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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[252][A 631][„Klassen“, „Stände“ und „Parteien“]
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[252]A: Kapitel IV. Klasse, Stand, Parteien. In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht zum Text.

Jede (nicht nur die „staatliche“) Rechtsordnung wirkt durch ihre Gestaltung direkt auf die Machtverteilung innerhalb der betreffenden Gemeinschaft ein, die der ökonomischen Macht sowohl wie auch jeder anderen. Unter „Macht“ wollen wir dabei hier ganz allgemein die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher verstehen, den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen den Widerstand anderer daran Beteiligter
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A: Beteiligten
durchzusetzen. „Ökonomisch bedingte“ Macht ist natürlich nicht identisch mit „Macht“ überhaupt. Die Entstehung ökonomischer Macht kann vielmehr umgekehrt Folge der aus anderen Gründen vorhandenen Macht sein. Macht wird aber ihrerseits nicht nur zu ökonomischen (Bereicherungs-)Zwecken erstrebt. Sondern Macht, auch ökonomische, kann „um ihrer selbst willen“ gewertet werden, und sehr häufig ist das Streben nach ihr mitbedingt durch die soziale „Ehre“, die sie bringt. Aber nicht jede Macht bringt soziale Ehre. Der typische amerikanische Boß
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[252] Der Begriff „Boss“ bezeichnete die professionellen Parteiführer in den Vereinigten Staaten und hatte zumeist den negativen Beiklang von Parteidiktatur oder Führer einer korrupten Parteimaschinerie.
ebenso wie der typische Großspekulant verzichtet bewußt auf sie, und ganz allgemein ist insbesondere gerade die „bloß“ ökonomische Macht, namentlich die „nackte“ Geldmacht, keineswegs eine anerkannte Grundlage sozialer „Ehre“. Und andererseits ist nicht nur Macht die Grundlage sozialer Ehre. Sondern umgekehrt kann soziale Ehre (Prestige) die Basis von Macht auch ökonomischer Art sein und war es sehr häufig. Die Rechtsordnung kann ebenso wie Macht, so auch Ehre garantieren. Aber sie ist wenigstens normalerweise nicht deren primäre Quelle, sondern auch hier ein Superadditum, welches die Chance ihres Besitzes steigert, ihn aber nicht immer sichern kann. Die Art, wie soziale „Ehre“ in einer Gemeinschaft sich zwischen typischen Gruppen der daran Beteiligten verteilt, wollen wir die „soziale Ordnung“ nennen. Zur „Rechtsordnung“ verhält sie sich [253]natürlich ähnlich, wie die Wirtschaftsordnung es tut. Mit dieser ist sie nicht identisch, denn die Wirtschaftsordnung ist uns ja lediglich die Art der Verteilung und Verwendung der ökonomischen Güter und Leistungen. Aber sie ist natürlich in hohem Maße durch sie bedingt und wirkt wieder auf sie zurück. –
Phänomene der Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft sind nun die „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“.
Klassen“ sind keine Gemeinschaften in dem hier festgehaltenen Sinn,
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[253] Der Bezug ist unklar. Bisher war zumeist von „Gemeinschaften“ die Rede, an deren Zustandekommen subjektive Faktoren wesentlich mitwirkten.
sondern stellen nur mögliche (und häufige) Grundlagen eines Gemeinschaftshandelns [A 632]dar. Wir wollen da von einer „Klasse“ reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-)Markts dargestellt wird („Klassenlage“). Es ist die allerelementarste ökonomische Tatsache, daß die Art[,] wie die Verfügung über sachlichen Besitz innerhalb einer sich auf dem Markt zum Zweck des Tauschs begegnenden und konkurrierenden Menschenvielheit verteilt ist, schon für sich allein spezifische Lebenschancen schafft. Sie schließt die Nichtbesitzenden nach dem Grenznutzgesetz vom Mitkonkurrieren von allen Gütern hoher Bewertung zugunsten der Besitzenden aus und monopolisiert deren Erwerb faktisch für diese.
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Das Gesetz des Grenznutzens bestimmt den Wert eines Gutes nach dem Nutzen, den die letzte verfügbare Einheit eines Gutes für die Befriedigung von bestimmten Bedürfnissen oder Teilbedürfnissen hat. Max Weber bezieht sich hier auf die Anwendung der Grenznutzentheorie auf die Kapitalzinstheorie, wie sie ein Hauptvertreter der österreichischen Grenznutzenschule, Eugen von Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 2 Bände, 3. Aufl. – Innsbruck: Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung 1909, 1912, entwickelt hat. Die Wertdifferenz von gegenwärtigen und zukünftigen Gütern führe unter modernen Produktions- und Marktbedingungen zur Benachteiligung der Nichtbesitzenden (ebd., Band 2, Halbband 1, 1909, S. 426–652).
Sie monopolisiert, unter sonst gleichen Umständen, die Tauschgewinnchancen für alle jene, welche, mit Gütern versorgt, auf den Tausch nicht schlechthin angewiesen sind, und steigert, generell wenigstens, ihre Macht im Preiskampf mit denen, welche besitzlos, nichts als ihre Arbeitsleistungen in Naturform oder in Form von Produkten eigener Arbeit anbieten können und diese unbedingt losschlagen müssen, um überhaupt [254]ihre Existenz zu fristen. Sie monopolisiert die Möglichkeit, Besitz aus der Sphäre der Nutzung als „Vermögen“ in die Sphäre der Verwertung als „Kapital“ zu überführen, also die Unternehmerfunktion und alle Chancen direkter oder indirekter Teilnahme am Kapitalgewinn für die Besitzenden. Alles dies innerhalb der Sphäre des Geltens reiner Marktbedingungen. „Besitz“ und „Besitzlosigkeit“ sind daher die Grundkategorien aller Klassenlagen, einerlei, ob diese im Preiskampf oder im Konkurrenzkampf wirksam werden. Innerhalb dieser aber differenzieren sich die Klassenlagen weiter, je nach der Art des zum Erwerb verwertbaren Besitzes einerseits, der auf dem Markt anzubietenden Leistungen andererseits. Wohngebäudebesitz, Werkstätten- oder Lagerhaus- oder Verkaufslädenbesitz, landwirtschaftlich nutzbarer Grundbesitz und innerhalb dieser wieder großer und kleiner – ein quantitativer Unterschied mit eventuell qualitativen Folgen, – Bergwerksbesitz, Viehbesitz, Menschen(Sklaven-)besitz, Verfügung über mobile Produktionswerkzeuge oder Erwerbsmittel aller Art, vor allem über Geld oder spezifisch leicht jederzeit gegen Geld auszutauschende Objekte, über Produkte eigener oder fremder Arbeit, verschieden je nach den verschiedenen Stadien der Genußreife, über verkehrsfähige Monopole irgendwelcher Art, – alle diese Unterschiede differenzieren die Klassenlagen der Besitzenden ebenso wie der „Sinn“, welchen sie der Verwertung ihres Besitzes, vor allem ihres geldwerten Besitzes, geben können und geben, je nachdem sie also z. B. zur Rentnerklasse oder zur Unternehmerklasse gehören. Und ebenso stark differenzieren sich die besitzlosen Anbieter von Arbeitsleistungen je nach der Art dieser sowohl, wie je nachdem sie diese in kontinuierlicher Beziehung zu einem Abnehmer oder von Fall zu Fall verwerten. Immer aber ist für den Klassenbegriff gemeinsam: daß die Art der Chance auf dem Markt diejenige Instanz ist, welche die gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt. „Klassenlage“ ist in diesem Sinn letztlich: „Marktlage“. Nur Vorstufe wirklicher „Klassen“-Bildung ist jene Wirkung des nackten Besitzes rein als solchen, welche unter Viehzüchtern den Besitzlosen als Sklaven oder Hörigen in die Gewalt des Viehbesitzers gibt. Aber allerdings taucht hier, in der Viehleihe und der nackten Härte des Schuldrechts solcher Gemeinschaften, zum erstenmal der bloße „Besitz“ als solcher als bestimmend für das Schicksal des Einzelnen auf, sehr im Gegensatz zu den auf der Arbeit ruhenden Acker[255]baugemeinschaften. Zur Grundlage von „Klassenlagen“ wurde das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis erst in den Städten, wo sich ein – noch so primitiver – „Kreditmarkt“ mit je nach der Notlage steigenden Zinsfüßen und faktischer Monopolisierung des Darleihens
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[255]A: Darleihers
durch eine Plutokratie entwickelte. Damit beginnen „Klassenkämpfe“. Eine Vielheit von Menschen dagegen, deren Schicksal nicht durch die Chance der eigenen Verwertung von Gütern oder Arbeit auf dem Markt bestimmt wird – wie z. B. die Sklaven –, sind im technischen Sinn keine „Klasse“ (sondern: ein „Stand“).
[A 633]Es sind nach dieser Terminologie eindeutig ökonomische Interessen[,] und zwar an die Existenz des „Markts“ gebundene, welche die „Klasse“ schaffen. Gleichwohl aber ist der Begriff „Klasseninteresse“ ein vieldeutiger und zwar nicht einmal eindeutig empirischer Begriff, sobald man darunter etwas anderes versteht als: die aus der Klassenlage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit folgende faktische Interessenrichtung eines gewissen „Durchschnitts“ der ihr Unterworfenen. Bei gleicher Klassenlage und auch sonst gleichen Umständen kann nämlich die Richtung, in welcher etwa der einzelne Arbeiter seine Interessen mit Wahrscheinlichkeit verfolgen wird, höchst verschieden sein, je nachdem er z. B. für die betreffende Leistung nach seiner Veranlagung hoch, durchschnittlich oder schlecht qualifiziert ist. Ebenso, je nachdem aus der „Klassenlage“ ein Gemeinschaftshandeln eines mehr oder minder großen Teils der von ihr gemeinsam Betroffenen oder sogar eine Vergesellschaftung unter ihnen (z. B. eine „Gewerkschaft“) erwachsen ist, von der sich der Einzelne bestimmte Resultate versprechen kann, oder nicht. Eine universelle Erscheinung ist das Herauswachsen einer Vergesellschaftung oder selbst eines Gemeinschaftshandelns aus der gemeinsamen Klassenlage keineswegs. Vielmehr kann sich ihre Wirkung auf die Erzeugung eines im wesentlichen gleichartigen Reagierens, also (in der hier gewählten Terminologie):
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[255] Siehe WuG1, S. 374 (MWG I/22-3).
eines „Massenhandelns“, beschränken oder nicht einmal dies zur Folge haben. Oft ferner entsteht nur ein amorphes Gemeinschaftshandeln. So etwa das in der altorientalischen Ethik be[256]kannte „Murren“ der Arbeiter:
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[256] Max Weber bezeichnet in seinem Beitrag „Agrarverhältnisse im Altertum“ das „Murren“ als die typische altägyptische „Art zu streiken“ (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 139), „deren stetes und ausschließliches Motto“ gegenüber dem Arbeitsherrn gewesen sei: „gib uns unser Brot“ (ebd., S. 136). Genau in diesem Sinn ist das „Murren“ biblisch belegt als Wehklagen der Israeliten gegen Moses bzw. Jahwe beim Exodus aus Ägypten. Vgl. 2. Mose 16,2 et passim.
die sittliche Mißbilligung des Verhaltens des Arbeitsherrn, welche in seiner praktischen Bedeutung vermutlich einer gerade der neuesten gewerblichen Entwicklung wieder zunehmend typischen Erscheinung gleichkam: dem „Bremsen“ (absichtliche Einschränkung der Arbeitsleistung) der Arbeiterschaft kraft stillschweigenden Einverständnisses. Der Grad, in welchem aus dem „Massenhandeln“ der Klassenzugehörigen ein „Gemeinschaftshandeln“ und eventuell „Vergesellschaftungen“ entstehen, ist an allgemeine Kulturbedingungen, besonders intellektueller Art, und an den Grad der entstandenen Kontraste, wie namentlich an die Durchsichtigkeit des Zusammenhangs zwischen den Gründen und den Folgen der „Klassenlage“ gebunden. Eine noch so starke Differenzierung der Lebenschancen an sich gebiert ein „Klassenhandeln“ (Gemeinschaftshandeln der Klassenzugehörigen) nach allen Erfahrungen keineswegs. Es muß die Bedingtheit und Wirkung der Klassenlage deutlich erkennbar sein. Denn dann erst kann der Kontrast der Lebenschancen als etwas nicht schlechthin Gegebenes und Hinzunehmendes, sondern entweder 1. aus der gegebenen Besitzverteilung oder 2. aus der Struktur der konkreten Wirtschaftsordnung Resultierendes empfunden und dagegen nicht nur durch Akte eines intermittierenden und irrationalen Protestes, sondern in Form rationaler Vergesellschaftung reagiert werden. „Klassenlagen“ der ersten Kategorie gab es in einer solchen spezifisch nackten und durchsichtigen Art in der Antike und im Mittelalter in den städtischen Zentren, namentlich dann, wenn große Vermögen durch faktisch monopolisierten Handel in gewerblichen Produkten des betreffenden Orts oder in Nahrungsmitteln angehäuft wurden, unter Umständen ferner in der Landwirtschaft der allerverschiedensten Zeiten bei anwachsender erwerbswirtschaftlicher Ausnutzung. Das wichtigste historische Beispiel der zweiten Kategorie ist die Klassenlage des modernen „Proletariats“.
Jede Klasse kann also zwar Träger irgendeines, in unzähligen Formen möglichen „Klassenhandelns“ sein, aber sie muß es nicht [257]sein, und jedenfalls ist sie selbst keine Gemeinschaft, und führt es zu Schiefheiten, wenn man sie mit Gemeinschaften begrifflich gleichwertig behandelt. Und der Umstand, daß Menschen in gleicher Klassenlage auf so fühlbare Situationen, wie es die ökonomischen sind, regelmäßig durch ein Massenhandeln in der dem Durchschnitt adäquatesten Interessenrichtung reagieren, – eine für das Verständnis geschichtlicher Ereignisse ebenso wichtige wie im Grund einfache Tatsache – darf vollends nicht zu jener Art von pseudowissenschaftlichem Operieren mit dem Begriff der „Klasse“, des „Klasseninteresses“ [A 634]führen, die heut vielfach üblich ist und ihren klassischsten Ausdruck in der Behauptung eines begabten Schriftstellers gefunden hat; daß zwar der Einzelne sich über seine Interessen irren könne, die „Klasse“ über die ihrigen aber „unfehlbar“ sei.
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[257] Dies bezieht sich auf Oppenheimer, Der Staat, S. 144. Dort heißt es: „Der einzelne irrt häufig in der Wahrung seiner Interessen: eine Klasse irrt niemals auf die Dauer!“ In dem Handexemplar Max Webers (Max Weber-Arbeitsstelle, Bayerische Akademie der Wissenschaften München) findet sich an dieser Stelle eine doppelte Anstreichung und ein Ausrufezeichen am Rand.
Wenn also die Klassen an sich keine Gemeinschaften „sind“, so entstehen Klassenlagen doch nur auf dem Boden von Vergemeinschaftung. Nur ist das Gemeinschaftshandeln, welches sie zur Entstehung bringt, dem Schwerpunkt nach nicht ein solches der Zugehörigen der gleichen Klasse, sondern ein solches zwischen Angehörigen verschiedener Klassen. Dasjenige Gemeinschaftshandeln z. B., welches unmittelbar die Klassenlage der Arbeiter und Unternehmer bestimmt, sind: der Arbeitsmarkt, der Gütermarkt und der kapitalistische Betrieb. Die Existenz eines kapitalistischen Betriebes setzt ihrerseits aber wiederum das Bestehen eines sehr besonders gearteten, den Güterbesitz rein als solchen, insbesondere die prinzipiell freie Verfügungsmacht Einzelner über Produktionsmittel, schützenden Gemeinschaftshandelns: einer „Rechtsordnung“, und zwar einer solchen von spezifischer Art, voraus. Jede Art von Klassenlage, als vor allem auf der Macht des Besitzes rein als solchen ruhend, kommt am reinsten dann zur Wirksamkeit, wenn alle anderen Bestimmungsgründe der gegenseitigen Beziehungen in ihrer Bedeutung möglichst ausgeschaltet sind, und so die Verwertung der Macht des Besitzes auf dem Markt möglichst souverän zur Geltung gelangt. Zu den Hemmnissen einer konsequenten Durch[258]führung des nackten Marktprinzipes gehören nun die „Stände“, welche uns vorerst nur unter diesem Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang interessieren. Ehe wir sie kurz betrachten,
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[258] Siehe unten, S. 259–269.
sei nur noch bemerkt: Über die speziellere Art der Gegensätze der „Klassen“ (in dem hier festgehaltenen Sinne)
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Siehe oben, S. 253.
ist nicht viel Allgemeines zu sagen. Die große Verschiebung, welche von der Vergangenheit zur Gegenwart hin sich vollzogen hat, läßt sich mit Inkaufnahme einiger Ungenauigkeit wohl dahin zusammenfassen: daß der durch
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[258] Fehlt in A; durch sinngemäß ergänzt.
die Klassenlage bewirkte
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A: auswirkende
Kampf sich zunehmend vom Konsumtivkredit zunächst zum Konkurrenzkampf auf dem Gütermarkt und dann zum Preiskampf auf dem Arbeitsmarkt verschoben hat. Die „Klassenkämpfe“ der Antike, – soweit sie wirklich „Klassenkämpfe“ und nicht vielmehr Ständekämpfe waren – waren zunächst Kämpfe bäuerlicher, (und daneben wohl auch: handwerklicher) von der Schuldknechtschaft bedrohter Schuldner gegen stadtsässige Gläubiger. Denn die Schuldknechtschaft ist, wie bei den Viehzüchtern, so auch noch in den Handels-, zumal den Seehandelsstädten die normale Folge der Vermögensdifferenzierung. Das Schuldverhältnis als solches erzeugte Klassenhandeln noch bis in Catilinas Zeit.
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L. Sergius Catilina kandidierte 64 und 63 v. Chr. erfolglos für ein Konsulat. In den Wahlkämpfen stützte er sich vor allem auf die untersten Schichten, die durch Verschuldung aus der Gesellschaft ausgegrenzt worden waren.
Daneben trat, mit zunehmender Versorgung der Stadt durch auswärtige Getreidezufuhren, der Kampf um die Nahrungsmittel, in erster Linie die Brotversorgung und der Brotpreis, welcher
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A: welche
die Antike und das ganze Mittelalter hindurch andauert und die Besitzlosen als solche gegen die wirklichen und vermeintlichen Interessenten der Brotteuerung zusammenschaarten und alle überhaupt für die Lebensführung, auch für die Handwerksproduktion wesentlichen Waren ergreift. Von Lohnkämpfen ist in der Antike und im Mittelalter und bis in die Neuzeit nur in langsam wachsenden Ansätzen die Rede, sie treten völlig nicht nur hinter den Sklavenaufständen, sondern auch hinter den Kämpfen auf dem Gütermarkt zurück.
[259]Monopole, Vorkauf, Aufkauf, Zurückhaltung von Gütern vom Markt zwecks Preissteigerung sind das, wogegen in Antike und Mittelalter von den Besitzlosen protestiert wurde. Lohnpreisbildung ist dagegen heute der zentrale Punkt. Den Übergang stellen jene Kämpfe um den Zutritt zum Markt und um die Produktenpreisbildung dar, welche
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[259]A: welcher
zwischen Verlegern und hausindustriellen Handwerkern im Übergang zur Neuzeit vorkamen. Ein ganz allgemeines und daher hier zu erwähnendes Phänomen der durch die Marktlage bedingten Klassengegensätze ist es, daß sie am bittersten zwischen den wirklich direkt am Preiskampf als Gegner Beteiligten zu herrschen pflegen. Nicht der Rentner, Aktionär, Bankier ist es, welcher vom Groll der Arbeiter getroffen wird – obwohl doch gerade in seine Kasse teils mehr, teils „arbeitsloserer“ Gewinn fließt als in die des Fabrikanten oder Betriebs[A 635]direktors, – sondern fast ausschließlich dieser selbst, als der direkte Preiskampfgegner. Dieser einfache Tatbestand ist für die Rolle der Klassenlage in der politischen Parteibildung sehr oft ausschlaggebend gewesen. Er hat z. B. die verschiedenen Spielarten des patriarchalen Sozialismus und die wenigstens früher häufigen Bündnisversuche bedrohter ständischer Schichten mit dem Proletariat gegen die „Bourgeoisie“ ermöglicht.
Stände sind, im Gegensatz zu den Klassen, normalerweise Gemeinschaften, wenn auch oft solche von amorpher Art. Im Gegensatz zur rein ökonomisch bestimmten „Klassenlage“ wollen wir als „ständische Lage“ bezeichnen jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der „Ehre“ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft. Diese Ehre kann sich auch an eine Klassenlage knüpfen: die Unterschiede der Klassen gehen die mannigfaltigsten Verbindungen mit ständischen Unterschieden ein, und der Besitz als solcher gelangt, wie schon bemerkt,
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[259] Siehe oben, S. 146 f., sowie WuG1 S. 606 (MWG I/22-4).
nicht immer, aber doch außerordentlich regelmäßig auf die Dauer auch zu ständischer Geltung. Im eigenwirtschaftlichen Nachbarverband ist in der ganzen Welt sehr häufig einfach der reichste Mann rein als solcher „Häuptling“, was oft einen rei[260]nen Ehrenvorzug bedeutet. In der sog. reinen, d. h. jeder ausdrücklich geordneten ständischen Privilegierung Einzelner entbehrenden, modernen „Demokratie“ kommt es z. B. vor, daß nur die Familien von annähernd gleicher Steuerklasse miteinander tanzen (wie dies z. B. für einzelne kleinere Schweizer Städte erzählt wird).
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[260] Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden.
Aber die ständische Ehre muß nicht notwendig an eine „Klassenlage“ anknüpfen, sie steht normalerweise vielmehr mit den Prätensionen des nackten Besitzes als solchem in schroffem Widerspruch. Auch Besitzende und Besitzlose können dem gleichen Stande angehören und tun dies häufig und mit sehr fühlbaren Konsequenzen, so prekär diese „Gleichheit“ der sozialen Einschätzung auf die Dauer auch werden mag. Die ständische „Gleichheit“ des amerikanischen „gentleman“ kommt z. B. darin zum Ausdruck: daß außerhalb der rein sachlich bedingten Unterordnung im „Betrieb“ es – wo noch die alte Tradition herrscht – für streng verpönt gelten würde, wenn auch der reichste „Chef“ seinen „Kommis“ etwa abends im Klub, am Billard, am Kartentisch, in irgendeinem Sinn nicht als voll ebenbürtig behandeln und ihm etwa jenes, den Unterschied der „Stellung“ markierende herablassende „Wohlwollen“ angedeihen lassen wollte, welches der deutsche Chef niemals aus seinem Empfinden verbannen kann, – einer der wichtigsten Gründe, aus denen dort das deutsche Klubwesen niemals die Anziehungskraft des amerikanischen Klubs hat erreichen können.
Inhaltlich findet die ständische Ehre ihren Ausdruck normalerweise vor allem in der Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung an jeden, der dem Kreise angehören will. Damit zusammenhängend in der Beschränkung des „gesellschaftlichen“, d. h. des nicht ökonomischen oder sonst geschäftlichen, „sachlichen“ Zwecken dienenden Verkehrs, einschließlich namentlich des normalen Konnubium, auf den ständischen Kreis bis zu völliger endogener Abschließung. Sobald nicht eine bloße individuelle und sozial irrelevante Nachahmung fremder Lebensführung, sondern ein einverständliches Gemeinschaftshandeln dieses Charakters vorliegt, ist die „ständische“ Entwicklung im Gang. In charakteristischer Art entwickelt sich dergestalt die „ständische“ Gliederung auf der Basis konventioneller Lebensführung zur Zeit in den Vereinigten Staaten aus der hergebrachten Demokratie heraus. Zum [261]Beispiel so: daß nur der Einwohner einer bestimmten Straße („the Street“) als zur „society“ gehörig und verkehrsfähig angesehen, besucht und eingeladen wird.
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[261] Max Weber hatte während seiner Amerika-Reise 1904 den engen Zusammenhang von Straßen- und Gesellschaftszugehörigkeit am Beispiel der Tochter seines Kollegen Johannes E. Conrad erlebt. Sie wohnte mit ihrem Mann, einem Pfarrer und Professorensohn, in einem Arbeiterviertel der Kleinstadt North Tonawanda (Bundesstaat New York). Weber berichtet im Brief an seine Mutter vom 8. bis [13.] Sept. 1904 (GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 16–21; MWG II/4) [[MWG II/4, S. 274–279]], daß die Pfarrersfamilie von ihresgleichen geschnitten würde, da erst „das Mieten einer Wohnung in einer Strasse, die als zum ,first set‘ gehörend gilt […], zur Aufnahme in die ,society‘“ führe.
Vor allem aber so, daß die strikte Unterwerfung unter die jeweils in der Society herrschende Mode in einem bei uns unbekannten Grade auch bei Männern, als ein Symptom dafür, daß der Betreffende die Qualität als Gentleman prätendiere, gilt und infolgedessen darüber mindestens prima facie entscheidet, daß er auch als solcher behandelt wird, was z. B. für seine Anstellungs[A 636]chancen in „guten“ Geschäften, vor allem aber für Verkehr und Konnubium mit „angesehenen“ Familien ebenso wichtig wird, wie etwa die „Satisfaktionsfähigkeit“ bei uns. Und im Übrigen usurpieren etwa bestimmte, lange Zeit ansässige (und natürlich: entsprechend wohlhabende) Familien (so die „F.F.V.“ = „first families of Virginia“)
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Die gesellschaftlich führenden Familien des US-amerikanischen Bundesstaates Virginia gründeten ihren Status auf der vermeintlichen Abstammung von der englischen Aristokratie. Vgl. Wertenbaker, Thomas J., Patrician and Plebian of the Old Dominion. – New York: Russel & Russel 1959 (= Reprint der 1. Aufl. von 1910).
oder die wirklichen und angeblichen Abkömmlinge der „Indianerprinzessin“ Pocahontas
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[261]A: Pocohontas
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Die sagenumwobene Indianerin mit dem Rufnamen Pocahontas („kleine Übermütige“) vermittelte im heutigen US-Bundesstaat Virginia zwischen den amerikanischen Ureinwohnern und den europäischen Siedlern. Berühmtheit erlangte sie durch ihre Englandreise 1616/17. Die beiden angesehensten Familien Virginias, die Bollings und Randolphs, leiteten ihre Herkunft von der einzigen Enkelin Pocahontas’ ab.
oder der Pilgerväter,
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Als „Pilgerväter“ wurde seit dem 19. Jahrhundert eine kleine Schar von kongregationalistischen Flüchtlingen bezeichnet, die 1620 mit dem Schiff „Mayflower“ in Nordamerika landete und die Kolonie Plymouth im heutigen US-Bundesstaat Massachusetts gründete. Als Pioniere der Besiedelung Amerikas wurde ihnen großes Ansehen zugemessen.
Knickerbocker,
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In Anlehnung an den von Washington Irving fingierten niederländischen Verfasser der 1809 wohl erstmals erschienenen humoristischen History of New York from the Beginning of the World to the End of the Dutch Dynasty by Diedrich Knickerbocker. – New York: G. P. Putnam’s Sons 1889, wurden New Yorker niederländischer Herkunft „Knickerbockers“ genannt. Der Kern der Geschichte bezog sich auf die Besiedlung der Insel Manhattan durch [262]die Holländisch-Westindische Kompagnie zwischen 1614 und 1664. Bereits vor Irvings Buch existierten in New York „Knickerbocker“-Unternehmen und -Gesellschaften, die später – wohl durch das Buch veranlaßt – regelrecht in Mode kamen (vgl. ebd., S. 4 f.).
die Zugehörigen einer schwer zu[262]gänglichen Sekte und allerhand durch irgendein anderes Merkmal sich abhebende Kreise „ständische“ Ehre. In diesem Fall handelt es sich um rein konventionelle, wesentlich auf Usurpation (wie allerdings im Ursprung normalerweise fast alle ständische „Ehre“) ruhende Gliederung. Aber der Weg von da zur rechtlichen Privilegierung (positiv und negativ) ist überall leicht gangbar, sobald eine bestimmte Gliederung der sozialen Ordnung faktisch „eingelebt“ ist und, infolge der Stabilisierung der ökonomischen Machtverteilung, auch ihrerseits Stabilität erlangt hat. Wo die äußersten Konsequenzen gezogen werden, entwickelt sich der Stand zur geschlossenen „Kaste“. Das heißt: es findet neben der konventionellen und rechtlichen auch noch eine rituelle Garantie der ständischen Scheidung statt, dergestalt, daß jede physische Berührung mit einem Mitglied einer als „niedriger“ geschätzten Kaste für Angehörige der „höheren“ als rituell verunreinigender, religiös zu sühnender Makel gilt, und die einzelnen Kasten teilweise ganz gesonderte Kulte und Götter entwickeln.
Zu diesen Konsequenzen steigert sich die ständische Gliederung im allgemeinen allerdings nur da, wo ihr Differenzen zugrunde liegen, die als „ethnische“ angesehen werden. Die „Kaste“ ist geradezu die normale Form, in welcher ethnische, an Blutsverwandtschaft glaubende, das Konnubium und den sozialen Verkehr nach außen ausschließende Gemeinschaften miteinander „vergesellschaftet“ zu leben pflegen. So in der gelegentlich schon erörterten,
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Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 255 ff.
über die ganze Welt verbreiteten Erscheinung der „Paria“-Völker: Gemeinschaften, welche spezifische Berufstraditionen handwerklicher oder anderer Art erworben haben, den ethnischen Gemeinsamkeitsglauben pflegen und nun in der „Diaspora“, streng geschieden von allem nicht unumgänglichen persönlichen Verkehr und in rechtlich prekärer Lage, aber kraft ihrer ökonomischen Unentbehrlichkeit geduldet und oft sogar privilegiert, in
i
[262] Fehlt in A; in sinngemäß ergänzt.
politischen Gemeinschaften eingesprengt leben: die Juden sind das [263]großartigste historische Beispiel. Die zur „Kaste“ gesteigerte „ständische“ und die bloß „ethnische“ Scheidung differieren in ihrer Struktur darin, daß die erstere aus dem horizontalen unverbundenen Nebeneinander der letzteren ein vertikales soziales Übereinander macht. Korrekt ausgedrückt: daß eine umgreifende Vergesellschaftung die ethnisch geschiedenen Gemeinschaften zu einem spezifischen, politischen Gemeinschaftshandeln zusammenschließt. In ihrer Wirkung differieren sie eben darin: daß das ethnische Nebeneinander, welches die gegenseitige Abstoßung und Verachtung bedingt, aber jeder ethnischen Gemeinschaft gestattet, ihre eigene Ehre für die höchste zu halten, in der Kastengliederung ein soziales Untereinander, ein anerkanntes „Mehr“ an „Ehre“ zugunsten der privilegierten Kasten und Stände mit sich bringt, weil hier die ethnischen Unterschiede zu solchen der „Funktion“ innerhalb der politischen Vergesellschaftung wurden (Krieger, Priester, politisch für Krieg und Bauten wichtige Handwerker usw.). Aber selbst das verachtetste Pariavolk pflegt irgendwie das den ethnischen und ständischen Gemeinschaften gleichmäßig eigene: den Glauben an die eigene spezifische „Ehre“, weiter zu pflegen (so die Juden). Nur nimmt bei den negativ privilegierten „Ständen“ das „Würdegefühl“ – der subjektive Niederschlag sozialer Ehre und der konventionellen Ansprüche, welche der positiv privilegierte „Stand“ an die Lebensführung seiner Glieder stellt, – eine spezifisch abweichende Wendung. Das Würdegefühl der positiv privilegierten Stände bezieht sich naturgemäß auf ihr nicht über sich selbst hinausweisendes „Sein“, ihre „Schönheit und Tüchtigkeit“ (ϰαλο-ϰὰγαϑία).
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[263] Das hier zitierte Substantiv „kalo-kagathia“ ist im 4. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesen (z. B. bei Xenophon und Aristoteles) und bedeutet – nach Jakob Burckhardt – die „untrennbare Verschmelzung einer moralischen, einer ästhetischen und einer materiellen Überzeugung zu einem Begriff“. Es wurde zum Synonym für das durch die griechische Aristokratie repräsentierte Persönlichkeitsideal. Vgl. Burckhardt, Jakob, Griechische Kulturgeschichte, hg. von Jakob Oeri, Band 1, 2. Aufl. – Berlin, Stuttgart: W. Spemann [1898], S. 171.
Ihr Reich ist „von dieser Welt“
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Umkehrung der Bibelstelle Johannes 18, 36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“
und lebt für die Gegenwart und von der großen Vergangenheit. Das Würdegefühl der negativ [A 637]privilegierten Schichten kann sich naturgemäß auf eine jenseits der Gegenwart liegende, sei es diesseitige oder jenseitige Zukunft beziehen, es muß sich mit anderen Worten aus [264]dem Glauben an eine providentielle „Mission“, an eine spezifische Ehre vor Gott als „auserwähltes Volk“, also daraus speisen, daß entweder in einem Jenseits „die letzten die ersten“
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[264] Vgl. Matthäus 20, 16.
sein werden oder daß im Diesseits ein Heiland erscheinen und die vor der Welt verborgene Ehre des von ihr verworfenen Pariavolkes (Juden) oder -standes
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[264]A: -Standes
an das Licht bringen werde. Dieser einfache Sachverhalt, dessen Bedeutung in anderem Zusammenhang zu besprechen ist
l
In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. oben Kap. IV, § 7 (S. 277).
,
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Der Bezug ist unklar. Vermutlich handelt es sich hier um einen Hinweis auf die Untersuchung über „Das antike Judentum“, die später im Rahmen der Aufsatzreihe „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, in: AfSSp, Band 44, 1917/18, S. 52–138, 349–443, 601-626 und ebd., Band 46, 1918/19, S. 40–113 (MWG I/21), erschienen ist. Vgl. auch Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 254–265 und WuG1, S. 750 (MWG I/22-4).
und nicht das in Nietzsches vielbewunderter Konstruktion (in der „Genealogie der Moral“) so stark hervorgehobene „Ressentiment“
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Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 16 ff., beschreibt das „Ressentiment“ als die „Umkehrung des werthe-setzenden Blicks“. Der „Sklavenaufstand in der Moral“ beginne damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch werde und Werte hervorbringe: „das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.“ (ebd., S. 16).
ist die Quelle des – übrigens, wie wir sahen,
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Verweis auf die „Religiösen Gemeinschaften“, siehe MWG I/22-2, S. 257–265.
– nur begrenzt und für eins von Nietzsches Hauptbeispielen (Buddhismus) gar nicht zutreffenden Charakters der von den Pariaständen gepflegten Religiosität.
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Max Weber ging in den „Religiösen Gemeinschaften“, MWG I/22-2, S. 265 und später in seiner Hinduismusstudie (MWG I/20, S. 363) davon aus, daß der Buddhismus durch die stolze und kriegerische Haltung der positiv privilegierten Kasten geprägt sei. Dagegen vertrat Friedrich Nietzsche die These, daß er sich aus sanftmütigen und unkämpferischen Menschen aller Stände rekrutierte, „welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnisslos leben“. Er verglich sie mit den ersten Christen, den „kleinen Leute[n] in der römischen Provinz“, die „ein bescheidnes tugendhaftes gedrücktes Leben“ führten. Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“), 2. Aufl. – Leipzig: C.G. Naumann 1895, S. 290.
Im übrigen ist der ethnische Ursprung der Ständebildung keineswegs die normale Erscheinung. Im Gegenteil. Und da keineswegs jedem subjektiv „ethnischen“ Gemeinsamkeitsgefühl objektive „Rassenunterschiede“ zugrunde liegen, so ist mit Recht die letztlich rassenmäßige Begründung ständischer Gliederungen durchaus eine Frage des konkreten Einzelfalls: sehr oft ist der „Stand“, der ja gewiß in starkem Grade ex[265]trem wirkt, und auf einer Auslese der persönlich Qualifizierten (der Ritterstand: der kriegerisch[,] physisch und psychisch Brauchbaren) beruht, seinerseits Mittel der Reinzüchtung eines anthropologischen Typus. Aber die persönliche Auslese ist weit davon entfernt, der einzige oder vorwiegende Weg der Ständebildung zu sein: die politische Zugehörigkeit oder Klassenlage entschied von jeher mindestens ebenso oft und heute die letztere weit überwiegend. Denn die Möglichkeit „ständischer“ Lebensführung pflegt naturgemäß ökonomisch mitbedingt zu sein.
Praktisch betrachtet, geht die ständische Gliederung überall mit einer Monopolisierung ideeller und materieller Güter oder Chancen in der uns schon als typisch bekannten Art
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[265] Siehe oben. S. 82–86.
zusammen. Neben der spezifischen Standesehre, die stets auf Distanz und Exklusivität ruht, und neben Ehrenvorzügen wie dem Vorrecht auf bestimmte Trachten, auf bestimmte, durch Tabuierung anderen versagte Speisen, dem in seinen Folgen höchst fühlbaren Vorrecht des Waffentragens, dem Recht auf bestimmte nicht erwerbsmäßige, sondern dilettierende Arten der Kunstübung (bestimmte Musikinstrumente z. B.) stehen allerhand materielle Monopole. Selten ausschließlich, aber fast immer zu irgend einem Teil geben naturgemäß gerade sie die wirksamsten Motive für die ständische Exklusivität. Für das ständische Konnubium steht dem Monopol auf die Hand der Töchter des betreffenden Kreises das Interesse der Familien auf die Monopolisierung der ihm angehörigen potentiellen Freier zur Versorgung eben dieser Töchter mindestens gleichbedeutend zur Seite. Die konventionellen Vorzugschancen auf bestimmte Anstellungen steigern sich bei zunehmender ständischer Abschließung zu einem rechtlichen Monopol auf bestimmte Ämter für bestimmte ständisch abgegrenzte Gruppen. Bestimmte Güter, in typischer Art überall die „Rittergüter“, oft auch der Leibeigenen- oder Hörigenbesitz, endlich bestimmte Erwerbszweige werden Gegenstand ständischer Monopolisierung. Sowohl positiv: so, daß der betreffende Stand allein sie besitzen und betreiben darf, wie negativ: so, daß er sie um der Erhaltung seiner spezifischen Lebensführung willen nicht besitzen und betreiben darf. Denn die maßgebende Rolle der „Lebensführung“ für die ständische „Ehre“ bringt es mit sich, daß die „Stände“ die spezifischen Träger aller „Konventionen“ sind: [266]alle „Stilisierung“ des Lebens, in welchen Äußerungen es auch sei, ist entweder ständischen Ursprungs oder wird doch ständisch konserviert. Bei aller großen Verschiedenheit zeigen die Prinzipien der ständischen Konventionen namentlich bei den höchstprivilegierten Schichten doch gewisse typische Züge. Ganz allgemein besteht die ständische Disqualifizierung ständisch privilegierter Gruppen für die gewöhnliche physische Arbeit, die, entgegen den alten gerade entgegengesetzten Traditionen, jetzt auch in Amerika einsetzt. [A 638]Sehr häufig gilt jede rationale Erwerbstätigkeit, insbesondere auch „Unternehmertätigkeit“ als ständisch disqualifizierend und gilt ferner als entehrende Arbeit auch die künstlerische und literarische, sobald sie zum Erwerb ausgenutzt wird oder mindestens dann, wenn sie mit harter physischer Anstrengung verbunden ist, wie z. B. der im Staubkittel, wie ein Steinmetz arbeitende Bildhauer im Gegensatz zum Maler mit seinem salonartigen „Atelier“ und zu den ständisch akzeptierten Formen der Musikübung.
Die so sehr häufige Disqualifikation des „Erwerbstätigen“ als solchen ist, neben später zu berührenden Einzelgründen,
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[266] Siehe WuG1, S. 749–752 (MWG I/22-4).
eine direkte Folge des „ständischen“ Prinzips der sozialen Ordnung und seines Gegensatzes zur rein marktmäßigen Regulierung der Verteilung von Macht. Der Markt und die ökonomischen Vorgänge auf ihm kannte, wie wir sahen,
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Siehe oben, S. 194.
kein „Ansehen der Person“: „sachliche“ Interessen beherrschen ihn. Er weiß nichts von „Ehre“. Die ständische Ordnung bedeutet gerade umgekehrt: Gliederung nach „Ehre“ und ständischer Lebensführung und ist als solche in der Wurzel bedroht, wenn der bloße ökonomische Erwerb und die bloße, nackte, ihren außerständischen Ursprung noch an der Stirn tragende, rein ökonomische Macht als solche jedem, der sie gewonnen hat, gleiche oder – da bei sonst gleicher ständischer Ehre doch überall der Besitz noch ein wenn auch uneingestandenes Superadditum darstellt – sogar dem Erfolg nach höhere „Ehre“ verleihen könnte[,] wie sie die ständischen Interessenten kraft ihrer Lebensführung für sich prätendieren. Die Interessenten jeder ständischen Gliederung reagieren daher mit spezifischer Schärfe gerade gegen die Prätensionen des reinen ökonomischen Erwerbs als solchen und meist dann um so schärfer, je bedrohter sie sich fühlen: die re[267]spektvolle Behandlung des Bauern etwa bei Calderon,
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[267] Gemeint ist wohl Calderóns Charakterschauspiel „El alcalde de Zalamea“ (Der Richter von Zalamea). Dort steht die Figur des Pedro Crespo im Vordergrund, der als reich gewordener Bauer zum Alkalden (Dorfschulzen) avanciert und seine bäuerlichen Werte zunehmend selbstbewußt vertritt. Vgl. Schaeffer, Adolf, Geschichte des spanischen Nationaldramas, Band 2: Die Periode Calderón’s. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1890, S. 36 f.
im Gegensatz zu der gleichzeitigen ostensiblen Verachtung der „Kanaille“ bei Shakespeare[,]
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Shakespeare läßt Bauern, Diener oder Leute niederen Standes – von Weber hier als „Kanaille“ bezeichnet – zumeist als ungeschickte, linkische oder unansehnliche Personen auftreten, die dem höfischen Spott preisgegeben werden, so besonders in dem Drama „Henry VI.“ Diese These vertrat in der zeitgenössischen Literatur beispielsweise Crosby, Ernest, Shakespeare’s Attitude Toward the Working Classes. – Syracuse/New York: Mason Press [1900], S. 3 ff.
zeigt diese Unterschiede des Reagierens einer festgefügten, gegenüber einer ökonomisch ins Wanken geratenen ständischen Gliederung und ist Ausdruck eines überall wiederkehrenden Sachverhalts. Die ständisch privilegierten Gruppen akzeptierten eben deshalb den „Parvenu“ niemals persönlich wirklich vorbehaltlos – mag seine Lebensführung sich der ihrigen noch so völlig angepaßt haben –, sondern erst seine Nachfahren, welche in den Standeskonventionen ihrer Schicht erzogen sind und die ständische Ehre nie durch eigene Erwerbsarbeit befleckt haben. –
Als Wirkung ständischer Gliederung läßt sich demgemäß ganz allgemein nur ein allerdings sehr wichtiges Moment feststellen: die Hemmung der freien Marktentwicklung. Zunächst für diejenigen Güter, welche die Stände durch Monopolisierung dem freien Verkehr direkt entziehen, es sei rechtlich oder konventionell, wie z. B. das ererbte Gut in vielen hellenischen Städten der spezifisch ständischen Epoche
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Gemeint ist die Zeit des sogenannten „Stadtfeudalismus“ in der Frühzeit des hellenischen Altertums (ca. 11.–7. Jahrhundert v. Chr.), in der die Erbgüter (kleroi) – nach Webers Auffassung – aufgrund von Konventionen, aber nicht immer aus rechtlichen Gründen unveräußerlich waren. Ausnahmen davon bildeten Elis und Theben. Damit richtete sich Weber gegen die u. a. von Martin Wilbrandt und Fustel de Coulanges vertretene These, daß die Mobilisierung des Bodens erst mit den solonischen Reformen (594/3 v. Chr.) eingesetzt habe. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 104, 114, und Meyer, Eduard, Geschichte des Alterthums, Band 2: Geschichte des Abendlandes bis auf die Perserkriege. – Stuttgart: J. G. Cotta 1893, S. 297 ff.
und (wie die alte Entmündigungsformel für Verschwender zeigt) ursprünglich auch in Rom,
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Die Formel aus der XII-Tafelzeit lautete: „Quando tibi bona paterna avitaque nequitia tua disperdis liberosque tuos ad egestatem peducis, ob eam rem tibi aere commercioque interdico.“ Sie entmündigte den Verschwender eines Erbgutes („bona paterna avitaque“), unterstellte ihn einem Kurator und schränkte seine Geschäftsfähigkeit ein. Vgl. Kaser, Max, Das Römische Privatrecht, 1. Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und [268]klassische Recht (Handbuch der Altertumswissenschaft, 3. Teil, Band 3, 1. Abschn.), 2., neubearb. Aufl. – München: C. H. Beck 1971, S. 85, dort auch das Zitat; vgl. auch MWG I/2, S. 159, Anm. 72.
ebenso die Rittergü[268]ter, Bauerngüter, Priestergüter und vor allem die Kundschaft eines zünftigen Gewerbes oder Gildehandels. Der Markt wird eingeschränkt, die Macht des nackten Besitzes rein als solchen, welche der „Klassenbildung“ den Stempel aufdrückt, zurückgedrängt. Die Wirkungen davon können die allerverschiedensten sein und liegen natürlich keineswegs etwa notwendig in der Richtung einer Abschwächung der Kontraste der ökonomischen Situation; oft im Gegenteil. Jedenfalls aber ist von wirklich freier Marktkonkurrenz im heutigen Sinn überall da keine Rede, wo ständische Gliederungen eine Gemeinschaft so stark durchziehen, wie dies in allen politischen Gemeinschaften der Antike und des Mittelalters der Fall war. Aber eher noch weittragender als diese direkte Aussperrung gewisser Güter vom Markt ist der aus der erwähnten
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Siehe oben, S. 267.
Gegensätzlichkeit der ständischen gegen die rein ökonomische Ordnung folgende Umstand, daß der ständische Ehrbegriff in den meisten Fällen gerade das Spezifische des Markts: das Feilschen, überhaupt perhorresziert, sowohl unter Standesgenossen, wie zuweilen für Mitglieder eines Standes überhaupt, und daß es daher überall Stände, [A 639]und zwar meist die einflußreichsten, gibt, für welche fast jede Art von offener Beteiligung am Erwerb schlechthin als ein Makel gilt.
Man könnte also, mit etwas zu starker Vereinfachung, sagen: „Klassen“ gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, „Stände“ nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von „Lebensführung“. Auch ein „Berufsstand“ ist „Stand“, d. h. prätendiert mit Erfolg soziale „Ehre“ normalerweise erst kraft der, eventuell durch den Beruf bedingten, spezifischen „Lebensführung“. Die Unterschiede vermischen sich freilich oft, und gerade die nach ihrer „Ehre“ am strengsten geschiedenen ständischen Gemeinschaften: die indischen Kasten, zeigen heute – allerdings innerhalb bestimmter, sehr fester Schranken – ein relativ hohes Maß von Indifferenz gegenüber dem „Erwerb“, der namentlich seitens der Brahmanen in der allerverschiedensten Form gesucht wird.
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Die Erwerbsmöglichkeiten der vier alten indischen Kasten – der Brahmanen (Priester, Gelehrte), Kṣatriya (Adel, Krieger), Vaiśya (Bauern, Händler, Gewerbetreibende) und [269]Śūdra (Knechte) – waren durch strenge Ritual- und Reinheitsvorschriften beschränkt. Die Brahmanen übten dagegen traditionell viele Berufe aus, sofern sie nicht zur Verunreinigung führten. Sie lebten vor allem von Geschenken für die von ihnen vollzogenen Opferhandlungen. Zu Webers Zeit versuchten sie, die Auslegung der Reinheitsvorschriften und die Entscheidung über die Kastenzugehörigkeit zu monopolisieren und daraus einen materiellen Gewinn zu erzielen. Vgl. Pischel, Richard und Lüders, E[lse], Kasten, in: HdStW3, Band 5, 1910, S. 798–804, und Max Webers spätere Ausführungen in MWG I/20, S. 68, 189 et passim.
[269]Über die allgemeinen ökonomischen Bedingungen des Vorherrschens „ständischer“ Gliederung läßt sich im Zusammenhang mit dem eben Festgestellten ganz allgemein nur sagen: daß eine gewisse (relative) Stabilität der Grundlagen von Gütererwerb und Güterverteilung sie begünstigt, während jede technisch-ökonomische Erschütterung und Umwälzung sie bedroht und die „Klassenlage“ in den Vordergrund schiebt. Zeitalter und Länder vorwiegender Bedeutung der nackten Klassenlage sind der Regel nach technisch-ökonomische Umwälzungszeiten, während jede Verlangsamung der ökonomischen Umschichtungsprozesse alsbald zum Aufwachsen „ständischer“ Bildungen führt und die soziale „Ehre“ wieder in ihrer Bedeutung restituiert. –
Während die „Klassen“ in der „Wirtschaftsordnung“, die „Stände“ in der „sozialen Ordnung“, also in der Sphäre der Verteilung der „Ehre“, ihre eigentliche Heimat haben und von hier aus einander gegenseitig und die Rechtsordnung beeinflussen und wiederum durch sie beeinflußt werden, sind „Parteien“ primär in der Sphäre der „Macht“ zu Hause. Ihr Handeln ist auf soziale „Macht“, und das heißt: Einfluß auf ein Gemeinschaftshandeln gleichviel welchen Inhalts ausgerichtet: es kann Parteien prinzipiell in einem geselligen „Klub“ ebensogut geben wie in einem „Staat“. Das „parteimäßige“ Gemeinschaftshandeln enthält, im Gegensatz zu dem von „Klassen“ und „Ständen“, bei denen dies nicht notwendig der Fall ist, stets eine Vergesellschaftung. Denn es ist stets auf ein planvoll erstrebtes Ziel, sei es ein „sachliches“: die Durchsetzung eines Programms um ideeller oder materieller Zwecke willen, sei es ein „persönliches“: Pfründen, Macht und, als Folge davon, Ehre für ihre Führer und Anhänger oder, und zwar gewöhnlich, auf dies alles zugleich gerichtet. Sie sind daher auch möglich nur innerhalb von Gemeinschaften, welche ihrerseits irgendwie vergesellschaftet sind, also irgendwelche rationale Ordnung und einen Apparat von [270]Personen besitzen, welche sich zu deren Durchführung bereit halten. Denn eben diesen Apparat zu beeinflussen und womöglich aus Parteianhängern zusammenzusetzen[,] ist Ziel der Parteien. Sie können im Einzelfall durch „Klassenlage“ oder „ständische Lage“ bedingte Interessen vertreten und ihre Anhängerschaft entsprechend rekrutieren. Aber sie brauchen weder reine „Klassen“- noch rein „ständische“ Parteien zu sein und sind es meist nur zum Teil, oft gar nicht. Sie können ephemere oder perennierende Gebilde darstellen, und ihre Mittel zur Erlangung der Macht können die allerverschiedensten sein, von nackter Gewalt jeder Art bis zum Werben um Wahlstimmen mit groben oder feinen Mitteln: Geld, sozialem Einfluß, Macht der Rede, Suggestion und plumper Übertölpelung, und bis zur mehr groben oder mehr kunstvollen Taktik der Obstruktion innerhalb parlamentarischer Körperschaften. Ihre soziologische Struktur ist notwendig grundverschieden je nach derjenigen des Gemeinschaftshandelns,
m
[270]A: Gemeinschaftshandeln,
um dessen Beeinflussung sie kämpfen, je nachdem die Gemeinschaft z. B. ständisch oder klassenmäßig gegliedert ist oder nicht, und vor allem je nach der Struktur der „Herrschaft“ innerhalb derselben. Denn um deren Eroberung handelt [A 640]es sich ja für ihre Führer normalerweise. Sie sind, in dem allgemeinen Begriff, den wir hier festhalten, nicht erst Erzeugnisse spezifisch moderner Herrschaftsformen: auch die antiken und mittelalterlichen Parteien wollen wir als solche bezeichnen, trotz ihrer von den modernen so grundverschiedenen Struktur. Aber allerdings läßt sich infolge dieser Strukturunterschiede der Herrschaft auch über die Struktur der Partei, die stets ein um Herrschaft kämpfendes Gebilde ist und daher selbst, oft sehr straff, „herrschaftlich“ organisiert zu sein pflegt, nichts ohne Erörterung der Strukturformen der sozialen Herrschaft überhaupt aussagen. Diesem zentralen Phänomen alles Sozialen wenden wir uns daher jetzt zu. –
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[270] Der Bezug ist unklar. Das Kapitel „Herrschaft“, WuG1, S. 603–612 (MWG I/22-4), und die Untersuchung der Herrschaftsformen, WuG1, S. 650 ff. (MWG I/22-4), behandeln die politische und nicht die soziale Herrschaft. Möglicherweise handelt es sich um einen Einschub der Erstherausgeber.
Vorher ist über die „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“ nur noch im allgemeinen zu sagen: Daraus, daß sie notwendig eine sie [271]umgreifende Vergesellschaftung, speziell ein politisches Gemeinschaftshandeln, innerhalb deren sie ihr Wesen treiben, voraussetzen, ist nicht gesagt, daß sie selbst an die Grenzen je einer einzelnen politischen Gemeinschaft gebunden wären. Im Gegenteil ist es von jeher an der Tagesordnung gewesen, von der Interessensolidarität der Oligarchen und Demokraten in Hellas,
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[271] Im griechischen Altertum suchten die Parteien der Stadtstaaten nach auswärtigen Verbündeten, so war insbesondere das 5. Jahrhundert v. Chr. durch den Gegensatz Athen – Sparta geprägt, wobei Athen als Vorkämpferin für Demokratie und einen zentralistischen Großstaat galt, Sparta dagegen für Oligarchie und Partikularismus stand. Daß die Parteigegensätze die einzelnen Staatswesen zu zerstören drohten, bemerkten u. a. Platon, Politik 4, 422e und Aristoteles, Politik 5, 1310a.
der Guelfen und Ghibellinen im Mittelalter,
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Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert kämpften die Parteien der Guelfen und Ghibellinen in den ober- und mittelitalienischen Städten um die Herrschaft. Die guelfische „Volkspartei“ vertrat eine föderale Struktur und weitgehende Autonomie, mit dem Papst an der Spitze, die ghibellinische Adelspartei dagegen eine umfassende „Königsherrschaft“.
der calvinistischen Partei in der Zeit der religiösen Kämpfe
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Unterstützung erhielt die calvinistische Partei insbesondere durch die Übertritte der beiden Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz (1546) und Johann Sigismund von Brandenburg (1613).
bis zur Solidarität der Grundbesitzer (internationaler Agrarierkongreß),
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Der erste internationale Agrarkongreß fand 1889 anläßlich der Weltausstellung in Paris statt und trat in unregelmäßigen Abständen bis in die 1930er Jahre zusammen. Organisiert wurde er jeweils von einem nationalen Kongreßbüro, oft unter Einbeziehung des Landwirtschaftsministers des gastgebenden Landes. Kongreßteilnehmer waren in- und ausländische Regierungsvertreter, Abgeordnete der agrarischen Verbände, Grund- und Großgrundbesitzer sowie Vertreter von Wissenschaft und Presse. Politisch vertrat der Kongreß – gerade in der Anfangszeit – einen protektionistischen Kurs, aber auch die Überzeugung, daß sich im Zeitalter des Welthandels landwirtschaftliche Probleme nicht mehr durch nationale Alleingänge lösen lassen. Vgl. Congrès International d’agriculture, tenu à Budapest du 17 au 20 septembre 1896, Comtes-Rendus. – Budapest: Légrády testvérek 1897, S. 63–75.
Fürsten (heilige Allianz,
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Die „heilige Allianz“ wurde durch die Absichtserklärung der Monarchen von Rußland, Österreich-Ungarn und Preußen am 26. September 1815 als ein Fürstenbund auf christlich-konservativer Grundlage gegründet. Während der Restaurationszeit verhinderte er die Entstehung freiheitlicher Institutionen.
Karlsbader Beschlüsse
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Im August 1819 erarbeiteten konservative Vertreter von zehn deutschen Staaten in Karlsbad vier Gesetze, die sich gegen die liberale und nationale Bewegung in Deutschland richteten und die am 20. September 1819 von der Bundesversammlung angenommen wurden. Das Universitätsgesetz schränkte die Autonomie der Universitäten erheblich ein, ermöglichte die Entlassung von Professoren aus politischen Gründen und unterstellte die Burschenschaften strenger staatlicher Kontrolle. Das Pressegesetz führte die Vorzensur für Zeitungen und die Nachzensur für Bücher ein. Darüber hinaus wurde eine zentrale Untersuchungskommission des Bundes geschaffen, die revolutionäre Umtriebe aufdecken sollte. Schließlich wurde dem Bund durch die „Exekutionsordnung“ die Möglichkeit [272]eingeräumt, gegen Bundesstaaten vorzugehen, die ihre Bundespflichten versäumten, und bei revolutionären Bewegungen auch militärisch einzuschreiten.
), sozialistischen Arbei[272]ter,
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Im September 1864 schlossen sich sozialistische Gruppen aus 13 Ländern zur Internationalen Arbeiterassoziation, der sogenannten Ersten Internationalen, zusammen. Nach deren Auflösung 1876 gründete sich 1889 die marxistisch ausgerichtete Zweite Internationale, der sozialistische Parteien aus 20 Ländern angehörten. Sie existierte bis zum Ersten Weltkrieg.
Konservativen (Sehnsucht der preußischen Konservativen nach russischer Intervention 1850),
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An anderer Stelle bezieht sich Weber in diesem Zusammenhang explizit auf einen Artikel der „Kreuzzeitung“, der 1850 erschienen ist. Vgl. oben, S. 245, Anm. 44.
daß die Vergesellschaftung, und zwar auch eine auf gemeinsamen Gebrauch von militärischer Gewalt abzielende Vergesellschaftung, über die Grenzen der politischen Verbände hinausgreift. Nur ist ihr Ziel dabei nicht notwendig die Herstellung einer neuen internationalen, politischen, das heißt aber: Gebietsherrschaft, sondern meist die Beeinflussung der bestehenden.