[114][A 194] [Hausgemeinschaften]a[114]A: Kapitel II. Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. In A folgt die Überschrift: § 1. Die Hausgemeinschaft.
[114]A: Kapitel II. Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. In A folgt die Überschrift: § 1. Die Hausgemeinschaft.
Die Erörterung der speziellen, oft höchst verwickelten Wirkungen der Bedarfsdeckung der Gemeinschaften gehört nicht in diese allgemeine, auf alles einzelne nur exemplifizierende Betrachtung.
1
[114] Vgl. den Text „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, oben, S. 95–107.
Wir wenden uns vielmehr, unter Verzicht auf jede systematische Klassifikation der einzelnen Gemeinschaftsarten nach Struktur, Inhalt und Mitteln des Gemeinschaftshandelns – welche zu den Aufgaben der allgemeinen Soziologie gehört
b
– zunächst einer kurzen Feststellung des Wesens der für unsere Betrachtung wichtigsten Gemeinschaftsarten zu. An dieser Stelle ist dabei nicht die Beziehung der Wirtschaft zu den einzelnen Kulturinhalten (Literatur, Kunst, Wissenschaft usw.), sondern lediglich ihre Beziehung zur „Gesellschaft“, das heißt in diesem Fall: den allgemeinen Strukturformen menschlicher Gemeinschaften zu erörtern. Inhaltliche Richtungen des Gemeinschaftshandelns kommen daher nur soweit in Betracht, als sie aus sich heraus spezifisch geartete Strukturformen desselben erzeugen, welche zugleich ökonomisch relevant sind. Die dadurch gegebene Grenze ist zweifellos durchaus flüssig, bedeutet aber unter allen Umständen: daß nur einige sehr universelle Arten von Gemeinschaften behandelt werden. Dies geschieht im folgenden zunächst nur in allgemeiner Charakteristik, während – wie wir sehen werden – ihre Entwicklungsformen in einigermaßen präziser Art erst später im Zusammenhang mit der Kategorie der „Herrschaft“ besprochen werden können.In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. Teil I dieses Werkes.
2
Siehe WuG1, S. 681 f. (MWG I/22-4).
Als besonders „urwüchsig“ erscheinen uns heute die durch sexuelle Dauergemeinschaft gestifteten Beziehungen zwischen Vater, Mutter und Kindern. Allein losgelöst von der ökonomischen Versorgungsgemeinschaft, dem gemeinsamen „Haushalt“, welcher doch wenigstens begrifflich davon getrennt zu halten ist, sind [115]jedenfalls die rein sexuell zwischen Mann und Weib und die nur physiologisch begründeten Beziehungen zwischen Vater und Kindern in ihrem Bestande gänzlich labil und problematisch; die Vaterbeziehung fehlt ohne stabile Versorgungsgemeinschaft zwischen Vater und Mutter überhaupt gänzlich und ist selbst da, wo jene besteht, nicht immer von großer Tragweite. „Urwüchsig“ ist von den auf dem Boden des Geschlechtsverkehrs erwachsenen Gemeinschaftsbeziehungen nur die zwischen Mutter und Kind und zwar, weil sie eine Versorgungsgemeinschaft ist, deren naturgegebene Dauer die Zeit bis zur Fähigkeit des Kindes zur selbständigen ausreichenden Nahrungssuche umfaßt. Demnächst
c
die Aufzuchtsgemeinschaft der Geschwister. „Milchgenossen“ (ὁμογάλαꭓτες)[115]Lies: Dem am nächsten
3
ist daher ein spezifischer Name für die Nächstversippten. Auch hier ist nicht die Naturtatsache: der gemeinsame Mutterleib, sondern die ökonomische Versorgungsgemeinschaft entscheidend. Gemeinschaftsbeziehungen aller Art kreuzen erst recht die sexuellen und physiologischen [A 195]Beziehungen, sobald es sich um die Entstehung der „Familie“ als eines spezifischen sozialen Gebildes handelt. Der historisch durchaus vieldeutige Begriff ist nur brauchbar, wenn im Einzelfall sein Sinn klargestellt ist. Darüber später.[115] Der Begriff (TI. homogalaktes) bezeichnet als Milchbruder alle, die mit der Milch der gleichen Amme aufgezogen worden sind.
4
Wenn die „Muttergruppe“ (Mutter und Kinder) Siehe unten, S. 117 f., 128, 133 f., 139 f.
5
unvermeidlich als die primitivste im heutigen Sinn „familienartige“ Gemeinschaftsbildung angesehen werden muß, so ist damit in keiner Art gesagt, sondern vielmehr direkt undenkbar: daß es je eine menschliche Existenzform gegeben habe, welche an Gemeinschaftsbildungen nichts als nebeneinanderstehende Muttergruppen gekannt hätte. Stets, soviel wir wissen, stehen bei Vorwalten der Muttergruppe als „Familienform“ daneben die Vergemeinschaftungen der Männer unter sich: ökonomische und militärische – und solche der Männer mit den Frauen: sexueller und ökonomischer Art. Als eine normale, aber offensichtlich sekundäre Gemeinschaftsform kommt die „reine“ [116]Muttergruppe grade da nicht selten vor, wo das Alltagsdasein der Männer zunächst zu militärischen, dann auch zu andern Zwecken in der Dauergemeinschaft des „Männerhauses“ Bezeichnung für Familienverhältnisse, in denen die Mutter mit ihren Kindern räumlich vom Vater getrennt lebt, ohne daß damit besondere rechtliche Bestimmungen einhergehen. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 25.
6
kaserniert ist, wie dies bei vielen Völkern der verschiedensten Gebiete als einer spezifischen Form militaristischer Entwicklung, also sekundär bedingt, sich findet. [116] Dies bezieht sich auf Schurtz, Altersklassen, S. 203. Dieser definiert bei Naturvölkern „das typische Männer- oder Junggesellenhaus […] als ein Gebäude […], in dem sich die mannbar gewordenen, aber noch nicht verheirateten Jünglinge aufhalten“, das als Arbeits-, Eß- und Schlafplatz dient, der nur von unverheirateten Frauen betreten werden darf, und eine bestimmte Altersklasse von der Gesellschaft ausschließt. Andere Formen des Männerhauses dienen als Wohnstätten aller Krieger oder als Ratsplätze, zu denen Frauen keinen Zutritt haben. Ebd., S. 205–209; vgl. auch unten, S. 137.
Von einer „Ehe“ kann man im Sinne einer bloßen Kombination einer sexuellen mit einer Aufzuchtsgemeinschaft von Vater, Mutter, Kindern begrifflich überhaupt nicht reden. Denn der Begriff der „Ehe“ selbst ist nur durch Bezugnahme auf noch andere als jene Gemeinschaften zu definieren. „Ehe“ entsteht als gesellschaftliche Institution überall erst durch den Gegensatz zu anderen, nicht als Ehe angesehenen sexuellen Beziehungen. Denn ihr Bestehen bedeutet: 1. daß das Entstehen einer Beziehung gegen den Willen: entweder der Sippe einer Frau oder derjenigen des schon in deren Besitz befindlichen Mannes, also von einem Verband, – in ältester Zeit: der Sippe entweder des Mannes oder der Frau oder beider, nicht geduldet und eventuell gerächt wird, – namentlich aber 2. daß nur die Abkömmlinge bestimmter sexueller Dauergemeinschaften im Kreise einer umfassenderen ökonomischen, politischen, religiösen oder sonstigen Gemeinschaft, welcher ein Elternteil (oder jeder von beiden) angehört, kraft ihrer Abstammung als geborene gleichstehende Verbandsgenossen (Hausgenossen, Markgenossen, Sippegenossen, politische Genossen, Standesgenossen, Kultgenossen) behandelt werden, Abkömmlinge eines Elternteils aus anderen Sexualbeziehungen dagegen nicht. Einen andern Sinn hat – was wohl zu beachten ist – die Unterscheidung von „ehelich“ und „unehelich“ überhaupt nicht. Welche Voraussetzungen die „Ehelichkeit“ hat: welche Klassen von Personen in jenem Sinn gültige Dauergemeinschaften nicht miteinander eingehen können, welche Zustimmungen welcher
d
Sippen- oder noch anderer[116]A: Zustimmungen, welche
e
Verbands[117]genossen für die Gültigkeit erfordert werden, welche Formen erfüllt werden müssen, dies alles regeln die als heilig geltenden Traditionen oder gesatzte Ordnungen jener anderen Verbände. Die Ehe trägt also ihre spezifische Qualität stets von solchen Ordnungen anderer als bloßer Sexual- und Aufzuchtsgemeinschaften zu Lehen. Die Wiedergabe der ethnographisch ungemein wichtigen Entwicklung dieser Ordnungen ist hier nicht beabsichtigt, sie gehen uns nur in ihren wichtigsten ökonomischen Beziehungen an. A: andere
Die sexuellen und die durch Gemeinsamkeit beider Eltern oder eines von ihnen zwischen den Kindern gestifteten Beziehungen gewinnen ihre normale Bedeutung für die Erzeugung eines Gemeinschaftshandelns nur dadurch, daß sie die normalen, wenn auch nicht die einzigen, Grundlagen eines spezifisch ökonomischen Verbandes werden: der Hausgemeinschaft.
Die Hausgemeinschaft ist nichts schlechthin Primitives. Sie setzt nicht ein „Haus“ in der heutigen Bedeutung, wohl aber einen gewissen Grad planmäßiger Ackerfruchtgewinnung voraus. Unter den Bedingungen rein okkupatorischer Nahrungssuche scheint sie nicht existiert zu haben. Aber auch auf der Grundlage eines technisch schon weit entwickelten Ackerbaus ist die Hausgemeinschaft oft so gestaltet, daß sie als eine sekundäre Bildung gegenüber einem vorangehenden Zustand [A 196]erscheinen kann, welcher einerseits den umfassenden Gemeinschaften der Sippe und des Nachbarverbandes mehr Gewalt, andrerseits dem Einzelnen mehr Ungebundenheit gegenüber der Gemeinschaft von Eltern, Kindern, Enkeln, Geschwistern zuteilte. Namentlich die, gerade bei geringer gesellschaftlicher Differenzierung, sehr häufige fast völlige Trennung der Güter und des Erwerbes der Frau von dem des Mannes scheint dahin zu weisen, ebenso die zuweilen vorkommende Sitte, daß Frau und Mann prinzipiell mit dem Rücken gegeneinander gekehrt oder ganz getrennt essen und daß auch innerhalb des politischen Verbandes selbständige Frauenorganisationen mit weiblichen Häuptlingen neben der Männerorganisation sich finden. Indessen muß man sich hüten, daraus auf Verhältnisse eines individualistischen „Urzustandes“ zu schließen. Denn sehr oft handelt es sich um sekundäre, durch militärorganisatorisch bedingte Aushäusigkeit des Mannes während seiner „Militärdienstzeit“ entstandene, daher zu einer männerlosen Haushaltführung der Frauen und Mütter führende Zustände, wie sie in Resten noch in der, auf Aushäu[118]sigkeit des Mannes und Gütertrennung ruhenden, Familienstruktur der Spartiaten
7
erhalten war. Die Hausgemeinschaft ist nicht universell gleich umfassend. Aber sie stellt dennoch die universell verbreitetste „Wirtschaftsgemeinschaft“ dar und umfaßt ein sehr kontinuierliches und intensives Gemeinschaftshandeln. Sie ist die urwüchsige Grundlage der Pietät und Autorität, der Grundlage zahlreicher menschlicher Gemeinschaften außerhalb ihrer. Der „Autorität“ 1. des Stärkeren, 2. des Erfahreneren, also: der Männer gegen Frauen und Kinder, der Wehrhaften und Arbeitsfähigen gegenüber den dazu Unfähigen, der Erwachsenen gegen die Kinder, der Alten gegenüber den Jungen. Der „Pietät“ sowohl der Autoritätsunterworfenen gegen die Autoritätsträger wie untereinander. Als Ahnenpietät geht sie in die religiösen Beziehungen, als Pietät des Patrimonialbeamten, Gefolgsmanns, Vasallen, in diese Beziehungen über, die ursprünglich häuslichen Charakter haben. Hausgemeinschaft bedeutet ökonomisch und persönlich in ihrer „reinen“ – wie schon bemerkt,[118] In Sparta gehörte wegen des dortigen Erbrechts ein Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche Frauen, die ihren Besitz auch selbst verwalteten. Die vergleichsweise selbständige Stellung der spartanischen Frauen wurde noch verstärkt durch die häufige Abwesenheit der Männer in Kriegen sowie deren Kasernierung in Gemeinschaftshäusern in Friedenszeiten, in denen sie seit frühester Jugend lebten, um dort eine einheitliche Erziehung zu erhalten. Vgl. Aristoteles, Politik 2, 1269a–1270a; Plutarch, Lykurgos 16; vgl. auch unten, S. 137, Anm. 38.
8
vielleicht nicht immer „primitiven“ – Ausprägung: Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschaft der Alltagsgüter (Hauskommunismus) nach innen in ungebrochener Einheit auf der Basis einer streng persönlichen Pietätsbeziehung. Das Solidaritätsprinzip nach außen findet sich rein entwickelt noch in den periodisch kontraktlich regulierten, kapitalistische Unternehmungen betreibenden, Hausgemeinschaften der mittelalterlichen, und zwar gerade der kapitalistisch fortgeschrittensten, nord- und mittelitalienischen Städte: die solidarische Haftung gegenüber den Gläubigern mit Besitz und Person (unter Umständen auch kriminell) trifft alle Hausangehörigen, Siehe oben, S. 117.
9
[119]einschließlich zuweilen selbst der kontraktlich in die Gemeinschaft aufgenommenen Kommis und Lehrlinge. Dies ist die historische Quelle der für die Entwicklung moderner kapitalistischer Rechtsformen wichtigen Solidarhaftung der Inhaber einer offenen Handelsgesellschaft für die Schulden der Firma. – Etwas unserem „Erbrecht“ Entsprechendes kennt der alte Hauskommunismus nicht. An dessen Stelle steht vielmehr der einfache Gedanke: daß die Hausgemeinschaft „unsterblich“ ist. Scheidet eins ihrer Glieder aus durch Tod, Ausstoßung (wegen religiös unsühnbaren Frevels), Überlassung in eine andere Hausgemeinschaft (Adoption), Entlassung („emancipatio“) Ausgehend von der Haftungspflicht des Vaters für die Familienmitglieder (Sippenhaftung) entwickelte sich in Norditalien ein Haftungssystem, bei dem eine Firma mit dem gesamten gemeinsamen Vermögen für die Schulden eines Teilhabers aufzukommen hatte. Seit dem 14. Jahrhundert rückte die persönliche Haftung der Firmenmitglieder wegen der zunehmenden Höhe der Kreditgeschäfte stärker in den Vordergrund, Durch eine Verschuldung eines Teilhabers wurden alle zu Schuldnern und mußten mit ihrem Vermögen haften. Vgl. Weber, Handelsgesellschaften, S. 60–66.
10
oder freiwilligen Austritt (wo dieser zulässig ist), da ist bei „reinem“ Typus von keiner Abschichtung eines „Anteils“ die Rede. Sondern der lebend Ausscheidende läßt durch sein Ausscheiden eben seinen Anteil im Stich, und im Todesfall geht die Kommunionwirtschaft der Überlebenden einfach weiter. Dergestalt ist noch bis heute die Schweizer „Gemeinderschaft“[119] Zur emancipatio vgl. unten, S. 150, Anm. 64.
11
konstituiert. – Der hauskommunistische Grundsatz, daß nicht „abgerechnet“ wird, sondern daß der Einzelne nach seinen Kräften beiträgt und nach seinen Bedürfnissen genießt (soweit der Gütervorrat reicht), lebt noch heute als wesentlichste Eigentümlichkeit der Hausgemeinschaft unserer „Familie“ fort, freilich meist nur als ein auf den Haushaltskonsum beschränkter Rest. Begriff aus dem Zivilrecht einiger Schweizer Kantone, der eine vertraulich vereinbarte Vermögensgemeinschaft zwischen Geschwistern bezeichnet. Im Todesfall eines Mitgliedes (Gemeinder) entscheiden die Kinder, der Gemeinderschaft beizutreten oder ihren Erbteil herauszulösen. Stirbt ein Gemeinder ohne Nachkommen, fällt sein Anteil an die Gemeinderschaft, wobei andere Erbansprüche nicht berücksichtigt werden. Vgl. Huber, Eugen, System und Geschichte des Schweizerischen Privatrechtes, Band 3. – Basel: C. Detloff’s Buchhandlung 1889, S. 758–765; dass., Band 4. – Basel: R. Reich 1893, S. 251–256.
[A 197]Dem reinen Typus ist Gemeinschaft der Wohnstätte essentiell. Vergrößerung der Zahl zwang dann zur Teilung und Entstehung gesonderter Hausgemeinschaften. Doch konnte im Interesse des Zusammenhalts der Arbeitskräfte und des Besitzes der Mittelweg einer örtlichen Dezentralisation ohne Teilung eingeschlagen werden, mit der unvermeidlichen Folge einer Entstehung von irgendwelchen Sonderrechten für die einzelnen Sonderhaushalte. Eine solche Zerlegung kann bis zur völligen rechtlichen Trennung und [120]Selbständigkeit in der Leitung des Erwerbs getrieben werden und dabei dennoch ein überraschend großes Stück Hauskommunismus erhalten bleiben. Es kommt in Europa, besonders in den Alpengebieten vor, z. B. bei Schweizer Hoteliersfamilien, aber auch anderwärts gerade bei ganz großen, in Familien erblichen Welthandelsgeschäften, daß als Rest der, im äußeren Sinn des Wortes, völlig geschwundenen Hausgemeinschaft und Hausautorität gerade nur noch der Kommunismus des Risikos und Ertrages: das Zusammenwerfen des Gewinns und Verlustes sonst gänzlich selbständiger Geschäftsbetriebe weiterbesteht. Mir sind Verhältnisse von Welthäusern mit Millionenerträgnissen bekannt,
12
deren Kapitalien überwiegend, aber nicht einmal vollständig, Verwandten sehr verschiedenen Grades gehören und deren Geschäftsführung überwiegend, aber nicht ausschließlich, in den Händen von Familiengliedern liegt. Die einzelnen Betriebe arbeiten in ganz verschiedenen und wechselnden Branchen, haben ein ungemein verschieden großes Maß von Kapital, Arbeitsanspannung und höchst verschiedene Erträge. Dennoch aber wird der bilanzmäßige Jahresgewinn aller nach Abzug des üblichen Kapitalzinses einfach in einen Topf geworfen und nach verblüffend einfachen Teilungsschlüsseln (oft nach Köpfen) repartiert. Die Aufrechterhaltung des Hauskommunismus auf dieser Stufe geschieht um des gegenseitigen ökonomischen Rückhalts willen, der den Ausgleich von Kapitalbedarf und Kapitalüberschuß zwischen den Geschäften gewährleistet und so die Inanspruchnahme des Kredits Außenstehender erspart. Die „Rechenhaftigkeit“ hört also auf, sobald der Bilanzstrich überschritten ist, sie herrscht nur innerhalb des „Betriebes“, welcher den Gewinn erzeugt. Dort freilich unbedingt: ein noch so naher Verwandter, der, kapitallos, als Angestellter tätig ist, erhält nie mehr als jeder andere Kommis, denn hier handelt es sich um kalkulierte Betriebskosten, die zugunsten eines Einzelnen nicht ohne Unzufriedenheit der Anderen alteriert werden können. Unterhalb [121]des Bilanzstrichs aber beginnt für die glücklichen Beteiligten das Reich der „Gleichheit und Brüderlichkeit“. [120] Die folgenden Sachverhalte hat Max Weber in seiner Schrift, Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus, in; AfSSp. Band 30, 1910, S. 176–202, hier: S. 198 f., Fn. 30 (MWG I/9) [[MWG I/9, S. 573–619, hier: S. 611–613, Fn. 30]], wesentlich detaillierter dargestellt, ohne jedoch die entsprechende Firma zu benennen. Möglicherweise handelt es sich um das Handelshaus der Familie Bunge, zu dem Weber verwandtschaftliche Beziehungen hatte. Vgl. den Brief Max Webers an Marianne Weber vom 18. Aug. 1907, MWG II/5, S. 362 f. Zu den Handelsunternehmungen der Familie Bunge vgl. Roth, Max Webers Familiengeschichte (wie oben, S. 36, Anm. 2), S. 88 ff.
f
[121] In A folgt die Zwischenüberschrift: § 2. Nachbarschaftsgemeinschaft, Wirtschaftsgemeinschaft und Gemeinde.
13
[121] Verkürzung der französischen Revolutionsparole „Liberté, égalité et fraternité“. Die Begriffe spielten in der gesamten Literatur der Aufklärung eine wesentliche Rolle und wurden in verschiedenen Zusammensetzungen verwendet, ohne daß sich die Erstverwendung konkret benennen ließe. Während der französischen Revolution wurden sie schnell zu einem allgemein bekannten Schlagwort, und die 3. Republik erklärte die Parole zu ihrer offiziellen Devise. Vgl. Heuvel, Gerd van den, Der Freiheitsbegriff der französischen Revolution. Studien zur Revolutionsideologie. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 214 ff.
Der Hausverband ist die Gemeinschaft, welche den regulären Güter- und Arbeitsbedarf des Alltages deckt. Wichtige Teile des außerordentlichen Bedarfs an Leistungen bei besonderen Gelegenheiten, akuten Notlagen und Gefährdungen, deckt unter den Verhältnissen agrarischer Eigenwirtschaft ein Gemeinschaftshandeln, welches über die einzelne Hausgemeinschaft hinausgreift: die Hilfe der „Nachbarschaft“. Wir wollen darunter nicht nur die „urwüchsige“ Form: die durch Nachbarschaft der ländlichen Siedelung, sondern ganz allgemein jede durch räumliche Nähe und dadurch gegebene chronische oder ephemere Gemeinsamkeit einer Interessenlage verstehen, wenn wir auch, und wo nichts näheres gesagt ist, a potiori die Nachbarschaft von nahe beieinander angesiedelten Hausgemeinschaften meinen wollen.
Die „Nachbarschaftsgemeinschaft“ kann dabei natürlich äußerlich, je nach der Art der Siedelung, um die es sich handelt: Einzelhöfe oder Dorf oder städtische Straßen oder „Mietskaserne“, sehr verschieden aussehen, und auch das Gemeinschaftshandeln, welches sie darstellt, kann sehr verschiedene Intensität haben und unter Umständen, speziell unter modernen städtischen Verhältnissen, zuweilen bis dicht an den Nullpunkt sinken. Obwohl das Maß von Gegenseitigkeitsleistungen und [A 198]Opferfähigkeit, welches noch heute zwischen den Insassen der Mietskasernen der Armenviertel oft genug heimisch ist, jeden in Erstaunen setzen kann, der zum erstenmal damit in Berührung tritt, so ist es doch klar, daß das Prinzip nicht nur der ephemeren Tramway- oder Eisenbahn- oder Ho[122]telgemeinsamkeit, sondern auch der perennierenden Mietshaus-Gemeinsamkeit im ganzen eher auf Innehaltung möglichster Distanz trotz (oder auch gerade wegen) der physischen Nähe als auf das Gegenteil gerichtet ist und nur in Fällen gemeinsamer Gefahr mit einiger Wahrscheinlichkeit auf ein gewisses Maß von Gemeinschaftshandeln gezählt werden kann. Warum dieser Sachverhalt gerade unter den modernen Lebensbedingungen als Folge einer durch diese geschaffenen spezifischen Richtung des „Würdegefühls“ besonders auffällig hervortritt, ist hier nicht zu erörtern. Vielmehr haben wir nur festzustellen, daß auch die stabilen Verhältnisse ländlicher Siedlungs-Nachbarschaft und zwar von jeher, die gleiche Zwiespältigkeit aufweisen: der einzelne Bauer ist weit davon entfernt, eine noch so wohlgemeinte Einmischung in seine Angelegenheiten zu wünschen. Das „Gemeinschaftshandeln“ ist nicht die Regel, sondern die, sei es auch typisch wiederkehrende, Ausnahme. Immer ist es weniger intensiv und namentlich diskontinuierlich im Vergleich mit demjenigen der Hausgemeinschaft, ganz abgesehen davon, daß es schon in der Umgrenzung der jeweils am Gemeinschaftshandeln Beteiligten weit labiler ist. Denn die Nachbarschaftsgemeinschaft ruht, allgemein gesprochen, noch auf der einfachen Tatsache der Nähe des faktischen kontinuierlichen Aufenthaltsortes. Innerhalb der ländlichen Eigenwirtschaft der Frühzeit ist das „Dorf“, eine Gruppe dicht zusammengesiedelter Hausgemeinschaften, der typische Nachbarschaftsverband. Die Nachbarschaft kann aber auch über die sonst festen Grenzen anderer, z. B. politischer Bildungen hin wirksam werden. Nachbarschaft bedeutet praktisch, zumal bei unentwickelter Verkehrstechnik, Aufeinanderangewiesensein in der Not. Der Nachbar ist der typische Nothelfer, und „Nachbarschaft“ daher Trägerin der „Brüderlichkeit“ in einem freilich durchaus nüchternen und unpathetischen, vorwiegend wirtschaftsethischen Sinne des Wortes. Formen
g
gegenseitiger Aushilfe nämlich in Fällen der Unzulänglichkeit der Mittel der eigenen Hausgemeinschaft durch „Bittleihe“, d. h. unentgeltliche Leihe von Gebrauchsgütern, zinsloses Darlehen von Verbrauchsgütern, unentgeltliche „Bittarbeit“, d. h. Arbeitsaushilfe im Fall besonders dringlichen Bedarfs[,] werden in ihrer[122]A: In der Form
h
Mitte ge[123]boren, aus dem urwüchsigen Grundprinzip der ganz unsentimentalen Volksethik der ganzen Welt heraus: „wie du mir, so ich dir“A: seiner
14
(was der römische Name „mutuum“ für das zinslose Darlehen hübsch andeutet). Denn jeder kann in die Lage kommen, der Nothilfe des anderen zu bedürfen. Wo ein Entgelt gewährt wird, besteht er – wie bei der „Bittarbeit“, in typischer Form bei der überall auf den Dörfern, z. B. auch noch unseres Ostens, verbreiteten Hausbaubeihilfe der Dorfnachbarn – im Regalieren der Bittarbeiter.[123] Verkürzte Form des Spruches Salomon 24,29: „Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun und einem jeglichen sein Tun vergelten.“
15
Wo ein Tausch stattfindet, gilt der Satz: „Unter Brüdern feilscht man nicht“, Im Zuge der Nachbarschaftshilfe stellten die Nachbarn auf Anfrage ihre Arbeitskraft ohne Entgelt zur Verfügung, in der Erwartung, im Bedarfsfall ebenfalls Hilfestellung zu erhalten. Ihr direkter Lohn bestand lediglich im Regalieren, d. h. in der Bewirtung während der Arbeitszeit. Daraus entwickelte sich unter gutsherrlichen Verhältnissen ein außerordentlicher Frondienst, den der Grundherr bei besonderen Gelegenheiten (Hausbau, Jagd) einforderte.
16
der das rationale „Marktprinzip“ für die Preisbestimmung ausschaltet. „Nachbarschaft“ gibt es nicht ausschließlich unter Gleichstehenden. Die praktisch so ungemein wichtige „Bittarbeit“ wird nicht nur dem ökonomisch Bedürftigen, sondern auch dem ökonomisch Prominenten und Übermächtigen freiwillig gewährt, als Erntebeihilfe zumal, deren grade der Besitzer großer Landstrecken am dringendsten bedarf. Man erwartet dafür vor allem Vertretung gemeinsamer Interessen gegen Bedrohung durch andere Mächtige, daneben unentgeltliche oder gegen die übliche Bittarbeitshilfe gewährte Leihe von überschüssigem Land (Bittleihe: „precarium“); Aushilfe aus seinen Vorräten in Hungersnot und andere karitative Leistungen, die er seinerseits gewährt, weil auch er immer wieder in die Lage kommt, auf den guten Willen seiner Umwelt angewiesen zu sein. Jene rein konventionelle Bittarbeit zugunsten der Honoratioren kann dann im weiteren Verlauf der Entwicklung Quelle einer herrschaftlichen Frohnwirtschaft, also eines patrimonialen Herrschaftsverhältnisses, werden, wenn die Macht des Herrn und die Unentbehrlichkeit seines Schutzes nach außen steigt und es ihm gelingt, [A 199]aus der „Sitte“ ein „Recht“ zu machen. Daß die Nachbarschaftsgemeinschaft die [124]typische Stätte der „Brüderlichkeit“ sei, bedeutet natürlich nicht etwa, daß unter Nachbarn der Regel nach ein „brüderliches“ Verhältnis herrsche. Im Gegenteil: wo immer das von der Volksethik postulierte Verhalten durch persönliche Feindschaft oder Interessenkonflikte gesprengt wird, pflegt die entstandene Gegnerschaft, gerade weil sie sich als im Gegensatz zu dem von der Volksethik Geforderten stehend weiß und zu rechtfertigen sucht und auch weil die persönlichen Beziehungen besonders enge und häufige sind, zu ganz besonders scharfem und nachhaltigem Grade sich zuzuspitzen. Als Zitat nicht nachgewiesen. Es handelt sich um eine sprichwörtliche Abwandlung der in der Bibel mehrfach aufgeführten Bestimmung, daß der Bruder nicht übervorteilt werden solle. Vgl. z. B. 3. Mose 25,14; 1. Thessaloniker 4,6.
Die Nachbarschaftsgemeinschaft kann ein amorphes, in dem Kreise der daran Beteiligten flüssiges, also „offenes“ und intermittierendes Gemeinschaftshandeln darstellen. Sie pflegt in ihrem Umfang nur dann feste Grenzen zu erhalten, wenn eine „geschlossene“ Vergesellschaftung stattfindet, und dies geschieht regelmäßig dann, wenn eine Nachbarschaft zur „Wirtschaftsgemeinschaft“ oder die Wirtschaft der Beteiligten regulierenden Gemeinschaft vergesellschaftet wird. Das erfolgt in der uns generell bekannten typischen Art
17
aus ökonomischen Gründen, wenn z. B. die Ausbeutung von Weide und Wald, weil sie knapp werden, „genossenschaftlich“ und das heißt: monopolistisch reguliert wird. Aber sie ist nicht notwendig Wirtschaftsgemeinschaft oder wirtschaftsregulierende Gemeinschaft, und wo sie es ist, in sehr verschiedenem Maße. Das nachbarschaftliche Gemeinschaftshandeln kann seine, das Verhalten der Beteiligten regulierende, Ordnung entweder selbst sich durch Vergesellschaftung setzen (wie die Ordnung des „Flurzwangs“) [124] Siehe oben, S. 79–81.
18
oder von Außenstehenden, Einzelnen oder Gemeinwesen, mit denen die Nachbarn als solche ökonomisch oder politisch vergesellschaftet sind, oktroyiert bekommen (z. B. Hausordnungen vom Mietshausbesitzer). Aber all das gehört nicht notwendig zu sei[125]nem Wesen. Nachbarschaftsgemeinschaft, Waldnutzungsordnungen von politischen Gemeinschaften, aber namentlich: Dorf, ökonomischer Gebietsverband (z. B.: Markgemeinschaft) und politischer Verband fallen auch unter den Verhältnissen der reinen Hauswirtschaft der Frühzeit nicht notwendig zusammen, sondern können sich sehr verschieden zueinander verhalten. Die ökonomischen Gebietsverbände können je nach den Objekten, die sie umfassen, sehr verschiedenen Umfang haben. Acker, Weide, Wald, Jagdgründe unterliegen oft der Verfügungsgewalt ganz verschiedener Gemeinschaften, die sich untereinander und mit dem politischen Verband kreuzen. Wo das Schwergewicht der Nahrungsgewinnung auf friedlicher Arbeit beruht, wird die Trägerin gemeinsamer Arbeit: die Hausgemeinschaft, wo auf speergewonnenem Besitz, der politische Verband Träger der Verfügungsgewalt sein und ebenso eher für extensiv genutzte Güter: Jagdgründe und Wald größerer Gemeinschaften als für Wiesen und Äcker. Ganz allgemein wirkt ferner mit: daß die einzelnen Kategorien von Landbesitz in sehr verschiedenen Stadien der Entwicklung im Verhältnis zum Bedarf knapp und also Gegenstand einer die Benutzung ordnenden Vergesellschaftung werden – der Wald kann noch „freies“ Gut sein, wenn Wiesen und ackerbares Land schon „wirtschaftliche“ Güter und in der Art ihrer Benutzung reguliert und „appropriiert“ sind. Daher können sehr verschiedene Gebietsverbände die Träger der Appropriation für jede dieser Arten von Land sein. Die klassische Dreifelder- oder Fruchtfolgewirtschaft setzt die Aufteilung der Flur in einzelne Felder voraus, um die Regeneration des Bodens als Brachland oder Viehweide zu ermöglichen. Da Wirtschaftswege in aller Regel fehlten, war die Gleichzeitigkeit des Pflügens, der Aussaat und der Ernte notwendig. In Süddeutschland bestand der Flurzwang bis ins 19. Jahrhundert fort. Vgl. Meitzen, August, Wanderungen, Anbau und Agrarrecht der Völker Europas nördlich der Alpen, 1. Abt.: Siedelung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen, Band 1. – Berlin: Wilhelm Hertz 1895, S. 70 f.; vgl. auch Weber, Max, Agrarpolitik, in: MWG I/4, S. 743–790, hier: S. 751.
Die Nachbarschaftsgemeinschaft ist die urwüchsige Grundlage der „Gemeinde“ – eines Gebildes, welches, wie später zu erörtern,
19
in vollem Sinn erst durch die Beziehung zu einem, eine Vielzahl von Nachbarschaften umgreifenden politischen Gemeinschaftshandeln gestiftet wird. Sie kann ferner, wenn sie ein „Gebiet“ beherrscht wie das „Dorf“, auch selbst die Basis für ein politisches Gemeinschaftshandeln darstellen und überhaupt, im Wege fortschreitender Vergesellschaftung, Tätigkeiten aller Art (von der Schulerziehung und der Übernahme religiöser Aufgaben bis zur systematischen Ansiedelung notwendiger Handwerker) in das Gemeinschaftshandeln einbeziehen oder von der politischen Gemeinschaft als Pflicht oktroyiert erhalten. Aber das ihrem generel[126]len Wesen nach eigene spezifische Ge[A 200]meinschaftshandeln ist nur jene nüchterne ökonomische „Brüderlichkeit“ in Notfällen mit ihren spezifischen Folgen. [125] Siehe WuG1 , S. 449 ff. (MWG I/22-3), WuG1, S. 691 (MWG I/22-4) sowie MWG I/22-5, S. 84 f., 108 f.
i
[126] In A folgt die Zwischenüberschrift: § 3. Die sexuellen Beziehungen in der Hausgemeinschaft.
Wir kehren nun zunächst zur Hausgemeinschaft, als dem urwüchsigsten nach außen „geschlossenen“ Gemeinschaftshandeln, zurück. Der typische Entwicklungsgang vom alten vollen Hauskommunismus aus ist der gerade umgekehrte gegenüber demjenigen von dem vorhin erwähnten Beispiel
20
der Erhaltung der Ertragsgemeinschaft trotz äußerer Trennung der Haushalte: innere Lockerung des Kommunismus, Fortschreiten also der „Schließung“ der Gemeinschaft auch nach innen bei Fortbestand der äußerlichen Einheit des Hauses. [126] Gemeint sind hier die „Verhältnisse von Welthäusern mit Millionenerträgnissen“; siehe oben, S. 120.
Die frühesten tiefgreifenden Abschwächungen der ungebrochenen kommunistischen Hausgewalt gehen nicht direkt von ökonomischen Motiven, sondern offenbar von der Entwicklung exklusiver sexueller Ansprüche der Hausteilhaber an die der gemeinsamen Hausautorität unterworfenen Frauen aus, die zu einer, gerade bei sonst wenig rationalisiertem Gemeinschaftshandeln[,] oft höchst kasuistischen, immer aber sehr streng innegehaltenen Regulierung der Geschlechtsverhältnisse geführt hat. Auch Sexualgewalten zwar finden sich gelegentlich „kommunistisch“ (polyandrisch). Aber wo sie vorkommen, stellen diese polyandrisch geteilten Rechte in allen bekannten Fällen nur einen relativen Kommunismus dar: einen nach außen exklusiven Mitbesitz eines bestimmt begrenzten Personenkreises (Brüder oder Insassen eines „Männerhauses“) kraft gemeinsamen Erwerbs einer Frau.
Nirgends, auch nicht wo Sexualverhältnisse zwischen Geschwistern als anerkannte Institution bestehen, findet sich eine ordnungsfremde amorphe sexuelle Promiskuität innerhalb des Hauses. Wenigstens nie der Norm nach. Im Gegenteil ist gerade das im Güterbesitz kommunistische Haus diejenige Stätte, aus welcher kommunistische Freiheit des Geschlechtsverkehrs am vollständigsten verbannt ist. Die Abschwächung des Sexualreizes durch das [127]Zusammenleben von Kind auf gab die Möglichkeit und Gewöhnung daran. Die Durchführung als bewußter „Norm“ lag dann offensichtlich im Interesse der Sicherung der Solidarität und des inneren Hausfriedens gegen Eifersuchtskämpfe. Wo durch die gleich zu erwähnende
21
„Sippenexogamie“ die Hausgenossen verschiedenen Sippen zugewiesen wurden, so daß Geschlechtsverkehr innerhalb des Hauses nach sippenexogamen Grundsätzen zulässig wäre, müssen gerade die betreffenden Mitglieder des Hauses einander persönlich meiden: die Hausexogamie ist gegenüber der Sippenexogamie die ältere, neben ihr fortbestehende Institution. Vielleicht ist die Durchführung der Hausexogamie durch Frauentauschkartelle von Hausgemeinschaften und den durch deren Teilung entstehenden Sippengemeinschaften der Anfang der regulierten Exogamie gewesen. Jedenfalls besteht die konventionelle Mißbilligung des Sexualverkehrs auch für solche nahe Verwandte, welche nach dem Blutsbandekodex der Sippenstruktur davon nicht ausgeschlossen sind (z. B. sehr nahe väterliche Verwandte bei ausschließlicher Mutterfolge in der Sippenexogamie). Die Geschwister- und Verwandtenehe als Institution dagegen ist normalerweise auf sozial prominente Geschlechter, speziell Königshäuser, beschränkt. Sie dient dem Zusammenhalt der ökonomischen Machtmittel des Hauses, daneben wohl dem Ausschluß politischer Prätendentenkämpfe, endlich auch der Reinerhaltung des Bluts, ist also sekundär. – Das durchaus normale ist also: wenn ein Mann ein von ihm erworbenes Weib in seine Hausgemeinschaft zieht oder wenn er, weil er die Mittel dazu nicht hat, seinerseits zu einem Weibe in dessen Hausgemeinschaft eintritt, so erwirbt er die sexuellen Rechte an der Frau für seinen exklusiven Gebrauch. Tatsächlich ist oft genug auch diese sexuelle Exklusivität prekär gegenüber dem autokratischen Inhaber der Hausgewalt: die Befugnisse, welche sich z. B. der Schwiegervater innerhalb einer russi[A 201]schen Großfamilie bis in die Neuzeit herausnahm, sind bekannt. [127] Siehe unten, S. 128 f.
22
Trotz[128]dem gliedert sich die Hausgemeinschaft innerlich normalerweise in sexuelle Dauergemeinschaften mit ihren Kindern. Die Gemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern bildet mit persönlicher Dienerschaft, allenfalls der einen oder anderen unverehelichten Verwandten, den bei uns normalen Umfang der Hausgemeinschaft. Die Hausgemeinschaften älterer Epochen sind keineswegs immer sehr große Gebilde. Im Gegenteil zeigen diese namentlich, wenn die Art des Nahrungserwerbs zur Zerstreuung nötigte, oft kleine Hauseinheiten. Allerdings aber weist die Vergangenheit massenhafte Hausgemeinschaften auf, welche zwar auf Eltern- und Kindesverhältnissen als Kern ruhen, aber weit darüber hinausgreifen durch Einbeziehung von Enkeln, Brüdern, Vettern, gelegentlich auch Blutsfremden in einem heute bei Kulturvölkern mindestens sehr seltenen Umfang („Großfamilie“)· Sie herrscht einerseits, wo Arbeitskumulation angewendet wird – daher beim arbeitsintensiven Ackerbau –, außerdem aber da, wo der Besitz im Interesse der Behauptung der sozialen und ökonomischen Machtstellung zusammengehalten werden soll, also in aristokratischen und plutokratischen Schichten. Der Hausvorstand der patriarchalisch organisierten russischen Großfamilie bestimmte nicht nur die Ehepartner für seine Kinder, sondern unterhielt häufig auch geschlechtliche Beziehungen zu den in seinem Haus lebenden Schwiegertöchtern. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 69; Simkhowitsch, Wladimir G., Die Feldgemeinschaft in Rußland. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte und zur Kenntnis der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage des russischen Bauernstandes. – Jena: Gustav Fischer 1898, S. 366 f.
Abgesehen von dem sehr frühen Ausschluß des Geschlechtsverkehrs innerhalb der Hausgemeinschaft, ist die Sexualsphäre gerade bei sonst wenig entfalteter Kultur sehr häufig besonders stark eingeengt durch soziale Gebilde, welche die Hausgewalt derart durchkreuzen, daß man sagen kann: die erste entscheidende prinzipielle Durchbrechung ihrer Schrankenlosigkeit liege gerade auf diesem Gebiet. Der Begriff der Blutschande greift mit steigender Beachtung des „Blutsbandes“ über das Haus hinaus auf weitere Kreise aushäusiger Blutsverwandter und wird Gegenstand kasuistischer Regulierung durch die Sippe .
j
[128] In A folgt die Zwischenüberschrift: § 4. Die Sippe und die Regelung der Sexualbeziehungen.
Die Sippe ist keine so „urwüchsige“ Gemeinschaft, wie die Hausgemeinschaft und der Nachbarverband es sind. Ihr Gemeinschaftshandeln ist regelmäßig diskontinuierlich und entbehrt der Vergesellschaftung, es ist geradezu ein Beispiel dafür, daß Gemeinschaftshandeln bestehen kann, auch wo sich die Beteiligten gar nicht kennen und kein aktives Handeln, sondern nur ein Unterlas[129]sen (sexuellen Verkehrs) stattfindet. Die „Sippe“ setzt den Bestand anderer Sippen neben sich innerhalb einer umfassenden Gemeinschaft voraus. Der Sippenverband ist der urwüchsige Träger aller „Treue“. Freundesbeziehungen sind ursprünglich künstliche Blutsbrüderschaften. Und der Vasall wie der moderne Offizier sind nicht nur Untergebene, sondern auch Brüder, „Kameraden“ (= Hausgenossen ursprünglich) des Herren. Dem Inhalt ihres Gemeinschaftshandelns nach ist die Sippe eine auf dem Sexualgebiet und in der Solidarität nach außen mit der Hausgemeinschaft konkurrierende, unsere Sicherheits- und Sittenpolizei ersetzende Schutzgemeinschaft und zugleich regelmäßig auch eine Besitzanwartsgemeinschaft derjenigen früheren Hauszusammengehörigen, die aus der Hausgemeinschaft durch Teilung oder Ausheirat ausgeschieden sind, und deren Nachfahren. Sie ist also Stätte der Entwicklung der außerhäuslichen „Vererbung“. Sie schafft vermittelst der Blutrachepflicht eine persönliche Solidarität ihrer Angehörigen gegen Dritte und begründet so, auf ihrem Gebiet, eine der Hausautorität gegenüber unter Umständen stärkere Pietätspflicht. Festzuhalten ist: daß die Sippe nicht etwa generell als eine erweiterte oder dezentralisierte Hausgemeinschaft oder als ein ihr übergeordnetes, mehrere Hausgemeinschaften zu einer Einheit verbindendes, soziales Gebilde verstanden werden darf. Das kann sie sein, ist es aber nicht der Regel nach. Denn ob im Einzelfall ihr Umkreis quer durch die Hausgemeinschaften hindurchschneidet oder die Gesamtheit der Hausgenossen umschließt, hängt – wie später zu erörtern
23
– von ihrem Strukturprinzip ab, welches unter Umständen Väter und Kinder verschiedenen Sippen zuweist. Die Wirkung der Gemeinschaft kann sich beschränken auf das [A 202]Verbot der Heirat unter den Genossen (Exogamie) und zu diesem Zweck können gemeinsame Erkennungszeichen und der Glaube an die Abstammung von einem als solches dienenden Naturobjekt (meist ein Tier) bestehen, dessen Genuß dann den Sippengenossen verboten zu sein pflegt (Totemismus). [129] Siehe unten, S. 132–135.
24
Dazu tritt das Verbot des Kampfes [130]gegeneinander und die (unter Umständen auf bestimmte nähere Verwandtschaftsgrade begrenzte) Blutrachepflicht und Blutrachehaftung füreinander. Aus dieser wieder folgt die gemeinsame Erhebung der Fehde im Fall des Totschlags und das Recht und die Pflicht der Sippegenossen, im Fall der Sühne durch Wehrgeld an diesem empfangend und zahlend beteiligt zu sein. Wie gegenüber der Rache der Menschen, so haftet die Sippe, indem sie im Rechtsgang die Eideshelfer stellt, auch gegenüber der Rache der Götter für einen Falscheid solidarisch. Sie ist auf diese Art die Garantie für die Sicherheit und Rechtsgeltung des Einzelnen. Es ist nun ferner auch möglich, daß der durch die Siedelung geschaffene Nachbarverband (Dorf, Markgenossenschaft) mit dem Umkreis der Sippengemeinschaft zusammenfällt und dann in der Tat das Haus als der engere Umkreis innerhalb des weiteren der Sippe erscheint. Aber auch ohne dies können oft sehr fühlbare Rechte der Sippengenossen gegenüber der Hausgewalt dauernd fortbestehen: Einspruchsrecht gegen Veräußerung von Hausvermögen, Recht der Mitwirkung beim Verkauf von Töchtern in die Ehe und Beteiligung am Brautpreis, Recht, den Vormund zu stellen u. dgl. Bei dieser religiösen Vorstellung von Naturvölkern glauben Einzelpersonen oder Gruppen, in einem mystisch begründeten Verwandtschaftsverhältnis zu einem Totem zu stehen, das als Beschützer und Helfer angesehen wird. Die Vorstellung gemeinsamer Abstammung führt zur Annahme blutsverwandtschaftlicher Verhältnisse innerhalb der Gruppe, was verbandsinterne Heiraten in der Regel ausschließt.
Die urwüchsige Form der Geltendmachung von verletzten Interessen ist die solidarische Selbsthilfe der Sippe. Und die ältesten Kategorien eines dem „Prozeß“ verwandten Verfahrens sind einerseits die Schlichtung von Streit innerhalb der Zwangsgemeinschaften: des Hauses durch den Inhaber der Hausautorität, der Sippe durch den „Ältesten“ als den, der den Brauch am besten kennt, andererseits zwischen mehreren Häusern und Sippen, der vereinbarte Schiedsspruch. Als eine, aus wirklicher oder fiktiver oder künstlich durch Blutsbrüderschaft geschaffenen Abstammung abgeleitete, Pflichten- und Pietätsbeziehung zwischen Menschen, die unter Umständen nicht nur verschiedenen häuslichen, sondern auch verschiedenen politischen Einheiten und selbst verschiedenen Sprachgemeinschaften angehören können, steht die Sippe dem politischen Verband in konkurrierender, ihn durchkreuzender Selbständigkeit gegenüber. Sie kann ganz unorganisiert, eine Art passives Gegenbild des autoritär geleiteten Hauses sein. Sie bedarf an sich für ihre normalen Funktionen keines dauernden Leiters mit irgendwelchem Herrenrecht, untersteht auch faktisch der Regel nach keinem solchen, sondern bildet einen amorphen Personenkreis, dessen äußeres Einigungsmerkmal allenfalls in einer positi[131]ven Kultgemeinschaft oder einer negativen Scheu vor Verletzung oder Genuß des gemeinsamen heiligen Objekts (Tabu)
25
besteht, deren religiöse Gründe später zu erörtern sind. [131] Schurtz, Altersklassen, S. 359 f., übersetzt das polynesische Wort Tabu (Tapu, Tambu) als etwas Verbotenes und im übertragenen Sinn als etwas Heiliges bzw. Göttliches, das er von der Scheu vor den Geistern der Verstorbenen ableitet. Leichen zu berühren war nur einem bestimmten Personenkreis erlaubt, während alle übrigen gewissermaßen verunreinigt wurden. Aufgrund dieser Vorstellung war es möglich, den eigenen Besitz durch Ahnenbilder zu schützen. Häuptlingen wurde schon zu Lebzeiten die Fähigkeit zuerkannt, ein Tabu zu verhängen, womit sie ein wirksames Rechtsmittel in die Hand bekamen.
26
Die kontinuierlich mit einer Art von Regierung an der Spitze organisierten Sippen als die ältere Form anzunehmen, wie es z. B. Gierke tat, Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 167.
27
ist als Regel jedenfalls kaum möglich, – das Umgekehrte: daß auch die Sippe nur da „vergesellschaftet“ ist, wo es ökonomische oder soziale Monopole nach außen zu „schließen“ gilt, muß vielmehr als Regel angesehen werden. Existiert ein Sippenhaupt und funktioniert die Sippe überhaupt als politischer Verband, so ist dies zuweilen nicht aus den inneren Bedingungen des Sippenverbands erwachsen, sondern Folge seiner Ausnutzung für ihm ursprünglich fremde, politische, militärische oder andere gemeinwirtschaftliche Zwecke und seiner dadurch bedingten Stempelung zu einer Unterabteilung ihm an sich heterogener sozialer Einheiten (so die „gens“ Otto von Gierke sah in der Sippe die älteste Form eines organisierten Herrschaftsverbandes, den die einzelnen Hausvorstände gemeinsam und gleichberechtigt leiteten. Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 14–17.
28
als Unterabteilung der „curia“, die „Sippen“ als Heeresabteilungen usw.). – Es ist auch und vielfach gerade für Epochen sonst wenig entfalteten Gemeinschaftshandelns charakteristisch, daß Haus, Sippe, Nachbarschaftsverband, politische Gemeinschaft einander derart kreuzen, daß die Haus- und Dorfangehörigen verschiedenen Sippen, die Sippenangehörigen verschiedenen politischen Gemeinschaften und selbst verschiedenen Sprachgemeinschaften zugehören und also gegebenenfalls Nachbarn, politische Genossen, selbst Hausgemeinschafter in die Lage kommen, gegeneinander Blut[132]rache [A 203]üben zu sollen. Erst die allmähliche Monopolisierung der Anwendung von physischer Gewalt durch die politische Gemeinschaft beseitigt diese drastischen „Pflichtenkonflikte“. Für Verhältnisse aber, welche das politische Gemeinschaftshandeln nur als intermittierendes Gelegenheitshandeln, im Fall der akuten Bedrohung, oder als einen Zweckverband von Beutelustigen kennt, ist die Bedeutung der Sippe und der Grad der Rationalisierung ihrer Struktur und Pflichten oft – so z. B. in Australien – zu einer fast scholastischen Kasuistik entwickelt. Lateinische Bezeichnung für einen Sippenverband mit einer gemeinsamen, oft allerdings fiktiven Abstammungslinie, dessen ursprüngliche erbrechtliche Bedeutung sich im republikanischen Rom zugunsten der Familie verschob. Die staatsrechtliche Bedeutung ist unsicher. Weber folgt hier der Ende des 19. Jahrhunderts aufgegebenen Vorstellung, die gentes seien ursprünglich 300 Unterabteilungen der Curien gewesen. Der weiterhin angenommene Zusammenhang zwischen gentes und der Senatorenzahl blieb umstritten.
29
[132] Die Verbände der Aborigines gliederten sich in drei Altersklassen, wobei die unterste von den Kindern eines Verbandes gebildet wurde, die mit der Geschlechtsreife in die mittlere aufgenommen wurden. Sobald das älteste Kind einer Familie die mittlere Altersklasse erreicht hatte, stiegen die Eltern in die oberste Klasse auf. Unabhängig von den tatsächlichen Verwandtschaftsbeziehungen wurden alle Mitglieder einer unteren Klasse als Söhne bzw. Töchter und die der oberen als Vater bzw. Mutter bezeichnet. Hochzeiten waren nur innerhalb einer Altersklasse, mit der jeweils bestimmte Rechte und Pflichten verbunden waren, erlaubt. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 10 f.; Cunow, Heinrich, Die Verwandtschafts-Organisationen der Australneger. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Familie. – Stuttgart: J.H.W. Dietz 1894, S. 25–54.
Wichtig ist die Art der Ordnung der Sippenbeziehungen und der durch sie regulierten Sexualbeziehungen durch deren Rückwirkung auf die Entwicklung der persönlichen und ökonomischen Struktur der Hausgemeinschaften. Je nachdem das Kind zur Sippe der Mutter zählt („Mutterfolge“) oder zu der des Vaters („Vaterfolge“), gehört es der Hausgewalt an, und hat Anteil an dem Besitz einer anderen Hausgemeinschaft und insbesondre an den dieser innerhalb anderer Gemeinschaften (ökonomischer, ständischer, politischer) appropriierten Erwerbschancen. Jene andren Gemeinschaften sind daher an der Art der Regelung der Zugehörigkeit zum Hause mitinteressiert, und aus dem Zusammenwirken der, in erster Linie ökonomisch, daneben politisch, bedingten Interessen ihrer aller erwächst diejenige Ordnung, welche im Einzelfall dafür gilt. Es ist wichtig, sich von vornherein klar zu machen, daß die einzelne Hausgemeinschaft, sobald neben ihr noch andere, sie mit einschließende, Verbände bestehen, welche über ökonomische und andre Chancen verfügen, keineswegs schlechthin autonom ist in der Verfügung über die Art der Zurechnung und, je knapper jene Chancen werden, desto weniger autonom bleiben kann. Die mannigfachsten, hier im einzelnen unmöglich zu analysierenden Interessen bestimmen die Frage: ob Vater- oder Mutterfolge, mit ihren [133]Konsequenzen. Im Fall der Mutterfolge sind es – da eine förmliche Hausherrschaft der Mutter selbst zwar vorkommt, aber zu den durch besondere Umstände bedingten Ausnahmen zählt – nächst dem Vater die Brüder der Mutter, deren Schutz und Zuchtgewalt das Kind untersteht und von denen ihm sein Erbe kommt („Avunculat“). Im Fall der Vaterfolge untersteht es nächst seinem Vater der Gewalt der väterlichen Verwandten und erbt von dorther. Während in der heutigen Kultur Verwandtschaft und Erbfolge normalerweise „kognatisch“, d. h. zweiseitig nach der Vater- und Mutterseite hin gleichmäßig wirken, die Hausgewalt aber stets dem
k
Vater und, wenn er fehlt, einem meist, aber nicht notwendig, aus den nächsten Kognaten berufenen, durch die öffentliche Gewalt bestätigten und kontrollierten Vormund zusteht, findet in der Vergangenheit sehr häufig ein schroffes Entweder-Oder jener beiden Prinzipien statt. Aber nicht notwendig so, daß innerhalb einer Gemeinschaft eins von beiden für alle Hausgemeinschaften allein gälte, sondern auch so, daß innerhalb derselben Hausgemeinschaft teils das eine, teils das andere, aber natürlich in jedem Einzelfall stets nur eins von beiden durchgreift. Der einfachste Fall dieser Konkurrenz ist durch Vermögensdifferenzierung bedingt. Die Töchter gelten, wie alle Kinder, als nutzbarer Besitz der Hausgemeinschaft, in der sie geboren sind. Sie verfügt über ihre Hand. Der Leiter kann sie, ebenso wie seine Frau, seinen Gästen sexuell zur Verfügung stellen, sie zeitweilig oder dauernd gegen Abgaben oder Dienste sexuell nutzen lassen. Diese prostitutionsartige Verwertung der Haustöchter bildet einen beträchtlichen Teil der unter dem unklaren Sammelnamen des „Mutterrechts“ verstandenen Fälle: Mann und Frau bleiben in diesem Fall jeder in seiner Hausgemeinschaft, die Kinder in der der Mutter, der Mann bleibt ihnen ganz fremd und leistet nur, in der heutigen Sprache ausgedrückt: „Alimente“ an ihren Hausherrn. Es besteht also keine Gemeinschaft des Hauses von Mann, Frau und Kindern. Diese kann auf der Basis von Vater- oder Mutterfolge entstehen. Der Mann, welcher die Mittel besitzt[,] eine Frau bar zu bezahlen, nimmt sie aus ihrem Haus und ihrer Sippe in das seinige. Seine Hausgemeinschaft wird ihr voller Eigentümer und damit Besitzer ihrer Kinder. Der [134]Zahlungsunfähige muß dagegen, wenn ihm die häusliche Vereinigung mit dem begehrten Mädchen von dessen Hausherren gestattet wird, in dessen Hausgemeinschaft eintreten, entweder zeitweise, um sie abzuverdienen [A 204](„Dienstehe“)[133]A: den
30
oder dauernd, und der Hausgemeinschaft der Frau verbleibt dann die Gewalt über sie und die Kinder. Das Haupt einer vermögenden Hausgemeinschaft also kauft einerseits von minder vermögenden andern Hausgemeinschaften Frauen für sich und seine Söhne (sog. „Digaehe“) [134] Die Dienstehe, auch Erdienungs- oder Binaehe genannt, ist in der Regel vorübergehend. Wenn der Bräutigam den Kaufpreis für seine Braut abgedient hat, wechselt die Verfügungsgewalt über die Frau vom Brautvater auf den Ehemann. Kommt es vorher zu einer Trennung der Ehepartner, verbleibt der gesamte Besitz in der Hausgemeinschaft der Frau.
31
und zwingt andererseits unvermögende Freier seiner Töchter zum Eintritt in den eigenen Hausverband („Binaehe“). Vaterfolge, d. h. Zurechnung zum Hause und zur Sippe des Vaters[,] und Mutterfolge, d. h. Zurechnung zum Hause und zur Sippe der Mutter, Vaterhausgewalt, d. h. Gewalt des Manneshauses[,] und Mutterhausgewalt, d. h. Gewalt der Hausgemeinschaft der Frau, bestehen dann nebeneinander für verschiedene Personen innerhalb einer und derselben Hausgemeinschaft. In diesem, einfachsten, Fall aber immer: Vaterfolge mit Gewalt des Vaterhauses und Mutterfolge mit Gewalt des Mutterhauses verbunden. Dies Verhältnis kompliziert sich nun, wenn zwar der Mann die Frau in seine Hausgemeinschaft überführt und also Vaterhausgewalt entsteht, dennoch aber Mutterfolge, also: ausschließliche Zurechnung der Kinder zur Sippe der Mutter als ihres exogamen Sexualverbandes, ihrer Blutrachegemeinschaft und als der Gemeinschaft, von der allein sie erben, bestehen bleibt. Auf diesen Fall sollte man den Namen „Mutterrecht“ im technischen Sinn beschränken. Eine Digaehe bezeichnet die übliche Form der Kaufehe, bei der der Mann den Brautpreis bezahlt und die Frau in seinen Hausverband überführt.
32
In dieser Form, welche die Stellung des Vaters zu den Kindern ja auf das engste einschnürt, Vater und Kinder trotz der Hausgewalt des ersteren einander [135]rechtlich fremd leben läßt, kommt der Zustand, soviel bekannt, nicht vor. Wohl aber in mannigfachen Zwischenstufen: das Mutterhaus behält, indem es die Frau in das Haus des Mannes gibt, dennoch bestimmte Teile seiner Anrechte an Frau und Kindern zurück. Besonders oft besteht, infolge der Festigkeit der einmal eingelebten superstitiösen Angst vor der Blutschande, die nach der Mutterseite gerechnete Sippenexogamie für die Kinder fort. Oft auch verschieden große Bestandteile der Erbfolgegemeinschaft mit dem Mutterhaus. Speziell auf diesem Gebiet kämpfen Vater- und Muttersippe einen Kampf, dessen sehr verschiedener Ausgang durch Bodenbesitzverhältnisse, speziell auch die Beeinflussung des dörflichen Nachbarschaftsverbandes und durch militärische Ordnungen bedingt ist. Üblicherweise wurde der Begriff „Mutterrecht“ mit Bachofen, Mutterrecht (wie oben, S. 2, Anm. 4), S. VI, in allgemeinerem Sinne benutzt und auf alle Fälle bezogen, in denen die Kinder in der ausschließlichen Erbfolge der mütterlichen Sippe standen, ohne Rücksicht auf sonstige rechtliche Stellungen.
l
[135] In A folgt die Zwischenüberschrift: § 5. Beziehungen zur Wehr- und Wirtschaftsverfassung. Das „eheliche Güterrecht“ und Erbrecht.
Leider gehören die Beziehungen von Sippe, Dorf, Markgenossenschaft und politischer Gliederung noch zu den dunkelsten und wenigst erforschten Gebieten der Ethnographie und Wirtschaftsgeschichte. Es gibt bisher keinen Fall, für den diese Beziehungen wirklich restlos aufgeklärt wären, weder für die primitiven Verhältnisse der Kulturvölker, noch für die sog. Naturvölker, insbesondere auch z. B. nicht, trotz Morgans Arbeiten,
33
die Indianer. Der Nachbarschaftsverband eines Dorfes kann im einzelnen durch Zerspaltung einer Hausgemeinschaft im Erbgang entstanden sein. In Zeiten des Übergangs vom nomadisierenden zum seßhaften Bodenanbau kann die Landzuteilung sich an die Sippengliederung halten, da diese in der Heeresgliederung berücksichtigt zu werden pflegt, so daß die Dorfgemarkung als Sippenbesitz gilt. Dies scheint im [136]germanischen Altertum nicht selten gewesen zu sein, da die Quellen von „genealogiae“ als Besitzern von Gemarkungen[135] Lewis Henry Morgan, einer der damals führenden amerikanischen Ethnologen, veröffentlichte zahlreiche Arbeiten über das Gesellschaftssystem der nordamerikanischen Indianer, wobei die Irokesen im Mittelpunkt seines Interesses standen. Morgan, Lewis Henry, Houses and House-Life of the American Aborigines. – Washington: Government Printing Office 1881; ders., League of the Ho-De’-No Sau-Nee or Iroquois, 2 Vols. – New York: Burt Franklin 1901. Seine bekannteste Arbeit: Ancient Society. – New York: Gordon Press 1877, erschien 1891 in deutscher Übersetzung als: Die Urgesellschaft. Weber hatte Morgan, Urgesellschaft, bereits in seinem Vorlesungs-Grundriß, S. 11, aufgeführt.
34
auch da sprechen, wo anscheinend nicht eine Landnahme durch ein adliges Geschlecht mit seinem Gefolge gemeint ist. Aber die Regel war dies schwerlich. Die Militärverbände (Tausendschaften und Hundertschaften), welche aus Personalcadres zu Gebietsverbänden wurden, standen mit den Sippen und diese wieder mit den Markgemeinschaften, soviel bekannt, in keiner eindeutigen Beziehung. [136] In der Lex Alamannorum werden z. B. zwei Gemeinden, die sich über den Verlauf der Gemeindegrenze streiten, als „genealogiae“ bezeichnet. Vgl. Monumenta Germaniae Historica, Legum Sectio I, Legum Nationum Germanicarum, Band V, Teil 1, Leges Alamannorum, hg. von Karl August Eckardt. – Hannover: Impensis Bibliopolii Hahniani 1966, LXXXI, LXXXIV, S. 145–148.
Allgemein läßt sich nur sagen: Der Grund und Boden kann 1. entweder in erster Linie als Arbeitsstätte gelten. In diesem Fall wird, solange der Anbau vornehmlich auf Frauenarbeit ruht, im Verhältnis zwischen den Sippen oft aller Bodenertrag und Bodenbesitz den Frauen zugerechnet. Der Vater hat den Kindern alsdann Bodenbesitz [A 205]nicht zu hinterlassen, die Erbfolge an ihm geht durch Mutterhaus und Muttersippe, vom Vater erbt man nur militärische Gebrauchsgüter, Waffen, Pferde und Werkzeuge männlicher gewerblicher Arbeit. In ganz reiner Form kommt freilich dieser Fall kaum vor. Oder umgekehrt: 2. der Boden gilt als mit dem Speer gewonnener und behaupteter Männerbesitz, an dem Waffenlose und also insbesondere Frauen keinen Anteil haben können. Dann kann der lokale politische Verband des Vaters das Interesse haben, dessen Kinder als militärischen Nachwuchs in seiner Mitte festzuhalten, und da die Söhne in die Waffengemeinschaft des Vaters eintreten, so wird dann das Land vom Vater her auf sie vererbt und nur beweglicher Besitz kann nach Mutterfolge erben. Stets hält ferner 3. der Nachbarverband des Dorfes oder einer Markgenossenschaft als solcher die Hand über den durch gemeinsame Rodung, also Mannesarbeit, gewonnenen Boden und duldet nicht, daß der Boden im Erbgang an Kinder geht, die nicht in jeder Hinsicht dauernd an den Pflichten ihres Verbandes teilnehmen. Der Kampf dieser und unter Umständen noch verwickelterer Determinanten ergibt sehr verschiedene Resultate. Es läßt sich aber 4. auch nicht sagen – wie es darnach scheinen könnte –, daß der vorwiegend mi[137]litärische Charakter einer Gemeinschaft schon an sich eindeutig in der Richtung der Vaterhausgewalt und einer rein vaterrechtlichen („agnatischen“) Verwandschafts- und Vermögenszurechnung wirkte. Sondern das hängt durchaus von der Art der Militärorganisation ab. Wo diese in einem dauernden exklusiven Zusammenschluß der waffenfähigen Jahrgänge der Männer zu einer besondren kasernen- oder kasinoartigen Gemeinschaft führt, wie sie das von Schurtz geschilderte typische „Männerhaus“
35
und die spartiatischen Syssitien [137] Vgl. oben, S. 116, Anm. 6.
36
als reinste Typen darstellen – da konnte sehr wohl und hat recht oft dieses Ausscheiden des Mannes aus dem infolgedessen als „Muttergruppe“ Als Syssition (PI. Syssitia) wurde in Griechenland jede Form einer „Essensgemeinschaft“ bezeichnet. In Sparta war die Mitgliedschaft seit Lykurgos Voraussetzung für das volle Bürgerrecht und die Teilnahme bis auf bestimmte Ausnahmen verpflichtend, wobei die Mitglieder festgelegte Beiträge in Naturalien zu leisten hatten.
37
konstituierten Familienhaushalt entweder die Zurechnung der Kinder und des Erwerbs zum Mutterhause oder doch eine relativ selbständige Stellung der Hausmutter herbeigeführt, wie sie z. B. für Sparta berichtet wird. Vgl. oben, S. 115, Anm. 5.
38
Die zahlreichen, eigens zur Einschüchterung und Plünderung der Frauen erfundenen superstitiösen Mittel (z. B. das periodische Erscheinen und der Plünderungszug des Duk-Duk) Durch die außerhäusliche „Kasernierung“ der Männer in Gemeinschaftsunterkünften und den eigenen Landbesitz erlangten spartanische Frauen eine Selbständigkeit, die im übrigen Griechenland nicht nachvollziehbar war. Aristoteles nahm z. B. an, daß spartanische Frauen keinen Gesetzen unterworfen seien, ihre Männer beherrschten und dadurch auch den Staat regieren würden. Vgl. Aristoteles, Politik, 2, 1269a.
39
stellen die Reaktion der aushäusig gewordenen Männer gegen diese Gefährdung ihrer Autorität dar. Wo dagegen die Glieder der Militärkaste als Grundherren über das Land zerstreut saßen, ist die Tendenz zur patriarchalen und zugleich agnatischen Struktur von Haus und Sippe fast durchweg alleinherrschend geworden. Die großen Reichsgrün[138]dungsvölker im fernen Orient und in Indien ebenso wie in Vorderasien, am Mittelmeer und im europäischen Norden, haben, soweit historische Kunde reicht, sämtlich (die Ägypter nicht, wie oft angenommen wird, Der Duk-Duk des Bismarck-Archipels galt in der zeitgenössischen Literatur als der bekannteste Geheimbund Polynesiens. In mehr oder weniger periodischen Abständen erschien der Duk-Duk auf den Inseln und übernahm die Herrschaft in den Dörfern. Dabei wurden Festmähler abgehalten, durch den Duk-Duk rituelle Züchtigungen vorgenommen und ihm Geldgeschenke übergeben. Die Frauen und andere Nicht-Eingeweihte mußten dem Duk-Duk bei Strafe ausweichen. Die Deutung der Rituale ist in der Literatur uneinheitlich und reicht von legitimen Plünderungszügen bis zur Ausübung der Rechtsprechung und dem Eintreiben von Steuern. Vgl. Schurtz, Altersklassen, S. 369–377. Zum Duk-Duk vgl. auch den Text „Politische Gemeinschaften“, unten, S. 212.
40
ausgeschlossen) die Vaterfolge einschließlich (außer bei den Ägyptern) der exklusiv agnatischen Verwandtschafts- und Vermögenszurechnung entwickelt. Dies hat seinen Grund im wesentlichen darin, daß die Gründung großer politischer Gebilde dauernd nicht leicht von stabartig zusammengesiedelten und monopolistischen kleinen Kriegergemeinschaften nach Art des „Männerhauses“ getragen werden kann, sondern – unter naturalwirtschaftlichen Bedingungen – normalerweise die patrimonale und grundherrliche Unterwerfung der Landgebiete bedingt, auch wo sie von örtlich eng zusammengesiedelten Kriegern ausging, wie in der Antike. Die Entwicklung der Grundherrschaft mit ihrem Amtsapparat geht naturgemäß von der unter einem Vater als Hausherrn sich zum Herrschaftsapparat organisierenden Hausgemeinschaft aus und erwächst also überall aus der Vatergewalt heraus. Keinerlei ernsthafte Beweise stützen dementsprechend die Behauptung, daß diesem Zustand vorherrschenden „Vaterrechts“ bei jenen Völkern jemals ein anderer vorangegangen sei, seitdem überhaupt bei ihnen die Familienbeziehungen Gegenstand einer Rechtsbildung waren. Insbesondere ist die Hypothese von der einst universellen Herrschaft einer „Ehe nach Mutterrecht“ [138] Daß in Ägypten keine Vaterfolge entwickelt worden sei, nehmen z. B. an Nietzhold, Johannes, Die Ehe in Ägypten zur ptolemäisch-römischen Zeit. Nach den griechischen Heiratskontrakten und verwandten Urkunden. – Leipzig: Veit & Comp. 1903, S. 18 (hinfort: Nietzhold, Ehe in Ägypten); Bachofen, Mutterrecht (wie oben, S. 2, Anm. 4), S. 303 f.
41
eine wertlose Konstruktion, welche ganz Heterogenes: das primitive Fehlen jeder rechtlichen Regelung der Kindesbeziehungen und das dann allerdings normalerweise bestehende nähere persönliche Verhältnis der Kinder zur Mutter, die sie säugt und [A 206]erzieht, mit demjeni[139]gen Rechtszustande, Von einer ursprünglichen Vorherrschaft des Mutterrechts gehen aus, Bachofen, Mutterrecht (wie oben, S. 2, Anm. 4), S. VI; Nietzhold, Ehe in Ägypten (wie Anm. 40); Grosse, Ernst, Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft. – Freiburg i. Br., Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1896 (hinfort: Grosse, Formen der Familie). In dem Stichwortmanuskript „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, unten, S. 303, wendet sich Weber in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch gegen Bebel, Die Frau und der Sozialismus, sowie Engels, Der Ursprung der Familie.
m
der allein den Namen Mutterrecht[139]A: „Rechtszustande
42
verdient, vermischt. Ganz ebenso irrig ist natürlich die Vorstellung: daß von einer „ursprünglichen“ universellen Mutterfolge zur Geltung des „Vaterrechts“ [139] Vgl. oben, S. 134.
43
ein Zustand der „Raubehe“ als universelle Zwischenstufe geführt habe. Rechtsgültig kann eine Frau nur durch Tausch oder Kauf aus einem fremden Haus erworben werden. Der Frauenraub führt zu Fehde und Sühne. Den Helden freilich schmückt, wie der Skalp des Feindes, so die geraubte Frau als Trophäe, und daher ist der Hochzeitsritus oft ein fingierter Frauenraub, ohne daß realer Frauenraub doch eine rechtshistorische „Stufe“ darstellte. Beim Vaterrecht richtet sich die Erbfolge der Kinder nach den Verwandtschaftsverhältnissen des Vaters. Sie sind nur innerhalb seiner Sippe erbberechtigt.
44
Dies wendet sich gegen entsprechende Vermutungen z. B. von Grosse, Formen der Familie (wie oben, S. 138, Anm. 41), S. 105, und Brunner, Heinrich, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 3. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1908, S. 208 (hinfort: Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte).
Die Entwicklung der inneren vermögensrechtlichen Struktur der Hausgemeinschaft ist demgemäß bei den großen Reichsgründungsvölkern eine stete Abschwächung der schrankenlosen Vatergewalt. Zu den Folgen ihrer ursprünglichen Schrankenlosigkeit gehörte namentlich das Fehlen der Unterscheidung „legitimer“ und „illegitimer“ Kinder, wie es sich, als Rest der einst freien Willkür des Hausherrn in der Bestimmung darüber: wer „sein“ Kind sei, noch im nordischen Recht des Mittelalters findet.
45
Erst das Eingreifen politischer oder ökonomischer Gemeinschaften, welche die Zugehörigkeit zu ihrem Verband an die Abstammung aus „legitimen“ Verbindungen, d. h. Dauerverbindungen mit Frauen aus dem eigenen Kreise, knüpfen, ändert dies endgültig. Die wichtigste [140]Etappe auf dem Wege der Herstellung dieses Prinzips aber: eben jene Scheidung „legitimer“ und „illegitimer“ Kinder und die erbrechtliche Sicherung der ersteren, wird meist dann erreicht, wenn innerhalb der besitzenden oder ständisch privilegierten Schichten, nach Zurücktreten der Schätzung der Frau lediglich als Arbeitskraft, die Tendenz erwacht: die rechtliche Stellung der in die Ehe verkauften Haustochter, und vor allem diejenige ihrer Kinder, durch Kontrakt gegen jene ursprüngliche freie Willkür des Käufers der Frau zu sichern: sein Vermögen soll an die Kinder aus dieser Ehe und nur an sie vererbt werden. Diese Aussage findet in der zeitgenössischen Literatur keine Bestätigung. Einer der bedeutendsten Forscher des nordischen Rechts, Konrad von Maurer, betonte, daß der Akt der Legitimation nichtehelicher Kinder im nordischen Recht nur als Aufnahme eines Kindes in die Sippe (durch „Aettleiding“, Sippenleite) erfolgen konnte, nicht aber als Einbeziehung in den Haushalt. Diese Auffassung begründete er u. a. damit, „dass die altnordische Sprache weder für den Begriff der Familie, noch für den der väterlichen Gewalt eine technische Bezeichnung besitzt.“ Vgl. Maurer, Konrad von, Die unächte Geburt nach altnordischem Rechte, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, 1883, 1. Heft. – München: F. Straub 1884, S. 3–86.
n
Nicht das Bedürfnis des Mannes, sondern dasjenige der Frau nach „Legitimität“ ihrer Kinder also ist die treibende Kraft. Das Haus stattet, weiterhin mit zunehmenden Ansprüchen an die Lebenshaltung und demnach wachsender Kostspieligkeit „standesgemäßen“ Haushaltens[,] das in die Ehe verkaufte Mädchen, welches nun nicht mehr Arbeitskraft, sondern Luxusbesitz ist, zunehmend mit einer „Mitgift“ aus, welche zugleich seine Abfindung vom Besitz seiner Hausgemeinschaft darstellt (in dieser Art besonders klar im altorientalischen und althellenischen Recht entwickelt) und ihm dem kaufenden Mann gegenüber auch das „materielle Schwergewicht“ verleiht, seine schrankenlose Willkür zu brechen, da er sie im Fall der Verstoßung zurückerstatten muß. In höchst verschiedenem Grade und nicht immer in der Form eigentlicher Rechtssätze wird dieser Zweck allmählich erreicht, oft aber so vollständig, daß nur die Mitgiftehe als Vollehe (ἕγγραφος γάμος in Ägypten) gilt.[140]A: erben.
46
Auf die weitere Entwicklung des „ehelichen Güterrechts“ soll hier nicht eingegangen werden. Entscheidende Wendungen finden sich überall dort, wo die militärische Bewertung des Bodenbesitzes als speererworbenen Guts oder als Basis für die Ausstattung ökonomisch wehrfähiger (zur Selbstequipierung fähiger) Existenzen zurücktritt, und der Grundbesitz, wie namentlich unter städtischen Verhältnissen, vorwiegend ökonomisch gewertet wird, mithin auch [141]die Töchter zum Bodenerbrecht gelangen. Je nachdem der Schwerpunkt der Existenz mehr auf dem gemeinsamen Erwerb der Familie ruht oder umgekehrt auf der Rente des ererbten Besitzes, gestaltete sich das Kompromiß zwischen den in Betracht kommenden Interessen des Mannes und denen der Frau und ihrer Sippe höchst mannigfaltig. [140] „Engraphos gamos“ bezeichnet eine vertragliche Ehe, die eine Mitgift der Ehefrau voraussetzte und den Kindern einer Beziehung Erbansprüche erst gesetzlich sicherte. Die Rechtsauffassung, daß nur eine Mitgift eine Ehe legitimieren würde, führte in Ägypten zu einer Art Scheinmitgift. Der Ehemann überließ der mittellosen Familie der Braut eine bestimmte Summe, die ihm die Braut in Form der Mitgift zurückführte. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 104 f.
Im ersteren Fall ist im okzidentalen Mittelalter oft eine Entwicklung zur „Gütergemeinschaft“ erfolgt, im letzteren die sog. „Verwaltungsgemeinschaft“ (Verwaltung und Nutznießung des Mannes am Frauengut) vorgezogen worden, während in den feudalen Schichten das Streben, die Grundstücke nicht aus der Familie gelangen zu lassen, die (in typischer Art in England entwickelte) „Wittumsehe“
47
(Versorgung der Witwe durch eine Rente, die am Grundbesitz haftet) erzeugte. Im übrigen greifen [A 207]die mannigfaltigsten Determinanten ein. Römische und englische Aristokratie zeigen in ihrer sozialen Lage manche Ähnlichkeit. Aber in der römischen Antike entstand die völlige ökonomische und persönliche Emanzipation der Ehefrau durch Entwicklung der jederzeit kündbaren „freien Ehe“, [141] Wittum war ursprünglich die Bezeichnung für den zu entrichtenden Preis beim Brautkauf. Im Zuge der weiteren Entwicklung stand dieser Betrag der Braut zu und sollte ihrer Witwenversorgung dienen. Vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte (wie oben, S. 139, Anm. 44), S. 209. In England hatte die Witwe Anspruch auf eine lebenslange Pension aus den Erträgen des Grundbesitzes ihres verstorbenen Mannes. Ein Anspruch auf den Grundbesitz selbst oder auf das bewegliche Vermögen bestand hingegen nicht. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 254 f.
48
erkauft durch ihre völlige Unversorgtheit als Witwe und gänzliche Rechtlosigkeit als Mutter gegenüber der schrankenlosen Gewalt des Vaters über ihre Kinder – in England blieb die Ehefrau ökonomisch und persönlich in der ihre Rechtspersönlichkeit gänzlich vernichtenden „coverture“, Die „freie Ehe" setzte sich mit Beginn der Kaiserzeit im römischen Reich durch. Die Ehefrau hatte keinerlei Rechte an ihren Kindern und unterstand der Strafgewalt ihres Vaters bis zu dessen Tod. Nach dessen Ableben war sie bis auf wenige Ausnahmen eine voll handlungsfähige Rechtsperson und geriet in keine Abhängigkeit vom Ehemann. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 165.
49
bei zugleich – [142]für sie – fast völliger Unlöslichkeit der feudalen „Wittumsehe“. Die größere Stadtsässigkeit des Römeradels und die Einwirkung des christlichen Ehepatriarchalismus in England dürften den Unterschied bedingt haben. Dem Fortbestand des feudalen Eherechts in England und der kleinbürgerlich und militaristisch (im Code Napoleon durch den persönlichen Einfluß seines Inspiratoren) motivierten Gestaltung des französischen Eherechts Coverture bezeichnet einen bestimmten rechtlichen Ehestand der Frau. In England galt die Ehefrau bis in die 1880er Jahre als rechtlich nicht handlungsfähig und konnte rechtsgültige Verträge selbst mit Zustimmung ihres Mannes nur bedingt abschließen. Von der Handlungsunfähigkeit der Ehefrau wurde ihre juristische Unverantwortlichkeit abgeleitet, so daß der Ehemann für alle, außer das Leben Dritter gefährdende, Vergehen seiner Frau zur Verantwortung gezogen wurde. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 250 f.
50
stehen bürokratische Staaten (Österreich und namentlich Rußland) mit starker Nivellierung der Geschlechtsunterschiede im Ehegüterrecht gegenüber, die im übrigen da am weitesten fortzuschreiten pflegt, wo der Militarismus in den maßgebenden Klassen am weitesten zurückgedrängt ist. Im übrigen wird die Vermögensstruktur der Ehe bei entwickeltem Güterverkehr wesentlich durch das Bedürfnis nach Sicherung der Gläubiger mitbedingt. Die höchst bunten Einzelergebnisse dieser Entwicklungsmomente gehören nicht hierher. [142] Die Abfassung des im August 1800 in Auftrag gegebenen und im März 1804 veröffentlichten code civil (seit 1807 auch Code Napoleon genannt) wurde von Napoleon durch Generalanweisungen beeinflußt; als Vorsitzender des Staatsrates intervenierte er teilweise auch in Detailfragen, in bezug auf das Eherecht revidierte der Code Napoleon die liberalen Scheidungsmöglichkeiten der Revolutionszeit und trug damit den Moralvorstellungen des Bürgertums Rechnung. Neben der streng geregelten einvernehmlichen Trennung waren Scheidungsklagen gegen den Ehepartner im Falle grausamer Behandlung oder grober Beleidigung, bei einer entehrenden Strafe oder bei Untreue möglich. Bei Untreue der Ehefrau wurde diese nach der Scheidung zu einem Arbeitsdienst verurteilt. Insgesamt war die Frau wirtschaftlich abhängig, da sie das gemeinsame Eigentum nicht verwalten und vor Gericht nur mit Zustimmung des Mannes auftreten durfte. Vgl. Code Napoleon. Edition seule officielle pour le Grand-Duché de Berg, Buch 1. – Düsseldorf: Großherzoglich-Bergische Regierungs-Buchdruckerey 1810, S. 70–137. Zu Webers Bewertung des französischen Eherechts vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 320.
Die aus Interessen der Frau heraus entstandene „legitime“ Ehe muß dabei keineswegs alsbald die Alleinherrschaft der Monogamie mit sich bringen. Die in bezug auf das Erbrecht ihrer Kinder privilegierte Frau kann als „Hauptfrau“ aus dem Kreise der übrigen Frauen herausgehoben werden, wie dies im Orient, in Ägypten und in den meisten asiatischen Kulturgebieten der Fall war. Selbstverständlich aber ist die Polygamie auch in dieser Form („Halbpolygamie“)
51
überall Privileg der Besitzenden. Denn der Besitz einer [143]Mehrzahl von Frauen ist zwar da, wo im Ackerbau noch die Frauenarbeit vorwiegt, und allenfalls auch da, wo die textilgewerbliche Arbeit der Frau besonders einträglich ist (wie dies noch der Talmud voraussetzt), Weber benutzt hier einen von seiner Frau eingeführten Begriff, der neben den erbrechtlichen auch die moralischen Aspekte dieser Mischform aus monogamer und polygamer Ehe mit einer „Hauptfrau“ und mehreren nicht erbberechtigten „Nebenfrauen“ berücksichtigte. Die juristische Literatur ging dagegen für Ägypten von nur einer legitimen Ehefrau und damit von monogamen Verhältnissen aus. Vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 93 f.
52
lukrativ: der große Frauenbesitz der Kaffernhäuptlinge gilt als nutzbare Kapitalanlage, [143] Der Talmud beschreibt in der 3. Ordnung, 2. Traktat, 5. Kapitel, die von einer Ehefrau für den Ehemann zu verrichtenden Arbeiten. Diese verringerten sich mit der Zahl der Dienerinnen, die die Ehefrau in die Ehe einbrachte. Nur zur Verarbeitung von Wolle konnte sie in jedem Fall herangezogen werden.
53
setzt aber beim Mann auch den Besitz der zum Frauenkauf nötigen Mittel voraus. In Verhältnissen mit vorwiegender Bedeutung der Männerarbeit und vollends in sozialen Schichten, in welchen sich die Frauen an der für freie Leute unwürdig geltenden Arbeit nur als Dilettantinnen oder für Luxusbedarf beteiligen, verbietet die Kostspieligkeit der Polygamie diese für alle mittleren Vermögen von selbst. Die Monogamie als Institution ist zuerst bei den Hellenen (aber bei diesen in den fürstlichen Schichten, selbst der Diadochenzeit, noch ziemlich labil) und den Römern durchgeführt worden, in der Epoche des Übergangs zur Herrschaft eines patrizischen Stadtbürgertums, dessen Haushaltsformen sie adäquat war. Alsdann hat das Christentum sie aus asketischen Gründen zur absoluten Norm erhoben, im Gegensatz zu (ursprünglich) allen anderen Religionen. Die Polygamie behauptete sich namentlich da, wo die streng patriarchale Struktur der politischen Gewalt auch der Erhaltung der Willkür des Hausherren zugute kam. Der Begriff Kaffer ist von dem arabischen Kafir (Ungläubiger) abgeleitet und wurde oft als Sammelbegriff für Völker der Bantusprachgruppe im südlichen Afrika benutzt. Die bedeutendsten Volksgruppen waren Zulu, Xhosa und Herero. Da die Landwirtschaft vor allem von Frauen betrieben wurde, ermöglichte eine hohe Zahl von Ehefrauen die Bewirtschaftung größerer Flächen, was einen höheren Ertrag einbrachte.
Für die Entwicklung der Hausgemeinschaft als solcher kommt jene Entwicklung der Mitgiftehe zwiefach in Betracht: einmal dadurch, daß nun die „legitimen“ Kinder als Anwärter auf das väterliche Vermögen durch eine Sonderrechtsstellung innerhalb des Hauses gegenüber Konkubinenkindern differenziert sind. Ferner und namentlich dadurch, daß die Einbringung der, je nach dem Reichtum der Frauenfamilie verschieden großen Mitgiften seitens der in das Haus einheiratenden Mädchen, die naturgemäße Tendenz hat, die ökonomische Lage ihrer Männer zu differenzieren. Die eingebrachten Mitgiften pflegen zwar formell (so namentlich [144]auch im römischen Recht) einfach der Gewalt des Hausherrn anheimzufallen.
54
Materiell aber pflegt doch irgendwie dem betreffenden Mann die Mitgift seiner Frau auf ein „Sonderkonto“ zugerechnet zu werden. Das „Rechnen“ beginnt so in die Beziehungen der Gemeinschafter einzudringen. [144] Zur römischen Mitgiftregelung, dem „ius dotium“, vgl. Mommsen, Theodor, und Krüger, Paul (Hg.), Corpus Iuris Civilis, 1, Band: Institutiones, Digesta, 12. Aufl. – Berlin: Weidmann 1911, D. 23,3, S. 335–342; dass., 2. Band: Codex Iustinianus, 3. Aufl. – Berlin: Weidmann 1884, C. 5,12, S. 204–206.
[A 208]Diese Entwicklung zur Zersetzung der Hausgemeinschaft pflegt aber auf dieser Stufe regelmäßig bereits von anderen ökonomischen Motiven her in Gang gekommen zu sein. Die ökonomisch bedingten Abschwächungen des undifferenzierten Kommunismus liegen in ihren Anfängen weit zurück, so weit, daß seine völlige Ungebrochenheit historisch vielleicht nur in Grenzfällen bestanden hat. Bei Gebrauchsgütern, welche Artefakte sind, Werkzeugen, Waffen, Schmuck, Kleidungsstücken u. dgl. gilt
o
das Prinzip, daß der individuelle Hersteller sie, als Ertrag seiner individuellen Arbeit, allein oder vorzugsweise zu benutzen befugt sei und daß sie nach seinem Tode nicht notwendig der Gesamtheit, sondern bestimmten anderen, für ihre Nutzung spezifisch qualifizierten Einzelnen zufallen (so: Reitpferd und Schwert, im Mittelalter das „Heergewäte“,[144]A: ist
55
die „Gerade“ Die Heergewäte galten als ritterliches Sondervermögen, das aus der normalen Erbfolge herausgenommen und einem eigens bestimmten Nachkommen vermacht wurde. Die Heergewäte bestanden aus Pferd, Waffen und Rüstung sowie in späterer Zeit auch aus Haushaltsgegenständen.
56
usw.). Diese ersten Formen individuellen „Erbrechts“ sind auch innerhalb des autoritären Hauskommunismus sehr früh entwickelt, stammen wahrscheinlich aber aus den Zuständen vor der Entwicklung der Hausgemeinschaft selbst und sind überall verbreitet, wo und soweit individuelle Werkzeugherstellung stattfand. Bei manchen, z. B. den Waffen, beruht die gleiche Entwicklung wohl auch auf dem Eingreifen des Interes[145]ses militärischer Gewalten an der ökonomischen Ausstattung des Diensttauglichsten. Unter Gerade sind die Teile des ehelichen Vermögens zu verstehen, die als persönlicher Besitz der Frau galten und an die nächste weibliche Verwandte vererbt wurden. Zunächst waren dies vor allem Schmuck und Kleidung, im Sachsenspiegel wurden alle Gegenstände, die nur von Frauen benutzt wurden, dazu gezählt.
p
[145] In A folgt die Zwischenüberschrift: § 6. Die Auflösung der Hausgemeinschaft: Änderungen ihrer funktionellen Stellung und zunehmende „Rechenhaftigkeit“. Entstehung der modernen Handelsgesellschaften.
Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen, steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Differenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Gemeinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individuell zu gestalten und den Ertrag seiner individuellen Fähigkeiten nach Belieben zu genießen. Von außen her wird die Zersetzung gefördert durch Eingriffe konkurrierender sozialer Gebilde: z. B. auch rein fiskalischer Interessen an intensiverer Ausnutzung der individuellen Steuerkraft – welche den Interessen an der Zusammenhaltung des Besitzes zugunsten der militärischen Prästationsfähigkeit entgegenwirken können.
Die normale Folge jener Zersetzungstendenzen ist zunächst die Zunahme der Teilung der Hausgemeinschaften im Erbfall oder bei Heirat von Kindern. Die historische Entwicklung hat, nachdem in der Frühzeit, also bei relativ werkzeuglosem Ackerbau, die Arbeitskumulation das einzige ertragssteigernde Mittel gewesen war, und der Umfang der Hausgemeinschaften eine Periode der Zunahme durchgemacht hatte, mit der Entwicklung des individualisierten Erwerbs im ganzen seine stetige Abnahme herbeigeführt, bis heute die Familie von Eltern und Kindern ihr normales Ausmaß bildet. Dahin wirkte die grundstürzende Änderung der funktionellen Stellung der Hausgemeinschaft, welche derart verschoben ist, daß für den Einzelnen zunehmend weniger Anlaß besteht, sich einem kommunistischen[,] großen Haushalt zu fügen. Abgesehen davon, daß die Sicherheitsgarantie für ihn nicht mehr durch Haus und Sippe, sondern durch den anstaltmäßigen Verband der politischen Gewalt geleistet wird, haben „Haus“ und „Beruf“ sich auch örtlich geschieden[,] und ist der Haushalt nicht mehr Stätte [146]gemeinsamer Produktion, sondern Ort gemeinsamen Konsums. Der Einzelne empfängt ferner seine gesamte Schulung für das Leben, auch das rein persönliche, zunehmend von außerhalb des Hauses und durch Mittel, welche nicht das Haus, sondern „Betriebe“ aller Art: Schule, Buchhandel, Theater, Konzertsaal, Vereine, Versammlungen, ihm liefern. Er kann die Hausgemeinschaft nicht mehr als die Trägerin derjenigen objektiven Kulturgüter anerkennen, in deren Dienst er sich stellt, und es ist nicht eine als sozialpsychische „Stufe“ auftretende Zunahme des [A 209]„Subjektivismus“, sondern der die Zunahme bedingende objektive Sachverhalt, welcher jene Verkleinerung der Hausgemeinschaften begünstigt. Dabei ist nicht zu übersehen, daß es auch Hemmungen dieser Entwicklung gibt und zwar gerade auf den „höchsten“ Stufen der ökonomischen Skala. Auf agrarischem Gebiet ist die Möglichkeit freier Teilung des Bodens an technisch-ökonomische Bedingungen geknüpft: ein mit wertvollen Baulichkeiten belastetes in sich abgerundetes Gut, selbst ein großes Bauerngut, kann nur mit Verlusten geteilt werden. Die Teilung wird technisch erleichtert durch Gemengelage von Äckern und Dorfsiedelung, erschwert durch isolierte Lage. Einzelhöfe und größere kapitalintensive Besitzungen neigen daher zur Einzelerbfolge, der kleine, im Gemenge liegende arbeitsintensiv bewirtschaftete Besitz zur immer weiteren Zersplitterung, um so mehr als der erstere ein weit geeigneteres Objekt für die Belastung mit Tributrechten an den beweglichen Besitz in Gestalt unserer zur Vermögensanlage geeigneten Dauerhypotheken und Pfandbriefe ist, die ihn zugunsten der Gläubiger zusammenschmieden. Der große Besitz ferner lockt, einfach weil er Besitz und als solcher Träger einer sozialen Position ist, schon an sich zur Zusammenhaltung in der Familie, im Gegensatz zu dem kleinbäuerlichen Boden, der bloße Arbeitsstätte ist. Das seigneuriale Niveau der Lebensführung, welches seinen Stil in festgefügten Konventionen findet, begünstigt das subjektive Ertragen großer Hausgemeinschaften, welche, in der Weiträumigkeit etwa eines Schlosses und bei der auf diesem Unterbau sich von selbst einstellenden „inneren Distanz“ auch zwischen den nächsten Angehörigen, den Einzelnen nicht in dem Maße in der von ihm beanspruchten Freiheitssphäre beengt, wie ein an Personenzahl ebensogroßer, räumlich aber begrenzterer und des adligen Distanzgefühls entbehrender bürgerlicher Haushalt es gegenüber seinen, in [147]ihren Lebensinteressen meist weit mehr differenzierten, Insassen tut. Außerhalb jener seigneurialen Lebensformen ist die große Hausgemeinschaft heute nur etwa auf dem Boden intensivster ideeller Gemeinschaft einer sei es religiösen oder etwa sozial-ethischen oder auch künstlerischen Sekte eine adäquate Lebensform – entsprechend Klöstern und klosterartigen Gemeinschaften der Vergangenheit.
Auch dort[,] wo die Hauseinheit äußerlich ungetrennt erhalten bleibt, schreitet im Verlauf der Kulturentwicklung der innere Zersetzungsprozeß des Hauskommunismus durch die zunehmende „Rechenhaftigkeit“ unaufhaltsam fort. Wir betrachten hier die Art der Wirkung dieses Motivs noch etwas näher.
In den großen kapitalistischen Hausgemeinschaften der mittelalterlichen Städte (z. B. Florenz)
57
hat schon jeder Einzelne sein „Konto“. Er hat ein Taschengeld (danari borsinghi) zur freien Verfügung. [147] Dies bezieht sich wahrscheinlich auf die florentinischen Bankiersfamilien Perruzzi und Alberti, die Weber schon in seiner Dissertation (Weber, Handelsgesellschaften, S. 128–148) behandelt hatte.
58
Für bestimmte Ausgaben (z. B. Logierbesuch, den der Einzelne einlädt) sind Maxima vorgeschrieben. Im übrigen wird mit ihm abgerechnet, wie in jedem modernen Handelsgeschäft unter den Teilhabern. Er hat Kapitalanteile „innerhalb“ der Gemeinschaft und Vermögen („fuori della compagnia“), welches er zwar in ihren Händen läßt und welches sie ihm verzinst, das aber nicht als Kapital gerechnet wird und daher nicht am Gewinn teilnimmt. Das Taschengeld scheint ursprünglich Teil der Kosten gewesen zu sein, die auf alle Firmenmitglieder umgelegt wurden, ebenso wie Lebensmittel, Pferde und Büromaterial. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts wurden Taschengeld und Bekleidungskosten jedem einzelnen in Rechnung gestellt. Vgl. Weber, Handelsgesellschaften, S. 140.
59
An die Stelle der „geborenen“ Teilnahme am Gemeinschaftshandeln des Hauses mit seinen Vorteilen und Pflichten ist also eine rationale Vergesellschaftung getreten. Der Einzelne wird in die [148]Hausgemeinschaft zwar „hineingeboren“, aber er ist als Kind schon potentieller „Kommis“ und „Kompagnon“ des rational geordneten Erwerbsgeschäfts, welches durch die Gemeinschaft getragen wird. Es liegt offen zutage, daß eine solche Behandlung erst auf dem Boden reiner Geldwirtschaft möglich wurde und daß deren Entfaltung also die führende Rolle bei dieser inneren Zersetzung spielt. Die Geldwirtschaft ergibt einerseits die objektive Berechenbarkeit der individuellen Erwerbsleistungen der Einzelnen und ihres Verbrauchs und eröffnet ihnen nach der anderen Seite – durch die Entfaltung des geldvermittelten „indirekten Tauschs“ – überhaupt erst die Möglichkeit, individuelle Bedürfnisse frei zu befriedigen. Das Kapital einer Handelsgesellschaft (Corpo della compagnia) setzte sich aus den Einlagen der einzelnen Teilhaber zusammen, die auf bestimmte Zeit unabänderlich waren. Entsprechend seiner Einlage erhielt der Teilhaber bei der Abrechnung (saldemento) einen Gewinnanteil und konnte dann auch die Höhe seiner Einlage ändern. Eine weitere Form des Firmenkapitals bestand aus den fuori del corpo della compagnia, Gelder, die die Teilhaber der Firma zu einem bestimmten Zinssatz zur Verfügung stellten, die sie jedoch auch jederzeit wieder aus dem Firmenvermögen herausziehen konnten. Diese Gelder hatten keinerlei Einfluß auf die Gewinnbeteiligung der Firmenmitglieder. Vgl. Weber, Handelsgesellschaften, S. 145.
Keineswegs freilich ist der Parallelismus von Geldwirtschaft und Schwächung der Hausautorität ein auch nur annähernd vollständiger. Hausgewalt und Haus[A 210]gemeinschaft stellen vielmehr den jeweiligen ökonomischen Bedingungen gegenüber trotz deren großer Bedeutung ein an sich selbständiges, von ihnen aus gesehen: irrationales, Gebilde dar, welches oft seinerseits durch seine historisch gegebene Struktur die ökonomischen Beziehungen stark beeinflußt. Die ungebrochene Fortdauer der patria potestas des römischen Familienhaupts
60
bis an sein Lebensende z. B. ist in ihrer Entstehung teils ökonomisch und sozial, teils politisch, teils religiös bedingt gewesen (Zusammenhalt des Vermögens des vornehmen Hauses, militärische Gliederung nach Sippen und, vermutlich, Häusern, Hauspriesterstellung des Vaters). Sie hat aber die denkbar verschiedensten ökonomischen Entwicklungsstadien überdauert, ehe sie, unter den politischen Bedingungen der Kaiserzeit, auch den Kindern gegenüber Abschwächungen erfuhr. In China ist der gleichartige Zustand durch das, von dem Pflichtenkodex ins Extrem gesteigerte, von der Staatsgewalt und bürokratischen Standesethik des Konfuzianismus auch aus Zwecken politischer Domestikation der Untertanen geförderte, Pietätsprinzip bedingt, dessen Durchführung teilweise (so in den Trauervorschriften) immer wieder zu nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch undurchführbaren und bedenklichen Konsequenzen führte (massenhafte Äm[149]tervakanzen, weil die Pietät gegen den toten Hausvater – ursprünglich: die Angst vor dem Neid des Toten – wie die Nichtbenutzung andren Besitzes, so den Verzicht auf das Amt fordert). [148] Die faktisch und zeitlich völlig uneingeschränkte Herrschaft des römischen Familienvaters Über die Mitglieder seiner Familie und seines Haushaltes erlaubte ihm jegliche Verfügungsgewalt bis hin zur Entscheidung über Leben und Tod.
61
Ganz ebenso ist die Antwort auf die Frage: ob nach dem Tode des Hausherrn Einzelnachfolge (oder Anerbenrecht) oder Teilung stattfindet, zwar, wie dargelegt, [149] Um den Zorn und den Neid der Verstorbenen zu besänftigen, wurden in China den Toten umfangreiche Grabbeigaben mitgegeben und teilweise Witwen- oder andere Menschenopfer dargebracht. Die Erben mußten während der Trauerzeit (1882 betrug sie 100 Tage) nicht nur die Hinterlassenschaft der Toten meiden, sondern auch auf die Nutzung ihres eigenen Besitzes weitgehend verzichten. Da chinesische Beamte ihre Ämter häufig als Privatpfründe verstanden, legten sie im Trauerfall diese nieder. Verordnungen verschiedener Kaiser mit dem Ziel, die entstandenen Ämtervakanzen zu beschränken, griffen nicht und wurden meist aus Angst vor den Toten wieder aufgehoben. Vgl. Webers spätere Ausführungen in MWG I/19, S. 219.
62
in ihrem Ursprung sehr stark ökonomisch bedingt gewesen und unter ökonomischen Einflüssen auch wandelbar, aber (wie namentlich die modernen Arbeiten Serings u.A. gezeigt haben) Siehe oben, S. 146 f.
63
schlechterdings nicht rein ökonomisch, vollends aber nicht aus den heutigen ökonomischen Bedingungen, ableitbar. Denn unter gleichartigen Bedingungen und in unmittelbarer Nachbarschaft bestehen darin sehr oft, speziell nach der ethnischen Zugehörigkeit (z. B. Polen oder Deutsche) ganz verschiedene Systeme. Die weittragenden ökonomischen Folgen dieser verschiedenen Strukturen resultieren also aus ökonomisch oft weitgehend, entweder von Anfang an irrationalen oder, infolge Änderung der ökonomischen Bedingungen, irrational gewordenen Motiven. Max Sering führt die Vererbungssitten auf die germanische Zeit zurück. Die Verbreitung von ungeteilter Erbfolge bzw. Realteilung macht er an den früheren Siedlungsgrenzen von Sachsen und Franken bzw. an den mittelalterlichen Besitzverhältnissen fest. Vgl. Sering, Die Vererbung, S. 22–69; Gierke, Otto, Die Fideikommisse. I., in: HdStW2, Band 3, 1900, S. 880–892, und Miaskowski, August von, Das Erbrecht und die Grundeigenthumsvertheilung im Deutschen Reiche. Ein sozialwirthschaftlicher Beitrag zur Kritik und Reform des deutschen Erbrechts, Band 2 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 25). – Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 6 f., beschreiben die verbreitete ungeteilte Erbfolge in Adelsfamilien als den Versuch, über die soziale Position den politischen Einfluß der Familien zu sichern. Staatliche Eingriffe in die Vererbungssitten seien politisch motiviert gewesen. So zeigt v. Miaskowski, daß die Versuche, nach der Revolution von 1848 in Süddeutschland die Realteilung zu unterbinden, mit der Erfahrung zusammenhingen, daß Kleinbauern weit revolutionärer eingestellt gewesen seien, als die Betreiber größerer Höfe; ebd., S. 91 ff.
Unbeschadet dessen greifen aber doch die ökonomischen Tatbestände in einschneidender Weise ein. Vor allem bestehen charakteristische Unterschiede, je nachdem der Erwerb mehr dem Ertrag [150]gemeinsamer Arbeit oder mehr dem gemeinsamen Besitze zugerechnet wird. Ersterenfalls ist die Hausgewalt, mag sie an sich noch so autokratisch sein, oft labil in ihrem Bestande. Die bloße Trennung vom Elternhaus zwecks Begründung eines eigenen Haushalts genügt, um sich der Hausgewalt zu entziehen. So meist bei den großen Hausgemeinschaften primitiver Ackerbauvölker. Die sog. „emancipatio legis Saxonicae“
64
des deutschen Rechts hat ihren ökonomischen Grund sicherlich in der zur Zeit ihrer Entstehung vorwiegenden Bedeutung der persönlichen Arbeitsleistung. Dagegen ist die Hausgewalt dort besonders unzerbrechlich, wo Viehbesitz, überhaupt aber Besitz als solcher die vornehmliche Grundlage der Existenz bildet. Namentlich der Bodenbesitz, sobald der Bodenüberfluß sich in Bodenknappheit verwandelt hat. Überall ist der feste Zusammenhalt des Geschlechtes, aus den schon mehrfach erwähnten Gründen, [150] Im Gegensatz zum römischen Recht bewirkte nach den germanischen Volksrechten die Begründung eines eigenen Hausstandes (Abschichtung) die Entlassung des Kindes aus der väterlichen Gewalt (Munt). Diese Norm setzte sich im mittelalterlichen Recht durch und wurde seit dem „Gemeinen Recht“ aus dem 12. Jahrhundert als „emancipatio legis Saxonicae“ bezeichnet, obwohl sie keineswegs nur auf das sächsische Volksrecht beschränkt war.
65
ein spezifisches Attribut des Grundadels, und der grundbesitzlose oder grundbesitzarme Mann entbehrt überall auch des Geschlechtsverbandes. – Der gleiche Unterschied aber findet sich auf kapitalistischer Stufe wieder. Zur gleichen Zeit, wo die Florentiner und andere norditalienische große Siehe oben, S. 128, 146 f.
q
Hausgemeinschaften das Prinzip der Solidarhaft und der Zusammenhaltung des Besitzes vertraten,[150]A: norditalienischen großen
66
war in Handelsplätzen des Mittelmeers, speziell auch Siziliens und Süditaliens, das gerade Umgekehrte der Fall: jeder erwachsene Hausgenosse konnte jederzeit die Abschichtung mit seinem Anteil schon bei Lebzeiten des Erblassers verlangen, und auch die persönliche Solidarhaft nach außen bestand nicht. Bei jenen norditalienischen Familienbetrieben stellte das ererbte Kapital schon in höherem Grade die Grundlage der ökonomischen Machtstellung dar als die persönliche [A 211]Erwerbsarbeit der Beteiligten. Im Süden dagegen war das Umgekehrte der Fall und wurde der gemeinsame Besitz daher als Produkt gemein[151]samer Arbeit behandelt. Mit steigender Bedeutung des Kapitals gewann die erstere Behandlung an Boden. Die in einer theoretisch konstruierbaren Reihe der Entwicklungsstufen, vom ungebrochenen Gemeinschaftshandeln an gerechnet, „spätere“, kapitalistische, Wirtschaftsform bedingt hier die theoretisch „frühere“ Struktur: größere Gebundenheit der Haushörigen und größere Ungebrochenheit der Hausgewalt. – Eine weit gewichtigere und dem Okzident eigentümliche Umformung der Hausgewalt und Hausgemeinschaft aber hatte sich deutlich schon in diesen Florentiner und den ihnen gleichartigen kapitalistisch erwerbenden Hausgemeinschaften des Mittelalters vollzogen. Die Ordnungen für das gesamte ökonomische Leben der großen Hausgemeinschaft werden periodisch durch Kontrakte geregelt. Und während ursprünglich dabei die Regelung des „Taschengeldes“ mit der Regelung der Geschäftsorganisation in Eins geht, änderte sich das allmählich. Der kontinuierlich gewordene kapitalistische Erwerb wurde ein gesonderter „Beruf“, ausgeübt innerhalb eines „Betriebes“, der sich im Wege einer Sondervergesellschaftung aus dem hausgemeinschaftlichen Handeln zunehmend in der Art aussonderte, daß die alte Identität von Haushalt, Werkstatt und Kontor, wie sie der ungebrochenen Hausgemeinschaft und auch dem später zu erörternden Vgl. oben, S. 147, Anm. 59.
67
„Oikos“ des Altertums selbstverständlich war, zerfiel. Zunächst schwand die reale Hausgemeinschaft als notwendige Basis der Vergesellschaftung im gemeinsamen Geschäft. Der Kompagnon ist nicht mehr notwendig (oder doch normalerweise) Hausgenosse. Damit mußte man notwendig das Geschäftsvermögen vom Privatbesitz des einzelnen Teilhabers trennen. Ebenso schied sich nun der Angestellte des Geschäfts vom persönlichen Hausdiener. Vor allem mußten die Schulden des Handlungshauses als solche von den privaten Haushaltsschulden der einzelnen Teilhaber unterschieden und die Solidarhaft der Teilhaber auf die ersteren beschränkt werden, welche man nun daran erkannte, daß sie unter der „Firma“, dem Gesellschaftsnamen des Geschäftsbetriebes abgeschlossen waren. Das Ganze ist offensichtlich eine genaue Parallelentwicklung zu der bei der Analyse der „Herrschaft“ zu besprechenden [151] Siehe unten, S. 154–161.
68
Sonderung des bürokratischen Amtes als „Berufs“ aus [152]dem Privatleben, des „Büros“ aus dem Privathaushalt des Beamten, des aktiven und passiven Amtsvermögens von seinem Privatvermögen, der Amtshandlungen von seinen Privatgeschäften. Der kapitalistische „Betrieb“, den derart die Hausgemeinschaft aus sich heraus setzt und aus dem sie sich zurückzieht, zeigt so im Keime schon die Ansätze der Verwandtschaft mit dem „Büro“, und zwar jener heute offensichtlichen Bürokratisierung auch des Privatwirtschaftslebens. Aber nicht etwa die räumliche Sonderung des Haushalts von der Werkstatt und dem Laden ist hier das entscheidende Entwicklungsmoment. Denn diese ist gerade dem Bazarsystem des Orients, welches durchweg auf der für islamische Städte charakteristischen Trennung von Burg (Kasbeh), Siehe WuG1, S. 651 (MWG I/22-4) [[MWG I/22-4, S. 158]].
69
Bazar (Suk) [152] Kasbeh (TI.: Kasaba) bezeichnet vor allem im islamischen Westen eine außerhalb einer Stadt gelegene Garnison oder befestigte Residenz. Diese Niederlassungen entstanden häufig aus den befestigten Lagern, die die Araber nach der Eroberung einer Stadt zur Unterbringung der militärischen Besatzung errichteten.
70
und Wohnstätten beruht, eigentümlich. Suk (TI.: Suq) ist die arabische Bezeichnung für einen Markt, die in der Regel weiter spezifiziert wird, während der persische Bazar ein Sammelbegriff für alle überdachten Ladenstraßen ist. Der zentrale Markt bildete den gewerblichen Mittelpunkt einer islamischen Stadt und variierte in der Größe von einer einzelnen Markthalle bis hin zu einem mehrere Straßenzüge umfassenden Gewerbeviertel, wobei die Anordnung der einzelnen Gewerbe zueinander weitgehend normiert war.
71
Sondern die „buchmäßige“ und rechtliche Scheidung von „Haus“ und „Betrieb“ und die Entwicklung eines auf diese Trennung zugeschnittenen Rechts: Handelsregisters, Abstreifung der Familiengebundenheit der Assoziation und der Firma, Sondervermögen der offenen und Kommanditgesellschaft und entsprechende Gestaltung des Konkursrechts. Daß diese fundamental wichtige Entwicklung dem Okzident eigentümlich ist und nur hier die Rechtsformen unseres noch heute geltenden Handelsrechts fast alle schon im Mittelalter entwickelt sind, – während sie dem Recht des Altertums mit seinem quantitativ in manchen Zeiten großartiger entwickelten Kapitalismus fast ganz fremd geblieben waren, – dies gehört in den Kreis jener zahlreichen Erscheinungen, welche die qualitative Einzigartigkeit der Entwicklung zum modernen Kapitalismus mit am deutlichsten kennzeichnen. Denn sowohl die Zusammenhaltung des Vermögens der [153]Familien zum Zweck gegenseitiger ökonomischer Stützung wie die Ansätze der Entwicklung einer „Firma“ aus dem Familiennamen finden wir z. B. auch in China. Auch hier steht die [A 212]Solidarhaft der Familie hinter den Schulden des Einzelnen. Die im Geschäftsverkehr übliche Bezeichnung einer Handlung gibt auch hier über den wirklichen Inhaber keine Auskunft: die „Firma“ ist auch hier an den Geschäftsbetrieb und nicht an den Haushalt gebunden. Aber die konsequente Entwicklung eines Sondervermögens- und entsprechenden Konkursrechts nach europäischer Art scheint zu fehlen. Vor allem aber gilt zweierlei: Assoziation ebenso wie Kredit waren bis in die Gegenwart der Tatsache nach im höchsten Grade an Sippengemeinschaft gebunden. Und auch die Zwecke der Zusammenhaltung des Vermögens in den wohlhabenden Sippen und der gegenseitigen Kreditgewährung innerhalb der Sippe waren spezifisch andre. Nicht vornehmlich um kapitalistischen Gewinn, sondern vornehmlich um Zusammenbringung der Kosten für die Vorbereitung von Familiengliedern zum Examen und nachher für den Kauf eines Amts für ihn handelte es sich. War das Amt einmal erlangt, dann gab es den Verwandten die Chance, aus den legalen und noch mehr den illegalen Einkünften, die es abwarf, ihre Auslagen mit Gewinn erstattet zu erhalten und daneben noch die Protektion des Amtsinhabers sich zunutze zu machen. Die Chancen des politisch, nicht des ökonomisch bedingten Erwerbs also waren es, die hier zum „kapitalistischen“ Zusammenhalt der, auch und gerade der ökonomisch starken, Familie führten. Der Markt und die Hauptmoschee galten im islamischen Raum lange Zeit als das Hauptmerkmal einer Stadt und symbolisierten zusammen mit Regierungsgebäuden die städtische Einheit, während die Wohngebiete häufig nach ethnischen Gruppen getrennt angelegt und teilweise sogar ummauert waren.
72
– Die wenigstens formal völlig von aller sippenhaften und persönlichen Unterlage losgelöste Art der kapitalistischen Assoziation, unserer „Aktiengesellschaft“ entsprechend, findet ihre Antezedenzien im Altertum wesentlich nur auf dem Gebiet des politisch orientierten Kapitalismus: für die Steuerpächtergesellschaften, [153] Zu den sippengebundenen „Betriebsformen“ in China vgl. ausführlich MWG I/19, S. 96 ff.
73
im Mittelalter zunächst ebenfalls teils für kolonisatorische Unternehmungen (wie die [154]Großkommanditen der Maone in Genua), In der römischen Republik konnten Privatpersonen von den Zensoren Lizenzen zur Steuererhebung ersteigern. Diese privaten Steuereintreiber rekrutierten sich meist aus dem Ritterstand und bildeten häufig Gesellschaften, um einerseits die hohe Pacht aufzubringen, vor allem aber, um mögliche Verluste zu begrenzen. Mit der Kaiserzeit begann der Aufbau eines einheitlichen Steuersystems mit einer Finanzverwaltung, so daß die Steuerverpachtung stetig abnahm, bis gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. nur noch Zölle verpachtet wurden.
74
teils für Staatskredit (wie die Gläubigerassoziation in Genua, welche die Stadtfinanzen faktisch in Sequester hatte).[154] Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts (wie oben, S. 106, Anm. 46), S. 292–298, führt den Begriff „Maona“ auf das arabische my-ûnah zurück, was soviel wie „außerordentliche Beihilfe“ oder „Handelsgesellschaft“ bedeutet. Maone ist eine für Genua typische Bezeichnung für Staatsanleihen, die in Norditalien üblicherweise monte genannt wurden und zur Staatsfinanzierung ausgegeben wurden. Die einzelnen Papiere (in Genua immer mindestens 100 Lira wert) waren frei verkäuflich, vererblich und steuerfrei. Die Rückzahlung erfolgte durch die Verpachtung von Staatseinkünften. Mit zunehmender Verbreitung der Staatsanleihen schlossen sich die Gläubiger in Organisationen zusammen (societas comperarum). Kolonisatorisch wirkte z. B. die Maone der Guistiniani. 1346 rüsteten Privatpersonen 29 Schiffe zur Eroberung Phökiens aus, dessen Nutzeigentum der genuesische Staat der Gesellschaft überließ.
75
Innerhalb des Privaterwerbs ist die rein geschäftliche und rein kapitalistische Assoziation zunächst – ganz der Art des Gelegenheitshandelns entsprechend – nur in Form der Gelegenheitsgesellschaft (commenda) Vgl. oben, S. 106, Anm. 46.
76
für den Fernhandel (Kapitaleinlage eines Geldgebers bei einem reisenden Kaufmann für die konkrete Reise mit Gewinn- und Verlustteilung) entwickelt, die sich schon im altbabylonischen Recht Der Begriff Commenda bezeichnet ein in den italienischen Städten des Mittelalters entwickeltes gesellschaftsähnliches Vertragsverhältnis zwischen zwei Partnern, von denen einer das Kapital und der andere die Transportmittel zur Verfügung stellte und den Verkauf übernahm. Weber definiert Commenda als ein Geschäft, „durch welches jemand die Verwertung von Waren eines anderen auf dessen Gefahr, gegen Gewinnbeteiligung übernimmt.“ Vgl. Weber, Handelsgesellschaften, S. 17.
77
und dann ganz universell findet. Die von der politischen Gewalt monopolistisch privilegierten Unternehmungen, namentlich die Kolonialunternehmungen in Form von Aktiengesellschaften[,] bildeten dann den Übergang zur Verwendung dieser Formen auch im rein privaten Geschäft. Wegen der relativ geringen Geldmittel in der babylonischen Gesellschaft schlossen sich häufig mehrere Personen zu einer Gesellschaft zusammen, um ein Haus zu kaufen, Felder zu bestellen oder Handelsgeschäfte zu tätigen. Bei der Auflösung einer solchen Gesellschaft wurden Sachwerte, Kapital und Sklaven wieder unter den Teilhabern aufgeteilt. Vgl. Meissner, Bruno, Beiträge zum Altbabylonischen Privatrecht. – Leipzig: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung 1893, Fragment 78–80, S. 64–66.
r
[154] In A folgt die Zwischenüberschrift: § 7. Die Entwicklung zum „Oikos“.
Diese Unternehmungsformen, welche als Unterlage eines kapitalistischen Betriebs, dessen radikalste Loslösung von der urwüchsigen Identität mit der Hausgemeinschaft bedeuten, haben uns hier [155]nicht speziell zu beschäftigen. Vielmehr geht uns jetzt eine Evolution der Hausgemeinschaft an, welche einen, in den entscheidenden Punkten gerade entgegengesetzten, Typus zeigt. Der inneren Zersetzung der Hausgewalt und Hausgemeinschaft durch – im weitesten Sinn – „Tausch nach außen“ und seine Folgen bis zur Geburt des kapitalistischen „Betriebes“ steht als eine gerade entgegengesetzte Art der Entwicklung gegenüber: die innere Gliederung der Hausgemeinschaft: ihre Ausgestaltung zum ,,Oikos“, wie Rodbertus die hier zu besprechende Erscheinung genannt hat.
78
Ein „Oikos“ im technischen Sinne ist nicht etwa einfach jede „große“ Hausgemeinschaft oder jede solche, die mannigfache Produkte, z. B. gewerbliche neben landwirtschaftlichen, in Eigenproduktion herstellt, sondern er ist der autoritär geleitete Großhaushalt eines Fürsten, Grundherrn, Patriziers, dessen letztes Leitmotiv nicht kapitalistischer Gelderwerb, sondern organisierte naturale Deckung des Bedarfs des Herrn ist. Dazu kann er sich aller Mittel, auch des Tauschs nach außen, in größtem Maßstab bedienen. Entscheidend bleibt: daß das formende Prinzip für ihn „Vermögensnutzung“ und nicht „Kapitalverwertung“ ist. Der „Oikos“ bedeutet seinem entscheidenden Wesen nach: organisierte Bedarfsdeckung, mögen ihm zu diesem Zweck auch erwerbswirt[A 213]schaftliche Einzelbetriebe angegliedert sein. Zwischen beiden Prinzipien gibt es natürlich eine Skala unmerklicher Übergänge und auch ein häufiges Gleiten und Umschlagen vom einen in das andre. In der Realität des Empirischen ist der „Oikos“, bei irgend entwickelter materieller Kultur, in wirklich rein gemeinwirtschaftlicher Form notwendig selten. Denn ganz rein, d. h. unter dauernder Ausschaltung des Tauscherwerbsgesichtspunkts[,] kann er allerdings nur bestehen, wenn er, mindestens dem Streben nach, in ökonomischer „Autarkie“, d. h. also: als [156]möglichst tauschlose Eigenwirtschaft auftritt. Ein Apparat von haushörigen Arbeitskräften mit oft sehr weitgehender Arbeitsspezialisierung erzeugt dann den gesamten, nicht nur ökonomischen, sondern auch militärischen und sakralen, Bedarf des Herrn an Gütern und persönlichen Diensten, der eigene Boden gibt alle Rohstoffe her, eigene Werkstätten mit eigenhörigen Arbeitskräften erzeugen alle anderen Sachgüter, eigenhörige Dienstboten, Beamte, Hauspriester, Kriegsmannen beschaffen die sonstigen Leistungen, und der Tausch dient nur allenfalls der Abstoßung gelegentlicher Überschüsse und der Ergänzung des schlechterdings nicht selbst Erzeugbaren. Dies ist ein Zustand, welchem in der Tat die Königswirtschaften des Orients, namentlich Ägyptens, und in kleinerem Maßstab die Wirtschaft der Adligen und Fürsten des homerischen Typus sich weitgehend annähern und mit dem die Hofhaltungen der Perser- und auch der Frankenkönige starke Verwandtschaft besitzen, in dessen Richtung sich die Grundherrschaften der römischen Kaiserzeit mit zunehmendem Umfang, zunehmender Knappheit der Sklavenzufuhr und zunehmender bürokratischer und leiturgischer Einengung des kapitalistischen Erwerbs zunehmend entwickelten – während die mittelalterlichen Grundherrschaften im ganzen mit wachsender allgemeiner Bedeutung des Güterverkehrs, der Städte und der Geldwirtschaft die gerade entgegengesetzte Entwicklungstendenz zeigten. Rein eigenwirtschaftlich ist aber der Oikos in all diesen Formen niemals gewesen. Der Pharao trieb auswärtigen Handel und ebenso die große Mehrzahl gerade der primitiven Könige und Adligen des Mittelmeerbeckens: sehr wesentlich auch auf dessen Erträgen beruhten ihre Schätze. Die Einnahmen der Grundherren enthielten schon im Frankenreich zum erheblichen Teil Geld oder geldeswerte Bezüge und Renten aller Art. Die Kapitularien setzen den Verkauf der für den Bedarf des Hofes und Heeres nicht erforderlichen Überschüsse der königlichen fisci [155] Gemeint ist Rodbertus, Zur Geschichte der römischen Tributsteuern, Teil II, S. 343. Vgl. auch oben, S. 96, Anm. 30. Das folgende bezieht sich auf eine wissenschaftliche Debatte zwischen Karl Bücher und Eduard Meyer. Bücher übernahm von Rodbertus die These, daß in der Antike eine reine Oikenwirtschaft bestanden habe, in der die Einzelhaushalte lediglich ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt hätten. Eine wirkliche Volkswirtschaft mit Güteraustausch ist nach Bücher erst mit dem modernen Staat entstanden. Meyer wendet dagegen ein, daß bereits in den griechischen Stadtstaaten die Bürger eigene wirtschaftliche Interessen verfolgten. Vgl. Bücher, Karl, Die Entstehung der Volkswirtschaft. – Tübingen: Laupp 1893, S. 14–16; Meyer, Eduard, Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 9, 1895, S. 696–750.
79
als ziemlich regelmäßige Erscheinung vor[157]aus. Die unfreien Arbeitskräfte der großen Boden- und Menschenbesitzer sind in allen näher bekannten Beispielen nur zum Teil gänzlich in die Herrenwirtschaft gebannt gewesen. Im strengen Sinn gilt dies für die persönlichen Dienstboten und für diejenigen anderen Arbeitskräfte, welche in einer gänzlich der naturalen Bedarfsdeckung des Herrn dienenden Wirtschaft tätig sind und vom Herrn vollständig verpflegt werden auf der einen Seite: „eigenwirtschaftliche Verwendung“ – andererseits aber gerade auch für solche unfreie Arbeiter, welche der Herr in einem eigenen Betrieb für den Markt arbeiten ließ, wie die karthagischen, sizilianischen und römischen Grundherren ihre kasernierten Sklaven in den Plantagen [156] Weber meint hier die Kapitularien, d. h. die in Artikel (capitulae) eingeteilten Königsgesetze, die u. a. die Verwaltung der königlichen Domänen (fiscus) normierend beschreiben. Das bekannteste Gesetz dieser Art ist das ,Capitulare de villis‘, das Karl der Große zwischen 790 und 800 erließ. Es behandelte neben der Beschreibung der materiellen Domänenausstattung die Versorgungspflichten des fiscus gegenüber dem reisenden Königshof, den Schutz der Hörigen und die Aufsichtspflicht der Verwalter (iudices, maiores), auch die Techniken von Viehzucht und Ackerbau.
80
oder wie etwa der Vater des Demosthenes seine Sklaven in seinen beiden Ergasterien, [157] Römischen Landsklaven war das Verlassen der Latifundien grundsätzlich verboten. Nur dem Aufseher (villicus) wurden auch Aufgaben außerhalb des Landgutes zugeteilt. Seit Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Feldsklaven in Ketten zur Arbeit geführt und nachts in das Ergastulum gesperrt, einem speziellen, meist unterirdischen Gefängnis. Vgl. Cato, De agricultura 151–152; Columella, de re rustica I, 8.
81
und wie in moderner Zeit russische Grundherren ihre Bauern in ihren „Fabriken“: In dem Prozeß gegen seinen Vormund erwähnt Demosthenes eine Waffenmanufaktur mit 32 oder 33 Sklaven und eine Möbelmanufaktur mit 20 Sklaven. Vgl. Demosthenes, Aphobus, I, 9.
82
– „erwerbswirtschaftliche Verwendung“. Diese Plantagen- und Ergasterien-Sklaven aber sind zum sehr bedeutenden Bruchteil Kaufsklaven, also ein auf dem Markt gekauftes, nicht selbst erzeugtes Produktionsmittel. Im eignen Haushalt erzeugte unfreie Arbeiter setzen die [158]Existenz von unfreien „Familien“ Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzten adelige russische Gutsbesitzer als Reaktion auf die staatlichen Förderungen der nicht-adeligen Fabrikunternehmer unter Peter dem Großen ihre leibeigenen Bauern auch als Fronarbeiter in gutseigenen Betrieben ein. Die Bauern wurden zu dieser Zwangsarbeit oft gewaltsam gezwungen und wie Sträflinge behandelt. Erst durch die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 wurden die Reste dieses Systems beseitigt. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser sog. Erbguts- oder Adeligenfabriken war bei den Zeitgenossen durchaus umstritten. Während der russische Wirtschaftshistoriker Tugan-Baranowsky konkrete Aussagen über das Ausmaß dieser Fabriken für nicht möglich hielt, glaubte Schulze-Gävernitz, daß die gutsherrlichen Fabriken die staatlich geförderten Manufakturen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts an Zahl und Bedeutung deutlich übertrafen. Vgl. Tugan-Baranowsky, Michael Ivanovič, Geschichte der russischen Fabrik (Sozialgeschichtliche Forschungen, hg. von Stephan Bauer und Ludo Moritz Hartmann, Heft 5/6). – Berlin: Emil Felber 1900, S. 120–128; Schulze-Gävernitz, Gerhart von, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland. – Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 19–29.
83
voraus, also eine Dezentralisierung der Hausgebundenheit und normalerweise einen teilweisen Verzicht auf restlose Ausnutzung der Arbeitskraft für den Herren. Weitaus die Mehrzahl solcher erblich unfreien Arbeitskräfte wird daher nicht in zentralisierten Betrieben verwendet, sondern hat dem Herrn nur einen Teil ihrer Leistungsfähigkeit zur Verfügung zu stellen oder liefert ihm Abgaben in mehr oder minder willkürlicher oder traditionsgebundener Höhe, sei es in Naturalien, sei es in Geld. Ob der Herr vorzieht, die Unfreien als Arbeitskräfte oder als Rentenfonds zu benutzen, hängt vor allem davon ab, wie er sie am einträglichsten verwerten kann. [A 214]Familienlose Kasernensklaven setzen zur Ergänzung des Arbeiterbedarfs große Billigkeit und Stetigkeit des Sklavenangebots, also stetige Menschenraubkriege und billige Ernährung der Sklaven: südliches Klima, voraus. Erblich abhängige Bauern ferner können Geldabgaben nur zahlen, wenn sie ihre Produkte auf einen ihnen zugänglichen, also im allgemeinen: einen lokalen, Markt bringen können, wenn mithin die Städte des Gebiets entwickelt sind. Wo die städtische Entwicklung dürftig war und also die Ernte nur durch Export voll verwertet werden konnte, – wie im deutschen und europäischen Osten in der beginnenden Neuzeit im Gegensatz zum Westen und auf der „schwarzen Erde“ [158] Während die Sklavenehe im griechischen Kulturraum durchaus verbreitet war, war sie im republikanischen Rom nahezu unbekannt. Vgl. Plautus, Casina, 67–74; Tituli ex Corpore Ulpiani, V, 5, in: Fontes Iuris Romani Antejustiniani, hg. v. Johannes Baviera. – Florenz: S.A.G. Barbѐra 1968, S. 268. Das römische Recht regelte nur das Besitzverhältnis der Kinder aus Sklavenverbindungen, indem es die Nachkommen dem Besitzer der Mutter zuschrieb. Mit dem Rückgang des Sklavenangebotes im 1. Jahrhundert n. Chr. wurden Sklavinnen für die Geburt von Söhnen mit Arbeitsbefreiung oder Freilassung belohnt. Vgl. Columella, de re rustica, I, 8, 19.
84
Rußlands im 19. Jahrhundert, – da war die Benutzung der Bauern als Arbeitskräfte in einer eigenen Fronwirtschaft des Herrn oft der einzige Weg, sie zur Erzielung von Geldeinnahmen nutzbar zu machen[,] und entwickelte sich daher innerhalb des „Oikos“ ein landwirtschaftlicher „Großbetrieb“. Die Schaffung von eignen gewerblichen Großbetrieben mit unfreien Arbeitskräften oder unter Zuhilfenahme oder ausschließlicher Verwendung gemieteter unfreier oder noch freier Arbeitskräfte in [159]eignen oder auch in gemieteten Ergasterien kann den Herren eines Oikos, der sich solche Betriebe angliedert, ganz dicht an einen kapitalistischen Unternehmer heranrücken oder ganz in einen solchen umschlagen lassen, wie dies z. B. bei den Schöpfern der schlesischen „Starosten-Industrie“ Das landwirtschaftlich besonders ertragreiche Schwarzerdegebiet erstreckt sich von Moldawien über die südliche Ukraine hin zum unteren und mittleren Lauf der Wolga.
85
vollständig geschehen ist. Denn nur der letzte Sinn: rentenbringende Nutzung eines vorhandenen Vermögensbestandes, charakterisiert den „Oikos“, und dieser kann von einem primären Verwaltungsinteresse vom Unternehmerkapital tatsächlich ununterscheidbar und schließlich auch inhaltlich mit ihm identisch werden. Innerhalb einer „Starosten-Industrie“ wie der schlesischen ist z. B. der Umstand, der an die grundherrliche Entstehung erinnert, vor allem die Art der Kombination verschiedener Unternehmungen: etwa riesiger Forstbetriebe mit Ziegeleien, Brennereien, Zuckerfabriken, Kohlengruben, also: von Betrieben, welche nicht so verknüpft sind, wie etwa eine Reihe von Betrieben, die miteinander in einer modernen „kombinierten“ oder „gemischten“ Unternehmung vereinigt werden, weil sie verschiedene Verarbeitungsstadien der gleichen Rohstoffe: Ausnutzung von Nebenprodukten und Abfall enthalten oder sonst durch Marktbedingungen verbunden werden. Allein der Grundherr, der an seine Kohlengruben ein Hüttenwerk und eventuell Stahlwerke, an seine Forstwirtschaft Sägmühlen und Zellulosefabriken angliedert, kann praktisch dasselbe Ergebnis herbeiführen, und nur der Ausgangspunkt, nicht das Resultat, sind dann hier und dort verschieden. Ansätze zu durch den Besitz eines Rohstoffs gegebenen Kombinationen finden sich schon auf dem Boden der Ergasterien der Antike. Der Vater des Demosthenes, einer attischen Kaufmannsfamilie entstammend, war Importeur von Elfenbein, welches er (τῷ βουλομένῷ) verkaufte und das zur Einlage sowohl in Messergriffe wie in Möbel verwendet wurde. Er hatte schon begonnen, [160]eigne angelernte Sklaven in eigner Werkstatt Messer herstellen zu lassen[,] und mußte von einem zahlungsunfähigen Möbeltischler dessen Ergasterion, d. h. wesentlich: die darin arbeitenden Sklaven, übernehmen. Er kombinierte von dem Besitze je ein Messerschmiede- und ein Tischler-Ergasterion. [159] In Rußland wurden die nach der Bauernbefreiung von 1861 von den Dorfgemeinden gewählten Dorfvorsteher als Starosten bezeichnet. Die polnischen Starosten waren hingegen adelige Lehensleute auf den königlichen Gütern, später Landräte. Weber spielt wahrscheinlich auf die Grafen Henckel-Donnersmarck in dem schon stark industrialisierten Kreis Tarnowitz (Regierungsbezirk Oppeln) an, die er schon 1904 als „spezifische Repräsentanten der schlesischen Starostenindustrie“ bezeichnet hatte. Für diese Art der Industrie war die systematische Ausbeutung von Bodenschätzen charakteristisch. Vgl. Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: MWG I/8, S. 92–188, hier: S. 134.
86
Die Entwicklung der Ergasterien hat dann auf hellenistischem, besonders wohl alexandrischem und auch noch auf altislamischem Boden Fortschritte gemacht. Die Ausnutzung gewerblicher unfreier Arbeitskräfte als Rentenquelle ist im ganzen Altertum, im Orient wie im Okzident, im frühen Mittelalter und in Rußland bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft üblich gewesen. Der Herr vermietet seine Sklaven als Arbeitskräfte: so tat es [160] Vgl. die Prozeßrede des Demosthenes gegen seinen Vormund. Demosthenes, Aphobus, I, 9, 20, 24–25, 27, 30, 32.
s
Nikias mit ungelernten Sklaven in größtem Maßstab an die Bergwerksbesitzer.[160] Fehlt in A; es sinngemäß ergänzt.
87
Er läßt sie eventuell zum Zweck besserer Verwertung zu gelernten Handwerkern ausbilden, was sich im ganzen Altertum, angefangen von einem Kontrakt, in dem der Kronprinz Kambyses als Besitzer des Lehrmeisters genannt ist, Nikias vermietete z. B. 1000 Bergwerkssklaven an einen Silberminenbesitzer, der pro Tag einen bestimmten Betrag zu zahlen und eventuelle Ausfälle zu ersetzen hatte. Die Vermietung von Minensklaven war in Griechenland durchaus üblich, wenn auch normalerweise in geringerem Umfang. Vgl. Xenophon, Poroi, IV, 14, 15.
88
bis zu den Pandekten ganz wie noch in Rußland im 18. und 19. Jahrhundert findet. Oder er überläßt es ihnen, nachdem er sie hat ausbilden lassen, ihre Arbeitskraft als Handwerker zu eigenem Nutzen zu verwerten, und sie müssen ihm dafür eine Rente (griechisch: apophora, babylonisch: [A 215]mandaku, deutsch: Halssteuer, russisch: obrok) Ein entsprechender Vertrag konnte nicht nachgewiesen werden.
89
zahlen. Der Herr kann ihnen dabei auch die Arbeitsstätte stellen und sie mit Betriebsmitteln (peculium) Die Begriffe bezeichnen die in Naturalien oder Geld entrichteten Zinsabgaben der Bauern an Gutsbesitzer oder an den Staat. In Rußland mußte der Obrok bis zur Bauernemanzipation von 1861 gezahlt werden.
90
und [161]Erwerbskapital (merx peculiaris) Peculium bezeichnete im römischen Recht alle Formen von Vermögen, die eine besondere rechtliche Stellung einnahmen; insbesondere bezeichnete der Begriff solche finanziellen Mittel, die der Hausherr einem Sklaven oder sonstigen Mitglied seines Haushaltes zur selbständigen Verwaltung übertragen hatte, wobei diese im Besitz des Hausherren verblieben.
91
ausrüsten. Von einer, der Tatsache nach, fast völligen Bewegungsfreiheit bis zu gänzlicher Einschnürung in eine kasernenartige Existenz im Eigenbetrieb des Herrn sind alle denkbaren Zwischenstufen historisch bezeugt. Die nähere ökonomische Eigenart der so, sei es in der Hand des Herren, sei es in der der Abhängigen, auf dem Boden des Oikos erwachsenen „Betriebe“ gehört im einzelnen in einen anderen Problemkreis. Die Entwicklung des „Oikos“ zur patrimonialen Herrschaft dagegen werden wir im Zusammenhang mit der Analyse der Herrschaftsformen zu betrachten haben. [161] „Merx peculiaris“ bezeichnet Waren, die der Besitzer einem anderen zum Gebrauch überläßt, wie z. B. Werkzeuge. Bei den lateinischen Bezeichnungen für Betriebsmittel bzw. Erwerbskapital scheint an dieser Stelle eine Verwechslung vorzuliegen.
92
Siehe WuG1, S. 682 ff. (MWG I/22-4).