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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[126][A 603] Herrschaft.
a
[126]In A geht voraus: Kapitel I.

1.
b
A: § 1.
Macht und Herrschaft. Übergangsformen.

„Herrschaft“ in ihrem allgemeinsten, auf keinen konkreten Inhalt bezogenen Begriff ist eines der wichtigsten Elemente des Gemeinschaftshandelns. Zwar zeigt nicht alles Gemeinschaftshandeln herrschaftliche Struktur. Wohl aber spielt Herrschaft bei den meisten seiner Arten eine sehr erhebliche Rolle, auch da, wo man nicht sofort daran denkt. So z. B. auch in den Sprachgemeinschaften. Nicht nur hat die durch Herrschaftsbefehl erfolgende Erhebung eines Dialekts zur Kanzleisprache des politischen Herrschaftsbetriebs sehr oft bei der Entwicklung großer einheitlicher Literatursprachgemeinschaften entscheidend mitgewirkt (so in Deutschland)
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[126]Max Weber gibt hier die Ansicht des Altgermanisten Konrad Burdach und seines Schülerkreises wieder, wonach die am Prager Hof der deutschen Könige aus dem Hause Luxemburg, insbesondere unter Karl IV. (1346–1378), gepflegte Kanzleisprache für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache maßgeblich gewesen sei. Burdach meinte, daß ausgehend von der Kanzlei in Prag, die sich genau an der Sprachgrenze zwischen dem bayerisch-österreichischen und dem mitteldeutschen Dialekt befand, jene neue Literatursprache durch die landesfürstlichen Kanzleien im Reich weiter vermittelt worden sei. Vgl. Burdach, Konrad, Die Einigung der Neuhochdeutschen Schriftsprache. Einleitung. Das sechzehnte Jahrhundert. Habilitationsschrift. – Halle a.S.: J. B. Hirschfeld o. J. [1884], bes. S. 31.
und umgekehrt ebenso oft bei politischer Trennung
c
A: Trennung,
auch eine entsprechende Differenzierung der Sprachen endgültig festgelegt (Holland gegen Deutschland),
2
Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung faßten die niederländischen Generalstände 1582 den Beschluß, Resolutionen fortan nur noch in der landeseigenen Sprache zu veröffentlichen. Damit verselbständigte sich die niederländische Mundart vom Neuhochdeutschen. Die erste niederländische Grammatik erschien 1584. Im Westfälischen Frieden 1648 wurde die Republik der Vereinigten Niederlande – unter Führung der Provinz Holland – als souverän anerkannt und schied aus dem Verband des Heiligen Römischen Reiches aus. Vgl. Lademacher, Horst, Geschichte der Niederlande. Politik, Verfassung, Wirtschaft. – Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1983, bes. S. 79, und Dibbets, Geert R. W., „Duits“ und Hochdeutsch bei niederländischen Grammatikern des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft, 2. Jg., 1992, S. 19–40.
sondern vor allem stereotypiert die in der „Schule“ [127]gehandhabte Herrschaft am nachhaltigsten und endgültigsten die Art und das Übergewicht der offiziellen Schulsprache. Ausnahmslos alle Gebiete des Gemeinschaftshandelns zeigen die tiefste Beeinflussung durch Herrschaftsgebilde. In außerordentlich vielen Fällen ist es die Herrschaft und die Art ihrer Ausübung, welche aus einem amorphen Gemeinschaftshandeln erst eine rationale Vergesellschaftung erstehen läßt, und in anderen Fällen, wo dem nicht so ist, ist es dennoch die Struktur der Herrschaft und deren Entfaltung, welche das Gemeinschaftshandeln formt und namentlich seine Ausgerichtetheit auf ein „Ziel“ überhaupt erst eindeutig determiniert. Das Bestehen von „Herrschaft“ spielt insbesondere gerade bei den ökonomisch relevantesten sozialen Gebilden der Vergangenheit und der Gegenwart: der Grundherrschaft einerseits, dem kapitalistischen Großbetrieb andererseits, die entscheidende Rolle. Herrschaft ist, wie gleich zu erörtern,
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[127]Siehe unten, S. 128–135.
ein Sonderfall von Macht. Wie bei anderen Formen der Macht, so ist auch bei der Herrschaft im speziellen es keineswegs der ausschließliche oder auch nur regelmäßige Zweck ihrer Inhaber, kraft derselben rein ökonomische Interessen zu verfolgen, insbesondere etwa nur: eine ausgiebige Versorgung mit wirtschaftlichen Gütern für sich zu erreichen. Aber allerdings ist die Verfügung über wirtschaftliche Güter, also die ökonomische Macht, eine häufige, sehr oft auch eine planvoll gewollte Folge von Herrschaft und ebenso oft eines ihrer wichtigsten Mittel. Nicht jede ökonomische Machtstellung äußert sich aber – wie gleich festzustellen sein wird,
4
Ebd.
– als eine „Herrschaft“ in dem hier gebrauchten Sinn des Worts. Und nicht jede „Herrschaft“ bedient sich zu ihrer Begründung und Erhaltung ökonomischer Machtmittel. Wohl aber ist dies bei den weitaus meisten und darunter gerade den wichtigsten Herrschaftsformen in irgendeiner Art und oft in einem solchen Maß der Fall, daß die Art der Verwendung der ökonomischen Mittel zum Zweck der Erhaltung der Herrschaft ihrerseits die Art der Herrschaftsstruktur bestimmend beeinflußt. Ferner zeigt die große Mehrzahl aller, und darunter [A 604]gerade der wichtigsten und modernsten Wirtschaftsgemeinschaften herrschaftliche Struktur. Und endlich ist die Struktur der Herrschaft, so wenig etwa ihre Eigenart eindeutig [128]mit bestimmten Wirtschaftsformen verknüpft ist, doch meist ein in hohem Maß ökonomisch relevantes Moment und ebenso meist irgendwie ökonomisch mitbedingt.
Wir suchen hier zunächst möglichst nur allgemeine und deshalb unvermeidlich wenig konkret und zuweilen auch notwendig etwas unbestimmt formulierbare Sätze über die Beziehungen zwischen den Formen der Wirtschaft und der Herrschaft zu gewinnen. Dazu bedarf es zunächst einer näheren Bestimmung: was „Herrschaft“ für uns bedeutet und wie sie sich zu dem allgemeinen Begriff: „Macht“ verhält. Herrschaft in dem ganz allgemeinen Sinne von Macht, also von: Möglichkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen, kann unter den allerverschiedensten Formen auftreten. Man kann, wie es gelegentlich geschehen ist,
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[128]Max Weber bezieht sich hier auf die unter Juristen insbesondere nach der Reichsgründung 1871 ausgetragene Streitfrage nach der Bestimmung des Herrschaftsbegriffs und damit nach Art und Umfang der staatlichen oder – wie einige meinten – der privatrechtlichen Herrschaftsbefugnisse (vgl. dazu die Einleitung, oben, S. 5–9, bes. S. 8). Speziell dürfte hier die Kritik des österreichischen Zivilrechtlers Anton Menger am ersten Entwurf zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das deutsche Reich von 1888 gemeint sein (vgl. Menger, Anton, Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen. Eine Kritik des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 2. Aufl. – Tübingen: H. Laupp 1890). Vom sozialistischen Standpunkt aus griff er insbesondere das Schuldrecht an. Am Beispiel der Lohnverträge demonstrierte er, daß sich diese rein privatrechtlichen Vertragsabschlüsse der Einflußnahme des Staates entziehen und die besitzenden Teile der Bevölkerung zur Ausübung von Herrschaft über die Lohnarbeiter berechtigen würden (ebd., S. 155 ff.). Im Umkehrschluß forderte Menger das gesetzlich verbürgte „Recht auf Arbeit“, so daß die Arbeitnehmer „Anspruch auf das gesamte Produkt ihrer Arbeit“ (ebd., S. 130) und insofern – wie Weber anführt – in diesem Umfang auch „Befehlsgewalt“ über den Unternehmer hätten. Vgl. auch die Erwähnung von Mengers Kritik bei: Weber, Max, Rezension von: Philipp Lotmar, Der Arbeitsvertrag, in: MWG I/8, S. 34–61, hier: S. 41, Fn. 3 mit Anm. 20.
z. B. die Ansprüche, welche das Recht dem einen gegen den oder die anderen zuweist, als eine Gewalt, dem Schuldner oder dem Nichtberechtigten Befehle zu erteilen, und also den gesamten Kosmos des modernen Privatrechts als eine Dezentralisation der Herrschaft in den Händen der kraft Gesetzes „Berechtigten“ auffassen. Dann hätte der Arbeiter Befehlsgewalt, also „Herrschaft“ gegenüber dem Unternehmer in Höhe seines Lohnanspruchs, der Beamte gegenüber dem König in Höhe seines Gehaltsanspruchs
d
[128]A: Gehaltanspruchs
usw., was einen terminologisch etwas gezwungenen und jedenfalls nur provisorischen Begriff ergäbe, da die Befehle [129]z. B. der richterlichen Gewalt an den Verurteilten doch von jenen „Befehlen“ des Berechtigten selbst an den noch nicht verurteilten Schuldner qualitativ geschieden werden müssen. Eine auch üblicherweise als „beherrschend“ bezeichnete Stellung kann dagegen ebensowohl in den gesellschaftlichen Beziehungen des Salons sich entfalten, wie auf dem Markt, vom Katheder eines Hörsaals
e
[129]A: Hörsals
herunter wie an der Spitze eines Regiments, in einer erotischen oder charitativen Beziehung wie in einer wissenschaftlichen Diskussion oder im Sport. Bei einem so
f
Fehlt in A; so sinngemäß ergänzt.
weiten Begriffsumfang wäre aber „Herrschaft“ keine wissenschaftlich brauchbare Kategorie. Eine umfassende Kasuistik aller Formen, Bedingungen und Inhalte des „Herrschens“ in jenem weitesten Sinn ist hier unmöglich. Wir vergegenwärtigen uns daher nur, daß es, neben zahlreichen anderen möglichen, zwei polar einander entgegengesetzte Typen von Herrschaft gibt. Einerseits die Herrschaft kraft Interessenkonstellation (insbesondere kraft monopolistischer Lage), und andererseits die Herrschaft kraft Autorität (Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht). Der reinste Typus der ersteren ist die monopolistische Herrschaft auf dem Markt, der letzteren die hausväterliche oder amtliche oder fürstliche Gewalt. Die erstere gründet sich im reinen Typus lediglich auf die kraft irgendwie gesicherten Besitzes (oder auch marktgängiger Fertigkeit) geltend zu machenden Einflüsse auf das lediglich dem eigenen Interesse folgende formal „freie“ Handeln der Beherrschten, die letztere auf eine in Anspruch genommene, von allen Motiven und Interessen absehende schlechthinnige
g
A: schlechthinige
Gehorsamspflicht. Beide gehen gleitend ineinander über. Z. B. übt jede große Zentralbank und üben große Kreditbanken kraft monopolistischer Stellung auf dem Kapitalmarkt oft einen „beherrschenden“ Einfluß aus. Sie können den Kreditsuchenden Bedingungen der Kreditgewährung oktroyieren, also deren ökonomische Gebarung im Interesse der Liquidität ihrer eigenen Betriebsmittel weitgehend beeinflussen, weil sich die Kreditsuchenden im eigenen Interesse jenen Bedingungen der ihnen unentbehrlichen Kreditgewährung fügen und diese Fügsamkeit eventuell durch Garantien sicherstellen müssen. Eine „Autorität“, d. h. ein unabhängig von allem Interesse bestehendes Recht auf „Gehorsam“ gegenüber den tatsächlich Beherrschten[,] nehmen aber die Kreditbanken dadurch nicht in Anspruch, sie verfolgen eigene Interessen und setzen diese [130]durch gerade dann, wenn die Beherrschten formell „frei“ handelnd ihren eigenen, also durch die Umstände zwingend diktierten, rationalen Interessen folgen. Jeder Inhaber auch eines nur unvollständigen Monopols, der in weitem [A 605]Umfang trotz bestehender Konkurrenz Tauschgegnern und Tauschkonkurrenten die Preise „vorschreiben“, d. h. durch eigenes Verhalten sie zu einem ihm genehmen Verhalten nötigen kann, obwohl er ihnen nicht die geringste „Pflicht“ zumutet, sich diese Herrschaft gefallen zu lassen, ist in gleicher Lage. Jede typische Art von Herrschaft kraft Interessenkonstellation, insbesondere kraft monopolistischer Lage, kann aber allmählich in eine autoritäre Herrschaft überführt werden. Zur besseren Kontrolle verlangen z. B. die Banken als Geldgeber Aufnahme ihrer Direktoren in den Aufsichtsrat kreditsuchender Aktienunternehmungen: der Aufsichtsrat aber erteilt dem Vorstand maßgebende Befehle kraft dessen Gehorsamspflicht. Oder eine Notenbank veranlaßt die Großbanken zum Abschluß eines Konditionenkartells
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[130]Ein Konditionenkartell dient zur Regelung allgemeiner Geschäfts-, Lieferungs- und Zahlungsbedingungen und wird im wirtschaftlichen Verkehr als die unterste Stufe der Konkurrenzregulierung betrachtet. Speziell im Bankengeschäft wurden insbesondere von Großbanken Vereinbarungen hinsichtlich der Kreditvergabe getroffen. In Schottland, Frankreich, Rußland und Österreich bestanden bereits Konditionenkartelle, während sich die Berliner Banken erst 1913 zu einem solchen zusammenschlossen. Vgl. Somary, Felix, Bankpolitik. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1915, bes., S. 276 f.; dort heißt es (ebd., S. 135): „In Deutschland ist in jüngster Zeit ein Bankenkartell zustande gekommen, das auch den Effektenkredit in den Kreis der Konditionsvereinbarungen einbezogen hat. Auf einen Teil der Geldgeber […] kann die Reichsbank direkten Einfluß ausüben, auf die Kreditbanken indirekten, da zum September- und Dezemberschluß fast alle auf sie angewiesen sind.“
und versucht dabei, sich selbst kraft ihrer Machtstellung eine einschneidende, fortlaufend reglementierende Oberaufsicht über deren Gebarung den Kunden gegenüber anzueignen, sei es nun zu währungspolitischen oder zu konjunkturpolitischen oder, sofern sie selbst wieder der Beeinflussung durch die politische Gewalt ausgesetzt ist, zu rein politischen Zwecken, z. B. zur Sicherung der finanziellen Kriegsbereitschaft. Gelänge die Durchführung einer solchen Kontrolle und würde dann weiterhin ihre Art und Richtung etwa in Reglements niedergelegt, würden vollends besondere Instanzen und Instanzenzüge für die Entscheidung von Zweifeln geschaffen, und würde sie vor allem tatsächlich immer straffer gestaltet, – was alles theoretisch denkbar ist, – so könnte im Effekt diese Herrschaft sich [131]der autoritären Herrschaft einer staatlichen bürokratischen Instanz gegenüber den ihr Untergebenen sehr weit angleichen
h
[131]A: angeglichen
und die Unterordnung den Charakter eines autoritären Gehorsamsverhältnisses annehmen. Ebenso die Beherrschung der von den Brauereien mit Betriebsmitteln ausgestatteten abhängigen Bierdetaillisten
7
[131]Durch die sog. Bierabnahmeverträge verpflichteten sich Schankwirte häufig dazu, Bier nur von den Brauereien zu beziehen, die ihnen zum Betreiben der Schankwirtschaft ein Darlehen gewährt hatten. Offensichtlich nutzten die Brauereien die finanzielle Zwangslage der Schankwirte beim Vertragsabschluß aus. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte daher mit Unverständnis auf die Entscheidung des Reichsgerichts vom 29. Mai 1906, wonach diese Bierabnahmeverträge nicht gegen die Gewerbeordnung verstießen. Vgl. Entscheidungen des Reichsgerichts für Zivilsachen, N. F., Band 13, 1906, S. 333–337.
oder der von einem zukünftigen deutschen Verlegerkartell etwa zu konzessionierenden Sortimenter
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Max Weber spielt hier auf Pläne der deutschen Verleger zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die sich mit eigenen kartellartigen Absprachen gegen die Übermacht des „Börsenvereins der Deutschen Buchhändler“ zur Wehr setzen wollten. Dieser war wegen seiner seit 1887 betriebenen Preis- und Rabattpolitik von Kritikern als „Buchhändlerkartell“ bezeichnet worden. Die Verleger planten demgegenüber, die Zahl der Sortimenter (Händler zum ausschließlichen Vertrieb von Büchern ohne eigenen Verlag) drastisch zu beschränken. Die Vorteile des von den Verlegervereinen zu steuernden Direktbezugs sollten dann nur noch wenigen Händlern zugute kommen. Vgl. Bücher, Karl, Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft. Denkschrift im Auftrage des Akademischen Schutzvereins, 3. Aufl. – Leipzig: B. G. Teubner 1904, bes. S. 99, 308 ff.
oder der Petroleumhändler gegenüber der Standard Oil Company,
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Die von John D. Rockefeller aufgebaute Standard Oil Company (bis 1900: Standard Oil Trust) gehörte durch die in Bremen gegründete Deutsch-Amerikanische Petroleumgesellschaft schon in den 1890er Jahren zu den größten Anbietern auf dem deutschen Petroleummarkt. Mit rigiden Ausschließlichkeitsverträgen versuchte sie, erst die Großhändler und schließlich die Kleinhändler in ihre Abhängigkeit zu bringen. Dies führte im Dezember 1897 und im März 1911 zu Interpellationen im Deutschen Reichstag. Vgl. Blaich, Fritz, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914. – Düsseldorf: Droste 1973, S. 74 ff., 185 ff.
oder der vom Kontor des Kohlensyndikates versorgten Kohlenhändler.
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Bekanntestes Beispiel für eine straffe Organisation des Kohlenhandels war die 1903 vom Rheinisch-westfälischen Kohlensyndikat und vier großen Reederfirmen begründete „Rheinische Kohlenhandels- und Reedereigesellschaft m.b.H.“ – das sog. „Kohlenkontor“ – mit Sitz in Mülheim a.d. Ruhr. (Vgl. Liefmann, Robert, Syndikate, in: HdStW3, Band 7, 1911, S. 1057–1063, bes. S. 1058 f.). Das Kontor schrieb dem Kohlenhändler die von den Produzenten festgesetzten Preise und Absatzzahlen vor, so daß dieser zu einem abhängigen Agenten wurde. Vgl. das Unterkapitel „Die Kartelle der Montanindustrie“ bei Gothein, Eberhard, Bergbau, in: GdS1, Abt. VI, 1914, S. 309–331, bes. [132]S. 317 ff., sowie die Äußerung Max Webers, Das Verhältnis der Kartelle zum Staate. Diskussionsbeitrag auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik am 28. September 1905, in: MWG I/8, S. 260–279, bes. S. 274 ff.
Sie alle könnten, bei konse[132]quenter Entwicklung, schrittweise in angestellte und auf Tantieme gesetzte Vertriebsagenten ihrer Auftragsgeber verwandelt werden, welche in der Art ihrer Abhängigkeit von sonstigen, der Autorität eines Betriebschefs unterstehenden, auswärts arbeitenden Monteuren und anderen Privatbeamten schließlich vielleicht kaum noch zu unterscheiden wären. Von faktischer Schuldabhängigkeit zur formellen Schuldversklavung im Altertum,
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Die Schuldversklavung oder Schuldverknechtung war im Altertum ein weitverbreitetes Institut. War ein Schuldner nicht zahlungsfähig, konnten er bzw. seine Familienangehörigen versklavt werden. Rechtlich geregelt war die Schuldversklavung beispielsweise in den Gesetzen des altbabylonischen Königs Hammurabi sowie im römischen Zwölftafelgesetz. Vgl. dazu Weber, Agrarverhältnisse3, S. 77 f., 150.
und ebenso im Mittelalter und in der
i
[132] Fehlt in A; in der sinngemäß ergänzt.
Neuzeit von der Abhängigkeit des Handwerkers im Exportgewerbe gegenüber dem marktkundigen Kaufmann zur hausindustriellen Abhängigkeit in ihren verschieden straffen Formen
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Max Weber unterschied an anderer Stelle (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 56, 59) zwischen der freien hausindustriellen Arbeit, die in den „kontraktlichen Formen des ‚Verlagssystems‘“ (ebd., S. 56) abgewickelt wurde, und den unfreien, d. h. grund- und leibherrlichen. Formen, die sich seit der beginnenden Neuzeit vor allem im deutsch-slawischen Grenzgebiet fanden.
und schließlich zur Heimarbeit mit autoritärer Arbeitsregelung führen gleitende Übergänge. Und von da aus führen wiederum gleitende Übergänge bis zu der Stellung eines durch formal „gleichberechtigten“ Tauschvertrag auf dem Arbeitsmarkt, unter formal „freiwilliger“ Annahme der „angebotenen“ Bedingungen, angeworbenen Kontoristen, Technikers, Arbeiters innerhalb der Werkstatt, deren Disziplin sich ihrerseits dem Wesen nach nicht mehr unterscheidet von der Disziplin eines staatlichen Büros und schließlich einer militärischen Kommandobehörde. Jedenfalls ist der Unterschied der letzten beiden Fälle: daß die Arbeits- und Amtsstellung freiwillig eingegangen und verlassen wird, die Militärdienstpflicht aber (bei uns, im Gegensatz zum alten Solddienstvertrag) durchweg unfreiwillig war,
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Der Solddienstvertrag ging seit dem 14. Jahrhundert mit der steigenden Bedeutung besoldeter Heere einher und bildete in Deutschland seit dem 15. Jahrhundert die Grundlage für die Landsknechtsheere. Den sog. „Artikelbriefen“ lag die Idee eines zweiseitigen, zeitlich begrenzten Vertrages zugrunde, der die gegenseitigen Verpflich[133]tungen zwischen dem Söldner und dem Kriegsherrn bzw. Kondottiere festschrieb. Mit der Einführung der stehenden Heere begann – besonders in Preußen – die gewaltsame Rekrutierung der Untertanen. Gesetzlich geregelt wurde die allgemeine Wehrpflicht seit Beginn des 19. Jahrhunderts: in Preußen am 3. September 1814, im Norddeutschen Bund am 9. November 1867 und im Deutschen Reich am 16. April 1871 durch § 2 der Reichsverfassung. Vgl. Jähns, Max, Geschichte der Kriegswissenschaften wesentlich in Deutschland, Erste Abteilung: Altertum, Mittelalter, XV. und XVI. Jahrhundert. – München, Leipzig: R. Oldenbourg 1889, S. 209, sowie Delbrück, Hans, Die Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Band 4: Neuzeit. – Berlin: Georg Stilke 1920, S. 67 f. und 282 ff. (hinfort: Delbrück, Geschichte der Kriegskunst IV).
wichtiger als der
k
A: die
zwischen staatlicher und privater Anstel[133]lung. Da aber auch das politische Untertanenverhältnis freiwillig eingegangen werden und in gewissem Umfang freiwillig gelöst werden kann, ebenso aber die feudalen und unter Umständen selbst die patrimonialen Abhängigkeiten der Vergangenheit, so ist der Übergang bis zum durchweg unfreiwilligen
l
[133]A: unfreiwillig
und für den Unterworfenen normalerweise unlöslichen reinen Autoritätsverhältnis (z. B. der Sklaven) ebenfalls gleitend. Natürlich bleibt auch in jedem autoritären Pflichtverhältnis faktisch ein gewisses Minimum von eigenem Interesse des Gehorchenden daran, daß er gehorcht, normalerweise eine unentbehrliche Triebfeder des Gehorsams. Alles ist also auch [A 606]hier gleitend und flüssig. Dennoch werden wir die scharfe polare Gegensätzlichkeit z. B. der rein aus dem durch Interessenkompromisse regulierten Marktaustausch, also aus dem Besitz rein als solchem, erwachsenen faktischen Macht gegenüber der autoritären Gewalt eines an die schlechthinnige
m
A: schlechthinige
Pflicht des Gehorchens appellierenden Hausvaters oder Monarchen streng festhalten müssen, um überhaupt zu fruchtbaren Unterscheidungen innerhalb des stets übergangslosen Flusses der realen Erscheinungen zu gelangen. Denn die Mannigfaltigkeit der Machtformen ist mit den gewählten Beispielen nicht erschöpft. Schon der Besitz als solcher wirkt keineswegs nur in der Form der Marktmacht machtbegründend. Wie wir schon sahen,
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Der Sachverhalt wird in der älteren Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ an drei Stellen angesprochen: 1. Weber, Hausgemeinschaften, MWG I/22-1, S. 146: Besitzverhältnisse in Hausgemeinschaften; 2. Weber, Politische Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 216 f.: Erwerb der Häuptlingswürde in primitiven politischen Verbänden; und 3. Weber, „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“, MWG I/22-1, S. 259, dort mit einem mehrfach aufzulösenden Rückverweis.
verleiht er auch in gesellschaftlich undifferenzierten Verhältnissen rein als solcher, wenn er mit entsprechender Lebensführung verbunden ist, weitgehende soziale Macht ganz entsprechend der heutigen [134]gesellschaftlichen Stellung dessen, der „ein Haus macht“ oder der Frau, die „einen Salon hat“.
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[134]Die beiden zur Zeit Max Webers üblichen Redewendungen bezeichnen 1. Personen, die über ausreichendes Vermögen verfügten, und es sich leisten konnten, Gäste einzuladen und zu bewirten, und 2. vor allem Frauen, die regelmäßig einen Personenkreis zu literarischer oder künstlerischer Unterhaltung zu sich einluden.
Alle diese Beziehungen können unter Umständen direkt autoritäre Züge annehmen. Und nicht nur der Marktaustausch, sondern auch die konventionellen Tauschverhältnisse der Geselligkeit stiften „Herrschaft“ in jenem weiteren Sinn, vom „Salonlöwen“ bis zum patentierten „arbiter elegantiarum“ des kaiserlichen Rom
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Der Dichter Gaius Petronius († 66 n. Chr.) wurde von Kaiser Nero als „arbiter elegantiae“, als Schiedsrichter des guten Geschmacks, geschätzt. Vgl. Tacitus, Annales 16, 18, 2, dort: „elegantiae arbiter“.
und den Liebeshöfen der Damen der Provence.
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Zu den bekannten „Liebes-“ oder „Minnehöfen“ der Provence zählen die Höfe von Orange, Les Baux, Aix und Marseille. Im 12. und 13. Jahrhundert waren sie die in Troubadour-Dichtungen besungenen Orte, an denen die adeligen Damen über Liebesverhältnisse zu Gericht saßen. In der Literaturwissenschaft war es zur Zeit Max Webers strittig, ob es sich hierbei um fiktive oder tatsächliche Gerichtshöfe gehandelt habe. Zu Max Webers Besuch in Les Baux vgl. dessen Karte an Marianne Weber vom 31. März 1912, MWG II/7, S. 499.
Und nicht nur direkt auf dem Gebiet privater Märkte oder Beziehungen finden sich derartige Herrschaftslagen. Ein „Empire State“
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Die Bezeichnung „Empire State“ für den amerikanischen Bundesstaat New York hatte sich schon vor 1800 durchgesetzt. Sie bezog sich vor allem auf die führende Stellung der Stadt New York als Handels- und Finanzplatz.
– korrekter: die in ihm autoritär oder marktmäßig ausschlaggebenden Menschen, – wie ihn in typischer Art Preußen im Zollverein und im Deutschen Reich, in weit geringerem Grade auch New York in Amerika darstellt, kann auch ohne alle formelle Befehlsgewalt eine weitgehende, zuweilen despotische Hegemonie ausüben: die preußische Beamtenschaft im Zollverein,
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Im Deutschen Zollverein von 1834 übernahm Preußen die Führung; beteiligt waren Hessen-Darmstadt, Kurhessen, Bayern, Württemberg, Sachsen, die thüringischen Staaten und seit 1854 Hannover. Die Führungsrolle Preußens war rechtlich nicht verankert, sondern beruhte auf dem wirtschaftlichen Übergewicht und der Vorbildfunktion preußischer Zollgesetzgebung und -verwaltung in der Gründungsphase. Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 2, 2. Aufl. – Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1960, S. 287 f., 302 f.
weil ihr Staatsgebiet als größtes Absatzgebiet der ausschlaggebende Markt war, im deutschen Bundesstaat teils, weil sie das größte Eisenbahnnetz, die größte Zahl von Universitätslehrstühlen usw. beherrscht
n
[134]A: beherrschen
und die betreffenden Ver[135]waltungen der formell gleichberechtigten Bundesstaaten lahmlegen kann
o
[135]A: können In A bindet hieran die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vor 1914 geschrieben.
,
20
[135]Obwohl die Verwaltung im deutschen Kaiserreich Ländersache war, hatte der Bundesrat das Recht, allgemeine Verwaltungsanordnungen zu erlassen. Preußen, das im Bundesrat weniger als ein Drittel der Stimmen hatte, nahm aber über Gesetzesvorlagen und andere Druckmittel – besonders gegenüber den nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten – Einfluß auf die Entscheidungen des Rates. Max Weber sprach im Oktober 1911 von der kartellartigen Organisation des Unterrichts- und Eisenbahnwesens unter der Leitung Preußens, „bei der die übrigen Unterrichtsverwaltungen Vasallen der preußischen“ würden. Vgl. Weber, Diskussionsbeiträge, in: Verhandlungen des IV. Deutschen Hochschullehrertages zu Dresden am 12. und 13. Oktober 1911. Bericht erstattet vom geschäftsführenden Ausschuß. – Leipzig: Verlag des Literarischen Zentralblattes für Deutschland (Ferdinand Avenarius) 1912, S. 66–77, 85 f., Zitat: S. 71 (MWG I/13).
teils aus anderen ähnlichen Gründen, – New York aber auf engerem politischem Gebiet als Sitz der großen Finanzmächte. Alles dies sind Machtformen kraft Interessenkonstellation, dem marktmäßigen Machtverhältnis gleich oder ähnlich, welche aber im Verlauf einer Entwicklung sehr leicht in formell geregelte Autoritätsverhältnisse verwandelt, korrekt formuliert: zur Heterokephalie der Befehlsgewalt und des Zwangsapparats vergesellschaftet werden können. Die bloß marktmäßige oder durch Interessenkonstellation bedingte Herrschaft kann ferner gerade wegen ihrer Ungeregeltheit weit drückender empfunden werden als eine ausdrücklich durch bestimmte Gehorsamspflichten regulierte Autorität. Nicht darauf aber kann es für die soziologische Begriffsbildung ankommen. Wir wollen im folgenden den Begriff der Herrschaft in dem engeren Sinn gebrauchen, welcher der durch Interessenkonstellationen, insbesondere marktmäßig, bedingten Macht, die überall formell auf dem freien Spiel der Interessen beruht, gerade entgegengesetzt, also identisch ist mit: autoritärer Befehlsgewalt.
Unter „Herrschaft“ soll hier also der Tatbestand verstanden werden: daß ein bekundeter Wille („Befehl“) des oder der „Herrschenden“ das Handeln anderer (des oder der „Beherrschten“) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflußt, daß dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so abläuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten („Gehorsam“).
1. Die
p
p-p (bis S. 138: juristischen Begriffsapparat.) Petitdruck in A.
schwerfällige Formulierung mit „als ob“ ist, wenn man den hier angenommenen Herrschaftsbegriff zugrunde legen will, deshalb [136]unvermeidlich, weil einerseits für unsere Zwecke nicht die bloße äußere Resultante: das faktische Befolgtwerden des Befehls, genügt: denn der Sinn seines Hingenommenwerdens als einer „geltenden“ Norm ist für uns nicht gleichgültig, – andererseits aber die Kausalkette vom Befehl bis zum Befolgtwerden sehr verschieden aussehen kann. Schon [A 607]rein psychologisch: ein Befehl kann seine Wirkung durch „Einfühlung“ oder durch „Eingebung“ oder durch rationale „Einredung“ oder durch eine Kombination von mehreren dieser drei Hauptformen der Wirkung vom Einen zum Anderen erzielen.
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[136]„Einredung“, „Einfühlung“ und „Eingebung“ sind nach Willy Hellpach „drei große Kategorien von Möglichkeiten seelischer Übermittlung“ und böten daher die Möglichkeit zur Erläuterung massenpsychologischer Vorgänge. Vgl. Hellpach, Willy, Die geistigen Epidemien (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hg. von Martin Buber, Band 11). – Frankfurt a.M.: Rütten & Loening 1906, S. 46 (hinfort: Hellpach, Geistige Epidemien). Im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München) findet sich bei der ersten Erwähnung der drei Einwirkungsmöglichkeiten (ebd., S. 31) eine Anstreichung. Den direkten Bezug zu Hellpach stellte Max Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, S. 5 (WuG1, S. 375), in der handschriftlichen Überarbeitung, her.
Ebenso in der konkreten Motivation: der Befehl kann im Einzelfall aus eigener Überzeugung von seiner Richtigkeit oder aus Pflichtgefühl oder aus Furcht oder aus „stumpfer Gewöhnung“ oder um eigener Vorteile willen ausgeführt werden, ohne daß der Unterschied notwendig von soziologischer Bedeutung wäre. Andererseits aber wird sich der soziologische Charakter der Herrschaft als verschieden herausstellen[,] je nach gewissen Grundunterschieden in den allgemeinen Fundamenten der Herrschaftsgeltung.
2. Von jenem früher erörterten
22
Siehe oben, S. 128 f.
weiteren Sinn des „Sich-zur-Geltung-bringens“ (auf dem Markt, im Salon, in der Diskussion oder wo immer) bis zu dem hier verwendeten engen Begriff führen, wie wir sahen,
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Siehe oben, S. 129–135.
zahlreiche Übergänge. Wir wollen zur deutlichen Abgrenzung des letzteren auf einige kurz zurückkommen. Eine Herrschaftsbeziehung kann zunächst selbstverständlich doppelseitig bestehen. Moderne Beamte verschiedener „Ressorts“ unterstehen gegenseitig, jeder innerhalb der „Kompetenz“ des anderen, ihrer Befehlsgewalt. Dies macht keine begrifflichen Schwierigkeiten. „Herrscht“ aber z. B. bei der Bestellung von einem Paar Stiefeln der Schuster über [137]den Kunden oder dieser über jenen?
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[137]Der Schuster ist ein durchgehender Vergleichstopos in den staatsphilosophischen Reflexionen Platons, an dem er das Verhältnis von beruflicher und ständischer Qualifikation zu vermeintlichen Herrschaftsansprüchen verdeutlicht. Steht dem Schuster, weil er etwas von Schuhen versteht, auch das beste Paar zu? (Vgl. Platon, Gorgias 490e, 517e). Ähnlich verwendet Max Weber das Bild des Schusters hier sowie in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Herrschaftsbegriff bei Robert Michels, Parteiensoziologie (wie oben, S. 4, Anm. 15). Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an Robert Michels vom 21. Dez. 1910, MWG II/6, S. 756 (dort geht es um die Frage, ob die Wahl kompetenter Führer die Kompetenz der Wählenden voraussetze), sowie die Ausführungen in der Einleitung, oben, S. 4 f.
Die Antwort würde im Einzelfall sehr verschieden, fast immer aber dahin lauten: daß der Wille jedes von beiden auf einem Teilgebiet des Vorgangs den des anderen auch gegen dessen Widerstreben beeinflußt, in diesem Sinn also „beherrscht“ habe. Ein präziser Begriff der Herrschaft wäre darauf schwerlich aufzubauen. Und so in allen Austauschverhältnissen, auch den ideellen. Wenn ferner z. B., wie namentlich in asiatischen Dörfern oft, ein Dorfhandwerker kraft fester Anstellung arbeitet,
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In den alten indischen Gemeinwesen wurden die Dorfhandwerker von der Gemeinde unterhalten. Ihre Zahl war traditionell begrenzt. Vgl. Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3. Aufl., hg. v. Friedrich Engels, Band 1. – Hamburg: Otto Meissner 1883, S. 359–361; hier als Beispiel für gesellschaftliche Arbeitsteilung angeführt. Den direkten Bezug auf Karl Marx stellte Max Weber an anderer Stelle her (Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 193).
ist nun er, innerhalb seiner beruflichen „Kompetenz“, Herrscher, oder wird er
q
[137]A: er,
– und von wem? – beherrscht? Man wird geneigt sein, auch hier die Anwendbarkeit des Begriffs „Herrschaft“ abzulehnen, außer einerseits für ihn gegenüber seinen etwaigen Gehilfen, andrerseits ihm gegenüber für die etwa vorhandenen „obrigkeitlichen“, also: eine Befehlsgewalt ausübenden, Personen, welche eine „Kontrolle“ über ihn ausüben: das bedeutete aber die Einschränkung auf unseren, engeren Begriff. Aber genau in der gleichen Weise, wie die Stellung eines solchen Handwerkers, kann die Stellung eines Dorfschulzen, also: einer „Obrigkeitsperson“, gestaltet sein. Denn die Unterscheidung zwischen privatem „Geschäft“ und öffentlicher „Amtsführung“, wie sie uns gewohnt ist, ist erst Entwicklungsprodukt und keineswegs überall so eingewurzelt wie bei uns. Für die populäre amerikanische Auffassung z. B. ist der „Betrieb“ eines Richters ein „business“ nicht anders wie der Betrieb eines Bankiers. Der Richter ist ein Mann, welcher mit dem Monopol privilegiert ist, einer [138]Partei eine „decision“ zu geben, mittels derer
r
[138]A: deren
diese andere zu Leistungen zwingen oder, umgekehrt, sich gegen die Zumutung solcher schützen kann. Kraft dieses Privilegs genießt er direkte und indirekte, legitime und illegitime, Vorteile, und für dessen Besitz zahlt er Teile seines „fee“ an die Kasse der Parteibosse
s
A: Parteibosses
, welche es ihm verschafft haben.
26
[138]Max Weber stützt sich hier offensichtlich auf die Ausführungen von James Bryce über den amerikanischen Richterstand (Bryce, American Commonwealth II (wie oben, S. 42, Anm. 1); im Kapitel „The Bench“, S. 511–521, finden sich Anstreichungen im Handexemplar Max Webers; Universitätsbibliothek Heidelberg). Anhand des bekanntesten Beispiels – New York in den Jahren 1867 bis 1871 unter der Herrschaft des sog. Tweed-Rings – beschreibt Bryce die Auswüchse des amerikanischen Systems eines auf Volkswahlen basierenden Richtertums. Die Kandidatennominierung im Staat New York lag damals ganz in den Händen der Parteibosse, so daß die Richter, die oft über keine juristische Vorbildung verfügten, ganz von diesen abhängig waren. Die Richter gaben nicht nur entsprechende Urteile („decisions“) zugunsten ihrer Förderer ab, sondern auch einen Teil ihres Honorars („fee“). Für die Nominierung zu einer höheren Richterstelle wurden in den 1880er Jahren mehr als $ 5000 an die Parteikasse gezahlt, bei kleineren Stellen bis zu 4 oder 5 % des jährlichen Gehalts (ebd., S. 112–114).
– Wir werden unsererseits dem Dorfschulzen, dem Richter, dem Bankier, dem Handwerker gleichermaßen „Herrschaft“ überall da und nur da zuschreiben, wo sie für gegebene Anordnungen, rein als solche, „Gehorsam“ beanspruchen und (in einem sozial relevanten Grade) finden. Ein für uns leidlich brauchbarer Begriffsumfang ergibt sich eben nur durch Bezugnahme auf die „Befehlsgewalt“, so sehr zuzugeben ist, daß auch hier in der Realität des Lebens alles „Übergang“ ist. Von selbst versteht sich, daß für die soziologische Betrachtung nicht das aus einer Norm dogmatisch-juristisch ableitbare „ideelle“, sondern das faktische Bestehen einer solchen Gewalt maßgebend ist, also: daß einer in Anspruch genommenen Autorität, bestimmte Befehle zu geben, in einem sozial relevanten Umfang tatsächlich Folge geleistet wird. Dennoch geht naturgemäß die soziologische Betrachtung von der Tatsache aus, daß „faktische“ Befehlsgewalten das Superadditum einer von „Rechts wegen“ bestehenden normativen „Ordnung“ zu prätendieren pflegen und operiert daher notgedrungen mit dem juristischen Begriffsapparat.
p
p(ab S. 135: 1. Die schwerfällige)-p Petitdruck in A.

[139] 2.
t
[139]A: § 2.
Herrschaft und Verwaltung. Wesen und Grenzen der demokratischen Verwaltung.

„Herrschaft“ interessiert uns hier in erster Linie, sofern sie mit „Verwaltung“ verbunden ist. Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung. Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft, denn immer müssen zu ihrer Führung irgendwelche Befehlsgewalten in irgend jemandes Hand gelegt sein. Die Befehlsgewalt kann dabei sehr unscheinbar auftreten und der Herr als „Diener“ der Be[A 608]herrschten gelten und sich fühlen. Dies ist am meisten bei der sog. „unmittelbar demokratischen Verwaltung“ der Fall.
27
[139]Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden, spielt aber auf radikal-demokratische Forderungen an, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges von antiparlamentarischen Richtungen (Anarchismus, Syndikalismus und revolutionärer Sozialdemokratie) unter Berufung auf die Ideen von Jean-Jacques Rousseau erhoben wurden. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 119.
„Demokratisch“ heißt sie aus zwei nicht notwendig zusammenfallenden Gründen, nämlich 1. weil sie auf der Voraussetzung prinzipiell gleicher Qualifikationen aller zur Führung der gemeinsamen Geschäfte beruht, 2. weil sie den Umfang der Befehlsgewalt minimisiert. Die Verwaltungsfunktionen werden entweder einfach im Turnus übernommen oder durch das Los oder durch direkte Wahl auf kurze Amtsfristen übertragen, alle oder doch alle wichtigen materiellen Entscheidungen dem Beschluß der Genossen vorbehalten, den Funktionären nur Vorbereitung und Ausführung der Beschlüsse und die sog. „laufende Geschäftsführung“ gemäß den Anordnungen der Genossenversammlung überlassen. Die Verwaltung vieler privater Vereine ebenso wie diejenige politischer Gemeinden (in gewissem Maße noch jetzt, wenigstens dem Prinzip nach, der Schweizer Landesgemeinden
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Die Landes- oder Landsgemeinden waren in einigen Schweizer Kantonen noch im 19. Jahrhundert die obersten Regierungsorgane. Sie wurden durch die männlichen stimmberechtigten Bürger gebildet und traten mindestens einmal jährlich zusammen. Neben der Beratung von Gesetzesanträgen bestand ihre Hauptaufgabe in der Wahl der Lands- oder Kantonsräte. Bei letzteren lag seit dem 18. Jahrhundert die tatsächliche Regierungskompetenz. Vgl. Dunant, Alphonse, Die direkte Volksgesetzgebung in der schweizerischen Eidgenossenschaft und ihren Kantonen. – Heidelberg: J. Hörning 1894, S. 2–8.
und der townships der Vereinigten Staaten),
29
Als „townships“ wurden die sich selbst verwaltenden, ländlichen Siedlungen der sechs Neuenglandstaaten bezeichnet. Regelmäßig traten die – vorwiegend puritani[140]schen – Siedler zusammen, um die öffentlichen Belange zu besprechen. Obwohl an den Einwohnerversammlungen festgehalten wurde, ging die Verwaltung im 19. Jahrhundert zunehmend in die Hände der Bürgermeister (mayors) oder Ratsherren (aldermen) über. Vgl. das Kapitel „Local Government“ bei Bryce, James, The American Commonwealth, Vol. I, 2. Aufl. – London, New York: Macmillan and Co. 1890, S. 561 ff. (hinfort: Bryce, American Commonwealth I).
unserer [140]Universitäten (soweit sie in der Hand des Rektors und der Dekane liegt)
30
Die Selbstverwaltung der deutschen Hochschulen wurde für die Universität durch den Rektor, für die Fakultäten durch den Dekan ausgeübt. Beide wurden für eine befristete Amtszeit entweder durch Wahl oder im Turnus (zumeist nach Dienstalter) bestimmt.
und zahlreicher ähnlicher Gebilde folgt diesem Schema. Wie bescheiden aber immer die Verwaltungskompetenz bemessen sei, irgendwelche Befehlsgewalten müssen irgendeinem Funktionär übertragen werden, und daher befindet sich seine Lage naturgemäß stets im Gleiten von der bloßen dienenden Geschäftsführung zu einer ausgeprägten Herrenstellung. Eben gegen die Entwicklung einer solchen richten sich ja die „demokratischen“ Schranken seiner Bestellung. Auf „Gleichheit“ und „Minimisierung“ der Herrschaftsgewalt der Funktionäre halten aber sehr oft auch aristokratische Gremien innerhalb und gegenüber den Mitgliedern der eigenen herrschenden Schicht: so die venezianische Aristokratie
31
Gemeint ist die Zeit der „Serrata“ (1297–1315), in der die ratsfähigen Geschlechter eine radikale Monopolisierung der städtischen Ratsstellen und eine strikte Kontrolle der Geschlechterzugehörigkeit durchsetzten. Vgl. dazu unten, S. 542 mit Anm. 1.
ebenso wie die spartanische oder wie diejenige der Ordinarien einer deutschen Universität und wenden dann die gleichen „demokratischen“ Formen (Turnus, kurzfristige Wahl, Los) an.
Diese Art der Verwaltung findet ihre normale Stätte in Verbänden, welche 1. lokal oder 2. der Zahl der Teilhaber nach eng begrenzt, ferner 3. der sozialen Lage der Teilhaber nach wenig differenziert sind, und sie setzt ferner 4. relativ einfache und stabile Aufgaben und 5. trotzdem ein nicht ganz geringes Maß von Entwicklung von Schulung in der sachlichen Abwägung von Mitteln und Zwecken voraus. (So die unmittelbar demokratische Verwaltung in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten und innerhalb des altgewohnten Umkreises der Verwaltungsgeschäfte auch des russischen „Mir“).
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„Mir“ bezeichnete die sich selbstverwaltende russische Bauerngemeinde. Bevor sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum Objekt staatlicher und sozialpolitischer Reformver[141]suche wurde, oblagen der Gesamtheit der stimmberechtigten Gemeindemitglieder folgende Aufgaben: die Verteilung von Land und Lasten, das Ausstellen von Pässen, die Bestrafung ihrer Mitglieder bis hin zur Verbannung. Nach außen war sie eine abgeschlossene Gemeinschaft mit solidarischer Steuerhaftung. Vgl. auch Weber, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, in: MWG I/10, S. 281–684, bes. S. 575 ff.
Sie gilt also auch für uns hier nicht etwa als typischer histo[141]rischer Ausgangspunkt einer „Entwicklungsreihe“, sondern lediglich als ein typologischer Grenzfall, von dem wir hier bei der Betrachtung ausgegangen sind.
33
Siehe oben, S. 139 f.
Weder der Turnus noch das Los noch eine eigentliche Wahl im modernen Sinn sind „primitive“ Formen der Bestellung von Funktionären einer Gemeinschaft.
Überall, wo sie besteht, ist die unmittelbar demokratische Verwaltung labil. Entsteht ökonomische Differenzierung, so zugleich die Chance: daß die Besitzenden als solche die Verwaltungsfunktionen in die Hände bekommen. Nicht weil sie notwendig durch persönliche Qualitäten oder umfassendere Sachkenntnis überlegen wären. Sondern einfach, weil sie „abkömmlich“ sind: die nötige Muße beschaffen können, die Verwaltung nebenamtlich, und weil sie ökonomisch in der Lage sind, sie billig oder ganz unentgeltlich zu erledigen. Während den zur Berufsarbeit Gezwungenen Opfer an Zeit[,] und das bedeutet für sie: an Erwerbschancen, zugemutet werden, welche mit zunehmender Arbeitsintensität ihnen zunehmend unerträglich werden. Daher ist auch nicht das hohe Einkommen rein als solches, sondern speziell das arbeitslose oder durch intermittierende Arbeit erworbene Einkommen Träger jener Überlegenheit. Eine Schicht moderner Fabrikanten z. B. ist unter sonst gleichen Umständen rein ökonomisch weit weniger abkömmlich und also weniger in der Lage zur Übernahme von Verwaltungsfunktionen als etwa eine Gutsbesitzerklasse oder eine mittelalterliche patrizische Großhändlerschicht mit ihrer in beiden Fällen immerhin nur intermittierenden Inanspruchnahme für den Erwerb. Ebenso wie z. B. an den Universitäten die Leiter der großen medizinischen und naturwissenschaft[A 609]lichen Institute trotz ihrer Geschäftserfahrung nicht die am besten, sondern meist die am schlechtesten an ihre Aufgabe angepaßten, weil anderweit geschäftlich gebundenen, Rektoren sind. Je unabkömmlicher der in der Erwerbsarbeit Stehende wird, desto mehr hat bei sozialer Differenzierung die unmittelbar demokratische Verwaltung die Tendenz, in eine Herrschaft der „Honoratioren“ hinüberzugleiten. Wir [142]haben den Begriff der „Honoratioren“ bereits früher, als des Trägers einer spezifischen sozialen Ehre, die an der Art der Lebensführung haftet, kennen gelernt
u
[142] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. oben S. 170/71.
.
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[142]Der Bezug ist unklar. Honoratioren als Träger einer spezifischen sozialen Ehre werden erst im Text „Patrimonialismus“, unten, S. 252, erwähnt. Parallele Ausführungen zur politischen Stellung der Honoratioren finden sich im Text „Bürokratismus“, unten, S. 224–226. Über die politische und soziale Position der Honoratioren handelt auch „Die Stadt“, MWG I/22-5, S. 145–148, dort wird – „der bekannten Regel entsprechend“ – auf die Abkömmlichkeit der Honoratioren verwiesen (ebd., S. 146 mit Anm. 2). Die hier vorliegende Verweisformulierung (Rückverweis) legt die Vermutung nahe, daß entsprechende Ausführungen fehlen bzw. umgestellt worden sind (vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 122). Die Verweisauflösung der Erstherausgeber auf das Kapitel III. der ersten Lieferung (Weber, Die Typen der Herrschaft, WuG1, S. 170 f.; MWG I/23) läuft der Werkchronologie entgegen (vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 124 f.).
Hier tritt nun ein unentbehrliches, aber durchaus anderes normales Merkmal des Honoratiorentums hinzu: die aus der ökonomischen Lage folgende Qualifikation zur Wahrnehmung von sozialer Verwaltung und Herrschaft als „Ehrenpflicht“. Unter „Honoratioren“ wollen wir hier vorläufig allgemein verstehen: die Besitzer von (relativ) arbeitslosem oder doch so geartetem Einkommen, daß sie zur Übernahme von Verwaltungsfunktionen neben ihrer (etwaigen) beruflichen Tätigkeit befähigt sind, sofern sie zugleich – wie dies insbesondere aller Bezug arbeitslosen Einkommens von jeher mit sich gebracht hat – kraft dieser ihrer ökonomischen Lage eine Lebensführung haben, welche ihnen das soziale „Prestige“ einer „ständischen Ehre“ einträgt und dadurch sie zur Herrschaft beruft. Diese Honoratiorenherrschaft entwickelt sich besonders oft in der Form des Entstehens vorberatender Gremien, welche die Beschlüsse der Genossen vorwegnehmen oder tatsächlich ausschalten und von den Honoratioren für sich, kraft ihres Prestiges, monopolisiert werden. Speziell in dieser Form ist die Entwicklung der Honoratiorenherrschaft innerhalb lokaler Gemeinschaften, also insbesondere eines Nachbarschaftsverbandes, uralt. Nur daß die Honoratioren der Frühzeit zunächst einen völlig anderen Charakter haben als die der heutigen rationalisierten „unmittelbaren Demokratie“. Träger der Honoratiorenqualität ist nämlich ursprünglich das Alter. Abgesehen von dem Prestige der Erfahrung sind die „Ältesten“ auch an sich unvermeidlich die „natürlichen“ Honoratioren in allen ihr Gemeinschaftshandeln ausschließlich an „Tradition“, also: [143]Konvention, Gewohnheitsrecht und heiligem Recht[,] orientierenden Gemeinschaften. Denn sie kennen die Tradition, ihr Gutachten, Weistum, vorheriges Placet (πϱοβούλευμα)
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[143]In Athen hatte der Beirat der Alten (Bule oder boule) alle an die Volksversammlung (Ekklesia) gerichteten Anträge zu beraten und mit oder ohne Empfehlung als Vorbeschluß des Rates (probouleuma) an die Volksversammlung weiterzuleiten.
oder ihre nachträgliche Ratifikation (autoritas)
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In Rom war die „autoritas“ oder „auctoritas patrum“ bis zum 4. bzw. 3. Jahrhundert v. Chr. die nachträglich erteilte Zustimmung der patrizischen Senatsmitglieder zu den Gesetzesbeschlüssen und Wahlen des Volkes. Ohne „auctoritas patrum“ blieben diese unwirksam. Vgl. Mommsen, Theodor, Römische Forschungen, Band 1. – Berlin: Weidmann 1864, S. 157 (hinfort: Mommsen, Römische Forschungen).
garantiert die Korrektheit der Beschlüsse der Genossen gegenüber den überirdischen Mächten und ist der wirksamste Schiedsspruch in Streitfällen. Die „Ältesten“ sind bei annähernder Gleichheit der ökonomischen Lage der Genossen einfach die an Jahren Ältesten, meist der einzelnen Hausgemeinschaften, Sippen, Nachbarschaften.
Das relative Prestige des Alters als solchem innerhalb einer Gemeinschaft wechselt stark. Wo der Nahrungsspielraum sehr knapp ist, pflegt der nicht mehr physisch Arbeitsfähige lediglich lästig zu fallen. Wo der Kriegszustand chronisch ist, sinkt im allgemeinen die Bedeutung des Alters gegenüber den Wehrfähigen und entwickelt sich oft eine „demokratische“ Parole der Jungmannschaft gegen sein Prestige („sexagenarios de ponte“).
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Die Redensart „Sechzigjährige herunter von der Brücke“ ist überliefert bei Festus (Sextus Pompeius Festus, De verborum significatione quae supersunt cum Pauli epitome, hg. von Karl Ottfried Müller. – Leipzig: Weidmann 1839, S. 334) und Varro (vgl. die Wiedergabe der Fragmenta bei Marcellus Nonius, De conpendiosa doctrina, hg. Wallace Μ. Lindsay, Band 3. – Leipzig: B. G. Teubner 1903, S. 842 = S. 523, 24–28 der Ausgabe von Mercerus). Die jüngeren, waffenfähigen Römer drangsalierten die über Sechzigjährigen, wenn sie bei den Konsulnwahlen über die Stimmbrücke gingen und für einen unbeliebten Kandidaten votieren wollten. Vgl. Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht, 3 Bände, 3. Aufl. – Leipzig: S. Hirzel 1887/88, hier: Band II, 1, S. 408, Anm. 2 (hinfort: Mommsen, Römisches Staatsrecht I–III,23).
Ebenso in allen Zeiten ökonomischer oder politischer, kriegerisch oder friedlich revolutionärer Neuordnung und da, wo die praktische Macht der religiösen Vorstellungen und also die Scheu vor
v
[143]A: von
der Heiligkeit der Tradition nicht stark entwickelt oder im Verfall ist. Seine Schätzung erhält sich, wo immer der objektive Nutzwert der Erfahrung oder die subjektive Macht der Tradition hoch steht. Die Depossedierung des Alters als [144]solchem erfolgt aber regelmäßig nicht zugunsten der Jugend, sondern zugunsten anderer Arten sozialen Prestiges. Bei ökonomischer oder ständischer Differenzierung pflegen die „Ältestenräte“ (Gerusien, Senate) nur in dem Namen ihren Ursprung dauernd kenntlich zu erhalten, der Sache nach aber durch die „Honoratioren“ im vorhin erörterten Sinn
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[144]Siehe oben, S. 142 f.
– „ökonomischen“ Honoratioren – oder von durch „ständische“ Ehre Privilegierte okkupiert zu werden, deren Macht letztlich immer irgendwie auch auf Maß oder [A 610]Art des Besitzes mitberuhte. Demgegenüber kann, bei gegebener Gelegenheit, die Parole der Gewinnung oder Erhaltung „demokratischer“ Verwaltung für die Besitzlosen oder auch für ökonomisch machtvolle, aber von der sozialen Ehre ausgeschlossene Gruppen von Besitzenden zum Mittel des Kampfes gegen die Honoratioren werden. Dann aber wird sie, da die Honoratioren ihrerseits sich vermöge ihres ständischen Prestiges und der von ihnen ökonomisch Abhängigen eine „Schutztruppe“ von Besitzlosen zu schaffen in der Lage sind, eine Parteiangelegenheit. Mit dem Auftauchen des Machtkampfes von Parteien büßt jedoch die „unmittelbar verwaltende Demokratie“ ihren spezifischen, die „Herrschaft“ nur im Keim enthaltenden Charakter notwendig ein. Denn jede eigentliche Partei ist ein um Herrschaft im spezifischen Sinn kämpfendes Gebilde und daher mit der – wenn auch noch so verhüllten – Tendenz behaftet, sich ihrerseits in ihrer Struktur ausgeprägt herrschaftlich zu gliedern.
Etwas ähnliches wie bei dieser sozialen Entfremdung der, im Grenzfall der „reinen“ Demokratie, eine Einheit von wesentlich gleichartigen Existenzen bildenden Genossen gegeneinander tritt ein, wenn das soziale Gebilde quantitativ ein gewisses Maß überschreitet, oder wenn die qualitative Differenzierung der Verwaltungsaufgaben deren die Genossen befriedigende Erledigung durch jeden beliebigen von ihnen, den der Turnus, das Los oder die Wahl gerade trifft, erschwert. Die Bedingungen der Verwaltung von Massengebilden sind radikal andere als diejenigen kleiner, auf nachbarschaftlicher oder persönlicher Beziehung ruhender Verbände. Insbesondere wechselt der Begriff der „Demokratie“, wo es sich um Massenverwaltung handelt, derart seinen soziologischen Sinn, daß es widersinnig ist, hinter jenem Sammelnamen Gleichartiges zu suchen. [145]Die quantitative und ebenso die qualitative Entfaltung der Verwaltungsaufgaben begünstigt, weil nun in zunehmend fühlbarer Weise Einschulung und Erfahrung eine technische Überlegenheit in der Geschäftserledigung begründen, auf die Dauer unweigerlich die mindestens faktische Kontinuität mindestens eines Teils der Funktionäre. Es besteht daher stets die Wahrscheinlichkeit, daß ein besonderes perennierendes soziales Gebilde für die Zwecke der Verwaltung, und das heißt zugleich: für die Ausübung der Herrschaft, entsteht. Dies Gebilde kann, in der schon erwähnten Art,
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[145]Der Bezug ist unklar. Trotz der zur Zeit Max Webers üblichen Gleichsetzung von Honoratioren- und kollegialer Verwaltung, ist es fraglich, ob hier die vorangehende Passage, oben, S. 142–144, gemeint ist, da „kollegial“ darin nicht explizit erwähnt wird. Der Sachverhalt wird zwar beiläufig im Text „Bürokratismus“ (unten, S. 177, 185 f. und 221–226) angesprochen, was aber der Verweisrichtung widerspricht und daher auf fehlende Ausführungen zur kollegialen Herrschaftsausübung schließen läßt (vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 122 f.).
honoratiorenmäßig „kollegialer“ oder es kann „monokratischer“, alle Funktionäre hierarchisch einer einheitlichen Spitze unterordnender, Struktur
w
[145]A: unterordnender Struktur,
sein.

3.
x
A: § 3.
Herrschaft durch „Organisation“. Geltungsgründe.

Die beherrschende Stellung des jenem Herrschaftsgebilde zugehörigen Personenkreises gegenüber den beherrschten „Massen“ ruht in ihrem Bestande auf dem neuerdings sog. „Vorteil der kleinen Zahl“,
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Das Zitat findet sich bei dem österreichischen Nationalökonomen Friedrich von Wieser, Recht und Macht. 6 Vorträge. – Leipzig: Duncker & Humblot 1910, S. 31, 36 et passim. In den gedruckten Vorträgen, die von Wieser bei einem Hochschulkursus im September 1909 in Salzburg gehalten hatte, war er – in kritischer Zurückweisung sozialistischer Gesellschaftstheorien – bestrebt, eine Erklärung für das in seinen Augen welthistorisch relevante „Gesetz der kleinen Zahl“ (Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit) zu finden. „Herr über die äußeren Machtmittel wird immer derjenige, der die innere Verfügung über die Menschen hat, welche die äußeren Machtmittel bedienen“ (ebd., S. 15). Die Masse selbst sei im Prinzip handlungsunfähig und erhalte erst durch Organisation als „Partei“, „Klasse“ oder „Volk“ ein Bewußtsein ihrer Macht (ebd., S. 30). Gesellschaftliches Handeln vollziehe sich nicht durch Vertrag, sondern durch „Führung und Nachfolge“ (ebd., S. 31). Daher konstatierte von Wieser: „Ich werde den Vorteil, den die Führung gibt, […] den Vorteil der kleinen Zahl nennen“ (ebd., S. 31). Von Wieser sah nicht nur bei der proletarischen Bewegung, sondern auch beim Liberalismus seiner Zeit die Schwäche, sich den „Vorteil der kleinen Zahl“ nicht zunutze gemacht zu haben. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 118.
d. h. auf der für die herrschende Minderheit bestehenden [146]Möglichkeit, sich besonders schnell zu verständigen und jederzeit ein der Erhaltung ihrer Machtstellung dienendes, rational geordnetes Gesellschaftshandeln ins Leben zu rufen und planvoll zu leiten, durch welches ein sie bedrohendes Massen- oder Gemeinschaftshandeln solange mühelos niedergeschlagen werden kann, als nicht die Widerstrebenden sich gleich wirksame Vorkehrungen zur planvollen Leitung eines auf eigene Gewinnung der Herrschaft gerichteten Gesellschaftshandelns geschaffen haben. Der „Vorteil der kleinen Zahl“ kommt voll zur Geltung durch Geheimhaltung der Absichten, gefaßten Beschlüsse und Kenntnisse der Herrschenden, welche mit jeder Vergrößerung der Zahl schwieriger und unwahrscheinlicher wird. Jede Steigerung der Pflicht des „Amtsgeheimnisses“ ist ein Symptom entweder für die Absicht der Herrschenden, die Herrengewalt straffer anzuziehen[,] oder für ihren Glauben an deren wachsende Bedrohtheit. Jede auf Kontinuierlichkeit eingerichtete Herrschaft ist an irgendeinem entscheidenden Punkt Geheimherrschaft. Die durch Vergesellschaftung hergestellten spezifischen Vorkehrungen der Herrschaft aber bestehen, allgemein gesprochen, [A 611]darin: daß ein an Gehorsam gegenüber den Befehlen von Führern gewöhnter, durch Beteiligung an der Herrschaft und deren Vorteilen an ihrem Bestehen persönlich mitinteressierter
y
[146]A: mit interessierter
Kreis von Personen sich dauernd zur Verfügung hält und sich in die Ausübung derjenigen Befehls- und Zwangsgewalten teilt, welche der Erhaltung der Herrschaft dienen („Organisation“). Den oder die Führer, welche die von ihnen beanspruchte und tatsächlich ausgeübte Befehlsgewalt nicht von einer Übertragung durch andere Führer ableiten, wollen wir „Herren“ nennen, die in der erwähnten Art zu ihrer speziellen Verfügung sich stellenden Personen deren „Apparat“. Die Struktur einer Herrschaft empfängt nun ihren soziologischen Charakter zunächst durch die allgemeine Eigenart der Beziehung des oder der Herren zu dem Apparat und beider zu den Beherrschten und weiterhin durch die ihr spezifischen Prinzipien der „Organisation“[,] d. h. der Verteilung der Befehlsgewalten. Außerdem aber durch eine Fülle der allerverschiedensten Momente, aus denen sich die mannigfachsten soziologischen Einteilungsprinzipien der Herrschaftsformen gewinnen lassen. Für unsere begrenzten Zwecke hier gehen wir [147]aber auf diejenigen Grundtypen der Herrschaft zurück, die sich ergeben, wenn man fragt: auf welche letzten Prinzipien die „Geltung“ einer Herrschaft, d. h. der Anspruch auf Gehorsam der „Beamten“ gegenüber dem Herrn und der Beherrschten gegenüber beiden, gestützt werden kann?
Es ist uns dies Problem der „Legitimität“ schon bei Betrachtung der „Rechtsordnung“ begegnet
41
[147]Der Bezug ist nicht eindeutig, da die „Rechtsordnung“ vor allem in Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, S. 1–19 (WuG1, S. 368–385), behandelt wird, dort aber das Thema der „Legitimität“ nicht angesprochen wird. Hingegen ist ein Bezug auf mehrere Passagen des Teilbereichs „Recht“ denkbar: Weber, Recht § 1, S. 3 f. (WuG1, S. 387 f.) – über „Legitimität“ und moderne Verhältnisse; ders., Recht § 3, S. 6 f. (WuG1, S. 404 f.) – über charismatische Legitimität; ders., Recht § 6, S. 4 (WuG1, S. 486) – über „Legitimität“ und patrimoniale Herrschaft, dort auch mit einem pauschalen Vorverweis auf die „Analyse der ‚Herrschaft‘“, sowie ders., Recht § 7, S. 12 ff. (WuG1, S. 495 ff.) – über den Zusammenhang von Naturrecht und Legitimität. Der prinzipielle Zusammenhang von Gewaltmonopolisierung und Ausbildung einer legitimen Rechtsordnung durch den politischen Verband wird im Text „Politische Gemeinschaften“, MWG I/22-1, S. 209–217, behandelt.
und hier in seiner Bedeutung noch etwas allgemeiner zu begründen. Daß für die Herrschaft diese Art der Begründung ihrer Legitimität nicht etwa eine Angelegenheit theoretischer oder philosophischer Spekulation ist, sondern höchst reale Unterschiede der empirischen Herrschaftsstrukturen begründet, hat seinen Grund in dem sehr allgemeinen Tatbestand des Bedürfnisses jeder Macht, ja jeder Lebenschance überhaupt, nach Selbstrechtfertigung. Die einfachste Beobachtung zeigt, daß bei beliebigen auffälligen Kontrasten des Schicksals und der Situation zweier Menschen, es sei etwa in gesundheitlicher oder in ökonomischer oder in sozialer oder welcher Hinsicht immer, möge der rein „zufällige“ Entstehungsgrund des Unterschieds noch so klar zutage liegen, der günstiger Situierte das nicht rastende Bedürfnis fühlt, den zu seinen Gunsten bestehenden Kontrast als „legitim“, seine eigene Lage als von ihm „verdient“ und die des anderen als von jenem irgendwie „verschuldet“ ansehen zu dürfen. Dies wirkt auch in den Beziehungen zwischen den positiv und negativ privilegierten Menschengruppen. Die „Legende“ jeder hochprivilegierten Gruppe ist ihre natürliche, womöglich ihre „Bluts“-Überlegenheit. In Verhältnissen stabiler Machtverteilung und, demgemäß auch, „ständischer“ Ordnung, überhaupt bei geringer Rationalisierung des Denkens [148]über die Art der Herrschaftsordnung, wie sie den Massen solange natürlich bleibt, als sie ihnen nicht durch zwingende Verhältnisse zum „Problem“ gemacht wird, akzeptieren auch die negativ privilegierten Schichten jene Legende. In Zeiten, wo die reine Klassenlage nackt und unzweideutig, jedermann sichtbar, als die schicksalbestimmende Macht hervortritt, bildet dagegen gerade jene Legende der Hochprivilegierten von dem selbstverdienten Lose des Einzelnen oft eins der die negativ privilegierten Schichten am leidenschaftlichsten erbitternden Momente: in gewissen spätantiken ebenso wie in manchen mittelalterlichen und vor allem in den modernen Klassenkämpfen, wo gerade sie und das auf ihr ruhende „Legitimitäts“-Prestige der Gegenstand der stärksten und wirksamsten Angriffe ist. Der Bestand jeder „Herrschaft“ in unserem technischen Sinn des Wortes ist selbstverständlich in der denkbar stärksten Art auf die Selbstrechtfertigung durch den Appell an Prinzipien ihrer Legitimation hingewiesen. Solcher letzter Prinzipien gibt es drei: Die „Geltung“ einer Befehlsgewalt kann ausgedrückt sein entweder in einem System gesatzter (paktierter oder oktroyierter) rationaler Regeln, welche als allgemein verbindliche Normen Fügsamkeit finden, wenn der nach der Regel dazu „Berufene“ sie beansprucht. Der einzelne Träger der Befehlsgewalt ist dann durch jenes System von [A 612]rationalen Regeln legitimiert und seine Gewalt soweit legitim, als sie jenen Regeln entsprechend ausgeübt wird. Der Gehorsam wird den Regeln, nicht der Person geleistet. Oder sie ruht auf persönlicher Autorität. Diese kann ihre Grundlage in der Heiligkeit der Tradition, also des Gewohnten, immer so Gewesenen finden, welche gegen bestimmte Personen Gehorsam vorschreibt. Oder, gerade umgekehrt, in der Hingabe an das Außerordentliche: im Glauben an Charisma, das heißt an aktuelle Offenbarung oder Gnadengabe einer Person[,] an Heilande, Propheten und Heldentum jeglicher Art. Dem entsprechen nun die „reinen“ Grundtypen der Herrschaftsstruktur, aus deren Kombination, Mischung, Angleichung und Umbildung sich die in der historischen Wirklichkeit zu findenden Formen ergeben. Das rational vergesellschaftete Gemeinschaftshandeln eines Herrschaftsgebildes findet seinen spezifischen Typus in der „Bürokratie“. Das Gemeinschaftshandeln in der Gebundenheit durch traditionelle Autoritätsverhältnisse ist im „Patriarchalismus“ typisch repräsentiert. Das „charismatische“ Herrschaftsgebilde ruht auf der nicht rational und nicht durch Tradition begründeten Autorität konkreter Persönlichkeiten. [149]Wir werden auch hier von dem uns geläufigsten und rationalsten Typus ausgehen, wie ihn die moderne „bürokratische“ Verwaltung darbietet.
42
[149]Der Hinweis im zweiten Satzteil stellt eine direkte Überleitung zum nachfolgenden Text „Bürokratismus“ (S. 157–234) her. Weniger eindeutig bestimmbar ist eine Referenz für die Aussage des ersten Satzteils „Wir werden auch hier von dem […] rationalsten Typus ausgehen“. Dies trifft im Rahmen der älteren Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ für die Konzeption der „Rechtssoziologie“ zu, ansonsten für den älteren Teil des Kategorienaufsatzes, der vom „Gesellschaftshandeln“ als dem rationalsten Typus des Gemeinschaftshandelns ausgehend die anderen Kategorien bestimmt.