Natur: überall da nämlich, wo es sich um die Machtinteressen des betreffenden Herrschaftsgebildes nach außen handelt: sei es gegenüber ökonomischen Konkurrenten eines Privatbetriebs, sei es, bei politischen Gebilden, um fremde, potentiell feindliche politische Gebilde. Der Betrieb der Diplomatie kann nur in sehr beschränktem Sinn und Maß ein öffentlich kontrollierter sein, wenn er Erfolg zeitigen soll. Die Militärverwaltung muß, mit Zunahme der Bedeutung des rein Technischen, zunehmend auf Sekretierung ihrer wichtigsten Maßregeln halten. Die politischen Parteien verfahren nicht anders, und zwar trotz aller ostensiblen Öffentlichkeit der Katholikentage[216] Das „Königlich Preußische Statistische Landesamt“ (so die offizielle Bezeichnung seit 1905) veröffentlichte u. a. Statistiken zur Einkommensteuer sowie zu Landtags- und Gemeindewahlen. In einem Redebeitrag bezichtigte Max Weber im Oktober 1907 die Behörde, im Zuge der Wahlrechtsreformdebatten Zahlen vorgelegt zu haben, die den politischen Interessen der preußischen Regierung dienlich seien. Vgl. Weber, Verfassung und Verwaltungsorganisation, MWG I/8, S. 305.
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und Parteikongresse zunehmend mit zunehmender Bürokratisierung des Parteibetriebs. Die Handelspolitik führt z. B. in Deutschland zur Sekretierung der Produktionsstatistik. Die Katholikentage (eigentlich: „Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands“) fanden zumeist jährlich und an wechselnden Orten des Deutschen Reichs statt. Mit dem Kulturkampf setzte die Politisierung der Zusammenkünfte ein. Die Versammlungen des 1848 gegründeten „Katholischen Vereins Deutschlands“ entwickelten sich zu Massenveranstaltungen (1906 in Essen mit 60.000 Teilnehmern). Auf den organisatorischen Aspekt ging insbesondere Hermann Mulert in seinem Artikel: Katholikentage, in: RGG1, Band 3, 1912, Sp. 1003–1007, ein.
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Jede Kampfstellung sozialer Gebilde nach außen wirkt eben immer, rein als solche, im Sinn der Stärkung der Position der in der [217]Macht befindlichen Gewalten. Allein weit über diese Gebiete rein sachlich motivierter Geheimhaltung wirkt das reine Machtinteresse der Bürokratie als solches. Der Begriff des „Amtsgeheimnisses“ ist ihre spezifische Erfindung, Seit den 1880er Jahren war die deutsche Handelspolitik zunehmend von den schutzzöllnerischen Interessen der Schwerindustrie und der Großagrarier geprägt, gegen die sich Max Weber bereits in früheren Beiträgen gewendet hatte. (Vgl. z. B. Weber, Agrarpolitik. Vortragsreihe am 15., 22. und 29. Februar, 7. und 14. März 1896 in Frankfurt am Main, in: MWG I/4, S. 743–790, hier: S. 785 f.). Im Jahr 1897 trat ein „Wirtschaftlicher Ausschuß zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen“ zusammen, der die Neuregelung der Zolltarife vorbereiten sollte. Er führte eine umfassende Ermittlung der „Gütererzeugung der einzelnen Industriezweige“ durch, deren vollständige Publikation jedoch von der Reichsregierung als nicht notwendig erachtet wurde. Vgl. Wirminghaus, Alexander, Produktionsstatistik, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. von Ludwig Elster, Band 2. – Jena: Gustav Fischer 1911, S. 636–638, Zitat: S. 638.
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und nichts wird von ihr mit solchem Fanatismus verteidigt wie eben diese, außerhalb jener spezifisch qualifizierten Gebiete rein sachlich nicht motivierbare, Attitude. Steht die Bürokratie einem Parlament gegenüber, so kämpft sie aus sicherem Machtinstinkt gegen jeden Versuch desselben, durch eigene Mittel (z. B. das sog. „Enquêterecht“)[217] Die erstmalige Erwähnung des Begriffs „Amtsgeheimnis“ findet sich in der Constitutio Criminalis Theresiana. Vollständiger Nachdruck der Trattnerschen Erstausgabe, Wien 1769. – Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1993, II Art. 66 § 1, S. 189 f. (dort: „Amtsgeheimnißen“), und gehört damit in die Zeit der absolutistischen Staatsgebilde, in der die uneingeschränkte Schweigepflicht der Beamten als selbstverständlich angesehen wurde. Im Deutschen Kaiserreich wurde die Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit durch § 11 des Reichsbeamtengesetzes von 1873 geregelt.
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sich Fachkenntnisse von den Interessenten zu verschaffen: ein schlecht informiertes und daher machtloses Parlament ist der Bürokratie naturgemäß willkommener, – soweit jene Unwissenheit irgendwie mit ihren eigenen Interessen verträglich ist. Auch der absolute Monarch und in gewissem Sinne gerade er am meisten ist der überlegenen bürokratischen Fachkenntnis gegenüber machtlos. Alle zornigen Verfügungen Friedrichs Das Enquete- oder Untersuchungsrecht umschreibt die Befugnis der Volksvertretung, „Tatsachen und Vorgänge festzustellen und zu untersuchen, deren Kenntnis zur Ausübung der parlamentarischen Funktionen erforderlich ist“. Staatsrechtler, wie z. B. der Heidelberger Jurist Gerhard Anschütz, sprachen – wie auch hier Max Weber – nur vom „sogenannten“ Enqueterecht, da es sich im streng juristischen Sinn nicht um ein „Recht“ des Parlaments handele, sondern um eine ihm „durch staatsrechtliche Organisationsnormen […] erteilte Zuständigkeit“. (Vgl. Zweig, Egon, Die parlamentarische Enquete nach deutschem und österreichischem Recht, in: Zeitschrift für Politik, Band 6, 1913, S. 265–345, Zitate: S. 265, 270, sowie Anschütz, Gerhard, Deutsches Staatsrecht, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, hg. von Josef Kohler, Band 2. – Leipzig: Duncker & Humblot und Berlin: J. Guttentag 1904, S. 449–635, hier: S. 585). Das Enqueterecht war in der Verfassung des Deutschen Reichs nicht vorgesehen, wohl aber in der preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 (Art. 81). Max Weber erwog seine Einführung für den Reichstag erstmals im Zuge der Daily Telegraph-Affäre Ende 1908 und zwar als effizientes Mittel der Verwaltungskontrolle. Vgl. den Brief an Friedrich Naumann, Ende Dezember 1908, MWG II/5, S. 714.
u
des Großen über die „Abschaffung der Leibeigenschaft“ entgleisten, sozusagen, auf dem Wege zur Realisierung, weil der Amtsmechanismus sie einfach als dilettantische Gelegenheitseinfälle ignorierte.[217]A: Friedrich
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[218]Der konstitutionelle König hat, wo immer er sich in Übereinstimmung mit einem sozial gewichtigen Teil der Beherrschten befindet, sehr oft einen bedeutenderen Einfluß auf den, infolge der wenigstens relativen Öffentlichkeit der Kritik an der Verwaltung auch für ihn kontrollierbareren, Gang derselben als der absolute Monarch, der auf die Informationen durch die Bürokratie selbst allein angewiesen ist. Der russische Zar des alten Regimes In einer Instruktion vom Mai 1763 forderte Friedrich II. d.Gr. für die Bauern in Pommern, daß „absolut und ohne das geringste Raisonnieren alle Leibeigenschaften von [218]Stund an gänzlich abgeschaffet werden“. Da der König keinen genauen Plan vorlegte, verständigte sich der beauftragte Geheime Finanzrat von Brenckenhoff mit den pommerschen Ständen, so daß an der Unfreiheit und dem mangelhaften Besitzrecht der Bauern nichts verändert wurde. Vgl. Knapp, Georg Friedrich, Die Bauernbefreiung in den östlichen Provinzen des preußischen Staates, in: HdStW3, Band 2, 1909, S. 541–550, dort auch das Zitat (S. 545) und der Hinweis, daß die preußischen Könige von „Leibeigenschaft“ sprachen, während die rechtskundigen Behörden den korrekteren Terminus „Untertänigkeit“ benutzten (ebd., S. 543) und damit die Anweisungen des Königs ins Leere laufen ließen.
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war selten imstande, das geringste dauernd durchzusetzen, was seiner Bürokratie mißfiel und gegen deren Machtinteressen verstieß. Seine ihm als Selbstherrscher direkt unterstellten Ministerien bildeten, wie Leroy-Beaulieu bereits sehr zutreffend bemerkt hat, ein Konglomerat von Satrapien, Gemeint ist die Zeit vor der Revolution von 1905. Vgl. dazu z. B. Weber, Rußlands Scheinkonstitutionalismus, MWG I/10, S. 401.
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die sich untereinander mit allen Mitteln persönlicher Intrigue bekämpften, insbesondere fortwährend mit voluminösen „Denkschriften“ bombardierten, denen gegenüber der Monarch als Dilettant hilflos war. Die mit jedem Übergang zum Konstitutionalismus unvermeidliche Konzentration der Macht der Zentralbürokratie in einer Hand: ihre Unterstellung unter eine monokratische Spitze: den Ministerpräsidenten, durch dessen Hände alles gehen muß, was an den Monarchen gelangt, stellt diesen letzteren weitgehend unter die Vormundschaft des Chefs der Bürokratie, wogegen Wilhelm II. in seinem bekannten Konflikt mit Bismarck ankämpfte, Die von Max Weber angeführte Formulierung findet sich nicht bei Anatole Leroy-Beaulieu. Der Sachverhalt – der Kampf der einzelnen Ministerien gegeneinander – wurde aber von ihm mit Beispielen aus der Regierungszeit von Alexander II. (1855–1881) und Alexander III. (1881–1894) illustriert. Vgl. Leroy-Beaulieu, Reich der Zaren II, S. 66–75.
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um sehr bald seinen Angriff auf jenes Prinzip zurücknehmen zu müssen. Unter [219]der Herrschaft des Fachwissens kann eben der reale Einfluß des Monarchen Stetigkeit nur noch erlangen durch den stetigen, von der zentralen Spitze der Bürokratie planvoll geleiteten Verkehr mit den Chefs der letzteren. Zugleich bindet der Konstitutionalismus die Bürokratie und den Herrscher in Interessengemeinschaft gegen das Machtstreben der Parteichefs in den Parlamenten aneinander. Gegen [A 673]die Bürokratie aber ist der konstitutionelle Monarch eben deshalb machtlos, wenn er keine Stütze im Parlament findet. Der Abfall der „Großen des Reichs“: der preußischen Minister und höchsten Reichsbeamten, hat noch im November 1908 Der Konflikt zwischen Wilhelm II. und Bismarck, der schließlich zur Entlassung Bismarcks führte, drehte sich um die Reaktivierung der Kabinettsordre vom 8. September 1852, nach der die Minister Immediatvorträge beim König nur mit Zustimmung des preußischen Ministerpräsidenten halten durften. Wilhelm II. verlangte die Aufhebung dieser, sein persönliches Regiment beschränkenden Ordre. Vgl. Huber, Ernst Rudolf, [219]Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4, 2. Aufl. – Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1969, S. 231 ff. (hinfort: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV), und Weber, Rußlands Scheinkonstitutionalismus, MWG I/10, S. 405 mit Anm. 13.
a
in Deutschland[219]A: 1918
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einen Monarchen in annähernd die gleiche Lage gebracht, wie der auf dem Boden des Lehensstaates entsprechende Vorgang im Jahre [220]1076 Gemeint ist hier eine der größten innenpolitischen Krisen des Deutschen Kaiserreichs, die am 28. Oktober 1908 durch die Veröffentlichung eines Interviews des Londoner „Daily Telegraph“ mit Wilhelm II. zur englischen Burenpolitik ausgelöst wurde. In der deutschen Öffentlichkeit und in den Reichstagsdebatten am 10. und 11. November wurden die außenpolitisch ungeschickten Bemerkungen des Kaisers empört als dessen Alleingang zurückgewiesen und die verfassungsrechtlichen Konsequenzen diskutiert. Obwohl der Kaiser den betreffenden Artikel vorab dem Reichskanzler vorgelegt hatte, verstand es Bernhard Fürst von Bülow, durch geschickte Erklärungen den öffentlichen Unmut auf den Kaiser zu lenken. Wilhelm II. empfand dieses Verhalten als Treuebruch des Reichskanzlers, der dadurch verstärkt wurde, daß sich die Bundesfürsten – namentlich der sächsische König Friedrich August III. und der Großherzog von Baden – sowie die preußischen Minister auf die Seite v. Bülows stellten. Nach den Sitzungen des preußischen Staatsministeriums am 11. November und des Bundesratsausschusses am 15. November gab der Kaiser am 17. November eine beschwichtigende Erklärung ab und sprach dem Kanzler sein Vertrauen aus. (Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte IV (wie oben, S. 218 f., Anm. 22), S. 302 ff., und Fesser, Gerd, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Eine Biographie. – Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1991, S. 105–110). Die Ansicht, daß die Nachgiebigkeit des Kaisers durch den „Abfall der Bundesstaaten und der höchsten Beamten“ und nicht durch den parteipolitischen Druck im Reichstag erzwungen worden sei, hatte Max Weber bereits am 30. November 1908 bei einer Parteiversammlung in Heidelberg geäußert. (Vgl. Weber, Max, Kaiser und Reichsverfassung. Diskussionsbeitrag auf der Versammlung der Nationalliberalen Partei am 30. November 1908 in Heidelberg, in: MWG I/8, S. 386–397, bes. S. 395 mit Anm. 10 und S. 397). Die Textstelle bezieht sich eindeutig auf die Vorgänge im „November 1908“; der Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs im November 1918 läßt sich dagegen nicht durch den „Abfall … der preußischen Minister und höchsten Reichsbeamten“ erklären. Daraus ergibt sich zwingend die Emendation der in der Erstausgabe überlieferten Jahreszahl „1918“.
b
.[220]A: 1056
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Indessen ist dies immerhin Ausnahme. Denn die Machtstellung des Monarchen ist gegenüber bürokratischen Beamten, angesichts der stets vorhandenen avancementslustigen Anwärter, durch die er unbequeme unabhängige Beamte leicht ersetzen kann, im ganzen doch weit stärker als im Feudalstaat und auch im „stereotypierten“ Patrimonialstaat. Nur ökonomisch unabhängige, d. h. besitzenden Schichten angehörige Beamte können sich, unter sonst gleichen Umständen, gestatten, den Verlust des Amts zu riskieren: Rekrutierung von besitzlosen Schichten steigert heute wie von jeher die Macht der Herren. Und nur Beamte, welche einer sozial einflußreichen Schicht angehören, mit der der Monarch als Stütze seiner Person rechnen zu müssen glaubt (wie in Preußen die sog. „Kanalrebellen“),[220] Max Weber bezieht sich hier auf die fürstliche Opposition, die sich im Laufe des Jahres 1076 gegen Heinrich IV. formierte und ihn zum Nachgeben im sog. „Investiturstreit“ zwang. Auf der Synode von Tribur im Oktober 1076 hatten die sächsischen und süddeutschen Fürsten dem König weitreichende Zugeständnisse abgerungen und ihn aufgefordert, seine Exkommunikation binnen eines Jahres rückgängig zu machen. Im Januar 1077 konnte Heinrich durch seinen Bußgang nach Canossa die Aufhebung des Banns durch Papst Gregor VII. erwirken und dadurch seine Handlungsfreiheit zurückgewinnen. (Vgl. Hampe, Karl, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer. – Leipzig: Quelle & Meyer 1909, S. 49–54). So kam – wie Max Weber es bereits 1908 formuliert hatte – „Canossa […] nach dem Abfall der Bundesfürsten“ (MWG I/8, S. 395). Durch diesen direkten Bezug auf die Ereignisse 1076/77 erwies sich die im Text der Erstausgabe überlieferte Jahreszahl „1056“ als unhaltbar.
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können seinen Willen dauernd inhaltlich gänzlich paralysieren. Die sog. „Kanalrebellen“ waren zwei Regierungsräte und 18 Landräte, die am 19. August 1899 im Preußischen Abgeordnetenhaus in der dritten Lesung gegen die Regierungsvorlage zum Bau des Mittelland-(Rhein-Weser-Elbe-)Kanals gestimmt hatten. Aufgrund einer persönlichen Anordnung des Kaisers wurden sie in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Vgl. Groeben, Klaus von der, Landräte in Ostpreussen. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Samlandes. – Köln, Berlin: Grote 1972, S. 33 f.
Überlegen ist der Sachkenntnis der Bürokratie nur die Sachkenntnis der privatwirtschaftlichen Interessenten auf dem Gebiet der „Wirtschaft“. Diese deshalb, weil für sie die genaue Tatsachenkenntnis auf ihrem Gebiet direkt wirtschaftliche Existenzfrage ist: Irrtümer in einer amtlichen Statistik haben für den schuldigen Beamten keine direkten wirtschaftlichen Folgen, – Irrtümer in der Kalkulation eines kapitalistischen Betriebes kosten diesem Verluste, vielleicht den Bestand. Und auch das „Geheimnis“ als Machtmittel ist im [221]Hauptbuch eines Unternehmers immerhin noch sicherer geborgen als in den Akten der Behörden. Schon deshalb ist die behördliche Beeinflussung des Wirtschaftslebens im kapitalistischen Zeitalter an so enge Schranken gebunden und entgleisen die Maßregeln des Staats auf diesem Gebiete so oft in unvorhergesehene und unbeabsichtigte Bahnen oder werden durch die überlegene Sachkenntnis der Interessenten illusorisch gemacht. –
Weil spezialisierte
c
Fachkenntnis in zunehmendem Maße Grundlage der Machtstellung der Amtsträger wird, so war die Art, wie man das Fachwissen verwerten und dabei doch nicht zu dessen Gunsten abdanken, sondern die eigene Herrenstellung wahren könne, schon früh Gegenstand der Sorge des „Herrn“. Mit zunehmendem qualitativen Umsichgreifen der Verwaltungsaufgaben und damit der Unentbehrlichkeit des Fachwissens, tritt daher in sehr typischer Art die Erscheinung auf, daß der Herr mit der gelegentlichen Konsultation einzelner bewährter Vertrauensleute oder auch einer intermittierend in schwierigen Lagen zusammenberufenen Versammlung von solchen nicht mehr auskommt und sich nun – die „Räte von Haus aus“[221]c–c(bis S. 228: prinzipiell durch.) Petitdruck in A.
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sind eine charakteristische Übergangserscheinung dazu – mit ständig tagenden kollegial beratenden und beschließenden Körperschaften umgibt (Conseil d’État,[221] „Räte von Haus aus“ waren seit dem 14. Jahrhundert Adelige, die vom Fürsten zu Kriegs- und Hofdiensten herangezogen werden konnten. Meist handelte es sich um ältere, bereits verdiente Personen. Da sie nicht am Hof des Fürsten, sondern zu „Hause“ lebten, unterschieden sie sich von den „wesentliche[n]“ oder „täglichen“ Räten, deren ständige Präsenz am Hof aufgrund der Zunahme der Verwaltungsaufgaben seit 1500 erforderlich war. Vgl. Schmoller, Gustav, Einleitung. Über Behördenorganisation, Amtswesen und Beamtenthum im Allgemeinen und speciell in Deutschland und Preußen bis zum Jahre 1713, in: Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. von der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Band 1. – Berlin: Paul Parey 1894, S. 15–143, hier: S. 51, sowie Hintze, Beamtenstand (wie oben, S. 31, Anm. 7, S. 25 f. (= 117 f.).
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Privy Council, „Conseil d’État“ war in Frankreich zunächst ein enger Personenkreis, der mit dem König die wichtigsten Staatsangelegenheiten beriet. Durch ein Dekret vom 27. April 1791 wurde „Conseil d’État“ zur Bezeichnung für das Ministerkollegium. Im 19. Jahrhundert war ihm dann eine wechselvolle Geschichte beschieden. Vgl. Hintze, Otto, Die Entstehung der modernen Staatsministerien. Eine vergleichende Studie, in: HZ, Band 100, 1908, S. 53–111, bes. 77 f., 99 f. (hinfort: Hintze, Staatsministerien), sowie Mayer, Otto, Theorie des französischen Verwaltungsrechts. – Straßburg: Karl J. Trübner 1886, S. 72 (hinfort: Mayer, Otto, Französisches Verwaltungsrecht).
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Generaldirekto[222]rium, Der englische Geheime Staatsrat („Privy Council“) entstand im 13. Jahrhundert und [222]setzte sich zunächst aus den Inhabern der großen Hofämter – zumeist hohen Adeligen – und anderen bewährten Dienern der Krone zusammen, wurde aber im 15. Jahrhundert um die Staatssekretäre erweitert. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gehörten ihm über 200 bedeutende, vom König ausgewählte Persönlichkeiten an. Vgl. Hintze, Staatsministerien (wie oben, S. 221, Anm. 27), bes. S. 61 f., 68.
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Kabinett, Das Generaldirektorium entstand 1722 aufgrund einer Instruktion des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. Konzipiert war es als kollegialisches Leitungsgremium für die verschiedenen Behörden, was aus der korrekten Bezeichnung „General-Ober-Finanz-, Kriegs- und Domänen-Direktorium“ hervorgeht.
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Diwan, Das „Kabinett“ – in England ursprünglich ein engerer Ausschuß des „Privy Council“ – entwickelte sich zur Runde der Ressortchefs der Regierung und sonderte sich als solche 1679 vom Staatsrat ab. Vgl. Hintze, Staatsministerien (wie oben, S. 221, Anm. 27), S. 92.
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Tsungli-Yamen, Diwan (von pers. „Liste“) bezeichnete den Staatsrat in islamischen Ländern. Im Osmanischen Reich setzte sich der „Großherrliche Diwan“ aus den höchsten politischen Amtsträgern zusammen. In Friedenszeiten tagte er am Hof des Sultans, bei Kriegszügen übernahm er die Funktion eines Generalstabs im Feld. Er war ein beratendes, aber kein entscheidendes Gremium.
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Weiwupu 1861 wurde in China auf Anregung des Prinzen Kung das „Tsungli-Yamen“ (Kurzform für: „Amt für die Oberleitung der Angelegenheiten aller Staaten“) eingerichtet. Es setzte sich zunächst aus dem Prinzen (Onkel des Kaisers), dem Großsekretär und dem Vizepräsidenten des Kriegsministeriums zusammen und wurde 1876 auf elf Mitglieder erweitert, die mit denen des Staatsrats identisch waren. Weber folgt hier der Einschätzung von Morse: das „Tsungli Yâmen […] as a Ministry of Foreign Affairs tended more and more to become a body of Cabinet Ministers and to displace the Grand Council.“ Vgl. Morse, Hosea Ballou, The Trade and Administration of the Chinese Empire. – London u. a.: Longmans, Green, and Co. 1908, S. 55 (hinfort: Morse, Trade); Max Weber bezieht sich in seiner Konfuzianismus-Studie (MWG I/19, S. 133, Fn. 5) explizit auf diese Monographie. Nach der Niederschlagung des Boxeraufstandes mußte das Tsungli Yamen 1901 aufgelöst werden.
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usw.). Ihre Stellung ist naturgemäß höchst verschieden, je nachdem sie selbst die höchste Verwaltungsbehörde werden oder neben ihnen eine monokratische Zentralinstanz oder mehrere solche stehen, und außerdem je nach ihrem Verfahren – bei voll entwickeltem Typus tagen sie dem Grundsatz oder der Fiktion nach unter seinem Vorsitz Das „Wai-wu pu“ war das 1901 in China eingerichtete „Ministerium für auswärtige Angelegenheiten“, also die Nachfolgeinstitution des „Tsungli-Yamen“ (vgl. oben, Anm. 32). Es war nicht identisch mit dem Staatsrat, erhielt aber den Vorrang vor anderen Ministerien. Die Schreibweise Max Webers entspricht nicht der in der zeitgenössischen China-Literatur üblichen („Wai-Wu-Pu“), sondern weist eine stärkere Anlehnung an eine in der Tagespresse belegte Form auf („Wei-Wu-Pu“, in: Germania, Nr. 239 vom 17. Okt. 1911, 1. Bl., S. 1, wo sich ebenfalls ein Bericht über Webers Redebeiträge beim Dresdner Hochschullehrertag findet).
d
–, und es werden alle wichtigen Angelegenheiten, nach allseitiger Beleuch[223]tung durch Referate und Korreferate der betreffenden Fachmänner und motivierte Vota anderer Mitglieder, mittelst Beschluß erledigt, den dann eine Verfügung des Herrn sanktioniert oder verwirft. Diese Art von kollegialen Behörden ist[222]Lies: dem Vorsitz des Herrn
e
also die typische Form, in welcher der Herrscher, der zunehmend „Dilettant“ wird, zugleich Fachwissen verwertet und sich – was oft unbeachtet bleibt – der steigenden Übermacht des Fachwissens zu erwehren und ihm gegenüber in seiner Herrenstellung zu behaupten trachtet. Er hält einen Fachmann durch andere im Schach und sucht sich durch jenes umständliche Verfahren selbst ein umfassendes Bild und die Gewißheit zu verschaffen, daß ihm nicht willkürliche Entscheidungen souffliert werden. Er erwartet die Garantie für ein Maximum von eigenem Einfluß dabei oft weniger von seinem persönlichen Vorsitz als von den schriftlichen, ihm vorliegenden Voten. Friedrich Wilhelm I., dessen tatsächlicher Einfluß auf die Verwaltung sehr bedeutend war, wohnte den streng kollegial geordneten Ministerialsitzungen fast nie persönlich bei, sondern gab seine Bescheide auf die schriftlichen Vorträge durch [A 674]Randbemerkungen oder Erlasse, welche den Ministern durch den Feldjäger aus dem „Kabinett“, nach Beratung mit den diesem angehörigen, dem[223]A: sind
f
Herrn ganz persönlich attachierten Bediensteten, zugestellt wurden.A: den
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Das Kabinett, gegen welches sich der Haß der Fachbürokratie ebenso wie, im Fall von Mißerfolgen, das Mißtrauen der Beherrschten wendet, entwickelte sich so, in gleicher Art in Rußland wie in Preußen[223] Der preußische König Friedrich Wilhelm I. nahm nicht an den Beratungen der Behörden in Berlin teil, weil er fürchtete, im persönlichen Umgang durch unsachliche Motive bestimmt zu werden. Er zog sich daher in sein „Kabinett“, zumeist in Potsdam, zurück und traf dort seine Entscheidungen in schriftlicher Form, die in der „Acta Borussica“ dokumentiert sind. Zur Durchführung des täglichen Schriftverkehrs stützte er sich auf drei Kabinettssekretäre und vermutlich einige subalterne Schreiber. Vgl. Hintze, Otto, Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II., in: Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. von der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Band 6, 1. – Berlin: Paul Parey 1901, S. 59–66 (hinfort: Hintze, Behördenorganisation).
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und anderen Staaten, als die per[224]sönliche Festung, in welche sich gewissermaßen der Herrscher gegenüber dem Fachwissen und der „Versachlichung“ der Verwaltung flüchtete. Das „Geheime Kabinett“ entstand in Preußen im 18. Jahrhundert als Sonderbehörde des Landesherrn. Von einem kleinen Kreis ausgewählter Personen ließ sich der König in Angelegenheiten, die er seiner Entscheidung vorbehielt, beraten, während er mit dem „Geheimen Rate“ (dem obersten Gremium der „Minister“) nur indirekt verkehrte. (Vgl. Schoen, Deutsches Verwaltungsrecht (wie oben, S. 159 f., Anm. 3), S. 221). Das entspre[224]chende Pendant in Rußland war das von Weber sog. „Ministerkonseil“, das auch nach den Reformen 1905/06 bestehen blieb. Vgl. Weber, Rußlands Scheinkonstitutionalismus, MWG I/10, S. 409 f.
Durch das Kollegialitätsprinzip versucht der Herr ferner eine Art von Synthese der Fachspezialisten zu einer kollektiven Einheit. Mit welchem Erfolg, ist nicht allgemein auszumachen. Die Erscheinung selbst ist sehr verschiedenen Staatsformen gemeinsam, vom Patrimonial- und Lehensstaat bis zum Frühbürokratismus. Vor allem aber ist sie dem entstehenden Fürstenabsolutismus typisch. Sie war eines der stärksten Erziehungsmittel für die „Sachlichkeit“ der Verwaltung. Sie gestattete auch, durch Beiziehung sozial einflußreicher Privatleute, ein gewisses Maß von Honoratiorenautorität und privatwirtschaftlicher Sachkunde mit der Fachkenntnis der Berufsbeamten zu verbinden. Die kollegialen Instanzen waren eine der ersten Institutionen, welche den modernen Begriff einer „Behörde“ als eines von der Person unabhängig perennierenden Gebildes überhaupt zur Entwicklung gelangen ließen.
Solange Fachkenntnis in Verwaltungsangelegenheiten ausschließlich Produkt langer empirischer Übung und die Normen der Verwaltung nicht Reglement, sondern Bestandteile der Tradition waren, war in typischer Art der Rat der Alten, oft unter Beteiligung der Priester, der „alten Staatsmänner“ und der Honoratioren die adäquate Form solcher, den Herrn zunächst nur beratenden Instanzen, die aber dann oft, weil sie gegenüber den wechselnden Herrschern perennierende Gebilde waren, die wirkliche Macht an sich rissen. So der römische Senat
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und der venezianische Rat, Der „Rat der Alten“ (senatus) der Königszeit entwickelte sich in der Republik als beratende Körperschaft der Magistrate (vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 795) zur obersten Regierungsbehörde. Gegenüber diesen jährlich wechselnden höchsten Ämtern zeichnete er sich durch große Kontinuität (Lebenslänglichkeit des Senatorenamtes) aus. Er war insbesondere für religiöse und außenpolitische Fragen (Vorbereitung von Kriegserklärungen und Bündnissen, Provinzaufteilung und deren Verwaltung) zuständig. Der Senat genehmigte und kontrollierte die Staatsausgaben und -einnahmen; mittels der „auctoritas patrum“ (vgl. dazu oben, S. 143 mit Anm. 36) nahm er Einfluß auf Gesetzgebungs- und Wahlverfahren. In der Kaiserzeit schwand sein politischer Einfluß.
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ebenso der athe[225]nische Areopag bis zu seiner Niederwerfung zugunsten der Herrschaft des „Demagogos“. Aus dem Kreis der Berater, die der Doge zu Gerichts- und Verwaltungszwecken um sich sammelte (als Institut der „sapientes“ 1141 erstmals urkundlich bezeugt), entwickelte sich der „große“ und der „kleine“ Rat (1187 zuerst belegt als „consilium maius“ [225]und „consilium minus“). Dieser Rat schränkte als wichtigstes Organ des 1143 beschworenen „commune Venetiarum“ die Macht des Dogen ein und entwickelte sich zum Träger der staatlichen Gewalt. Vgl. Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 152 f., und die dort angegebene Referenzliteratur: Lenel, Walter, Die Entstehung der Vorherrschaft Venedigs an der Adria mit Beiträgen zur Verfassungsgeschichte. – Straßburg: Karl J. Trübner 1897, S. 124–133, sowie Kretschmayr, Heinrich, Geschichte von Venedig, Band 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos. – Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1905, S. 247, 323 ff. (hinfort: Kretschmayr, Venedig I).
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Aber von solchen Instanzen sind natürlich die hier in Rede stehenden, auf dem Boden rationaler Fachspezialisierung und der Herrschaft des Fachwissens entstehenden Körperschaften trotz vielfacher Übergänge dennoch als Typus scharf zu scheiden. Zu unterscheiden sind sie andrerseits von den im modernen Staat häufigen, aus privaten Interessentenkreisen ausgelesenen Beratungskörperschaften, bei denen nicht Beamte oder gewesene Beamte den Kern bilden. Zu unterscheiden sind sie soziologisch endlich auch von den in heutigen privatwirtschaftlichen bürokratischen Gebilden (Aktiengesellschaften) sich findenden kollegialen Kontrollinstanzen (Aufsichtsrat), obwohl diese nicht selten durch Zuziehung von Honoratioren aus Nichtinteressiertenkreisen sich ergänzen, sei es um deren Sachkenntnis willen, sei es als Repräsentations- und Reklamemittel. Denn normalerweise vereinigen diese Gebilde nicht Träger speziellen Fachwissens, sondern die ausschlaggebenden ökonomischen Hauptinteressenten, namentlich die geldgebenden Banken des Unternehmens[,] als solche in sich und haben keineswegs nur beratende, sondern mindestens kontrollierende, sehr häufig aber tatsächlich die herrschende Stellung inne. Sie sind eher (aber auch nicht ohne Gewaltsamkeit) den Versammlungen der großen selbständigen Lehens- und Amtsträger und anderer sozial mächtiger Interessenten patrimonialer oder feudaler politischer Gebilde zu vergleichen, welche zuweilen allerdings die Vorläufer der, als Folge zu[226]nehmender Verwaltungsintensität entstehenden „Räte“, noch öfter aber Vorläufer ständischer Körperschaften gewesen sind. Der Areopag war die oberste Rechts- und Kontrollinstanz in Athen. Er setzte sich aus den höchsten und auf Lebenszeit bestimmten Beamten (Basileus, Polemarch und ehemaligen Archonten) zusammen (vgl. Aristoteles, Athenaion politeia 3). Diese aristokratische, schon vor Drakons Gesetzen (vor 624 v. Chr.) bestehende Institution wurde durch die Gesetze des Ephialtes (462/1 v. Chr.) und des Perikles (458–50 v. Chr.) aufgehoben (vgl. Plutarch, Kimon 15 und Perikles 9, und Weber, Agrarverhältnisse3, S. 109). Max Weber bezeichnet Perikles (unten, S. 500) als den eigentlichen Schöpfer der „Herrschaft des Demagogos“.
Von der Zentralinstanz übertrug sich jenes bürokratische Kollegialitätsprinzip sehr regelmäßig auf die verschiedensten Unterinstanzen. Innerhalb lokal geschlossener[,] namentlich städtischer Einheiten ist, wie einleitend bemerkt,
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kollegiale Verwaltung urwüchsig als Form der Honoratiorenherrschaft (durch ursprünglich gewählte, später meist mindestens teilweise kooptierte „Räte“, „Magistrats-“, „Dekurionen-“ und „Schöffenkollegien“) zu Hause. Sie sind daher normaler Bestandteil der Organisation der „Selbstverwaltung“, d. h. der Erledigung von Verwaltungsaufgaben durch lokale Interessenten unter Kontrolle bürokratischer staatlicher Instanzen. Die erwähnten Beispiele des venezianischen Rats und noch mehr des römischen Senats sind Übertragungen[226] Siehe den Text „Herrschaft“, oben, S. 141–144, eventuell auch oben, S. 177.
g
der normalerweise auf dem Boden lokaler politischer Verbände heimischen Form der Honoratiorenherrschaft auf große Überseereiche. Innerhalb des bürokratischen Staats schwindet die Kollegienverwaltung wieder, sobald mit Fortschreiten der Verkehrsmittel und der technischen Anforderungen an die Verwaltung die Notwendigkeit rascher und eindeutiger Entschließungen und die anderen schon erörterten,[226]A: Übertragung
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zur Vollbürokratie und Monokratie drängenden Motive beherrschend in den Vordergrund treten. Vor allem aber schwindet sie, sobald die Entwicklung parlamentarischer Institutionen und, meist zugleich damit, die Zunahme und Öffentlichkeit der Kritik von außen her die geschlossene Einheitlichkeit in der Leitung der Verwaltung als [A 675]das, vom Standpunkt der Herreninteressen aus, gegenüber der Gründlichkeit in der Vorbereitung ihrer Entschließungen wichtigere Element erscheinen läßt. Das durchrationalisierte Fachminister- und Präfektensystem Frankreichs Siehe oben, S. 177–201.
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hat unter diesen modernen Bedin[227]gungen bedeutende Chancen, die allen Formen überall zurückzudrängen, vermutlich ergänzt durch die schon erwähnte, Fachministerien wurden in Frankreich erstmals durch das Gesetz vom 27. April 1791 eingeführt, das Präfektensystem durch das Gesetz vom 28. Pluviôse des Jahres VIII (17. Februar 1800). Während den Ministern Sachgebiete zugewiesen waren, war der Zuständigkeitsbereich des Präfekten als Verwaltungschef eines Departements geographisch bestimmt. In Sachfragen konnten Präfekt und Minister daher unter Umständen in Konkurrenz zueinander treten. Daneben gab es auf allen Verwaltungsebenen die ehren[227]amtlichen Beratungskörper: General-, Arrondissements- und Gemeinderat. Vgl. Mayer, Otto, Französisches Verwaltungsrecht (wie oben, S. 221, Anm. 27), S. 48 f., 54 f., 82 ff.
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immer häufiger werdende und allmählich auch formal geordnete, Zuziehung von beratenden Gremien der Interessenten aus den ökonomisch und sozial einflußreichsten Schichten. Diese letztere Entwicklung speziell, welche die konkrete Sachkenntnis der Interessenten in den Dienst der rationalen Verwaltung fachgebildeter Beamter zu stellen sucht, hat sicherlich eine bedeutende Zukunft und steigert die Macht der Bürokratie noch weiter. Es ist bekannt, wie Bismarck den Plan eines „Volkswirtschaftsrats“ als Machtmittel gegen das Parlament auszuspielen suchte und dabei der ablehnenden Mehrheit – der er das Enquêterecht Siehe oben, S. 214 f., 221–223.
h
nach Art des englischen Parlaments[227]A: Enquèterecht
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nie gewährt hätte – seinerseits vorwarf: sie suche im Interesse der Parlamentsmacht das Beamtentum davor zu bewahren, daß es „zu klug“ werde. Jedes Mitglied der beiden Häuser des englischen Parlaments hatte die Möglichkeit, die Einsetzung eines „Committee of Inquiry“ zur Prüfung von Gesetzesvorlagen oder Verwaltungsbeschwerden zu beantragen. Der Präsident des Hauses (speaker) setzte dann eine entsprechende Kommission von Fachkennern ein, die angehört, aber auch vom Parlament einbestellt werden konnten. Das schriftliche Material zu den Erhebungen, einschließlich der Protokolle der Anhörungen, wurde im Buchhandel vertrieben (sog. Blaubücher).
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Welche Stellung auf diesem Wege künftig den Interessenver[228]bänden als solchen noch innerhalb der Verwaltung beschieden sein kann, gehört im übrigen nicht in diesen Zusammenhang. Auf Bismarcks Betreiben wurde die Einrichtung eines preußischen Volkswirtschaftsrats durch königliche Verordnung vom 17. November 1880 ermöglicht. Der Rat setzte sich aus 75 Vertretern aus Industrie, Gutsbesitz, Handwerk und Arbeiterschaft zusammen, die teils von den Handelskammern gewählt, teils von der Regierung ernannt wurden. Er sollte alle Wirtschafts- und finanzpolitischen Vorlagen der Regierung beraten, bevor sie dem Abgeordnetenhaus zur Abstimmung vorgelegt wurden. Die Schaffung eines entsprechenden Rates auf Reichsebene scheiterte an der Verweigerung der Mittelbewilligung durch den Reichstag am 10. Juni und 1. Dezember 1881. Bismarck unterstellte der ablehnenden Mehrheit im Reichstag, sie verweigere den 25 Regierungen das Recht auf bessere Information, weil diese den Parlamenten gegenüber bereits „klug genug“ seien. Zitat in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Band 66: V. Legislaturperiode. I. Session 1881/82. – Berlin: Verlag der Buchdruckerei der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ 1882, S. 140; weitere Informationen bei: Roëll, Paul von, Georg Epstein, Bismarcks Staatsrecht. Die Stellungnahme des Fürsten Otto von Bismarck zu den wichtigsten Fragen des Deutschen und Preußischen Staatsrechts. – Berlin: Ferdinand Dümmler 1903, S. 393.
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[228] In den Wahlrechtsdebatten forderten einige konservative Interessenverbände eine Wiederbelebung von Bismarcks Modell des Volkswirtschaftsrates und damit einen hohen außerparlamentarischen Einfluß berufsständischer Interessen auf wirtschaftspolitische Entscheidungen. Die Debatten wurden bis in die Spätphase des Ersten Weltkrieges fortgeführt und von Max Weber kommentiert, vgl. dazu oben, S. 214, Anm. 11.
Erst die Bürokratisierung von Staat und Recht sieht im allgemeinen auch die endgültige Möglichkeit scharfer begrifflicher Scheidung einer „objektiven“ Rechtsordnung von durch sie garantierten „subjektiven“ Rechten der Einzelnen, und ebenso die Scheidung des „öffentlichen“, die Beziehungen von Behörden zueinander und zu den „Untertanen“ betreffenden Rechts, vom
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„Privatrecht“, welches die Beziehungen der beherrschten Einzelnen untereinander regelt.[228]A: von
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Sie setzt die begriffliche Scheidung des „Staates“ als eines abstrakten Trägers von Herrenrechten und Schöpfers der „Rechtsnormen“ von allen persönlichen „Befugnissen“ Einzelner voraus, – Vorstellungsformen, welche dem Wesen der vorbürokratischen, speziell der patrimonialen und feudalen Herrschaftsstruktur noch fernliegen mußten. Zuerst vollziehbar und vollzogen wurde diese Vorstellung auf dem Boden städtischer Gemeinden, sobald diese ihre Amtsträger durch periodische Wahl bestellten, und nun der einzelne Max Weber berührt hier eine – vor allem seit der Reichsgründung – von deutschen Juristen geführte Debatte um die systematische Abgrenzung der verschiedenen Rechtsbereiche. Wie Weber, Recht § 1, S. 1–3 (WuG1, S. 386 f.), anführt, gab es verschiedene Theorien zur Grenzziehung. Entscheidend war der von Georg Jellinek ausgeführte Gedanke der „subjektiven öffentlichen Rechte“, der erst auf der Basis des modernen Staates sowie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte möglich war, aber auch einer juristischen Fachwissenschaft bedurfte. (Vgl. ebd., S. 10 f.; WuG1, S. 394 f.). Nach Jellinek begründen die subjektiven öffentlichen Rechte vier verschiedene Rechtszustände des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat: den passiven Status (Leistungen an den Staat), den negativen Status (Freiheit vom Staat), den positiven Status (Forderungen an den Staat) und den aktiven Status (Leistungen für den Staat). Vgl. Jellinek, System2 (wie oben, S. 7, Anm. 26), bes. S. V, 81 ff., 94.
j
die Herrschaft, auch die oberste, jeweilig „ausübende“ Träger der Gewalt offensichtlich nicht mehr identisch war mit dem die Herrschaft als „Eigenrecht“ Besitzenden. Aber erst die völlige Entpersönlichung der Amtsführung in der Bürokratie und die rationale Systematisierung des Rechts führten jene Scheidung prinzipiell durch.A: Einzelne
c
c(ab S. 221: Weil spezialisierte)–c Petitdruck in A.
Nicht analysiert werden können hier die weittragenden allgemeinen Kulturwirkungen, welche das Vordringen der rationalen büro[229]kratischen Herrschaftsstruktur rein als solcher und ganz unabhängig von dem Gebiet, welches sie ergreift, entfaltet. Sie steht natürlich im Dienste des Vordringens des „Rationalismus“ der Lebensgestaltung. Aber dieser Begriff läßt sehr verschiedenartige Inhalte zu. Ganz allgemein läßt sich nur sagen: daß die Entwicklung zur rationalen „Sachlichkeit“, zum „Berufs-“ und „Fachmenschentum“ mit allen ihren weitverzweigten Wirkungen durch die Bürokratisierung aller Herrschaft sehr stark gefördert wird. Es kann nur ein wichtiger Bestandteil dieses Prozesses hier kurz angedeutet werden: die Wirkung auf die Art der Erziehung und Bildung. Unsere kontinentalen, okzidentalen Erziehungsanstalten, speziell die höheren: Universitäten, technische Hochschulen, Handelshochschulen, Gymnasien und andere Mittelschulen, stehen unter dem beherrschenden Einfluß des Bedürfnisses nach jener Art von „Bildung“, welche das für den modernen Bürokratismus zunehmend unentbehrliche Fachprüfungswesen züchtet: der Fachschulung. Die „Fachprüfung“ im heutigen Sinn fand und findet sich auch außerhalb eigentlich bürokratischer Gebilde, so heut für die „freien“ Berufe des Arztes und Anwalts und in den zünftig organisierten Gewerben. Sie ist auch nicht unentbehrliche Begleiterscheinung der Bürokratisierung: die französische, englische, amerikanische Bürokratie haben ihrer lange in starkem Maß oder ganz entbehrt: die Schulung und Leistung im Parteibetrieb ersetzte sie. Die „Demokratie“ steht auch der Fachprüfung, wie allen Erscheinungen der von ihr selbst geförderten Bürokratisierung in zwiespältiger Stellungnahme gegenüber: einerseits bedeutet sie oder scheint sie doch zu bedeuten: „Auslese“ der Qualifizierten aus allen sozialen Schichten an Stelle der Honoratiorenherrschaft. Andererseits fürchtet sie von der Prüfung und dem Bildungspatent eine privilegierte „Kaste“ und kämpft daher dagegen. Und endlich findet sich die Fachprüfung auch [A 676]schon in vorbürokratischen oder halbbürokratischen Epochen. Ihr regelmäßiger erster geschichtlicher Standort sind präbendal organisierte Herrschaften. Exspektanzen auf Pfründen, zunächst geistliche – wie im islamischen Orient und im okzidentalen Mittelalter –, dann, wie namentlich in China,
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auch welt[230]liche, sind der typische Preis, um dessentwillen studiert und examiniert wird. Aber diese Prüfungen haben allerdings nur zum Teil wirklichen „Fach“-Charakter. – Erst die moderne Vollbürokratisierung bringt das rationale, fachmäßige Examenswesen zur unaufhaltsamen Entfaltung. Die civil service reform importiert allmählich die Fachschulung und Fachprüfung nach Amerika,[229] Die Verteilung der staatlichen Stellen hing in China bis ins 20. Jahrhundert – zumindest theoretisch – von der Anzahl der bestandenen Prüfungen und Abschlußnoten ab. Vgl. Zi, Examens littéraires (wie oben, S. 59 f., Anm. 64), bes. die im Anhang (S. 221–[230]241) abgedruckte Aufstellung der drei Jahrgangsbesten und deren anschließende Tätigkeit in Spitzenpositionen der Reichsverwaltung zwischen 1646 und 1894.
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und auch in alle anderen Länder dringt sie aus ihrer (in Europa) hauptsächlichen Brutstätte: Deutschland, Durch den Pendleton Act wurde 1883 die Basis für die Errichtung eines Berufsbeamtentums in den USA geschaffen. Vgl. dazu oben, S. 164 mit Anm. 12.
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vor. Die steigende Bürokratisierung der Verwaltung steigert ihre Bedeutung in England, Nach Rudolf Gneist wurde die Beamtenvorbildung zuerst im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (II. 10, §§ 70, 71) vorgeschrieben. Vgl. Gneist, Rudolf, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg. Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen mit besonderer Rücksicht auf Verwaltungsreformen und Kreisordnungen in Preußen. – Berlin: Julius Springer 1869, S. 87.
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der Versuch des Ersatzes des halbpatrimonialen alten Bürokratismus durch den modernen brachte sie (an Stelle des ganz andersartigen alten Examenswesens) nach China, In England wurden 1854 Fachprüfungen für Beamte eingeführt, aber erst 1870 konkrete Gesetze und Verordnungen erlassen. Diese sahen vor, daß jeder Staatsbeamte ein staatliches Prüfungszeugnis („Civil Service Certificate“) vorlegen mußte. Als Kontrollorgan fungierte das parlamentarische Committee of Public Accounts, das die Fortführung des alten Patronagesystems unterbinden sollte. Vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I (wie oben, S. 20, Anm. 24), S. 578 ff.
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die Bürokratisierung des Kapitalismus und sein Bedarf nach fachgeschulten Technikern, Kommis usw. trägt sie in alle Welt. Diese Entwicklung wird vor allem durch das soziale Prestige der durch Fachprüfung erworbenen Bildungspatente mächtig gefördert, um so mehr, als dieses seinerseits wieder in ökonomische Vorteile umgesetzt wird. Was die Ahnenprobe als Voraussetzung der Ebenbürtigkeit, Stiftsfähigkeit Vermutlich meint Max Weber hier die Reformbestrebungen der Jahre 1905/06, in denen kaiserliche Edikte zur Neuordnung des Beamtentums und des Schulwesens erlassen wurden. Durch das Edikt vom 2. September 1905 wurde das alte Prüfungswesen, das an den konfuzianischen Klassikern ausgerichtet war, abgeschafft und durch ein modernes Unterrichtssystem ersetzt. Vgl. Franke, China (wie oben, S. 37, Anm. 47), S. 87–113, hier: S. 106 f.
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und, wo immer der Adel sozial mächtig blieb, auch der staatlichen Amtsqualifikation in der Vergangenheit war, wird heute das Bildungspatent. Die Ausgestaltung der Universi[231]täts-, technischen und Handelshochschuldiplome, der Ruf nach Schaffung von Bildungspatenten auf allen Gebieten überhaupt, dienen der Bildung einer privilegierten Schicht in Büro und Kontor. Ihr Besitz stützt den Anspruch auf Konnubium mit den Honoratioren (auch im Kontor werden naturgemäß Vorzugschancen auf die Hand der Töchter der Chefs davon erhofft), auf Zulassung zum Kreise des „Ehrenkodex“, auf „standesgemäße“ Bezahlung statt der Entlohnung nach der Leistung, auf gesichertes Avancement und Altersversorgung, vor allem aber auf Monopolisierung der sozial und wirtschaftlich vorteilhaften Stellungen zugunsten der Diplomanwärter. Wenn wir auf allen Gebieten das Verlangen nach der Einführung von geregelten Bildungsgängen und Fachprüfungen laut werden hören, so ist selbstverständlich nicht ein plötzlich erwachender „Bildungsdrang“, sondern das Streben nach Beschränkung des Angebotes für die Stellungen und deren Monopolisierung zugunsten der Besitzer von Bildungspatenten der Grund. Für diese Monopolisierung ist heute die „Prüfung“ das universelle Mittel, deshalb ihr unaufhaltsames Vordringen. Und da der zum Erwerb des Bildungspatents erforderliche Bildungsgang erhebliche Kosten und Karenzzeiten verursacht, so bedeutet jenes Streben zugleich die Zurückdrängung der Begabung (des „Charisma“) zugunsten des Besitzes, – denn die „geistigen“ Kosten der Bildungspatente sind stets geringe und nehmen mit der Massenhaftigkeit nicht zu[,] sondern ab. Das Erfordernis ritterlicher Lebensführung in der alten Lehensqualifikation wird dabei bei uns durch die Teilnahme an deren heutigen Rudimenten in dem Verbindungswesen der die Bildungspatente erteilenden Hochschulen, in den angelsächsischen Ländern durch das Sport- und Klubwesen ersetzt. Auf der anderen Seite strebt die Bürokratie überall nach der Entwicklung einer Art von „Recht am Amt“ durch Schaffung eines geordneten Disziplinarverfahrens, Beseitigung der ganz arbiträren Verfügung der „Vorgesetzten“ über den Beamten, sucht ihm seine Stellung, sein geordnetes Aufrücken, seine Versorgung im Alter zu sichern und wird darin durch die „demokratische“, nach Minimisierung der Herrschaft verlangende, Stimmung der Beherrschten unterstützt, welche in jeder Abschwächung der arbiträren Verfügung des Herren über die Beamten eine Schwächung der Herrengewalt selbst erblicken zu können glaubt. Insofern also ist die Bürokratie, und zwar innerhalb der Kaufmannskontore wie im öffentlichen Dienst, ganz ebenso Trägerin einer spezifisch „ständischen“ Ent[232]wicklung wie die ganz anders gearteten Amtsträger der Vergangenheit. Und es wurde schon früher darauf hingewiesen, Zur „Stiftsfähigkeit“ vgl. die Erläuterung unten, S. 403 f., Anm. 21.
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daß diese ständischen [A 677]Qualitäten in ihrer Art zur technischen Brauchbarkeit der Bürokratie für ihre spezifischen Aufgaben mit verwertet zu werden pflegen. Eben gegen diesen unvermeidlichen „ständischen“ Charakter reagiert nun aber wiederum das Streben der „Demokratie“, an Stelle der ernannten Beamten die kurzfristige Beamtenwahl und an Stelle des geordneten Disziplinarverfahrens die Beamtenabsetzung durch Volksabstimmung zu setzen, also die arbiträre Verfügung des hierarchisch übergeordneten „Herren“ durch die ebenso arbiträre Verfügung der Beherrschten bzw. der sie beherrschenden Parteichefs zu ersetzen. [232] Siehe oben, S. 161 f.
Das soziale Prestige auf Grund des Genusses einer bestimmten Erziehung und Bildung ist an sich durchaus nichts dem Bürokratismus Spezifisches. Im Gegenteil. Nur ruht es unter anderen Herrschaftsstrukturen auf wesentlich anderen inhaltlichen Grundlagen: in der feudalen, theokratischen, patrimonialen Herrschaftsstruktur, in der englischen Honoratiorenverwaltung, in der altchinesischen Patrimonialbürokratie, in der Demagogenherrschaft der hellenischen sogenannten Demokratien
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war Ziel der Erziehung und Grundlage der sozialen Schätzung, bei aller noch so großen Verschiedenheit dieser Fälle untereinander, nicht der „Fachmensch“, sondern – schlagwörtlich ausgedrückt – der „kultivierte Mensch“. Der Ausdruck wird hier gänzlich wertfrei und nur in dem Sinne gebraucht: daß eine Qualität der Lebensführung, die als „kultiviert“ galt, Ziel der Erziehung war, nicht aber spezialisierte Fachschulung. Die, je nachdem, ritterlich oder asketisch oder (wie in China) literarisch oder (wie in Hellas) gymnastisch-musisch oder zum konventio[233]nellen angelsächsischen Gentleman kultivierte Persönlichkeit war das durch die Struktur der Herrschaft und die sozialen Bedingungen der Zugehörigkeit zur Herrenschicht geprägte Bildungsideal. Die Qualifikation der Herrenschicht als solcher beruhte auf einem Mehr von „Kulturqualität“ (in dem durchaus wandelbaren wertfreien Sinn, der diesem Begriff hier beigelegt wurde), nicht von Fachwissen. Das kriegerische, theologische, juristische Fachkönnen wurde natürlich dabei eingehend gepflegt. Aber im hellenischen wie im mittelalterlichen wie im chinesischen Bildungsgang bildeten ganz andere als fachmäßig „nützliche“ Erziehungselemente den Schwerpunkt. Hinter allen Erörterungen der Gegenwart um die Grundlagen des Bildungswesens steckt an irgendeiner entscheidenden Stelle der durch das unaufhaltsame Umsichgreifen der Bürokratisierung aller öffentlichen und privaten Herrschaftsbeziehungen und durch die stets zunehmende Bedeutung des Fachwissens bedingte, in alle intimsten Kulturfragen eingehende Kampf des „Fachmenschen“-Typus gegen das alte „Kulturmenschentum“. – Gemeint ist die Phase der attischen Politik seit Ephialtes und Perikles, die Weber (Agrarverhältnisse3, S. 109) als „radikale ,Demokratie‘“ (in Anführungszeichen!) bezeichnet und auf die Differenz zum modernen „Demokratie“-Begriff hinweist. Nach Webers Ansicht sei diese Zeit durch einzelne, verfassungsmäßig nicht vorgesehene Staatsmänner („Demagogen“) geprägt worden (vgl. dazu unten, S. 500). Zur Erziehung im „perikleischen Zeitalter“ vgl. Meyer, Eduard, Geschichte des Alterthums, Band 4, 1. Aufl. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta Nachfolger 1901, S. 106 ff. (hinfort: Meyer, Geschichte des Alterthums IV1), mit Anstreichungen im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München).
k
[233] Petitdruck in A.
Die bürokratische Organisation hat bei ihrem Vordringen nicht nur die schon mehrfach erwähnten,
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wesentlich negativen Hemmungen der für sie erforderlichen Nivellierung zu überwinden gehabt. Sondern mit ihr kreuzten und kreuzen sich Formen der Verwaltungsstruktur, welche auf heterogenen Prinzipien beruhen und teilweise bereits gestreift wurden.[233] Siehe oben, S. 201–208 und 213.
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Von diesen sind hier nicht etwa alle real existierenden Typen – das würde viel zu weit führen –, aber einige besonders wichtige Strukturprinzipien in möglichst vereinfachtem Schema kurz zu erörtern. Siehe oben, S. 169 f. (betrifft die wirtschaftliche Basis); heterogene Strukturprinzipien sind z. B. patrimoniale Herrschaft (S. 169 f., 178 u.ö.), Feudalismus (S. 212 f.), Kollegialität (S. 224 f.) oder Honoratiorentum (S. 191 f.).
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Nicht nur, aber stets auch unter der Fragestellung: 1. inwieweit sie ökonomischer Bedingtheit unterliegen oder etwa durch andere, z. B. rein politische, Umstände oder endlich durch eine in ihrer technischen Struktur selbst liegende „Eigengesetzlichkeit“ für sie Entwicklungschancen geschaffen werden, und 2. ob und welche spezifischen ökonomischen Wirkungen sie ihrer[234]seits etwa entfalten. Dabei muß natürlich von Anfang an die Flüssigkeit und das Ineinanderübergehen aller dieser Organisationsprinzipien im Auge behalten werden. Ihre „reinen“ Typen sind ja lediglich als für die Analyse besonders wertvolle und unentbehrliche Grenzfälle zu betrachten, zwischen welchen sich die fast stets in Mischformen auftretende historische Realität bewegt hat und noch bewegt. Hinweis auf die Darstellung der vor- bzw. nicht-bürokratischen Herrschaftsformen, unten, S. 247–535.
Die bürokratische Struktur ist überall spätes Entwicklungsprodukt. Je weiter wir in der Entwicklung zurückgehen, desto typischer wird für die Herrschaftsformen das Fehlen der Bürokratie und des Beamtentums überhaupt. Die Bürokratie ist „rationalen“ Charakters: Regel, Zweck, Mittel, „sachliche“ Unpersönlichkeit beherrschen ihr Gebaren. Ihre Entstehung und Ausbreitung hat daher überall [A 678]in jenem besonderen, noch zu besprechenden Sinne
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„revolutionär“ gewirkt, wie dies der Vormarsch des Rationalismus überhaupt auf allen Gebieten zu tun pflegt. Sie vernichtete dabei Strukturformen der Herrschaft, welche einen, in diesem speziellen Sinn, rationalen Charakter nicht hatten. Wir fragen also: welche diese waren?[234] Siehe den Text „Umbildung des Charisma“, unten, S. 481 f., dort (Anm. 1) mit einem Rückverweis.
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Siehe unten, S. 247–535.