[542][A 642] [Erhaltung des Charisma.]a[542]A: Kapitel V. Legitimität. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht. Zur Überschrift und Umstellung des Textes vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 540 f.
[542]A: Kapitel V. Legitimität. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht. Zur Überschrift und Umstellung des Textes vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 540 f.
Das Schicksal des Charisma
b
ist es, durchweg mit dem Einströmen in die Dauergebilde des Gemeinschaftshandelns zurückzuebben zugunsten der Mächte entweder der Tradition oder der rationalen Vergesellschaftung. Sein Schwinden bedeutet, im ganzen betrachtet, eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns. Von allen jenen Gewalten aber, welche das individuelle Handeln zurückdrängen, ist die unwiderstehlichste eine Macht, welche neben dem persönlichen Charisma auch die Gliederung nach ständischer Ehre entweder ausrottet oder doch in ihrer Wirkung rational umformt: die rationale Disziplin. Sie ist inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d. h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls, und die unablässige innere Eingestelltheit ausschließlich auf diesen Zweck. Diesem Merkmal tritt das weitere der Gleichförmigkeit des befohlenen Handelns hinzu; ihre spezifischen Wirkungen beruhen auf ihrer Qualität als Gemeinschaftshandeln eines Massengebildes – wobei die Gehorchenden keineswegs notwendig eine örtlich vereinigte, simultan gehorchende oder quantitativ besonders große Masse sein müssen. Entscheidend ist die rationale Uniformierung des Gehorsams einer Vielheit von Menschen. Nicht daß die Disziplin etwa an sich dem Charisma und der Standesehre feindlich gegenüberstände. Im Gegenteil: Ständische Gruppen, welche ein quantitativ großes Gebiet oder Gebilde beherrschen wollen, wie etwa die venezianische RatsaristokratieIn A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. oben, Erster Teil, Kap. III., §§ 11–12a.
2
Die Angaben der Erstherausgeber beziehen sich auf das Kapitel III. „Die Typen der [543]Herrschaft“ der ersten Lieferung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ und zwar speziell auf die §§ 11 bis 12a, die die „Veralltäglichung des Charisma“ zum Thema haben (WuG1, S. 142–148; MWG I/23). Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 541.
1
oder die Spartiaten oder die [543]Jesuiten in Paraguay[542] Mit einem Gesetz von 1297 – zur Zeit der größten Ausdehnung der Republik Venedig – begann die Aussperrung („Serrata“) weiter Teile der Stadtbevölkerung aus dem Großen Rat (consilium maius) und die Herausbildung einer aus etwa 200 Familien bestehenden Ratsaristokratie. Wie Weber in „Die Stadt“ (MWG I/22-5, S. 154 ff.) ausführte, sicherten sich die „an den überseeischen politischen und Erwerbschancen beteiligten Geschlechter“ ihre Machtstellung durch rigorose Abschließung (ebd., S. 155). Diese wurde gesichert durch standesgemäße Heiraten, Meldung von Geburten und Heiraten bei der Avvogaria, der Kontrollbehörde der Magistrate, und durch die Anlage eines Adelsregisters, des späteren „Goldenen Buchs“.
3
oder ein modernes Offizierkorps mit seinem Fürsten an der Spitze, können nur durch das Mittel einer ganz straffen Disziplin innerhalb ihrer eigenen Gruppe die sichere schlagfertige Überlegenheit gegenüber den Beherrschten behaupten und den „blinden“ Gehorsam der letzteren ebenfalls nur durch deren Erziehung zur Unterordnung unter die Disziplin und unter sonst nichts anderes ihnen „einüben“. Immer wird dadurch diese Festhaltung an der Stereotypierung und Pflege ständischen Prestiges und ständischer Lebensführung nur aus Gründen der Disziplin etwas in starkem Maße bewußt und rational Gewolltes, und dies hat – hier nicht zu erörternde – Rückwirkungen auf die gesamten, durch jene Gemeinschaften irgendwie beeinflußten Kulturinhalte. Und ebenso kann ein charismatischer Held die „Disziplin“ in seinen Dienst nehmen und muß dies, wenn er seine Herrschaft quantitativ weit erstrecken will: Napoleon hat jene streng disziplinäre Organisation Frankreichs geschaffen, Die Jesuiten beherrschten zwischen 1610 und 1768 – unter formeller Anerkennung der spanischen Oberhoheit – große Teile des östlichen und südöstlichen Paraguay. An der Spitze des planmäßig in Niederlassungen (Reduktionen) eingeteilten Jesuitenstaates standen die Kollegien in Asunción und Córdoba. Nach den Angaben von Eberhard Gothein wurde das theokratische Gemeinwesen von 100 Jesuiten (gegenüber ca. 150.000 Beherrschten) gelenkt. (Vgl. Gothein, Eberhard, Der christlich-soziale Staat der Jesuiten in Paraguay (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, hg. von Gustav Schmoller, Band 4, Heft 4). – Leipzig: Duncker & Humblot 1883, S. 1, 26). Die einzelnen Priester, die an der Spitze der Reduktionen standen, unterlagen der strengen Ordensdisziplin und dem damit verbundenen Gehorsamsgebot. Externe, d. h. Spanier, Kirchenvertreter und Einheimische, waren von den Machtpositionen ausgeschlossen.
4
welche noch heute nachwirkt. Vgl. dazu die Erläuterung oben, S. 205, Anm. 93.
Die „Disziplin“ im allgemeinen wie ihr rationalstes Kind: die Bürokratie im speziellen, ist etwas „Sachliches“ und stellt sich in unbeirrter „Sachlichkeit“ [A 643]an sich jeder Macht zur Verfügung, welche auf ihren Dienst reflektiert und sie zu schaffen weiß. Das hindert nicht, daß sie selbst im innersten Wesen dem Charisma und der ständischen, speziell der feudalen, Ehre fremd gegenübersteht. Der Berserker mit seinen manischen Wutanfällen und der Ritter mit seinem persönlichen Sichmessenwollen mit einem persönlichen, durch Heldenehre ausgezeichneten Gegner zur Gewinnung persönlicher Ehre [544]sind der Disziplin gleichermaßen fremd, der erste wegen der Irrationalität seines Handelns, der zweite wegen der Unsachlichkeit seiner inneren Einstellung. An Stelle der individuellen Heldenekstase, der Pietät, enthusiastischen Begeisterung und Hingabe an den Führer als Person und des Kultes der „Ehre“ und der Pflege der persönlichen Leistungsfähigkeit als einer „Kunst“ setzt sie die „Abrichtung“ zu einer durch „Einübung“ mechanisierten Fertigkeit und, soweit sie an starke Motive „ethischen“ Charakters überhaupt appelliert, „Pflicht“ und „Gewissenhaftigkeit“ voraus
c
(„man of conscience“, gegenüber dem „man of honours“ in der Sprache Cromwells)[,][544]A: voraus,
5
alles aber im Dienst des rational berechneten Optimum von physischer und psychischer Stoßkraft der gleichmäßig abgerichteten Massen. Nicht daß der Enthusiasmus und die Rückhaltlosigkeit der Hingabe in ihr etwa keine Stätte hätten. Im Gegenteil: jede moderne Kriegführung erwägt gerade die „moralischen“ Elemente der Leistungsfähigkeit der Truppe oft mehr als alles andere, arbeitet mit emotionalen Mitteln aller Art – wie, in ihrer Art, ganz ebenso das raffinierteste religiöse Disziplinierungsmittel: die exercitia spiritualia des Ignatius[544] Nach der Niederlage des Parlamentsheeres in der Schlacht von Edgehill am 23. Oktober 1643 äußerte sich Oliver Cromwell gegenüber seinem Vetter John Hampdon kritisch über die eigenen Truppen und entwarf die Vision eines neuen Heeres: Die Adeligen und Ritter des königlichen Heeres („men of honour“) sollten in Zukunft durch „men of religion“ besiegt werden. Oliver Cromwell’s Letters and Speeches: With Elucidations. By Thomas Carlyle, Vol. 1. – Leipzig: Bernhard Tauchnitz 1861, S. 124. Der Ausdruck „man of conscience“ ist bei Cromwell hingegen nicht belegt.
6
– und sucht in der Schlacht durch „Eingebung“ und noch mehr durch Erziehung zur „Einfühlung“ der Geführten in den Willen des Führenden zu wirken. Die „Exercitia spiritualia“ wurden 1522 von Ignatius von Loyola verfaßt und dem von ihm gegründeten Jesuitenorden als systematische Frömmigkeitsübungen vorgeschrieben. In Form eines vierwöchigen und mindestens einmal jährlich durchzuführenden Kursus dienen sie der geistlichen und inneren Disziplinierung der Ordensmitglieder.
7
Das soziologisch Entscheidende ist aber 1. [545]daß dabei alles, und zwar gerade auch diese „Imponderabilien“ und irrationalen, emotionalen Momente rational „kalkuliert“ werden, im Prinzip wenigstens ebenso wie man die Ausgiebigkeit von Kohlen- und Erzlagern kalkuliert. Und 2. daß die „Hingabe“, mag sie auch im konkreten Fall eines hinreißenden Führers noch so stark „persönlich“ gefärbt sein, doch ihrer Abgezwecktheit und ihrem normalen Inhalt nach „sachlichen“ Charakters ist, Hingabe an die gemeinsame „Sache“, an einen rational erstrebten „Erfolg“, und nicht an eine Person als solche bedeutet. Anders steht es nur da, wo die Herrengewalt eines Sklavenhalters die Disziplin schafft – im Plantagenbetrieb oder im Sklavenheere des frühen Orients oder auf der mit Sklaven oder Sträflingen bemannten Galeere in der Antike und im Mittelalter. Da ist in der Tat die mechanisierte Abrichtung und die Einfügung des Einzelnen in einen für ihn unentrinnbaren, ihn zum „Mitlaufen“ zwingenden Mechanismus, der den Einzelnen, in die Cadres Einrangierten, sozusagen „zwangsläufig“ dem Ganzen einfügt – ein starkes Element der Wirksamkeit aller und jeder Disziplin, vor allem auch in jedem diszipliniert geführten Kriege –, das einzige wirksame Element, und als „caput mortuum“ bleibt dies überall da, wo die „ethischen“ Qualitäten: Pflicht und Gewissenhaftigkeit, versagen. – Willy Hellpach, der sich mit den (massen-)psychologischen Einflußmöglichkeiten der „Einredung“, „Einfühlung“ und „Eingebung“ beschäftigte, nannte als wichtiges Element der Kriegführung die „Einfühlung“, durch die der „kluge Troupier“ seine Leute in der Schlacht an sich bindet. Vgl. das Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München): Hellpach, Geistige Epidemien (wie oben, S. 136, Anm. 21), S. 69 f. Dort geht Hellpach auch auf die Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola ein (ebd., S. 86 f.). Beide Stellen sind mit Anstreichungen Max Webers ver[545]sehen. Parallelnennungen finden sich in: Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, S. 5 (WuG1, S. 375 f.) – hier mit direktem Bezug auf Hellpach –, und oben, S. 136.
Der wechselvolle Kampf zwischen Disziplin und individuellem Charisma hat seine klassische Stätte in der Entwicklung der Struktur der Kriegführung. Er ist auf diesem Gebiet in seinem Verlauf natürlich in einem gewissen Maße rein kriegstechnisch bestimmt. Die Art der Waffen: Spieß, Schwert, Bogen ist aber nicht unbedingt entscheidend. Denn sie alle lassen sich zum disziplinierten wie zum individuellen Gefecht verwenden. Wohl aber haben am Beginn der uns zugänglichen Geschichte Vorderasiens und des Okzidents in entscheidender Art der Import des Pferdes und wohl auch in einem gewissen, aber unsicheren, Grad die in jeder Hinsicht so epochemachende beginnende Vorherrschaft des Eisens als Werkzeugmetall eine Rolle gespielt. Das Pferd brachte den Kriegswagen und damit den mit ihm in den Kampf fahrenden, eventuell auch von ihm herab individuell fechtenden Helden, wie er die Kriegführung der orientalischen, indischen, altchinesischen Könige und den ganzen Okzident bis zu den [546]Kelten und bis nach Irland, hier bis in späte Zeiten, beherrscht hat. Die Reiterei ist dem Kriegswagen gegenüber das Spätere, [A 644]aber Dauerndere: durch sie entstand der „Ritter“, der persische so gut wie der thessalische, athenische, römische, keltische, germanische. Die Fußkämpfer, die sicherlich vorher in der Richtung einer gewissen Disziplinierung ins Gewicht gefallen waren, traten demgegenüber auf längere Zeit weit zurück. Zu den Momenten, welche dann die Entwicklung wieder in das entgegengesetzte Geleise lenkten, hat allerdings wohl auch der Ersatz der bronzenen Wurfspeere durch die eisernen Nahwaffen gehört. Aber nicht das Eisen als solches brachte den Wandel – denn auch die Fernwaffen und Ritterwaffen wurden ja eisern –, so wenig wie im Mittelalter das Schießpulver als solches den Umschwung herbeiführte.
8
Sondern die Hoplitendisziplin der Hellenen und Römer. Schon Homer kennt an einer oft zitierten Stelle die Anfänge der Disziplin mit ihrem Verbot des Aus-der-Reihe-Fechtens,[546] Obwohl die Zusammensetzung des Schießpulvers bereits Ende des 13. Jahrhunderts in Europa bekannt war, erhielten die Feuerwaffen erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Kriegführung entscheidendes Gewicht. Nach der von Hans Delbrück vertretenen Auffassung stellte die Verwendung von bäuerlichen Fußkämpfern und die damit verbundene neue Taktik den Umschwung vom mittelalterlichen zum modernen Heer dar. Vgl. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst III (wie oben, S. 275, Anm. 67), S. 667 f., und über die Feuerwaffen: dass. IV (wie oben, S. 132 f., Anm. 13), S. 26–59.
9
und für Rom symbolisiert die Legende von der Hinrichtung jenes Konsulsohnes, der nach alter Heldenart den gegnerischen Feldherrn im individuellen Kampf erschlagen hatte, Zur Zeit Max Webers wurde insbesondere die Darstellung der Schlachtordnung in der Ilias (13, 130 ff.) diskutiert. Die Kontroverse drehte sich um die Frage, ob hier bereits die Hoplitenphalanx beschrieben worden sei und diese somit schon in die homerische Zeit falle. (Zum Datierungsproblem vgl. die Bemerkungen Max Webers in: Die Stadt, MWG I/22-5, S. 176 f. mit Anm. 113.) Der explizite Befehl zur Einhaltung der Disziplin findet sich bei Homer, Ilias 17, 356 ff. Vgl. auch Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 557 f.
10
die große Wendung. Zuerst das einexerzierte Heer der spartiatischen Berufssoldaten, dann der einexerzierte heilige Lochos der Böotier, Consul T. Manlius Imperiosus Torquatus ließ – laut Legende – in seiner dritten Amtsperiode 340 v. Chr. während des Latinerkrieges seinen siegreichen Sohn T. Manlius hinrichten, weil dieser befehlswidrig gehandelt hatte. Beschrieben wurde das Ereignis und seine abschreckende Wirkung auf das Heer von Livius 8, 6 ff.
11
dann die [547]einexerzierte Sarissenphalanx der Makedonen, Die „heilige Schar“ (hieros lochos) war ein 300 Mann starkes Elitekorps der Thebaner zwischen 379 und 338 v. Chr. „Lochos“ bezeichnet die taktische Einheit für das schwerbewaffnete Fußvolk der Boioter und „heilig“ die enge (oft homoerotisch begründete) Verbundenheit der Soldaten. Vgl. Plutarch, Pelopidas 18, und Busolt, Georg, Die [547]griechischen Staats- und Rechtsaltertümer (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft, 4. Band, 1. Abt., 1. Hälfte), 2. Aufl. – München: C. H. Beck 1892, S. 345.
12
dann die einexerzierte beweglichere Manipeltaktik der Römer Die Einführung der Sarissenphalanx geht auf Philipp II. von Makedonien zurück. Er übernahm die Nahkampfordnung (Phalanx) der Griechen für seine neugebildete, schwerbewaffnete Fußtruppe, stattete diese aber mit längeren Spießen (Sarissen) aus und stellte die Soldaten dichter auf, so daß ein enger taktischer Körper entstand. Vgl. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst I (wie oben, S. 132 f., Anm. 13), S. 142–144.
13
gewannen die Suprematie über die persischen Ritter, Die Manipeltaktik wurde im 5. Jahrhundert v. Chr. von den Römern für die schwerbewaffneten Fußkämpfer eingeführt. Sie unterteilte die Phalanxordnung zugunsten kleinerer, beweglicherer Einheiten, der Manipel. Ein Manipel – benannt nach dem Bündel (manipulus) Heu, das bis zur Einführung der Fahne als Feldzeichen diente – umfaßte bei den nach Altersklassen eingeteilten Kämpfern entweder 120 Mann bei den jüngeren („Hastaten“ und „Principes“) oder 60 Mann bei den älteren („Triariern“). Vgl. Delbrück, ebd., S. 235–246.
14
die hellenischen und italischen Bürgermilizen und die Volksheere der Barbaren. Die Frühzeit des hellenischen Hoplitentums zeigt Ansätze[,] die Fernwaffen als unritterlich „völkerrechtlich“ auszuschließen Im Gegensatz zu den von Weber genannten schwerbewaffneten Fußkämpfern waren die persischen Reiter des Altertums hauptsächlich mit Bogen bewaffnet, während ihnen Schwerter und kurze Spieße nur als Nebenwaffen dienten. Sie unterlagen beispielsweise den Griechen bei der Schlacht von Marathon 490 v. Chr. Vgl. Delbrück, ebd., S. 37–59.
15
(so wie man die Armbrust im Mittelalter zu verbieten suchte) Im lelantischen Krieg, der zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. zwischen den Städten Chalkis und Eretria geführt wurde, hatten sich angeblich beide Seiten auf den Ausschluß von Fernwaffen geeinigt. Eine entsprechende Inschrift fand sich noch zu Strabos Zeiten im Heiligtum der Artmenis Amarysia im Demos Eretria. Vgl. Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 539, mit einer Anstreichung im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München), und Burckhardt, Jakob, Griechische Kulturgeschichte, hg. von Jakob Oeri, Band 1, 2. Aufl. – Berlin, Stuttgart: W. Spemann o. J. [1898], S. 173.
16
– man sieht, daß die Art der Waffe Folge, nicht Ursache der Disziplinierung war. Die Exklusivität der infanteristischen Nahkampftaktik führte im Altertum überall zum Verfall der Reiterei und dazu, daß in Rom der „Rittercensus“ [548]praktisch gleichbedeutend war mit Militärdienstfreiheit. Das zweite Lateranische Konzil 1139 versuchte, die „artem ballistariorum et sagittariorum“ zu verbieten. Die Einbeziehung der Armbrust in diese Formulierung war in der zeitgenössischen Forschung umstritten. (Vgl. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst III (wie oben, S. 275, Anm. 67), S. 398, dort das Zitat). Auch die Erneuerung des Verbots im Jahre 1215 durch Innocenz III. blieb wirkungslos, denn die Armbrust blieb bis ins 16. Jahrhundert in Gebrauch.
17
Im ausgehenden Mittelalter ist es der Gewalthaufen der Schweizer und seine Parallel- und Folgeentwicklungen, welche zuerst das Kriegsmonopol des Rittertums brachen, obwohl auch die Schweizer noch die Hellebardiere aus dem Haufen, nachdem dieser geschlossen vorgestoßen war, dessen Außenseiten die „Spießgesellen“ einnahmen, zum Heldenkampf herausbrechen ließen.[548] Ursprünglich war der „Reiter-“ bzw. „Rittercensus“ (equitum census) die regelmäßig stattfindende Schätzung und Musterung der berittenen, wehrpflichtigen Bürger Roms durch den Zensor. Spätestens seit 214 v. Chr. war der Zugang zu den Reitercenturien, d. h. zu der entsprechenden Abstimmungseinheit innerhalb der römischen Volksversammlung, an die Herkunft und ein Vermögen von mindestens 400.000 Sesterzen geknüpft. Innerhalb des Heeres bestand für diese vornehmen und reichen Reiter, die immer seltener der faktischen Dienstpflicht nachkamen, ein geschlossenes adeliges Korps, das sich von der Infanterie absetzte. Die tatsächliche Dienstpflicht wurde in der späteren Republik von den plebejischen Fußtruppen erfüllt, während die „Equites Romani“ eine gesonderte, kapitalkräftige, aber nicht amtsfähige Führungsschicht darstellten. Vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht III, 13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 476 ff., und Mommsen, Römische Geschichte, Band 1, 9. Aufl. – Berlin: Weidmann 1902, S. 787 f. (hinfort: Mommsen, Römische Geschichte I9), sowie Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 268 f. mit Anm. 199.
18
Mehr als die Zerstreuung der ritterlichen individuellen Kampfart leisteten sie zunächst nicht. Die Reiterei als solche spielte, freilich in zunehmend disziplinierter Form, auch in den Schlachten des 16. und 17. Jahrhunderts noch eine ganz entscheidende Rolle; Offensivkriege und ein wirkliches Niederringen des Gegners blieben ohne Kavallerie unmöglich, wie z. B. der Gang des englischen Bürgerkriegs zeigt. In den Burgunderkriegen (1474–1477) siegten die eidgenössischen Fußtruppen über die ritterlichen Heere Karls des Kühnen. Seit ihrem ersten Sieg über die Österreicher bei Morgarten im Jahre 1315 hatten die Schweizer eine neue Kampftaktik entwickelt. Der „Gewalthaufen“ war eine militärisch-taktische Einheit. Die äußeren Glieder der Gevierthaufen bestanden aus gepanzerten Fußkämpfern, die – mit langen Spießen bewaffnet – die ungepanzerten Hellebardiere im Innern schützten, bis das „Nachhauen“ beginnen konnte. Vgl. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst III (wie oben, S. 275, Anm. 67), S. 568 ff.
19
Die Disziplin aber, und nicht das Schießpulver, war es, welche die Umwandlung zuerst einleitete. Eines der ersten modern disziplinierten, aller „ständischen“ Privilegien – z. B. der bis dahin durchgesetzten Ablehnung der Schanzarbeiten (als „opera servilia“ Vgl. dazu unten, Anm. 21.
d
) durch die Landsknechte – ent[549]kleideten Heere war das holländische unter Moritz von Oranien.[548]A: servitia“
20
Die Siege Cromwells über die stürmische Tapferkeit der Kavaliere wurde der nüchternen und rationalen puritanischen Disziplin verdankt. Seine „Eisenseiten“, die „men of conscience“,[549] Im Heer von Moritz von Oranien hatten sich die Soldaten zunächst gegen die vermeintlich unkriegerischen Schanzarbeiten aufgelehnt, beugten sich dann aber den Befehlen. Durch den Rückgriff auf antike Autoren sowie die Eroberung von Gertruidenberg 1593 wurden die Schanzarbeiten wieder aufgewertet. (Vgl. Roloff, Gustav, Moritz von Oranien und die Begründung des modernen Heeres, in: PrJbb, Band 111, 1903, S. 255– 276, bes. S. 267 f.). Die „opera servilia“ sind in diesem Kontext nicht belegt; in der antiken Überlieferung (Livius 7,4,4) bezeichnen sie Knechtsarbeiten, mit denen sich ein vornehmer Mann nicht abgab, in Mittelalter und früher Neuzeit die Arbeit der Leibeigenen. Die ständisch bedingte Verweigerung von Schanzarbeiten im römischen Heer ist für das Jahr 252 v. Chr. unter Konsul Gaius Aurelius Cotta belegt und veranlaßte Μ. Porcius Cato zu einer Strafrede gegen die Truppen in Spanien. Vgl. dazu Mommsen, Römische Geschichte I9 (wie oben, S. 548, Anm. 17), S. 788.
21
im Trabe und fest zusammengeschlossen anreitend, gleichzeitig ruhig feuernd, dann einhauend und nach dem Erfolg der Attacke – darin lag der Hauptgegensatz – geschlossen zusammenbleibend oder sich sofort wieder ordnend, waren dem Elan der Kavaliere technisch überlegen. Denn deren Gepflogenheit, sich nach der im Rausch der Karriere durchgeführten Attacke disziplinlos aufzulösen, entweder zur Plünderung des feindlichen Lagers oder zu einer verfrühten individuellen Verfolgung Einzelner, um Gefangene (wegen des Lösegelds) zu machen, verscherzte alle Erfolge ganz ebenso wieder, wie dies in typischer Art im Altertum und Mittelalter (z. B. bei Tagliacozzo) Die „Eisenseiten“ (ironsides) bezeichnen die geharnischte, mit Pistole und Schwert bewaffnete Kavallerie Oliver Cromwells in der Heeresgruppe der östlichen Grafschaften („Eastern Association“). Der Begriff wurde zuerst von Prinz Rupert nach dem Sieg des Parlamentsheeres in der Schlacht bei Marston Moor (Juli 1644) auf Cromwell selbst angewendet, dann auf die Reiterei unter seiner Führung. Vgl. Gardiner, Samuel Rawson, History of the Great Civil War, Vol. 2. – London: Longmans, Green & Co. 1901, S. 1. Zum Ausdruck „men of conscience“ vgl. oben, S. 544 mit Anm. 5.
22
so oft der Fall war. Das Schießpulver und alles, was an Kriegstechnik an ihm hing, entfaltete seine Bedeutung erst auf dem Boden der Diszi[550]plin und in vollem Umfang erst des Kriegsmaschinenwesens, welches jene voraussetzt. In der Schlacht bei Tagliacozzo in den Abruzzen wurde das zahlenmäßig überlegene Reichsheer unter dem letzten Staufer Konradin von den Truppen Karls von Anjou am 23. August 1268 geschlagen. Gustav Roloff vertrat die These, daß sich das aus Deutschen, Spaniern und Italienern zusammengesetzte Heer nach gewonnener Schlacht zu früh aufgelöst hätte, um zu Verfolgung und Plünderung überzugehen. In diesem Moment sei es von den angiovinischen Reservetruppen geschlagen worden. Vgl. Roloff, Gustav, Die Schlacht bei Tagliacozzo, in: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum. Geschichte und Deutsche Literatur, Abt. I, Band 11, 1903, S. 31–54.
Für die Möglichkeit der Entwicklung der Disziplin war die ökonomische Basis, auf welcher die Heeresverfassung jeweils ruhte, nicht allein bestimmend, aber doch von sehr erheblicher Bedeutung. Noch mehr aber beeinflußte umgekehrt die größere [A 645]oder geringere Rolle, welche die Disziplin einexerzierter Heere in der Kriegführung spielte, auf das Nachhaltigste die politische und soziale Verfassung. Aber dieser Einfluß ist nicht eindeutig. Die Disziplin als Basis der Kriegführung ist die Mutter sowohl des patriarchalen, aber durch die Gewalt der Heereskommandanten (nach Art der spartanischen Ephoren)
23
konstitutionell beschränkten Zulukönigtums,[550] Zwei der fünf Ephoren („Aufseher“) in Sparta begleiteten – vermutlich erst seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. – die beiden Könige bei den Kriegszügen. Sie hatten beratend-kontrollierende Funktion gegenüber den königlichen Oberbefehlshabern und waren für die Aushebung und den Aufmarsch der Truppen zuständig.
24
wie der hellenischen Polis mit ihren Gymnasien und ihrer bei höchster Virtuosität des Infanteriedrills (Sparta) unvermeidlich „aristokratischen“, bei Flottendisziplin dagegen (Athen) „demokratischen“ Struktur, wie der sehr anders gearteten Schweizer „Demokratie“ – die in der Zeit des Reislaufens bekanntlich eine Beherrschung von (hellenisch gesprochen) „Periöken“- sowohl wie Heloten-Gebieten Die Zulus und die straffe militärische Organisation ihres Königtums traten seit deren Zusammenstößen mit den Buren 1835 und schließlich mit den Engländern in das Blickfeld der Europäer. Die gesamte männliche Bevölkerung war nach Altersklassen in Militärlagern zusammengefaßt. Die beiden Oberbefehlshaber der Hauptstadt („Haupt-Induna“) waren zugleich die Berater des Königs. Durch ihr verbürgtes Mitspracherecht bei Kriegserklärungen, Todesurteilen und anderen wichtigen Fragen ließ sich das Zulukönigtum als „beschränkter Despotismus“ charakterisieren. Vgl. Ratzel, Friedrich, Völkerkunde, Band 2, 2. Aufl. – Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1895, S. 115 ff., Zitat: S. 118.
e
einschloß[550]A: Gebieten-Heloten
25
–, [551]wie der römischen Honoratiorenherrschaft und endlich des ägyptischen, assyrischen und modernen europäischen, bürokratischen Staatswesens. Die Kriegsdisziplin kann, wie jene Beispiele zeigen, mit gänzlich verschiedenen ökonomischen Bedingungen Hand in Hand gehen. Nur pflegen stets irgendwelche, wechselnd geartete, Folgen für Staats-, Wirtschafts- und eventuell Familienverfassung in ihrem Gefolge einzutreten. Denn ein voll diszipliniertes Heer war in der Vergangenheit notwendig „Berufsheer“ und die Art der Beschaffung des Unterhalts der Krieger daher stets das grundlegende Problem. Die urwüchsige Form der Schaffung jederzeit schlagfertig bereitstehender geschulter und der Disziplinierung fähiger Truppen ist der schon erwähnte Im 15. Jahrhundert, als sich Schweizer Söldner verstärkt in den Militärdienst auswärtiger Staaten stellten („Reislaufen“), zogen die acht „Orte“ der Eidgenossenschaft (die späteren „Kantone“) benachbarte Landschaften in ihre Abhängigkeit. Der Grad der Unterwerfung war jedoch verschieden: Während die sog. gemeinen Herrschaften („Schutzverwandten“) bei relativer innerer Unabhängigkeit bestimmten Orten der Eidgenossenschaft zu Steuern und Kriegsdiensten verpflichtet waren, wurden die Einwohner der Vogteien als direkte Untertanen behandelt. (Vgl. Blumer, Johann Jakob, Staats- und Rechtsgeschichte der schweizerischen Demokratien oder der Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus, Zug und Appenzell, 1. Theil: Das Mittelalter. – St. Gallen: Scheitlin und Zollikofer 1850, S. 296 ff.). Dies entspricht der Behandlung der unterworfenen Bevölkerung in Altgriechenland, insbesondere durch die Spartaner: Während die [551]Periöken („Umwohner“) politisch und wirtschaftlich begrenzt eigenständig waren, waren die Heloten in beiden Bereichen direkt von der Herrenschicht abhängig: sie galten als Staatseigentum.
26
Kriegerkommunismus, entweder in der Form des über den größten Teil der Erde verbreiteten „Männerhauses“, Siehe Weber, Politische Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 211–213, dort auch mit der Erwähnung des Männerhauses; Parallelausführungen finden sich im Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 486 f.
27
einer Art von „Kaserne“ oder „Kasino“ der Berufskrieger[,] oder des liparischen Zum „Männerhaus“ vgl. die Erläuterung oben, S. 532 f., Anm. 27; dort auch die Referenz Max Webers auf die maßgebliche Studie: Schurtz, Altersklassen.
f
kommunistischen Seeräubergemeinwesens,[551]A: ligurischen
28
oder der spartiatischen, nach dem „Picknick“-Prinzip geordneten Syssitien, Es handelt sich um ein antikes Gemeinwesen auf den liparischen Inseln (nicht: ligurischen, wie im überlieferten Text hieß); vgl. dazu die Erläuterung oben, S. 487, Anm. 11.
29
oder nach Art der Organisation des Khalifen Omar Zu den öffentlichen „Mahlgemeinschaften“ (Syssitien) in Sparta waren nur die Mitglieder des Herrenstandes (Spartiaten) zugelassen. Voraussetzung für die Teilnahme war der Besitz eines Kleros, da jeder einen Beitrag zum gemeinsamen Essen leisten mußte. (Zu Webers Zeit bezeichnete „Picknick“ die Eigenbeteiligung der Gäste an einer Gesellschaft). In Sparta entsprachen Sitzordnung und militärische Organisation einander; die 15 Tischgenossen waren im Krieg Zeltgenossen. Vgl. Plutarch, Lykurg 10, 12.
30
oder der religiösen Kriegsorden des Mittelalters. Vgl. dazu die Erläuterung oben, S. 487, Anm. 12.
31
Die Kriegergemeinschaft kann dabei – wie wir schon früher gesehen haben Zu den Ritterorden vgl. die Erläuterung oben, S. 487, Anm. 13. – Die Zuordnung der mittelalterlichen Ritterorden zu den „Männerhaus“-ähnlichen Organisationen findet sich auch bei Schurtz, Altersklassen, S. 330.
32
– ent[552]weder eine ganz autonome, nach außen geschlossene Vergesellschaftung sein oder sie kann – wie in der Regel – einem fest begrenzten politischen Gebietsverband als Bestandteil von dessen (freilich der Sache nach von ihr maßgebend bestimmten) Ordnung eingefügt und also in der Rekrutierung durch dessen Ordnung gebunden sein. Diese Bindung ist meist relativ. Auf „Blutsreinheit“ hielten z. B. auch die Spartiaten nicht unbedingt: die Teilnahme an der in anderem Zusammenhang zu besprechenden Siehe Weber, Politische Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 209–215.
33
kriegerischen Erziehung war auch dort das Entscheidende. Die Existenz der Kriegerschaft ist unter diesen Bedingungen ein vollkommenes Pendant zur Mönchsexistenz, deren Klosterkasernierung und Klosterkommunismus ja ebenfalls dem Zweck der Disziplin im Dienst ihres jenseitigen (und im Gefolge davon eventuell auch: diesseitigen) Herrn dient. Auch außerhalb der direkt nach Analogie der Mönchsorden geschaffenen zölibatären Ritterorden[552] Der Bezug ist unklar. Siehe den Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 530–533; dort aber nur die kurze Erwähnung der kriegerischen Erziehung, insbesondere der hellenischen Ephebie, im Rahmen der Behandlung der charismatischen Erziehung.
34
geht bei voller Entwicklung der Institution die Loslösung aus der Familie und von allen privatwirtschaftlichen Sonderinteressen oft bis zum völligen Ausschluß von Familienbeziehungen. Die Insassen des Männerhauses kaufen oder rauben sich Mädchen oder beanspruchen, daß die Mädchen der beherrschten Gemeinschaft, solange sie nicht in die Ehe verkauft sind, ihnen zur Verfügung stehen. Die Kinder des herrschenden Standes der Areoi Als zölibatären Ritterorden nannte Max Weber an anderer Stelle vor allem die Templer (Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 231); vgl. dazu auch oben, S. 487, Anm. 13.
g
in Melanesien werden getötet.[552]A: Ariloi
35
In sexuelle Dauergemeinschaften mit Sonderwirtschaft kann der Mann erst nach vollendeter „Dienstzeit“, also mit Ausscheiden aus dem Männerhaus, treten, also oft erst in vorgeschrittenem Alter. Sowohl die auch für die Regulierung der Sexualbeziehungen bei manchen Völkern wichtige „Altersklassen“-Gliederung wie die angeblichen Reste ursprünglicher sexueller „en[553]dogener Promiskuität“ innerhalb der Gemeinschaft oder geradezu eines oft als „urwüchsig“ hingestellten „Anrechts“ aller Genossen auf die noch nicht einem einzelnen appropriierten Mädchen, ebenso der Frauenraub als angeblich „ältester“ Form einer „Ehe“ und vor allem das „Mutterrecht“ dürften in den allermeisten Fällen Reste derartiger, bei chronischem Fehdezustand weit verbreiteter Militärverfassungen sein, welche die Aushäusigkeit und Familienlosigkeit des Kriegers bedingten. Um die Kinderzahl auf den kleinen polynesischen Inseln (nicht: Melanesien) zu beschränken, töteten die Areoi oder Arioi (nicht: Ariloi) der „oberen Grade“ fast „alle Kinder mit wenigen Ausnahmen gleich nach der Geburt“. (Vgl. Schurtz, Altersklassen, S. 249, 339–343, Zitat: S. 340). Die Emendation wurde entsprechend der Informationen bei Schurtz vorgenommen, auf den sich Max Weber hier offensichtlich stützt.
36
Wohl überall ist diese kommunistische Kriegergemeinschaft das caput mortuum der Gefolgschaft charismatischer Kriegs[A 646]fürsten, welche sich zu einer chronischen Institution „vergesellschaftet“ hat und, nunmehr auch in Friedenszeiten bestehend, das Kriegsfürstentum hat verfallen lassen. Unter günstigen Umständen freilich kann der Kriegsfürst seinerseits zum schrankenlosen Herrn der disziplinierten Kriegerschaften emporwachsen. Ein extremes Gegenbild gegen diesen, durch Abgaben der Frauen, Nichtwaffenfähigen und eventuell Hörigen und durch Beute[553] Max Weber gibt hier die Hauptthesen von Heinrich Schurtz, Altersklassen, wieder, der sich gegen die auf Johann Jakob Bachofen (1815–1887) zurückgehende Forschungsrichtung vom „Mutterrecht“ als Urform des menschlichen Zusammenlebens wandte. In der zeitgenössischen Ethnologie und Soziologie war die These Bachofens mit der Vorstellung von der „schrankenlosen Promiskuität“ innerhalb der Sippen assoziiert und als eigentumslose Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet worden, die weder Einehe noch patriarchale Familienstrukturen gekannt habe. Demgegenüber hatte Schurtz behauptet, daß die außerhäusliche, kriegerische Organisation der Männer die ursprüngliche Familie aufgelöst und das sog. Mutterrecht als notwendige Folge nach sich gezogen hätte (ebd., S. 78). Die These vom Zusammenhang von Frauenraub, Exogamie und Mutterfolge hatte der schottische Rechtshistoriker MacLennan aufgestellt. (Vgl. MacLennan, John Ferguson, Studies in Ancient History. The Second Series. Comprising an Inquiry into the Origin of Exogamy. – London: Macmillan and Co. 1896, S. 58). Ihm war besonders von dem Soziologen Herbert Spencer, Principles of Sociology (wie oben, S. 423, Anm. 13), S. 641 ff., widersprochen worden, dessen Argumente denen von Schurtz sehr ähneln.
h
gespeisten Kommunismus der Kriegerschaft bietet demgemäß der „Oikos“ als Grundlage der Militärverfassung: das von einem Herren und seinen Vorräten sustentierte, equipierte und kommandierte patrimoniale Heer, wie es namentlich Ägypten kannte, wie es aber in Fragmenten innerhalb andersartiger Heeresverfassungen sich sehr weit verbreitet findet und dann die Basis despotischer Fürstenmacht bildet. Die umgekehrte Erscheinung: Emanzipation der Kriegergemeinschaft von der schrankenlosen Herrengewalt – wie sie Sparta [554]durch die Einsetzung der Ephoren zeigt[553]A: Bauten
37
– geht nur so weit, als die Interessen der Disziplin es zulassen. Daher gilt in der Polis meist die Abschwächung der Königsgewalt und das heißt: der Disziplin, nur im Frieden und in der Heimat („domi“, nach dem technischen Ausdruck des römischen Amtsrechts, im Gegensatz zu „militiae“).[554] In Sparta wurden die fünf Ephoren (höchsten Beamten) in historischer Zeit von der Volksversammlung, d. h. den Spartiaten, auf ein Jahr gewählt. Ursprünglich als Berater und Vertreter der Könige eingesetzt, eigneten sie sich umfassende staatliche Kompetenzen an, so daß sich im 5. Jahrhundert v. Chr., auf dem Höhepunkt ihrer Macht, sogar die Könige ihren Anleitungen beugen mußten. Max Weber deutet das Ephorat an anderer Stelle als revolutionäre, nicht-legitime Gewalt gegenüber dem Königtum. Vgl. Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 212.
38
Die Herrengewalt des Königs ist bei den Spartiaten nur in Friedenszeiten dem Nullpunkt nahe, im Felde ist der König im Interesse der Disziplin allmächtig. Die Unterscheidung der Amtsführung „domi“ und „militiae“, d. h. innerhalb und außerhalb der Stadtgrenze (Pomerium), betraf die obersten Magistrate der römischen Republik. Jenseits des Pomeriums verwandelten sie sich in Feldherren und hatten dann die volle Königsgewalt inne, während ihre Machtbefugnisse in der Stadt prinzipiellen Beschränkungen unterlagen. Prägend für die zeitgenössische Interpretation war Mommsen, Römisches Staatsrecht I,13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 61 ff.
Eine durchgängige Abschwächung der Disziplin pflegt dagegen mit jeder Art von dezentralisierter, sei es präbendaler, sei es feudaler Militärverfassung verbunden zu sein. Dem Grade nach sehr verschieden. Das einexerzierte Spartiatenheer, die κλῆϱοι der sonstigen hellenischen und der makedonischen und mancher orientalischen Militärverfassungen, die türkischen präbendenartigen Lehen,
39
endlich die Lehen des japanischen Max Weber meint hier vermutlich die bereits erwähnten türkischen Spahi-Pfründen (oben, S. 394). Sie wurden an Reiter der Provinzialtruppen ausgegeben, die sich aus der Pfründe selbst equipieren mußten. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts reichte die Versorgung durch die Pfründen nicht mehr aus, so daß viele Spahi selbst Landwirtschaft betrieben und nicht mehr in den Krieg zogen. Vgl. Matuz, Osmanisches Reich (wie oben, S. 267 f., Anm. 50), S. 144.
40
und okzidentalen Mittelalters sind lauter Stufen der ökonomischen Dezentralisation, welche mit einer Abschwächung der Disziplin und einem Aufsteigen der Bedeutung des individuellen Heldentums Hand in Hand zu gehen pflegt. Der [555]sich selbst nicht nur equipierende und verproviantierende und seinen Troß mit sich führende, sondern auch Untervasallen, die sich ebenfalls selbst ausrüsten, aufbietende grundherrliche Lehensmann ist vom Standpunkt der Disziplin ganz ebenso das äußerste Gegenbild des patrimonialen oder bürokratischen Soldaten, wie er es, ökonomisch betrachtet, ist, und das erstere ist die Konsequenz des letzteren. Sowohl die im späten Mittelalter und im Beginn der Neuzeit herrschende ganz oder halb privatkapitalistische Beschaffung von Soldheeren durch einen Kondottiere wie die gemeinwirtschaftliche Aushebung und Ausrüstung der stehenden Heere durch die politische Gewalt bedeutet demgegenüber Steigerung der Disziplin auf der Basis der zunehmenden Konzentration der Kriegsbetriebsmittel in den Händen des Kriegsherren. Die zunehmende Rationalisierung der Bedarfsdeckung des Heeres von Moritz von Oranien bis zu Wallenstein, Gustav Adolf, Cromwell, den Heeren der Franzosen, Friedrichs des Großen und der Maria Theresia, der Übergang vom Berufsheere zum Volksaufgebot durch die Revolution und die Disziplinierung des Aufgebots durch Napoleon zum (teilweisen) Berufsheer, endlich die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert sind hier im einzelnen nicht zu schildern. Die ganze Entwicklung bedeutet im Erfolg eindeutig eine Steigerung der Bedeutung der Disziplin und ebenso eindeutig die konsequente Durchführung jenes ökonomischen Prozesses. Als japanisches Mittelalter („chūsei“) wird heute die Zeit von 1192 bis 1568 bezeichnet. (Vgl. Japan-Handbuch (wie oben, S. 441, Anm. 51), S. 277/278). In diese Zeitspanne fällt die Ausbildung selbständiger Grundherrschaften auf lokaler Ebene („shōen“) sowie der Aufstieg der Samurai. Diese wurden für ihren Dienst zumeist mit Boden, einem „chigyōchi“ (Rentenlehen), belehnt. Vgl. Hall, Japanisches Kaiserreich (wie oben, S. 114, Anm. 92), S. 79ff.
Ob im Zeitalter der Maschinenkriege die exklusive Herrschaft der allgemeinen Dienstpflicht das letzte Wort bleiben wird, steht dahin. Die Rekordschießleistungen der englischen Flotte z. B. scheinen durch die jahrelange Kontinuität des Ensembles der die Geschütze bedienenden Söldner bedingt.
41
Es steht wohl fest, daß, zumal wenn [556]der zur Zeit freilich in Europa stockende Prozeß der Verkürzung der Dienstzeit seinen Fortgang nehmen sollte, die esoterisch, in manchen Offizierskreisen, bereits vielfach bestehende Ansicht, daß für gewisse Truppengattungen vielleicht der Berufssoldat kriegstechnisch stark überlegen sei, an Macht gewinnen wird; schon die französische Herstellung der dreijährigen Dienstpflicht (1913) wurde hie [A 647]und da mit der, mangels jeder Differenzierung nach den Truppengattungen, wohl etwas deplacierten Parole: „Berufsheer“ motiviert.[555] Die Mannschaft der englischen Flotte rekrutierte sich durch Werbung in der Regel auf drei Jahre. Max Weber erwähnte die Rekordschießleistungen der englischen Flotte im Kontext seiner Studie „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ und erklärte dort die Überlegenheit der Engländer durch das „automatische Ineinanderspielen der in jahrelanger Gewöhnung gänzlich aufeinander eingestellten Bedienungsmannschaft“. (Vgl. Weber, Max, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, in: MWG I/11, S. 150–380, hier: S. 378 f., Fn. 105). Die dort von ihm angegebene Referenzliteratur von Joteyko, Josefa, Entraînement et fatigue au point de vue militaire (Institut Solvay, Travaux de l’Institut de Sociologie: Actualités sociales, No. 5). – Brüssel, Leipzig: Misch & Thron 1905 (Handexemplar Max Webers, BSB München), behandelt Ermüdungserscheinungen bei militärischen Übungen, die auf „hyperentraînement“ zurückgeführt wurden. Die Autorin ver[556]knüpfte diese Ausführungen mit der politischen Forderung nach einer Verkürzung der Militärdienstzeit (ebd., S. 65 und 97 ff.). Vgl. dazu Webers nachfolgende Ausführungen.
42
Diese noch sehr vieldeutigen Möglichkeiten und ihre denkbaren, auch politischen, Konsequenzen sind hier nicht zu erörtern, sie alle werden jedenfalls die exklusive Bedeutung der Massendisziplin nicht ändern. Hier kam es auf die Feststellung an, daß die Trennung des Kriegers von den Kriegsbetriebsmitteln und deren Konzentration in den Händen des Kriegsherren, vollziehe sie sich oikenmäßig, kapitalistisch, bürokratisch, überall eine der typischen Grundlagen dieser Massendisziplin gewesen ist. – Die „Loi de Trois Ans“ wurde unter dem Kabinett Louis Barthou am 7. August 1913 angenommen. (Vgl. auch Weber, Max, Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart, in: MWG I/15, S. 68–92, hier: S. 78 mit Anm. 17). In der seit Mitte Februar 1913 heftig geführten öffentlichen Debatte hatten insbesondere hohe Militärs auf die Erhöhung der Disziplin und Effizienz bei einer längeren Dienstzeit hingewiesen. Die radikale Linke sah darin die Absicht der bonapartistischen Generäle, die „armée de métier“ wieder einzuführen und die republikanische Idee des „soldat citoyen“ zu untergraben. Die Generäle argumentierten vor allem mit der Bedrohung durch die deutsche Aufrüstung und mit der Größe des deutschen stehenden Heeres, das nur durch Berufssoldaten zu schlagen sei. Vgl. Krumeich, Gerd, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht 1913–1914. – Wiesbaden: Franz Steiner 1980, S. 56 f., 85 f. und 123 f., sowie zur zeitgenössischen Wahrnehmung der französischen Debatte in Deutschland: Daniels, Emil, Politische Korrespondenz, in: PrJbb, Band 153, Heft 2, Aug. 1913, S. 379–383.
Die Disziplin des Heeres ist aber der Mutterschoß der Disziplin überhaupt. Der zweite große Erzieher zur Disziplin ist der ökonomische Großbetrieb. Von den pharaonischen Werkstätten und Bauarbeiten an – so wenig im einzelnen über ihre Organisation bekannt ist
43
– [557]zur karthagisch-römischen Plantage, Für die Zeit des Mittleren Reichs (2119–1794/93 v. Chr.) beschreibt Max Weber, Agrarverhältnisse3, S. 85, kurz die ummauerten Arbeitsstätten am Hof des Pharaos bzw. bei den großen Magazinen. Dort wurde die gewerbliche Arbeit von abhängigen oder fronpflichtigen Untertanen ausgeübt.
44
zum spätmittelalterlichen Bergwerk, zur Sklavenplantage der Kolonialwirtschaft und endlich zur modernen Fabrik führen zwar keinerlei direkte historische Übergänge, gemeinsam ist ihnen aber: die Disziplin. Die Sklaven der antiken Plantagen lebten ehe- und eigentumslos und schliefen kaserniert,[557] Gemeint ist hier die Bewirtschaftung arbeitsintensiver Gutsbetriebe mit Sklaven nach der Niederlage Karthagos 146 v. Chr. Über die Organisation der Betriebe berichten insbesondere Columella, De re rustica (hinfort: Columella) und Varro, Res rusticae (hinfort: Varro, res rust.), die sich auf das ältere, 28 bändige agrarwissenschaftliche Werk des Karthagers Mago stützten.
45
eine Einzelwohnung – etwa nach Art unserer Unteroffizierswohnungen oder nach Art eines Gutsbeamten moderner landwirtschaftlicher Großbetriebe – hatten nur die Beamten, insbesondere der villicus, nur er auch – normalerweise – ein Quasieigentum (peculium, ursprünglich: Viehbesitz) und eine Quasiehe (contubernium). Die folgenden Ausführungen basieren insbesondere auf der Beschreibung von Columella (vgl. dazu die parallelen Ausführungen in: Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 315 ff.). Über die Unterkünfte der Sklaven bei den Viehställen berichtet Columella 1, 6, 3.
46
Die Arbeitssklaven traten morgens „korporalschaftsweise“ (in „decuriae“) an und wurden durch Einpeitscher (monitores) zur Arbeit geführt; ihre Bedarfsgegenstände waren, im Kasernenbegriff ausgedrückt, „auf Kammer“ in Verwahrung und wurden nach Bedarf ausgegeben, Lazarett und Arrestzelle fehlten nicht. Über die Wohnung des villicus schreibt Columella 1, 6, 7. Die mit dem villicus zusammenlebende Frau wurde als „contubernalis mulier“ bezeichnet (vgl. ebd. 1, 8, 5), denn eine rechtlich vollgültige Ehe war in Rom zwischen Sklaven nicht möglich. Das peculium des villicus ist bei Varro, res rust. (wie oben, Anm. 44) 1, 2, 17 sowie 1, 17, 5, beschrieben. Vgl. dazu Weber. Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 346 f. mit Anm. 85.
47
Wesentlich lockerer, weil traditionell stereotypiert und daher die Gewalt des Herren immerhin einschränkend, ist die Disziplin der Frohnhöfe des Mittelalters und der Neuzeit. Daß dagegen die „militärische Disziplin“ ganz ebenso wie für die antike Plantage auch das ideale Muster für den modernen kapitalistischen Werkstattbetrieb ist, bedarf nicht des besonderen Nachweises. Die Betriebsdisziplin ruht, im Gegensatz zur Plantage, hier völlig auf rationaler Basis, sie kalkuliert zunehmend, mit [558]Hilfe geeigneter Messungsmethoden, den einzelnen Arbeiter ebenso, nach seinem Rentabilitätsoptimum, wie irgendein sachliches Produktionsmittel. Die höchsten Triumphe feiert die darauf aufgebaute Abrichtung und Einübung von Arbeitsleistungen bekanntlich in dem amerikanischen System des „scientific management“, Über die Arbeitsgruppen von zehn Mann (decuria) unter Aufsicht des Antreibers (monitor) berichtet Columella 1, 9, 4. 7. Für die Aufbewahrung und Zuteilung von Lebensmitteln und Kleidung sowie für die Instandhaltung der Krankenzellen (valitudinaria) war – nach Columella 12, 1, 5 f.; 12, 3, 8 – die Frau des Gutsverwalters (villica) zuständig. Die Arrestzelle (ergastulum) für die gefesselten Sklaven lag im Keller (ebd. 1, 6, 3).
48
welches darin die letzten Konsequenzen der Mechanisierung und Disziplinierung des Betriebs zieht. Hier wird der psychophysische Apparat des Menschen völlig den Anforderungen, welche die Außenwelt, das Werkzeug, die Maschine, kurz die Funktion an ihn stellt, angepaßt, seines, durch den eigenen organischen Zusammenhang gegebenen, Rhythmus entkleidet und unter planvoller[558] Der Begriff „scientific management“ geht auf den amerikanischen Ingenieur Frederick Winslow Taylor (1856–1915) zurück. Seit 1880 beriet er amerikanische Firmen und entwickelte ein System der wissenschaftlichen Betriebsführung – kurz „Taylor-System“ genannt –, das die optimale Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft und damit höchste Produktivität anstrebte. Vgl. Taylor, Frederick Winslow, The Principles of Scientific Management. – New York, London: Harper & Brothers 1911. Das Vorwort zur deutschen Übersetzung, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung (The Principles of Scientific Management). Übers. v. Rudolf Roesler. – München, Berlin: R. Oldenbourg 1913, informiert über die Bemühungen des amerikanischen Präsidenten Taft, die Ideen Taylors für die Staatsverwaltung nutzbar zu machen (ebd., S. VIII). Vgl. dazu Webers Aussage am Ende des Abschnitts sowie den Editorischen Bericht, oben, S. 538.
i
Zerlegung in Funktionen einzelner Muskeln und Schaffung einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhythmisiert. Dieser gesamte Rationalisierungsprozeß geht hier wie überall, vor allem auch im staatlichen bürokratischen Apparat, mit der Zentralisation der sachlichen Betriebsmittel in der Verfügungsgewalt des Herrn parallel. [558]A: planvolle
So geht mit der Rationalisierung der politischen und ökonomischen Bedarfsdeckung das Umsichgreifen der Disziplinierung als eine universelle Erscheinung unaufhaltsam vor sich und schränkt die Bedeutung des Charisma und des individuell differenzierten Handelns zunehmend ein.
k
Die nachfolgende Leerzeile fehlt in A. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 540.
Wenn das Charisma als schöpferische Macht im Verlauf der Erstarrung der Herrschaft zu Dauergebilden vor diesen zurückweicht und nur in kurzlebigen, in ihrer Wirkung unberechenbaren Massenemotionen bei Wahlen und ähnlichen Gelegenheiten noch in Wirksamkeit tritt, so bleibt es dennoch, freilich in stark umgewandeltem Sin[559]ne, ein höchst wichtiges Element der sozialen Struktur. Wir haben jetzt auf diejenigen, schon früher berührten,
49
ökonomischen Anlässe zurückzukommen, welche die Veralltäglichung des Charisma vorwiegend bedingen: das Bedürfnis der durch [A 648]bestehende politische, soziale und ökonomische Ordnungen privilegierten Schichten, ihre soziale und ökonomische Lage „legitimiert“, d. h.: aus einem Bestande von rein faktischen Machtverhältnissen in einen Kosmos erworbener Rechte verwandelt und geheiligt zu sehen. Diese Interessen bilden das weitaus stärkste Motiv der Erhaltung charismatischer Elemente in versachlichter Form innerhalb der Herrschaftsstruktur. Das genuine Charisma, welches sich nicht auf gesatzte oder traditionelle Ordnung und nicht auf erworbene Rechte, sondern auf die Legitimation persönlichen Heldentums oder persönlicher Offenbarung beruft, steht dem schlechthin feindlich gegenüber. Aber eben seine Qualität als einer überalltäglichen, übernatürlichen, göttlichen Gewalt stempelt es nach seiner Veralltäglichung zu einer geeigneten Quelle legitimen Erwerbs von Herrschergewalt für die Nachfolger des charismatischen Helden und wirkt ebenso weiter zugunsten aller derjenigen, deren Macht und Besitz von jener Herrschergewalt garantiert wird, also an ihrem Bestande hängt. Die Formen, in denen[559] Siehe den Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 491.
l
die charismatische Legitimität eines Herrschers sich äußern kann, sind verschiedene, je nach der Art der Beziehung zu den übernatürlichen Gewalten, durch welche sie begründet wird. [559]A: der
Ist die Legitimität des Herrschers selbst nicht durch Erbcharisma nach eindeutigen Regeln feststellbar, so bedarf er der Legitimation durch eine andere charismatische Macht, und dies kann normalerweise nur die hierokratische sein. Dies gilt auch und gerade für denjenigen Herrscher, der eine göttliche Inkarnation darstellt, also das höchste „Eigencharisma“ besitzt. Gerade sein Anspruch darauf bedarf ja, sofern er nicht auf Bewährung durch eigene Taten gestützt wird, der Anerkennung durch die berufsmäßigen Fachkenner des Göttlichen. Gerade inkarnierte Monarchen sind daher jenem eigentümlichen Internierungsprozeß durch die nächsten materiellen und ideellen Interessenten der Legitimität, Hofbeamte und Priester, ausgesetzt, welcher bis zur dauernden Palasteinsperrung und selbst bis [560]zur Tötung bei Erreichung der Volljährigkeit gehen kann,
50
damit der Gott nicht die Göttlichkeit zu kompromittieren oder sich von der Bevormundung zu befreien Gelegenheit habe. Überhaupt aber wirkt die Schwere der Verantwortung, welche ein charismatischer Herrscher gegenüber den Beherrschten nach der genuinen Anschauung zu tragen hat, sehr stark praktisch in der Richtung des Entstehens eines Bedürfnisses nach seiner Bevormundung. [560] Als „inkarnierte Monarchen“ galten die Pharaonen des Alten Reichs (ca. 2707/2657–2170/2120 v. Chr.), der Dalai Lama, aber auch der chinesische Kaiser, auf den die nachfolgenden Kriterien zutreffen könnten. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 199, wo die Hofbeamten auf die Unsichtbarmachung und Internierung Shih Huang-tis drängten. Für den Dalai Lama beschreibt Albert Grünwedel den ambivalenten Prozeß: „was er [der Dalai Lama] an Heiligkeit gewann, verlor er an Macht: denn es mußte so kommen, daß der Inkarnierte völlig von seinen Ratgebern, die die Kirchentradition in ritueller wie politischer Beziehung repräsentierten, abhängig wurde“. (Vgl. Grünwedel, Albert, Der Lamaismus, in: Die orientalischen Religionen (Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3,1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 136–161, Zitat: S. 147; hinfort: Grünwedel, Lamaismus). Der zwölfte Dalai Lama, ʾPhrin-las rgya-mtsho (1856–1875), soll vor Erreichung der Volljährigkeit – angeblich auf Druck der chinesischen Regierung – vom tibetischen Regenten vergiftet worden sein. Dies berichtete Grünwedel, Buddhismus (wie oben, S. 60, Anm. 71), S. 78, und in Anlehnung an diesen Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 456, Fn. 121.
Gerade wegen seiner hohen charismatischen Qualifikation bedarf ein solcher Herrscher, wie noch heute der orientalische Kalif, Sultan, Schah,
51
dringend einer einzelnen Persönlichkeit, welche ihm die Verantwortung für die Regierungshandlungen, speziell die mißlingenden oder mißliebigen, abnimmt: die Grundlage der traditionellen, spezifischen Stellung des „Großwesirs“ in allen solchen Reichen. In Persien scheiterte noch in der letzten Generation die versuchte Abschaffung des Großwesirats zugunsten der Schaffung bürokratischer Fachministerien unter persönlichem Vorsitz des Schahs daran, daß dies den Schah ganz persönlich als den für alle Nöte des Volks und für alle Mißstände der Verwaltung verantwortlichen Leiter derselben hinstellen und dadurch nicht nur ihn, sondern den Glauben an [561]die „charismatische“ Legitimität selbst fortgesetzt schwer gefährden würde: das Großwesirat mußte, um mit seiner Verantwortlichkeit den Schah und sein Charisma zu decken, wieder hergestellt werden. Im Osmanischen Reich wurde das Sultanat im November 1922, das Kalifat im März 1924 offiziell abgeschafft. Spätestens seit der Jungtürkischen Revolution 1908/09 war der Sultan in seiner Allmacht beschnitten, so daß er zwar der Form nach noch den Großwesir ernennen konnte, sich aber de facto nach den Wünschen der Jungtürken richten mußte. Die Fachminister setzte der Großwesir nun alleine ein. (Vgl. Matuz, Osmanisches Reich (wie oben, S. 267 f., Anm. 50), S. 253, 276 f.). Damit war das von Weber beschriebene System durchbrochen. Zur Stellung des Großwesir in Persien vgl. die nachfolgende Anmerkung. Der persische Schah wurde erst 1979 entmachtet.
52
[561] Der reformwillige Schah Nâsiruddîn (1848–1896) schaffte 1858 das Großwesirat ab und ernannte sechs Ressortminister. Von 1858 bis 1871 und nochmals von 1873 bis 1883 regierte er ohne Großwesir und wurde folglich auch „für alle Mängel in der Verwaltung verantwortlich gemacht und bei Hungersnot und sonstigem Elend richtete sich die Erbitterung […] direkt gegen seine Person“. Aus diesem Grund führte er 1871 und 1883 das Großwesirat wieder ein. Vgl. Greenfield, Persischer Staat (wie oben, S. 184, Anm. 54), S. 223–226, 236–239, Zitat: S. 224; dort heißt es auch, daß ein bevollmächtigter und verantwortlicher Stellvertreter des Schah notwendig gewesen sei, um den „Nimbus“ seiner Person zu wahren (ebd., S. 223).
Es ist dies das orientalische Pendant zu der Stellung des verantwortlichen Kabinettchefs im Okzident, namentlich im parlamentarischen Staat. Die Formel: „le roi règne, mais il ne gouverne pas“,
53
und die Theorie, daß der König im Interesse der Würde seiner Stellung „nicht ohne ministerielle Bekleidungsgegenstände auftreten“ Der Satz geht in dieser Formulierung auf Adolphe Thiers (1797–1877) zurück und erschien in der von ihm mitbegründeten Zeitung „Le National“ am 19. Februar 1830. Er richtete sich gegen die antiliberale Politik von Karl X. und seines Ministeriums Polignac.
54
dürfe, oder, noch weitergehend: daß er sich im Interesse seiner Würde des eigenen Eingreifens in die normale, von bürokratischen Fachspezialisten geleitete Verwaltung gänzlich enthalten sollte zugunsten der Führer der politischen Parteien, welche die Ministerposten inne haben, entsprechen ganz der Einkapselung des vergöttlichten patrimonialen Herrschers durch die Fachkenner der Tradition und [A 649]des Zeremoniells: Priester, Hofbeamte, Großwürdenträger. Die soziologische Natur des Charisma als solchen hat in all diesen Fällen ebensoviel Anteil daran wie selbstverständlich Hofbeamte oder Parteiführer und ihre Gefolgschaften. Der parlamentarische König wird trotz seiner Machtlosigkeit konserviert, vor allem, weil er durch seine bloße Existenz und dadurch, daß die Gewalt „in seinem Namen“ ausgeübt wird: die Legitimität der bestehenden sozialen und Besitzordnung durch sein Charisma garantiert, und alle ihre Interessenten die Er[562]schütterung des Glaubens an die „Rechtmäßigkeit“ dieser Ordnung als Folge seiner Beseitigung fürchten müssen. Neben der Funktion der „Legitimierung“ der Regierungshandlungen der jeweils siegreichen Partei als „rechtmäßiger“ Akte, was rein formal ein nach festen Normen gewählter Präsident ebenso leisten kann, versieht aber der parlamentarische Monarch eine Funktion, welche ein gewählter Präsident nicht erfüllen könnte: er begrenzt das Machtstreben der Politiker formal dadurch, daß die höchste Stelle im Staate ein für allemal besetzt ist. Diese letztere[,] wesentlich negative Funktion, welche an der bloßen Existenz eines nach festen Regeln berufenen Königs als solcher klebt, ist vielleicht, rein politisch betrachtet, die praktisch wichtigste. Positiv gewendet, bedeutet sie in dem Archetypus der Gattung: daß der König nicht kraft Rechtsregel (kingdom of prerogative), In einem Gespräch mit Maximilian Harden im Oktober 1892 äußerte sich Bismarck über die Zukunft des monarchischen Gedankens. Er sehe „eine Gefahr darin, wenn ein Herrscher, selbst in der besten Absicht, allzu häufig vor der Öffentlichkeit sich ohne ministerielle Bekleidungsstücke“ zeige. Vgl. Fürst Bismarck nach seiner Entlassung. Leben und Politik des Fürsten seit seinem Scheiden aus dem Amte auf Grund aller authentischen Kundgebungen, hg. und erläutert von Johannes Penzler, Band 4. – Leipzig: Walther Fiedler 1897, S. 187.
55
sondern nur kraft hervorragender persönlicher Befähigung oder sozialen Einflusses einen wirklich aktiven Anteil an der politischen Gewalt (kingdom of influence)[562] „Prärogative“ meint – wie Weber, Recht § 2, S. 59 (WuG1, S. 446), anführt – „ein Bündel konkreter[,] nicht überschreitbarer Privilegien“. „Kingdom of prerogative“ ist als Zitat nicht belegt, gehört aber sachlich in die staatsrechtliche bzw. verfassungstheoretische Diskussion um die Vorrangstellung der Krone, die seit dem 16. Jahrhundert unter dem Einfluß des römischen Rechts in England angestrebt und durch die Revolution gebrochen wurde. (Vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I (wie oben, S. 20, Anm. 24), S. 600 ff.). Im 19. Jahrhundert flammte die Debatte durch die geschwächte Position des Hauses Hannover wieder auf. (Vgl. Lowell, Lawrence A., Die englische Verfassung, Band 1. – Leipzig: Veit & Comp. 1913, S. 39 ff.). Walter Bagehot formulierte die verbliebenen Rechte der Krone unter den Bedingungen einer konstitutionellen Monarchie als „the right to be consulted, the right to encourage, the right to warn.“ Bagehot, Walter, The English Constitution. With an Introduction by the First Earl of Balfour, 6th Edition. – London: Kegan Paul, Trench, Trübner & Co. 1891, S. 75.
56
gewinnen kann, den er aber in solchen Fällen, wie noch Ereignisse und Persönlichkeiten der letzten Zeit gezeigt haben, „Kingdom of influence“ ist als Zitat ebenfalls nicht belegt.
57
auch wirklich trotz aller „Parlamentsherrschaft“ zur Geltung zu bringen in der Lage ist. Das „parlamentarische“ Königtum bedeutet in England eine Auslese in der Zulassung zur realen Macht zugunsten des staatsmännisch qualifizierten Monarchen. Denn dem König kann ein falscher Schritt in der äußeren [563]oder inneren Politik oder die Erhebung von Prätensionen, welche seiner persönlichen Begabung und seinem persönlichen Ansehen nicht entsprechen, die Krone kosten. Insofern ist es immerhin weit genuiner „charismatisch“ geformt als das, den Tropf wie den Gemeint ist wohl vor allem Eduard VII. von England (König 1901–1910), den Weber später („Die Typen der Herrschaft“, WuG1, S. 174; MWG I/23) als „befähigten Monarchen“ namentlich nannte. Zur Einschätzung der persönlichen Qualifikation Eduards VII. vgl. Jellinek, Staatslehre2 (wie oben, S. 7, Anm. 26), S. 664, Anm. 1, sowie den Nachruf von Haußmann, Conrad, in: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, 4. Jg., Band 2, 1910, S. 308–310.
m
politischen Genius gleichmäßig, lediglich kraft Erbrechts, mit Herrscherprätensionen ausstattende, offizielle Königtum kontinentalen Gepräges. [563]A: mit dem