[1]Einleitung
I. Der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund
In den Texten über „Gemeinschaften“ beabsichtigte Max Weber eine geschlossene Darstellung aller „großen Gemeinschaftsformen“ der uns bekannten Geschichte vorzulegen; diese sollte zugleich grundlegende soziologische Erkenntnisse über die höchst unterschiedlichen Typen gesellschaftlicher Ordnungen und ihrer jeweiligen Formen des „Wirtschaftens“ erbringen. Er stand damit in einer langen Tradition von Versuchen der soziologischen, ethnologischen und nationalökonomischen Forschung des 19. Jahrhunderts, die Entstehung der modernen Zivilisation und des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit ihren ersten Anfängen entweder als linearen Entwicklungsprozeß oder als Abfolge von Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung zu rekonstruieren. Unter den Soziologen war es Auguste Comte,
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der erstmals eine Theorie der gesetzmäßigen Entwicklung der Menschheit seit ihren Anfängen vorgelegt hatte, gefolgt von begeisterten Propagandisten der Idee des unaufhaltsamen Fortschritts der Menschheit zu immer neuen Höhen der Kulturentwicklung, wie beispielsweise Herbert Spencer.[1] Comte, Auguste, Cours de la philosophie positive, 6 Bände. – Paris: Buchelier 1830–1842.
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Unter den Ethnologen waren es vor allem englische und amerikanische Wissenschaftler, die hier eine Vorreiterrolle spielten. Am prominentesten und wirksamsten war Lewis Henry Morgan, der auf der Grundlage eines großenteils neu erschlossenen ethnologischen Materials über amerikanische Indianerstämme eine einflußreiche Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte vorlegte. Morgan nahm an, daß sich in den Lebensformen und Gewohnheiten primitiver Völker zugleich die Urgeschichte auch der fortgeschrittenen Nationen der westlichen Welt vorfinde und dergestalt zuverlässig rekonstruieren lasse. Spencer, Herbert, The study of sociology, 5 Bände. – London, New York: D. Appleton 1873.
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Die ethnologischen Theorien über die Geschichte der Menschheit vom Urzustand bis in die Gegenwart gingen von der relativ [2]simplen Annahme aus, daß alle Völkerschaften auf dem Erdball denselben Prozeß schrittweiser Zivilisierung durchlaufen haben bzw. noch durchlaufen würden. Diese Annahmen, die beim damaligen Stand der ethnologischen Forschung plausibel erschienen, beruhten auf einem optimistischen Fortschrittsbegriff, der davon ausging, daß der Prozeß der Zivilisation sich im Prinzip stetig und linear vollziehe und sich in den höheren Stadien der Entwicklung Wohlstand, Rechtssicherheit und freiheitliche politische Verhältnisse gleichsam zwangsläufig einstellen würden. Veröffentlichungen dieses Genres fanden bei den großbürgerlichen Schichten Europas vor der Jahrhundertwende großen Zuspruch. Ihnen wurde handgreiflich vor Augen geführt, wie herrlich weit man es doch in den fortgeschrittenen Industriestaaten Nordamerikas und Europas gebracht habe. Vgl. z. B. Morgan, Die Urgesellschaft. Zu weiteren Literaturangaben siehe den Text „Hausgemeinschaften“, unten, S. 135, Anm. 33.
Darüber hinaus lösten manche Thesen der damals noch in ihren wissenschaftlichen Anfängen stehenden Ethnologie leidenschaftliche Debatten aus. Dies gilt insbesondere für die Theorie Bachofens über die Muttergesellschaft, welche den späteren patriarchalischen Gesellschaften durchweg vorausgegangen sei.
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Die These, daß in frühen Phasen der Menschheitsgeschichte das Matriarchat die Regel gewesen sei, löste in den westlichen Gesellschaften, in denen die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe als gleichsam naturgegebener Tatbestand angesehen wurde, einige Irritation aus. Der radikale Flügel der Frauenbewegung, die damals noch gegen einen Wall von maskulinen Vorurteilen anzukämpfen hatte, griff die Thesen von der Muttergesellschaft als der ursprünglichen Form des menschlichen Zusammenlebens, die erst später durch die pervertierten Formen männlicher Vorherrschaft verdrängt worden sei, auf. Sie fand Bundesgenossen bei Teilen der sozialistischen Bewegung, die sich ihrerseits auf die Erkenntnisse über die kommunistischen Lebensformen der frühen Gesellschaften berief, um der Idee des Sozialismus zusätzliche Überzeugungskraft zu verleihen. Aus sozialistischer Sicht wurde die schrittweise Herausbildung von privatwirtschaftlichen Formen des Eigentums in der Urgesellschaft als Anfang eines verfehlten Entwicklungspfades hin zur modernen Zivilisation gedeutet, den der Sozialismus zum Wohle der Menschheit zu korrigieren sich anschicke. Friedrich Engels’ Werk „Der Ursprung der Familie“ war um die Jahrhundertwende eine der erfolgreichsten Popularisationen der Thesen von Morgan, kombiniert mit der Propagierung der Idee der sozialistischen Zukunftsgesellschaft, in der es kein Privateigentum mehr geben werde und welche die [3]Erfüllung der Menschheitsgeschichte darstelle.[2] Bachofen, Johann Jacob, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, 2. Aufl. – Basel: Benno Schwabe 1897 (hinfort: Bachofen, Mutterrecht).
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Die Kombination eines naiven Fortschrittsglaubens mit einer Geschichtstheorie, die zwangsläufig zu einer neuen, im Grundsatz ursprünglicheren Gesellschaftsordnung führen werde, sowie einer ausgeprägten Wissenschaftsgläubigkeit fand großen Zuspruch beim Publikum. Auch August Bebel hat sich in seinem damals überaus erfolgreichen Buch „Die Frau und der Sozialismus“ in dieses Fahrwasser begeben.[3] Engels, Der Ursprung der Familie, S. 186–188.
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Es lag nahe, daß auch die zeitgenössische Nationalökonomie diesem Thema ihre Aufmerksamkeit zuwandte. Bebel, Die Frau und der Sozialismus, S. 263 ff.
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Ein Beispiel dafür, das auch von Max Weber zitiert wurde, ist die Abhandlung von Brentano, Lujo, Die Volkswirthschaft und ihre konkreten Grundbedingungen, in: Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 1, 1893, S. 101–148. Auch Karl Bücher geht in seiner Abhandlung Die Entstehung der Volkswirtschaft, Vorträge und Aufsätze, 2. Aufl. – Tübingen: Laupp 1898 (hinfort: Bücher, Volkswirtschaft) eingangs ausführlich auf die damaligen ethnologischen Theorien ein.
Neben diesen ethnologisch orientierten Theorien standen in großer Zahl Theorien der Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung seit den Anfängen der Menschheit.
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Im deutschsprachigen Raum waren diese vielfach mit der Absicht verbunden, die rein theoretische Begrifflichkeit der klassischen Nationalökonomie durch die Einbeziehung der historischen Dimension zu überwinden. Karl Heinrich Rau beispielsweise differenzierte zwischen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Kriterium der jeweilig vorherrschenden Formen wirtschaftlicher Tätigkeiten. Er unterschied zwischen den Kulturstadien der Jäger und Sammler, der Hirten und Viehzüchter, der Ackerbauern und schließlich der Gewerbe- und Handeltreibenden. Eine knappe Übersicht bei Winkel, Harald, Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 175–180. Vgl. auch Hoselitz, Bert F. (Hg.), Theories of Economic Growth. – Glencoe (Illinois): Free Press 1960, S. 193–238.
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Bedeutsamer wurde in der Folge die Stufentheorie Friedrich Lists. Rau, Karl Heinrich, Lehrbuch der politischen Ökonomie, 3 Bände. – Leipzig: C. F. Winter 1863–1865.
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Sie unterschied zwischen fünf Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung, die im Prinzip alle Völker zu durchlaufen hätten, den wilden Zustand, den Hirtenzustand, den Agrikulturstaat, den Agrar-Manufakturstaat und den Agrar-Manufaktur-Handelsstaat. List wies der staatlichen Wirtschaftspolitik die Aufgabe zu, durch geeignete gesetzliche Maßnahmen, gegebenenfalls durch Schutzzölle, eine harmonische Entwicklung der Nationalwirtschaft zu befördern und dazu beizutragen, diese auf die jeweils nächsthöhere Stufe der Entwicklung zu heben. List, Friedrich, Das nationale System der politischen Ökonomie. – Stuttgart: Cotta 1841.
[4]Die seit der Jahrhundertmitte im deutschen Sprachraum dominierende und zur herrschenden Lehre aufsteigende Historische Schule der Nationalökonomie war sich durchgängig darüber einig, daß die Entstehung des modernen marktorientierten Wirtschaftssystems nicht ohne Berücksichtigung der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren, und namentlich der Rolle des Staates, erklärt werden könne und daß die verschiedenen Nationen jeweils sehr unterschiedliche Wege zur modernen Verkehrswirtschaft beschritten hätten und künftig noch beschreiten würden. Sie wandte sich damit gegen die generelle Anwendbarkeit der klassischen nationalökonomischen Theorie, die sich insbesondere mit den Namen von Adam Smith und David Ricardo verband. Die Berücksichtigung der geschichtlichen Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielfalt empfahl sich auch deshalb, weil man meinte, daß sonst der politische Aspekt der Dinge ungenügende Berücksichtigung finden würde. Karl Knies beispielsweise argumentierte, daß man nur durch den Rückgriff auf die geschichtliche Dimension „zum vollen Verständnis der ökonomischen Lage der Gegenwart und der Richtung, in welcher wir uns bewegen, gelangen“ könne.
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„Erst dann, wenn sie sich auf diesen geschichtlichen Boden stellt“, könne die Nationalökonomie „sicher in das Leben der Wirklichkeit eingreifen und so die Früchte“ ihrer Arbeit „nutzbarer machen“.[4] Knies, Karl, Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpuncte, photomechan. Nachdruck der 2. Auflage von 1883. – Osnabrück: Zeller 1964, S. 376.
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Max Weber stand solchen Ansichten anfänglich durchaus nicht fern; im Gegenteil, er betrachtete die Berücksichtigung der historischen Konstellationen im Kontext nationalökonomischer Analysen als unentbehrlich. In den überlieferten Stichwortmanuskripten zu den Vorlesungen über „Agrarpolitik“ aus den 1890er Jahren heißt es beispielsweise im Zusammenhang von Erörterungen über die Agrarverfassung und die unterschiedlichen Formen der Anwendung des Rechts auf die Agrarwirtschaft: „Verständnis nur historisch zu vermitteln. Sonst fragmentarisch“. Das agrarische Recht, so wird weiter ausgeführt, sei „ein Produkt histor[ischer] Entwicklung, die im Fluß befindl[ich] ist“. Ebd., S. 377.
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Dies kann natürlich nicht überraschen, denn Max Weber kam als Schüler August Meitzens selbst aus der Denktradition der Historischen Schule. Aber er ging, wie noch zu zeigen sein wird, in der Folge zunehmend auf Distanz zu einer rein historischen Zugriffsweise auf nationalökonomische und sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche. Er sah sich freilich mit einem ganzen Bündel von Stufentheorien der Wirtschaft konfrontiert, die jeweils beanspruchten, eine allgemeingültige Theorie der Entstehung der mo[5]dernen marktorientierten Wirtschaftsordnung seiner Zeit geliefert zu haben. GStA Berlin, I. HA, Nl. Max Weber, Rep. 92, Nr. 31, Band 3, Bl. 323. [[MWG III/5, S. 74]]
Es gehörte fast zum guten Ton unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Nationalökonomen, derartige Stufenmodelle der wirtschaftlichen Entwicklung zu verfassen. Bruno Hildebrand legte schon 1848 eine Stufentheorie der wirtschaftlichen Entwicklung vor, die sich in erster Linie an das Kriterium der Formen des wirtschaftlichen Austausches hielt. Er unterschied noch sehr pauschal zwischen einer Stufe der Naturalwirtschaft, einer zweiten Stufe der Geldwirtschaft und einer dritten der Kreditwirtschaft, welche erst die volle Entfaltung des industriellen Systems zu bringen verspreche.
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Gustav von Schönberg entwickelte in dem Bemühen, die Vorschläge Lists mit den weit präziseren Argumenten Hildebrands zu kombinieren, ein komplexes Modell, das drei hauptsächliche Wirtschaftszustände vorsah, nämlich Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft und Volkswirtschaft, diese aber in mannigfaltiger Weise mit dem Entwicklungsstand und den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen der einzelnen Völker in Beziehung setzte.[5] Hildebrand, Bruno, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft. – Frankfurt a. Μ.: Rütten 1848.
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Gustav Schmoller hingegen ging von den historisch gegebenen und im Laufe der Geschichte einander ablösenden politischen Einheiten aus, innerhalb welcher sich die Entfaltung der Wirtschaft vollzogen habe. Er unterschied zwischen den Stufen der Dorfwirtschaft, Stadtwirtschaft, Territorialwirtschaft und Volkswirtschaft, wobei letztere sich auf den Siedlungsbereich eines Volkes bezog. Maßgeblich war für Schmoller der durch Austausch, Handel und gewerbliche Produktion erreichte Grad der Integration wirtschaftlichen Handelns zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Für ihn bestand kein Zweifel, daß die politischen Ordnungen eine maßgebliche Funktion im Prozeß des wirtschaftlichen Wachstums innehätten und insoweit ein historischer Zugriff auch auf die theoretischen Probleme der Nationalökonomie unverzichtbar sei. Schönberg, Gustav (Hg.), Handbuch der politischen Ökonomie, 2 Bände. – Tübingen: Laupp 1882.
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Schmoller, Gustav, Studien über die wirthschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens überhaupt von 1680–1786, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, Neue Folge, 8. Jg., 1884, S. 1–61; ders., Das Merkantilensystem in seiner historischen Bedeutung, städtische, territoriale und staatliche Wirtschaftspolitik, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. – Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 1–60.
Bei weitem am erfolgreichsten erwies sich in der Folge Karl Büchers ebenfalls auf historischer Grundlage entwickeltes Modell der volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufen. Bücher wollte „die gesamte wirtschaft[6]liche Entwickelung, wenigstens für die zentral- und westeuropäischen Völker, wo sie sich mit hinreichender Genauigkeit historisch verfolgen läßt, in drei Stufen“ teilen: „1. die Stufe der geschlossenen Hauswirtschaft (reine Eigenproduktion, tauschlose Wirtschaft), auf welcher die Güter in derselben Wirtschaft verbraucht werden, in der sie entstanden sind; 2. die Stufe der Stadtwirtschaft (Kundenproduktion oder Stufe des direkten Austausches), auf welcher die Güter aus der produzierenden Wirtschaft unmittelbar in die konsumierende übergehen; 3. die Stufe der Volkswirtschaft (Warenproduktion, Stufe des Güterumlaufes), auf welcher die Güter in der Regel eine Reihe von Wirtschaften passieren müssen, ehe sie zum Verbrauch gelangen.“
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Bücher antizipierte darüber hinaus eine künftige neue Stufe der „Weltwirtschaft“, über die sich freilich Konkretes noch nicht sagen lasse.[6] Bücher, Volkswirtschaft (wie oben, S. 3, Anm. 7), S. 58.
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Er beanspruchte, diese drei Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung jeweils „in ihrer typischen Reinheit zu erfassen“, ohne sich „durch das zufällige Auftreten von Übergangsbildungen oder von einzelnen Erscheinungen beirren zu lassen, die als Nachbleibsel früherer oder Vorläufer späterer Zustände in eine Periode hineinragen und in ihr etwa historisch nachgewiesen werden können.“ Ebd., S. 115.
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Ebd., S. 58.
Dieses Modell hat Max Weber anfänglich offenbar als vorbildlich betrachtet. Eine gleichartige Sequenz sozio-ökonomischer Formationen findet sich in leicht veränderter Form in den frühen Vorlesungen Max Webers, und dann allerdings stärker differenzierend auch in den Texten über die „Gemeinschaften“. Vermutlich fühlte sich Max Weber von der vergleichsweise hohen begrifflichen Klarheit angezogen, mit der Karl Bücher an diese Probleme heranging. Die Nähe zu Webers eigenen Bemühungen, die komplexe historische Wirklichkeit mit rational konstruierten idealtypischen Begriffen zu erfassen, ist nicht zu übersehen. Bei Bücher finden sich bereits die Grundlinien der Entwicklung der Hausgemeinschaft, welche die Grundform der wirtschaftlichen Tätigkeit auf der Stufe der Hauswirtschaft bildet, insbesondere die Betonung der herausgehobenen Stellung des Hausvaters mit seiner ursprünglich unbeschränkten Herrengewalt, sowie die schrittweise Ausweitung der ursprünglich auf einzelnen Familien beruhenden geschlossenen Hauswirtschaft zu Nachbarschaftsverbänden auf der Grundlage der Sippe, andererseits aber der Entstehung unfreier Arbeiter als Folge der schrittweisen Ausweitung der hausväterlichen potestas. Auch die Bestimmung des Charakters der geschlossenen Stadtwirtschaft des mittelalterlichen Europa, welche nicht nur die Institution des Marktes, als einer geregelten Form des Tausches, [7]hervorgebracht hat, sondern auch den freien Bürger und eine genossenschaftlich abgestufte Selbstverwaltung, hat eine Entsprechung in der Studie Max Webers über die „Stadt“.
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Nicht zufällig schätzte Max Weber die Arbeiten von Bücher, von dem es 1897 einmal heißt, daß dieser „erst im Emporwachsen“ sei,[7] MWG I/22-5.
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damals sehr hoch ein. Vgl. Vorlesung über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“, GStA Berlin, I. HA, Nl. Max Weber, Rep. 92, Nr. 31, Band 3, Bl. 155. [[MWG III/1]]
Allerdings konnten Max Weber die Schwächen, die Büchers auf den ersten Blick so einleuchtende Rekonstruktion der Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung im Okzident aufwies, schwerlich entgehen. Dies betraf insbesondere die Linearität des Modells, das mit mancherlei Abweichungen im einzelnen doch drei organisch aufeinander folgende Wirtschaftsstufen von der Antike bis zur Gegenwart postulierte. Gegen die These, daß es in den frühen Stufen der Menschheitsgeschichte und insbesondere der antiken Welt, mit der Bücher aufgrund eigener einschlägiger Arbeiten gut vertraut war, nur eine „geschlossene Hauswirtschaft“ ohne nennenswerte Tauschbeziehungen gegeben habe, und wenn, dann überwiegend solche, die sich auf der Grundlage der Naturalwirtschaft vollzogen, wurde massiver Widerspruch laut. Gleiches gilt von der Stufe der Stadtwirtschaft, in der sich laut Bücher Austausch nur auf der Grundlage von Kundenbeziehungen entfaltet habe. Vor allem aber erhob sich gegen seine Annahme, daß es in der antiken Welt keinen nennenswerten ökonomischen Fortschritt gegeben habe, ein Sturm der Entrüstung auf seiten der Historikerschaft, mit Eduard Meyer
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und Georg von Below Meyer, Eduard, Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums. – Jena: Gustav Fischer 1895.
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an der Spitze; später wurde dies wieder aufgegriffen von Alfons Dopsch Below, Georg von, Über Theorien der wirthschaftlichen Entwicklung der Völker, mit besonderer Rücksicht auf die Stadtwirthschaft des deutschen Mittelalters, in: HZ, Band 86, 1901, S. 1–77; ders., Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie, Teil IV: Schmollers Stufentheorie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, 7. Jg., 1904, S. 367–391. Vgl. dazu auch Finley, Moses I. (Hg.), The Bücher-Meyer Controversy. Reprint of five contributions by J. Beloch, K. Bücher and E. Meyer, originally published between 1899 and 1924 in various publications. – New York: Arno Press 1979.
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und Michael I. Rostovtzeff. Dopsch, Alfons, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen, 2 Teile, 2. Aufl. – Wien: L. W. Seidel & Sohn 1923–1924.
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Max Weber, der mit Below be[8]freundet war und sich selbst mit Eduard Meyer auseinandergesetzt hatte, war dies alles natürlich wohlbekannt. Rostovtzeff, Michael I., Rezension von Johannes Hasebroek, Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Band 92, 1932, S. 333–339.
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In der 3. Auflage seiner „Agrarverhältnisse im Altertum“ hat er Karl Bücher gegen die Kritik der Historikerschaft in Schutz genommen und ausdrücklich darauf verwiesen, daß dieser die „Rodbertussche Kategorie des ‚Oikos‘ als den dem Altertum charakteristischen Typus der Wirtschaftsorganisation aufgefaßt“ habe, „jedoch […] im Sinne einer ,idealtypischen‘ Konstruktion einer Wirtschaftsverfassung, die im Altertum in spezifisch starker Annäherung an die ‚begriffliche‘ Reinheit mit ihren spezifischen Konsequenzen auftrat, ohne daß jedoch das ganze Altertum, räumlich oder zeitlich, von ihr beherrscht wurde […]“.[8] Weber, Agrarverhältnisse3, S. 52–73.
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Hier wird, nach dem Vorlauf des „Objektivitätsaufsatzes“, explizit der Begriff des „Idealtypus“ auf diese Stufenmodelle angewandt. Ebd., S. 55.
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Weber, Max, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: AfSSp, Band 19, 1904, S. 22–87; MWG I/7 (hinfort: Weber, Objektivität). Zum „Oikos“ vgl. auch MWG I/2, S. 317.
Max Weber war demnach sowohl mit den Theorien der Entwicklung der Menschheit seit ihren frühesten Anfängen, die sich auf ethnologische Befunde beriefen, wie auch mit den zeitgenössischen wirtschaftlichen Stufentheorien bestens vertraut. Erstere hat er in seinen Vorlesungen der 1890er Jahre ausführlich behandelt. Die älteren Theorien, die eine lineare Abfolge von primitiven Gesellschaften von Jägern und Sammlern über Viehhaltung und Viehzucht betreibende Gesellschaften hin zu seßhaften Ackerbaugesellschaften postulierten, hielt Max Weber für „in dieser Allgemeinheit wahrsch[einlich] unrichtig“.
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Jedenfalls aber seien sie nicht auf mitteleuropäische Verhältnisse anwendbar, allein schon aus klimatischen Gründen. Auch wollte er von vornherein zwischen der „europäischen und der asiatischen […] Culturentwicklung“ unterscheiden. Vorlesung über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“, Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 3, Bl. 53.
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Für den Okzident betrachtete er die Kombination von Ackerbau und Haustierhaltung als einen entscheidenden Faktor, im Gegensatz zu den Verhältnissen im Orient, in China und Teilen von Südamerika. Lineare Entwicklungsschemata teleologischen Charakters, wie sie sich etwa bei Morgan finden, hielt Max Weber grundsätzlich für unangemessen; die Vielgestaltigkeit der historischen Wirklichkeit ließ sich nach seiner Ansicht nicht in Aussagen mehr oder minder gesetzmäßigen Charakters fassen. Ebd., Bl. 54.
[9]Mit großem Interesse verfolgte Max Weber die zeitgenössische Diskussion über die „ältesten menschlichen Gemeinschaftsformen“.
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Für ihn war, wie für die zeitgenössische Forschung überhaupt, unstrittig, daß die Familie im wirtschaftlichen Sinn als Haushaltsgemeinschaft, oder, wie es dann sogleich heißt, als „Hausgemeinschaft“, im Regelfall die unterste Form einer Wirtschaftsgemeinschaft darstellte, auf der Grundlage der (oft nur fingierten) Geschlechts- und Blutsgemeinschaft.[9] Ebd., Bl. 55 f.
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Auch späterhin hat Weber stets hervorgehoben, daß sexuelle Beziehungen nicht an sich eine „Gemeinschaft“ begründen, sondern nur eine Komponente der Entstehung einer Hausgemeinschaft als „Versorgungsgemeinschaft von Eltern und Kindern“ darstellen. Ebd., Bl. 55.
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Diese bildet, bei wechselnder Größe, die Grundform wirtschaftlicher Tätigkeit, ohne freilich nach außen vollständig abgeschlossen zu sein. Sie „deckt [den] Alltagsbedarf an Arbeiten und Sachgütern eigenwirtschaftllch“, greift aber von Fall zu Fall auf die Hilfe der „Nachbarschaft“ bzw. des „Nachbarschaftsverbandes“ und im weiteren Sinne, der „Sippe“, als eines religiös sanktionierten Personenverbandes, der auf gemeinsamer wirklicher oder vermeintlicher Abstammung ruht, Vgl. das Stichwortmanuskript „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, unten, S. 291.
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sowie des „Stammes“ als der Keimzelle des Staates zurück. Aus diesen Gemeinschaftsformen entwickeln sich dann sehr unterschiedliche Formen der Bedarfsdeckung und des Wirtschaftens. Vorlesung über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“, Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 3, Bl. 58. [[MWG III/1]]
In diesem Zusammenhang setzte sich Max Weber ausführlich mit den damals weithin diskutierten Theorien des Mutterrechts sowie den angeblich in der Urgesellschaft vorherrschenden Formen eigentumsloser bzw. kommunistischer Gesellschaften auseinander. Diese Theorien wurden von ihm eingehend referiert, insbesondere auch die Entstehung des Vaterrechts und der Einehe als Folge des Eindringens des Eigentumsgedankens in die kommunistische Wirtschaft der Horde. Jedoch wies Max Weber mit einiger Vehemenz die Existenz einer anfänglich durch Mutterrecht geprägten Urgesellschaft zurück, welche erst im Zuge der Einführung des Privateigentums durch die Vorherrschaft des Mannes abgelöst worden sei. Es sei äußerst unwahrscheinlich, daß es unter den Verhältnissen der Urgesellschaft „volle Promiscuität“ gegeben habe, und Gleiches gelte für die Annahme einer generellen Gynaikokratie.
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„Mutterrecht“ könne, wenn überhaupt, dann nur im Sinne der vorzugsweisen Berück[10]sichtigung der Rechte und Ansprüche der mütterlichen Verwandtschaft einen konkreten Sinn haben. Ebd., Bl. 55.
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Für die Entstehung der monogamen „Paarungsehe“, die ein lockerer, seitens des Mannes meist lösbarer Verband gewesen sei, hätten vorwiegend auch ökonomische Motive eine Rolle gespielt. Die Thesen der sozialdemokratischen Autoren, namentlich von Friedrich Engels und August Bebel,[10] Ebd., Bl. 56 f.
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wurden demgemäß entschieden abgelehnt. Engels, Der Ursprung der Familie; Bebel, Die Frau und der Sozialismus.
Doch zurück zu unserem Ausgangspunkt, nämlich der Frage, wie sich Max Weber gegenüber den zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die verschiedenen Theorien bezüglich der Entstehung der Volkswirtschaft positionierte und, noch grundsätzlicher, welcher Stellenwert historischen Entwicklungsschemata oder Gesetzen innerhalb der Nationalökonomie zuzumessen sei. Als Schüler August Meitzens stand Max Weber, wie bereits dargelegt wurde, mit seinen frühen Arbeiten, namentlich der Dissertation über mittelalterliche Handelsgesellschaften, aber auch der „Römischen Agrargeschichte“, in der Tradition der Historischen Schule.
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Jedoch löste er sich schon relativ früh von dieser damals im Deutschen Reich noch dominanten Richtung der Nationalökonomie, deren unbestrittenes Haupt Gustav von Schmoller war. Von großer Bedeutung war dabei Webers frühe intensive Beschäftigung mit der Grenznutzenlehre Carl Mengers und Eugen von Böhm-Bawerks. Weber, Max, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach Südeuropäischen Quellen. – Stuttgart: F. Enke 1889 (MWG I/1); ders., Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (MWG I/2).
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Seine bis 1898 entstandene Vorlesung über „Allgemeine (,theoretische‘) Nationalökonomie“ greift in ihrem ersten Teil „Die begrifflichen Grundlagen der Volkswirtschaftslehre“ weitgehend die Thesen der Grenznutzenlehre auf, betont aber gleichzeitig, daß diese ihren Deduktionen einen konstruierten Menschentypus zugrunde lege, der „ausschließlich beseelt ist von dem Streben, seine gegenwärtigen und alle denkbaren zukünftigen wirtschaftlichen Bedürfnisse möglichst ausgiebig, nachhaltig und rationell zu decken“. Der Sache nach setze dies voraus, daß der wirtschaftende Mensch „bestimmte intellektuelle und ethische Qualitäten“ besitze. Jedoch sind „bei den empirischen Individuen und Typen des Menschen“ [11]die auf „einem allgemeinen zivilisatorischen, jahrtausendelangen, stoßweise vorschreitenden und abebbenden, […] Erziehungsprozeß beruhenden Qualitäten in höchst verschiedenem Maße entwickelt.“ Anders gesagt, der „empirische und geschichtliche Mensch“ sei, im Gegensatz zum „homo oeconomicus“ „nur in unvollkommenem Maße zum Wirtschaften erzogen und fähig.“ Die Grenznutzenlehre gehe vom „modernen europäischen Menschentypus“ aus, „wie ihn die heutige Form der […] Wirtschaft erzogen hat […].“ Siehe insbesondere Menger, Carl, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Allgemeiner Teil. – Wien: Braunmüller 1871; ders., Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Oekonomie insbesondere. – Leipzig: Duncker & Humblot 1883; ders., Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie. – Wien: Hölder 1884, sowie Böhm-Bawerk, Eugen von, Kapital und Kapitalzins, 2 Bände. – Innsbruck: Wagner 1884, 1889.
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Gelegentlich hat Weber denn auch eingeräumt, daß sich die Menschen in der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung in gewissem Sinne dem abstrakten Typus des „wirtschaftenden Menschen“ der Grenznutzentheoretiker annäherten.[11] Vorlesung über „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“, GStA Berlin, I. HA, Nl. Max Weber, Rep. 92, Nr. 31, Band 1, Bl. 133. [[MWG III/1]]
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Ungeachtet dieser Einschränkungen begrüßte Max Weber die Entwicklung rational konstruierter Typen, wie sie die Grenznutzentheoretiker vorgenommen hatten, als einen großen wissenschaftlichen Fortschritt. Er sah in ihnen ein wertvolles Instrument zur Erfassung der empirischen Wirklichkeit in ihrer Komplexität. Es ist ersichtlich, daß von hier ein direkter Weg zur Konzipierung des Idealtypus führt, obwohl dort noch der Gedanke der Bildung des Idealtypus unter Gesichtspunkten der Kulturbedeutung fehlt. Andererseits hielt Max Weber den Grenznutzentheoretikern entgegen, daß die von ihnen vorausgesetzten bzw. postulierten „Bedürfnisse“ nicht nur durch äußere Bedingungen materieller Art, sondern in hohem Maße historisch, d. h. durch den jeweils erreichten Kulturzustand einer Gesellschaft und deren Werthaltungen, bedingt seien. Insofern bestand er auf dem Eigenrecht einer von der Fragestellung nach der Kulturbedeutung historischer bzw. gesellschaftlicher Entwicklungen angeleiteten Sozialwissenschaft historischen Zuschnitts. Es galt daher, beide Methoden miteinander zu kombinieren. Dies war der Weg, auf dem Max Weber nun seinerseits voranzugehen gedachte. Weber, Max, Die Grenznutzlehre und das „psychophysische Grundgesetz“, in; AfSSp, Band 27, 1908, S. 546–558, hier S. 555 (MWG I/12).
Demgemäß war Max Weber zunehmend bestrebt, die sozialwissenschaftliche Analyse auf den zahlreichen Feldern der zeitgenössischen Nationalökonomie mit Hilfe von theoretisch gebildeten Modellen oder Begriffen, die nicht den Gegenständen selbst entnommen werden dürften, vorzunehmen und diese damit auf ein neues Niveau zu heben. In diesem Punkte aber öffnete sich eine scharfe Diskrepanz zur älteren Historischen Schule der Nationalökonomie, insbesondere zu ihren Altmeistern Wilhelm Roscher und Karl Knies. Seine nunmehr gewonnene methodologische Position explizierte Max Weber exemplarisch in einer Abhandlung über [12]„Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“, die in den Jahren 1903 bis 1906 entstand und die in vieler Hinsicht eine Art der Selbstvergewisserung Max Webers über diese Probleme darstellte. Ursprünglich war dieser Text für eine Festschrift der Universität Heidelberg zum Gedenken an Roscher bestimmt gewesen, doch wuchs er sich immer mehr zu einer weit ausholenden Fundamentalkritik an einer, der Tradition der Romantik verpflichteten, organischen Geschichtsauffassung aus und blieb am Ende unvollendet.
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Die Auseinandersetzung mit Roscher und Knies gehört in den unmittelbaren Zusammenhang der Entstehungsgeschichte der Texte über die „Gemeinschaften“. Sie war ein Befreiungsschlag gegen die historistische Methode in den Sozialwissenschaften. Vermutlich fiel die Auseinandersetzung mit den beiden Altmeistern der deutschen Nationalökonomie vor allem deshalb ungewöhnlich, um nicht zu sagen unangemessen, scharf aus. Es ist kein Zufall, daß Max Weber gegen die übermächtige Vorherrschaft der Historischen Schule in der deutschen Sozialwissenschaft Schützenhilfe bei der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie suchte. Heinrich Ric-kerts Theorie der Konstituierung der historischen Objekte durch die Beziehung auf Kulturwerte, die dieser gerade eben in seinem bedeutenden Werk „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“[12] Weber, Max, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, 1. Roschers historische Methode, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 27. Jg., Heft 4, 1903, S. 1–41; dass., II. Knies und das Irrationalitätsproblem, in: ebd., 29. Jg., Heft 4, 1905, S. 89–150; dass., II. Knies und das Irrationalitätsproblem (Fortsetzung), in: ebd., 30. Jg., Heft 1, 1906, S. 81–120 (MWG I/7; hinfort: Weber, Roscher und Knies I, II,1 bzw. II,2).
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vorgelegt hatte, lag auf der Linie seiner eigenen Vorstellungen. Max Weber hatte Rickerts Buch, wie er damals Marianne Weber berichtete, wenig zuvor in Florenz mit viel Zustimmung gelesen: „Rickert habe ich aus. Er ist sehr gut, zum großen Teil finde ich darin das, was ich selbst, wenn auch in logisch nicht bearbeiteter Form gedacht habe“. Rickert, Heinrich, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902.
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Rickert lieferte Max Weber die theoretische Grundlage für die Konzeption des „Idealtyps“, als eines nomologischen Konstrukts, mit dem die Kulturbedeutung historischer Objekte bzw. Entwicklungen thematisiert werden konnte, ohne sich in Werturteile zu verstricken. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 273.
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Andererseits distanzierte er [13]sich von Rickerts Theorie der „objektiven Kulturwerte“, als Richtpunkt aller kulturwissenschaftlichen Erkenntnis. Weber, Max, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: AfSSp, Band 22, Heft 1, 1906, S. 143–207. Vgl. die verdeckte Kritik an der älteren Historischen Schule, S. 185, Anm. 26 (MWG I/7). Vgl. auch Bruun, Hans Henrik, Weber On Rickert: From Value Relation to Ideal Type, in: Max Weber Studies, Vol. 1, 2001, S. 138–160.
Es kann nicht weiter überraschen, daß Max Weber mit den Auffassungen Roschers schlechterdings nichts anfangen konnte. Roschers Vorstellung, daß die Völker, ebenso wie die Individuen, einem Prozeß des Wachstums, der Reife und schließlich des Sterbens unterliegen, dem er die Qualität eines Naturgesetzes zuschrieb, war für Max Weber ebenso wenig nachvollziehbar wie die dieser Vorstellung zugrunde liegende Idee des Volkes, als eines letztlich aus Gottes Hand stammenden Subjekts des geschichtlichen Lebens. Die von Roscher beobachteten Vergleichbarkeiten der Entwicklung der großen Kulturvölker oder auch der großen politischen Formationen in der Universalgeschichte
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waren nach Webers Ansicht nicht zwingend. Ähnliche Phänomene seien dort bloß additiv nebeneinandergestellt: es fehle jedoch jede Erklärung dafür, weshalb dies denn so sein solle, außer dem Schema von Wachstum, Reife und Absterben. Alle derartigen organischen Theorien des geschichtlichen Geschehens betrachtete Weber als unhaltbar. Beiläufig wurde auch Karl Lamprechts Hypostasierung der Nation als des kollektiven Trägers der jeweiligen kollektiv-psychologischen Zustände zurückgewiesen.[13] Vgl. Roscher, Wilhelm, Politik: Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie. – Stuttgart: Cotta 1892; vgl. auch Weber, Roscher und Knies I (wie oben, S. 12, Anm. 42), S. 28.
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Ebd., S. 25, Anm. 5.
Obschon sich Karl Knies gegenüber Roschers Kreislauftheorie eines immerwährenden Auf- und Abstiegs der Völker, die in Giambattista Vico einen frühen Vorläufer besitzt, durchaus distanziert verhielt, erfuhr dessen Theorie, daß alles geschichtliche Geschehen letztendlich auf die Irrationalität des einzelnen Individuums zurückgehe, ebenfalls harsche Kritik, hier nun freilich unter Aufbietung einer breiten Phalanx zeitgenössischer Geschichtstheoretiker und Psychologen. Beider, sowohl Roschers wie Kniesʼ erkenntnistheoretische Positionen, wurden schließlich als die „verkümmerten und nach der anthropologisch-biologischen Seite abgebogenen Reste der großen Hegelschen Gedanken“ beiseitegeschoben.
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Das war eine kaum ganz gerechtfertigte Verurteilung, die aber das leistete, was Max Weber suchte, nämlich die Bahn für eine neue Form einer historischen Sozialwissenschaft freizumachen, die sich konsequent von dem Erbe der emanatistischen Volkslehre des 19. Jahrhunderts löste. Sowohl die Kreislaufmodelle Roschers als auch Kniesʼ Annahme einer linearen Entwicklung der Menschheitsgeschichte, als Produkt der schöpferischen Kraft des Individuums, waren nach Webers Auffassung [14]ungeeignet, einer mit rationalen Begriffen und Modellen operierenden historischen Sozialwissenschaft als Vorbild zu dienen. Weber, Roscher und Knies II,2 (wie oben, S. 12, Anm. 42), S. 120.
Auch die Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, der ansonsten einer der wichtigsten Gewährsmänner Max Webers war und ihn nicht unmaßgeblich beeinflußt hat,
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muß in diesem Lichte gelesen werden. Der von Meyer vertretene unreflektierte Begriff der historischen Kausalität wurde von Max Weber zurückgewiesen, weil er einer objektivistischen Erkenntnis vergangener Wirklichkeit das Wort redete, welche den theoretischen Zugriff des heutigen Beobachters auf die vergangene Wirklichkeit ausblendete. Es ging Max Weber dabei um etwas Fundamentales, nämlich die Begründung eines neuen, an theoretisch konstruierten Begriffen orientierten Zugriffs auf die historische Wirklichkeit in ihrer unendlichen Vielfalt, die über die vermeintlich objektive Rekonstruktion evolutionärer Entwicklungsprozesse, die idealiter jeweils in der Gegenwart terminierten, hinausging. Ihre abschließende, definitive Formulierung hat diese neue methodische Position Max Webers, in Abgrenzung von einem vermeintlich objektivistischen Historismus, aber auch von der abstrakten Theorie der neoklassischen Nationalökonomie, dann in der berühmten Abhandlung über „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ gefunden.[14] Vgl. Tenbruck, Friedrich H., Max Weber und Eduard Meyer, in: Mommsen, Wolfgang J., Schwentker, Wolfgang (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen. – Göttingen, Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 337–379.
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Hier heißt es, „daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind und daß die Konstruktion“ lediglich als Mittel diene, „planvoll die gültige Zurechnung eines historischen Vorganges zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.“ Weber, Objektivität (wie oben, S. 8, Anm. 28).
51
Max Weber machte diese Aussage unter unmittelbarer Bezugnahme auf Modelle der wirtschaftlichen Entwicklung, wie wir sie oben vorgestellt haben. Er warnte davor, daß „die Idealkonstruktion einer Entwicklung mit der begrifflichen Klassifikation von Idealtypen bestimmter Kulturgebilde (z. B. der gewerblichen Betriebsformen von der ‚geschlossenen Hauswirtschaft‘ [dies ist bekanntlich ein Schlüsselbegriff der Stufentheorie Büchers] […]), zu einer genetischen Klassifikation ineinander gearbeitet wird. Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben“. Ebd., S. 77.
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Eben dies aber müsse unbedingt vermieden werden. In dem konkreten Kontext war [15]dies vor allem auf Marx Geschichtstheorie gemünzt, traf aber fraglos auch auf Büchers „Volkswirtschaftliche Stufen“ zu, welcher der Versuchung, auf dieser Grundlage eine realhistorische Entwicklung zu hypostasieren, nicht hatte widerstehen können. Ebd., S. 77 f.
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Zugleich aber sind diese als Anweisung zum Verständnis von Max Webers eigener Theorie der großen Gemeinschaftsformen zu lesen. [15] Max Weber hat sich denn auch, ungeachtet der sachlichen Nähe zu Bücher in vielen Einzelpunkten, von dessen Tendenz distanziert, die Abfolge der von ihm beschriebenen Wirtschaftsstufen zu einem förmlichen Entwicklungsschema zu verdichten. Wenn Bücher für eine Vermittlungsposition zwischen einer rein deskriptiven Volkswirtschaftslehre historistischen Charakters und der Methode „isolierende[r] Abstraktion“ und „logische[r] Deduktion“ (Bücher, Volkswirtschaft (wie oben, S. 3, Anm. 7), S. 123) plädierte, so kam dies Webers Ansichten entgegen. Aber wenn Bücher mit einer historistisch angelegten Gesamtschau seiner Theorie der Entwicklungsstufen die historischen Entwicklungen gleichsam in ihrer Gesamtheit abzubilden beanspruchte, so ging Max Weber dies viel zu weit. Er hielt es für unabdingbar, die Probleme der Entstehung der modernen Verkehrswirtschaft in einer Weise zu behandeln, die alle teleologischen Konstruktionen grundsätzlich vermied und die Offenheit der Geschichte nicht durch quasi-objektive Gesetze oder auch nur determinierte Entwicklungslinien verstellte.
II. Zur Entstehung und Anordnung der Texte über die „Gemeinschaften“ im Zusammenhang der nachgelassenen Manuskripte
Die in diesem Teilband von „Wirtschaft und Gesellschaft“ vereinigten Texte über die „Gemeinschaften“ sind im Zusammenhang der Arbeiten an dem „Grundriss der Sozialökonomik“ (ursprünglich hieß es „Handbuch der politischen Ökonomie“) entstanden.
1
Dieser sollte an die Stelle des [16]Schönbergschen Handbuchs treten, das 1882 erschienen war und zwei Jahrzehnte lang als das führende Lehrbuch der Nationalökonomie im deutschsprachigen Europa gegolten hatte. Schon seit 1905 hatte Paul Siebeck den Plan verfolgt, eine grundlegende Erneuerung des „Schönberg“ vorzunehmen, und dabei wiederholt auch Max Webers Rat eingeholt. Dies lag schon deshalb nahe, weil Max Weber als Mitherausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik seit 1904 eng mit dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) zusammengearbeitet hatte. Zur Entstehungsgeschichte des „Grundrisses“ vgl. Tenbruck, Friedrich H., „Abschied von Wirtschaft und Gesellschaft“, in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft, Band 133, 1976, S. 703–736; Winckelmann, Johannes, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Entstehung und gedanklicher Aufbau. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1986 (hinfort: Winckelmann, Webers hinterlassenes Hauptwerk); Schluchter, Wolfgang, „Wirtschaft und Gesellschaft“. Das Ende eines Mythos, in: ders., Religion und Lebensführung, Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. – Frankfurt a. Μ.: Suhrkamp 1988, S. 597–634 (hinfort: Schluchter, Das Ende eines Mythos); ders., „Max Webers Beitrag zum Grundriß der Sozialökonomik“, in: KZfSS, 50. Jg., 1998, S. 327–343 (hinfort: Schluchter, Webers Beitrag zum Grundriß); ders., „Kopf“ oder „Doppelkopf“ – Das ist hier die Frage. Replik auf Hiroshi Orihara, in: KZfSS, 51. Jg., 1999, S. 735–743 (hinfort: Schluchter, Doppelkopf); sowie jüngst ergänzend ders., Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt. – Weilerswist: Velbrück 2000, S. 177–236; Mommsen, Wolfgang J., Zur Entstehung von Max Webers hinterlassenem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, in: Staats- und Euro[16]pawissenschaften, Band 1, 2002 (hinfort: Mommsen, Zur Entstehung von Max Webers hinterlassenem Werk); ders., Max Weber’s Grand Sociology. The Origins and Composition of „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, in: History and Theory, vol. 39, 2000, S. 364–383 (hinfort: Mommsen, Max Weber’s Grand Sociology); ders., Die Siebecks und Max Weber. Ein Beispiel für Wissenschaftsorganisation in Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Verlegern, in: GuG, 22. Jg., 1996, S. 19–30 (hinfort: Mommsen, Die Siebecks und Max Weber); sowie Roth, Guenther, Abschied oder Wiedersehen? Zur fünften Auflage von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“, in: KZfSS, 31. Jg., 1979, S. 318–327.
2
Weber bekundete Interesse und signalisierte Ende Dezember 1908 dem Verleger seine Bereitschaft zur Mitarbeit. Vgl. Mommsen, Die Siebecks und Max Weber (wie oben, Anm. 1).
3
Bevor er aber auf das Ersuchen Paul Siebecks einging, die Herausgabe des Handbuchs zu übernehmen, besprach sich Max Weber mit Karl Bücher, Ordinarius in Leipzig und einer der angesehensten Fachvertreter der Nationalökonomie im Deutschen Reich. In einer Unterredung am 25. Januar 1909, für die Max Weber eigens nach Leipzig reiste, bestärkte ihn Bücher, die Aufgabe des Herausgebers des neuen „Schönbergs“ zu übernehmen, ungeachtet seiner Außenseiterstellung im Fach, hatte er doch seine Professur an der Universität Heidelberg 1903 definitiv niedergelegt. Eugen von Philippovich, ein langjähriger Freund und Ratgeber Paul Siebecks, empfahl Max Weber ebenfalls als Herausgeber. Auch späterhin hat Max Weber größten Wert auf die Mitwirkung Karl Büchers gelegt, und ihn im weiteren Verlauf immer wieder konsultiert. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 26. Dez. 1908, MWG II/5, S. 705 f.
Bereits im Frühjahr 1909 begann Max Weber in enger Fühlungnahme mit dem Verleger und anfänglich auch mit Karl Bücher, dem er eine Schlüsselstellung in diesem Projekt zumaß, mit der Planung des umfassend angelegten Handbuchs.
4
Es war eine schwere wissenschaftliche Bürde, die Max Weber damit auf sich nahm, zumal er zum gleichen Zeitpunkt mit großem persönlichen Engagement die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie betrieb und eine große Enquete über die Presse auf den Weg zu bringen bemüht war. In der zweiten Maihälfte [17]1909 übermittelte Max Weber dem Verleger einen ersten „Stoffverteilungsplan“ für das „Handbuch der politischen Ökonomie“, den er freilich noch als „ganz provisorisch“ bezeichnete Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 3. Jan. 1909, MWG II/6, S. 15 ff.
5
und der in der Folge in enger Zusammenarbeit mit Paul Siebeck noch zahlreiche Umgestaltungen erfahren sollte.[17] Briefe Max Webers an Paul Siebeck vom 23. und 31. Mai 1909, MWG II/6, S. 132, 136 f.
6
Er ist uns nicht überliefert. Vgl. dazu Mommsen, Die Siebecks und Max Weber (wie oben, S. 16, Anm. 1), S. 25.
7
Ein Jahr später, am 26. März 1910 konnte er dann Siebeck einen Gesamtplan mit „Bogenzahlen und Adressen“ vorlegen, der uns ebenfalls nicht überliefert ist. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 31. Mai 1909, MWG II/6, S. 136 f., hier S. 136, Anm. 2.
8
Erst im Mai 1910 lag dann ein definitiver Stoffverteilungsplan vor, den Max Weber vorab Karl Bücher zur Kenntnis brachte Briefe Max Webers an Paul Siebeck vom 23., 24. und 26. März 1910, MWG II/6, S. 439, 441 f. und 445, hier S. 439.
9
und der wenig später von seiten des Verlages allen Autoren mit einer von Max Weber verfaßten, aber nicht gezeichneten Vorbemerkung zugesandt wurde. Schon Mitte März 1910 hatte Weber Bücher eine „Gesammtübersicht über Stoff- und Mitarbeiter-Verteilung“ zuschicken wollen. Brief Max Webers an Karl Bücher vom 3. März 1910, MWG II/6, S. 421.
10
Zu diesem Zeitpunkt war als Termin für die Ablieferung der Manuskripte der 15. Januar 1912 ins Auge gefaßt. Abgedruckt ist der Stoffverteilungsplan in: MWG II/6, S. 766 ff.; demnächst auch in MWG I/22-6. [[MWG I/24, S. 145–154]]
11
Dies zeigt, daß Max Weber die Erstellung des „Handbuchs“ zügig vorantreiben wollte. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG II/6, S. 484 f.
Max Weber lehnte es nachdrücklich ab, nach außen hin als Herausgeber dieses Sammelwerkes aufzutreten, unter anderem, um die persönlichen Eitelkeiten der ins Auge gefaßten Autoren zu schonen.
12
Vielmehr sollte das ursprünglich auf drei Bände mit 160 Bogen angelegte Werk unter der kollektiven Verantwortung aller Verfasser erscheinen. Dennoch war der „Grundriss der Sozialökonomik“, wie das Handbuch schließlich hieß, gleichwohl ganz wesentlich sein Werk. Er entwarf den Gesamtplan und prägte ihm unverwechselbar seine universalhistorische Sichtweise auf, auch wenn er auf die Beiträge in sehr unterschiedlichem Maße Ein[18]fluß genommen und einzelnen Autoren, so namentlich Philippovich, sogar die Thematik freigestellt hatte. Dahinter stand die wissenschaftspolitische Absicht, den Stand der Nationalökonomie im Übergang von der Historischen Schule zu einer, die Methoden der Grenznutzentheorie aufgreifenden und insoweit theoretisch ausgerichteten, aber zugleich die historische Dimension einbegreifenden, empirischen Wissenschaft zu dokumentieren, welche die „Kulturbedeutung“ der wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge zur Darstellung bringen sollte. In mancher Hinsicht sollte damit das Postulat des Objektivitätsaufsatzes eingelöst werden, nämlich einer „Wirklichkeitswissenschaft“, welche die „Kulturbedeutung“ der sozialen Erscheinungen in ihrer jeweiligen Eigenart zur Darstellung zu bringen sucht. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 19. Sept. 1908, MWG II/5, S. 659 f.; ebenso: Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 31. Juli 1909, MWG II/6, S. 210 f.: „Ich habe allen Herren erklärt, daß ich nicht als ‚Herausgeber‘ figurieren werde“; sowie der Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 3. Sept. 1909, MWG II/6, S. 248 f.: „Daß ich mich bei ihm [d. i. Philippovich] und seinesgleichen nur als ,Correspondenten‘, nicht als ,Herausgeber‘ einführe, hat gute Gründe […]. Den Jüngeren gegenüber bin ich ,Herausgeber‘, wenn auch nicht dem Titel nach.“
13
Im konkreten Fall hieß dies freilich vor allem eines, nämlich die Bedeutung und die Konsequenzen des universellen Vordringens des Kapitalismus in allen Bereichen der Gesellschaft herauszuarbeiten. Dies geht schon daraus hervor, daß sich Max Weber, über den von ihm zu bearbeitenden Abschnitt „Wirtschaft und Gesellschaft“ hinausgehend, eine ganze Reihe von Themen vorbehalten wollte, welche die Einwirkungen der kapitalistischen Entwicklung auf zahlreiche Bereiche der gegenwärtigen Gesellschaft zum Gegenstand hatten, u. a. „Der moderne Staat und der Kapitalismus“, „Allgemeine Bedeutung der modernen Verkehrsbedingungen und des modernen Nachrichtendienstes für die kapitalistische Wirtschaft“, „Grenzen des Kapitalismus in der Landwirtschaft“, „Agrarkapitalismus und Bevölkerungsgruppierung“, „Der sog. neue Mittelstand“, „Wesen und gesellschaftliche Lage der Arbeiterklasse“, „Die Tendenzen zur Umbildung des Kapitalismus“ (letzteres zusammen mit Alfred Weber).[18] Weber, Objektivität (wie oben, S. 8, Anm. 28).
14
Diesen Gesichtspunkt hat er später im Vorwort zum 1. Band des „Grundrisses“ in sehr viel allgemeinerer Form zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es, das Sammelwerk sei von der Anschauung ausgegangen, „daß die Entfaltung der Wirtschaft vor allem als eine besondere Teilerscheinung der allgemeinen Rationalisierung des Lebens begriffen werden müsse“. Vgl. den Stoffverteilungsplan von 1910, in: MWG II/6, S. 766 ff.
15
GdS, Abt. I, 1914, S. VII; auch bei Winckelmann, Webers hinterlassenes Hauptwerk (wie oben, S. 15, Anm. 1), Anhang 3, S. 166 [[MWG I/24, S. 164]].
Insgesamt hatte Max Weber sich selbst im Stoffverteilungsplan nicht weniger als 14 von insgesamt 81 projektierten Beiträgen vorbehalten, allerdings in zwei Fällen in Zusammenarbeit mit einem weiteren Autor. Dies geschah jedoch von vornherein mit der Maßgabe, daß er für die Mehrzahl [19]dieser Beiträge statt seiner selbst andere Autoren zu finden bemüht sein wollte.
16
Immerhin zeigt die vorläufige Reservierung zahlreicher, die Bedeutung des Kapitalismus betreffender Themen die Richtung des Interesses an, das Max Weber mit diesem Projekt verband. Hier sollen freilich nur jene Themen näher in den Blick genommen werden, die für die Entstehung des Beitrags über „Wirtschaft und Gesellschaft“ und speziell für die hier unter dem Titel „Gemeinschaften“ edierten Texte relevant sind. Es ist dies vor allem der im „Ersten Buch. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft“ des Stoffverteilungsplans von 1910 unter Ziffer III „Wirtschaft, Natur und Gesellschaft“ aufgeführte Abschnitt: [19] Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG II/6, S. 484 f. „Von den jetzt unter meinem Namen gehenden kleinen Artikeln wird ein Teil noch an Andre abgegeben, falls ich geeignete finde.“
„4. Wirtschaft und Gesellschaft.
- Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands).
- Wirtschaft und soziale Gruppen (Familien- und Gemeindeverband, Stände und Klassen, Staat).
- Wirtschaft und Kultur (Kritik des historischen Materialismus).“17MWG II/6, S. 766 ff.
Ferner ist der unter „2. Naturbedingungen der Wirtschaft“ aufgeführte Unterabschnitt b) „Wirtschaft und Rasse“
18
von Bedeutung, den Max Weber später an Robert Michels abgetreten hat. Ebd.
19
Außerdem war im „Stoffverteilungsplan“ von 1910 im Ersten Buch unter Abschnitt IV „Wirtschaftswissenschaften“ ein Unterabschnitt „1. Objekt und logische Natur der Fragestellungen“ vorgesehen, den Max Weber ebenfalls übernehmen wollte. Weitere Beiträge, die über die unter dem Abschnittstitel „Wirtschaft und Gesellschaft“ genannten Texte hinausgingen, hat Max Weber am Ende nicht mehr geliefert, obschon noch 1914 von ihm die Möglichkeit ins Auge gefaßt worden ist, die Beiträge „Der moderne Staat u[nd] d[er] Kapitalismus“, „Grenzen d[es] Kapitalismus i[n] d[er] Landw[irtschaft]“ sowie „Agrarkapitalismus und Bevölkerungsgruppierung“ für eine spätere Lieferung zu verfassen. Jedoch sind diese Beiträge nie über das Planungsstadium hinaus gediehen. Über den möglichen Zusammenhang mit dem Text „Ethnische Gemeinschaften“ vgl. den entsprechenden Editorischen Bericht, unten, S. 162.
20
Provisorische Gliederung des GdS durch den Verlag mit handschriftlichen Änderungen Max Webers vom März 1914, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8 und MWG I/22-6). [[MWG I/24, S. 156–162]]
[20]In dem Unterabschnitt 4b „Wirtschaft und soziale Gruppen“ finden sich jene Themen, die zumindest zum größeren Teil in den nachstehend edierten Texten über „Gemeinschaften“ abgehandelt worden sind, während sich unter „Staat“ die späteren Texte über „Herrschaft“ ankündigen.
21
Ebenso darf man die Thematik des Unterabschnitts 4a „Wirtschaft und Recht“ mit einiger Sicherheit mit dem Kapitel „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ und der sogenannten Rechtssoziologie in Verbindung bringen.[20] WuG1, S. 603–817 (MWG I/22-4).
22
Hinter der Konzeption eines Kapitels über „Wirtschaft und Kultur (Kritik des historischen Materialismus)“ darf man wohl die wenig später entstehende Religionssoziologie vermuten; es ist bekannt, daß Max Weber 1918 in Wien eine Vorlesung unter dem Thema „Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung“ gehalten hat, die sich im wesentlichen auf die Ausführungen über die „religiösen Gemeinschaften“ stützte. WuG1, S. 368–385 (MWG I/22-3).
23
Der Stoffverteilungsplan vom Mai 1910 darf für die von Max Weber selbst in Angriff genommenen Beiträge als richtungweisend angesehen werden, obschon sich im Zuge der Arbeit immer neue Erweiterungen und Veränderungen ergeben haben. Bis zum Frühjahr 1912 ist der Stoffverteilungsplan offensichtlich im wesentlichen unverändert geblieben. Jedenfalls konnte der Verlag den Autoren im Februar 1912 nochmals ein Exemplar des Stoffverteilungsplans vom Mai 1910 zu ihrer Orientierung zusenden. Kippenberg, Hans G., Editorischer Bericht zu „Religiöse Gemeinschaften“, MWG I/22-2, S. 92 f.
24
Vgl. Webers Entwurf eines Rundschreibens an die Autoren des GdS; Beilage zu dem Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 24. Febr. 1912, MWG II/7, S. 432 f.
In der zweiten Jahreshälfte 1909 und im Jahre 1910 hat sich Max Weber, soweit wir dies aus der freilich lückenhaft überlieferten Korrespondenz entnehmen können, in erster Linie auf die umfangreichen Korrespondenzen mit den zahlreichen Autoren konzentriert und mit der Niederschrift der eigenen Beiträge zurückgehalten. Im Mai 1910 schrieb er dem Verleger, dieser möge vom Abschluß von Verlagsverträgen vorderhand Abstand nehmen, da er noch nicht absehen könne, welche Füll- und Ergänzungsartikel er selbst nach Eingang der Manuskripte der anderen Autoren noch werde schreiben müssen.
25
Er ging davon aus, daß er dafür noch mindestens 3 Bogen benötigen werde. Zu diesem Zeitpunkt waren seine eigenen Beiträge demnach vermutlich noch nicht weit über das Planungsstadium hinaus gediehen. Bereits jetzt kündigten sich jedoch Umfangprobleme an, die ihn, neben anderen Gründen, dazu veranlaßten, den ursprünglich vorgesehenen, allerdings außerhalb des Themenbereichs von „Wirtschaft und Gesellschaft“ geplanten Beitrag über [21]„Objekt und logische Natur der Fragestellungen“ nicht innerhalb des „Grundrisses“ zu veröffentlichen. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG II/6, S. 484 f.
26
[21] Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG II/6, S. 484 f. Vgl. auch die Rechtfertigung des Verzichts auf diesen Beitrag im Vorwort, GdS, Abt. I, S. VII f., die darauf abhebt, daß man angesichts der Vielgestaltigkeit der methodologischen Positionen keine starre Linie habe vergeben können. Der Artikel ist, soweit wir sehen, nie erschienen. Ob er zu Teilen in den sogenannten Kategorienaufsatz eingegangen ist, läßt sich nicht sagen.
Die Konturen der eigenen Beiträge Max Webers haben sich dann erst nach und nach präziser herauskristallisiert. Offenbar hat sich die, durch andere Engagements, vor allem aber durch gesundheitliche Krisen, die ihn zeitweilig arbeitsunfähig machten, immer wieder unterbrochene Arbeit an den Manuskripten länger hingezogen, als ursprünglich absehbar war.
27
Erst seit Herbst 1911 hat er kontinuierlicher an den Manuskripten für „Wirtschaft und Gesellschaft“ gearbeitet. Dabei stellte sich immer deutlicher heraus, daß der ursprünglich für die Fertigstellung der Manuskripte gesetzte Termin vom 15. Januar 1912 ohnehin nicht eingehalten werden konnte. Dieser wurde zunächst auf den 31. Juli 1912 und schließlich sogar auf das Frühjahr 1914 verschoben, vor allem weil zahlreiche Autoren ihre Beiträge nicht termingerecht oder – in einigen wenigen Fällen – überhaupt nicht lieferten, aber auch, weil sich die Fertigstellung der Manuskripte Max Webers immer mehr in die Länge zog. Ich verdanke Μ. Rainer Lepsius eine Ausarbeitung, welche den ständig wechselnden Gesundheitszustand Max Webers dokumentiert, leider aber keine sicheren Rückschlüsse über den Zeitpunkt der Entstehung einzelner Texte erlaubt.
Teilweise wurde Max Weber zur Ausweitung seiner Beiträge durch seine Unzufriedenheit mit den Manuskripten einer Reihe anderer Autoren veranlaßt. Dies machte er insbesondere im Zusammenhang mit dem Beitrag von Karl Bücher über „Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen“
28
geltend, in den er große Erwartungen gesetzt und den er anfänglich für die Realisierung des Gesamtprojekts als zentral angesehen hatte, und ebenso bezüglich des Ausfalls des von Bücher ursprünglich übernommenen Beitrags über „Handel“. Weber glaubte nunmehr seinerseits „in die Bresche springen“ zu müssen, um das Gesamtprojekt zu retten. GdS, Abt. I, S. 1 ff.
29
Es ist unübersehbar, daß Max Weber im Zuge seiner Arbeiten an den Manuskripten, die er offensichtlich parallel nebeneinander betrieb, immer weiter über seine ursprünglichen Zielsetzungen hinaus getrieben wurde, ohne daß wir dies im Einzelfall nachzeichnen können. Am 8. Februar 1913 schrieb er an Siebeck, daß er „eifrig an der Arbeit“ sei: „der große [22]Artikel: ‚Wirtschaft, Gesellschaft Recht und Staat‘ wird das systematisch Beste, was ich bisher geschrieben habe, grade weil ich ihn jetzt Bücher’s wegen umarbeiten mußte […].“ Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 28. Jan. 1913, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8).
30
Am 3. November 1913 heißt es analog: „Ich selbst habe meinen Beitrag zu einer Soziologie ausgearbeitet, um Ersatz für Bücher’s Minderleistung zu bieten […]“.[22] Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 8. Febr. 1913, ebd.
31
Das Argument, daß er für die Fehlleistungen seiner Kollegen eintreten und für die von diesen unzureichend behandelten Themen seinerseits Ersatz schaffen müsse, durchzieht die ganze Korrespondenz mit Paul Siebeck in diesen Jahren. Offensichtlich benutzte Max Weber dieses Argument in erster Linie, um die sich immer deutlicher abzeichnende Überschreitung des Umfangs der von ihm übernommenen Beiträge zu rechtfertigen. So heißt es in einem Brief vom 6. November 1913, in dem Weber um eine erhebliche Umfangerweiterung für den Beitrag von Friedrich von Gottl über „Wirtschaft und Technik“ und für seinen eigenen Beitrag über „Wirtschaft und Gesellschaft“ nachsuchte, ein angesichts des bisher von ihm selbst gegenüber den anderen Autoren exekutierten strengen Regiments in Sachen der Länge der Beiträge gravierender Schritt: „Diese beiden Arbeiten bringen prinzipiell ganz Neues […]. Das gilt für Gottl, dessen Beitrag ganz vortrefflich und höchst originell ist. Aber es gilt auch für meine ‚Soziologie‘, denn dazu wird der Abschnitt annähernd, obwohl ich ihn nie so nennen könnte.“ Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 3. Nov. 1913, ebd.
32
Hier blitzt erstmals das auf, was in der Folge immer deutlicher werden sollte, daß sich nämlich Webers Beiträge für den „Grundriss“ zu einer umfassenden „Soziologie“ auszuwachsen begannen. Zwei Monate später, am Jahresende 1913, schrieb Max Weber dann an Paul Siebeck, daß er „eine geschlossene soziologische Theorie und Darstellung ausgearbeitet“ habe, „welche alle großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie und Hausgemeinschaft zum ,Betrieb‘, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Tröltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, nur wesentlich knapper)[,] endlich eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre. Ich darf behaupten, daß es noch nichts dergleichen giebt, auch kein ,Vorbild‘“. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 6. Nov. 1913, ebd.
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Dies bedeutete, allein schon wegen der damit verbundenen bedeutenden Überschreitung des ursprünglich ins Auge gefaßten Umfangs, daß der „Stoffverteilungsplan“ vom Mai 1910 nun definitiv verlassen war. Leider ist uns die Inhaltsübersicht seines nunmehr als „Soziologie“ bezeichneten Beitrags, die Weber dem Ver[23]leger „in vierzehn Tagen“ in Aussicht stellte, nicht überliefert, sie wurde vermutlich nie abgesandt. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, ebd.
34
[23] Dieser Schluß liegt nahe, weil in der im fraglichen Zeitraum ziemlich dicht überlieferten Korrespondenz zwischen Max Weber und dem Verleger nirgends davon die Rede ist und auch im Verlagsarchiv keine derartige Aufstellung überliefert ist.
Angesichts dieser Sachlage wurde eine radikale Umstrukturierung des „Grundrisses“ erforderlich, nicht zuletzt, um Platz für die 30 Bogen zu schaffen, die Weber nunmehr für seine Beiträge für erforderlich hielt,
35
außerdem aber, um das Erscheinen des „Grundrisses“ nicht unnötig aufzuhalten, da der Abschluß seines eigenen Manuskripts noch nicht abzusehen war. Darüber hinaus wurde Anfang des Jahres 1914 eine neue Gliederung des „Grundrisses“ in Abteilungen vorgesehen. Die III. Abteilung des „Ersten Buches“, die den von Siebeck angeregten Titel: „Gesellschaftl[iche] Bedingungen der W[irtschaft]“ erhalten sollte, sollte nahezu ausschließlich aus Webers eigenem Beitrag bestehen; nur ein Artikel von Philippovich über den „Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme und Ideale“ wurde noch hinzugegeben. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 16. Jan. 1914, ebd.
36
Allerdings war es Max Weber nicht recht, daß Siebeck den schon länger vorliegenden Beitrag von Philippovich nunmehr bereits in Satz geben wollte; doch konnte er sich dem Wunsch des Verlegers jetzt nicht mehr entziehen. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 18. März 1914, ebd.
37
Max Weber und Paul Siebeck verfolgten mit der Umstrukturierung des „Grundrisses“ und der nunmehr vorgesehenen Veröffentlichung in Lieferungen das Ziel, eine möglichst zügige Drucklegung der vorhandenen Manuskripte zu ermöglichen, gleichzeitig aber den Satzbeginn der Abteilung III (mit Webers eigenen Beiträgen) so weit wie möglich hinauszuschieben. Demgemäß bedrängte Max Weber den Verleger, Abteilung IV und V bereits in Satz zu geben, mit dem Druck von Abteilung III aber weiter zuzuwarten. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 15. April 1914, ebd. Siebeck versprach allerdings im Gegenzug, den Beitrag zwar zu setzen, aber noch nicht auszudrucken.
38
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 21. April 1914, ebd.
Diese neue „Einteilung des Gesamtwerkes“, die den veränderten Gegebenheiten Rechnung zu tragen suchte, entstand im Laufe des März 1914; sie wurde dann Anfang Juni 1914 im ersten Band des nunmehr „Grundriss der Sozialökonomik“ genannten Werkes abgedruckt.
39
Sie brachte gegenüber dem Stoffverteilungsplan von 1909/10 wesentliche Erweiterungen und Präzisierungen, zugleich aber auch Verschiebungen in der ursprünglich vorgesehenen Anordnung der Gegenstandsbereiche. Die hier relevanten Passagen der „Einteilung“ lauten: GdS, Abt. I, S. VII–XIII (MWG I/22-6). [[MWG I/24, S. 164-167]]
[24]„C. Wirtschaft und Gesellschaft.
I. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte.
- Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen. Wirtschaft und Recht in ihrer prinzipiellen Beziehung. Wirtschaftliche Beziehungen der Verbände im allgemeinen.
- Hausgemeinschaft, Oikos und Betrieb.
- Nachbarschaftsverband, Sippe, Gemeinde.
- Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen.
- Religiöse Gemeinschaften. Klassenbedingtheit der Religionen; Kulturreligionen und Wirtschaftsgesinnung.
- Die Marktvergemeinschaftung.
- Der politische Verband. Die Entwicklungsbedingungen des Rechts. Stände, Klassen, Parteien. Die Nation.
- Die Herrschaft.
- Die drei Typen der legitimen Herrschaft.
- Politische und hierokratische Herrschaft.
- Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte.
- Die Entwicklung des modernen Staates.
- Die modernen politischen Parteien.“40[24] GdS, Abt. I, S. X–XI (MWG I/22-6). [[MWG I/24, S. 168 f.]] Vgl. auch die Vorbemerkung „Zur Edition von ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘“, oben, S. VIII f.
Im Stoffverteilungsplan von 1910 hatten Max Webers Beiträge einen gesonderten Abschnitt unter dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ gebildet. Da aber der Beitrag von Eugen von Philippovich „II. Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme“ nunmehr der Abteilung „C. Wirtschaft und Gesellschaft“ zugeordnet worden war, wurde zwecks Abgrenzung von diesem Max Webers Beiträgen nunmehr der Titel „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“ gegeben. Wenig zuvor hatte dieser, wie bereits erwähnt, noch „Gesellschaftliche Bedingungen der Wirtschaft“ geheißen, eine Formulierung, die vermutlich auf einen Vorschlag des Verlages zurückging.
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Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 18. März 1914, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8).
[25]Die neue Gliederung der Beiträge Max Webers brachte gegenüber dem Stoffverteilungsplan von 1910 erhebliche Erweiterungen. So wurde ein neues Einleitungskapitel mit dem Titel „Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen“ vorgesehen. Weiterhin findet sich hier die Aufnahme eines neuen Abschnitts über „Religiöse Gemeinschaften“, von dem in dieser expliziten Form 1910 noch nicht die Rede gewesen war.
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Vor allem aber war ein neuer Abschnitt über „Die Herrschaft“ angefügt, der offenbar über die Thematik, welche ursprünglich unter dem Titel „Die politischen Gemeinschaften“ abgehandelt werden sollte, weit hinausging. Wichtiger noch ist, daß nunmehr eine neue Terminoologie angestrebt war; der Begriff der „politischen Gemeinschaft“ wurde nun durch den Begriff „politischer Verband“ ersetzt. Hier kündigt sich eine partielle Abkehr von der bisher in den diversen Texten über die „Gemeinschaften“ vorzugsweise verwendeten Terminologie von Gemeinschaft und Gemeinschaftshandeln zugunsten von Gesellschaft und Gesellschaftshandeln an, wohl im Einklang mit der wenig zuvor im Kategorienaufsatz entwickelten Terminologie. [25] Wenn auch vermutet werden darf, daß schon damals unter dem Titel „Wirtschaft und Kultur“ an die religionssoziologischen Untersuchungen gedacht war, vgl. oben, S. 20.
Jedoch ist dieser Plan nur teilweise zur Ausführung gelangt. Die „Einteilung des Gesamtwerkes“ vom Frühjahr 1914 eilte, was Webers eigene Beiträge angeht, den Tatsachen um einiges voraus. Viele der hier vorgesehenen Kapitel waren im Frühjahr 1914 noch nicht abgeschlossen. Andererseits aber wurde die hier ins Auge gefaßte Disposition durch den immer größeren Umfang insbesondere der Abschnitte über „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ und die „Soziologie der Erlösungslehren“, vor allem aber der „Soziologie der Herrschaft“ zunehmend gesprengt. Ende 1913 hatte Weber noch gemeint, daß er für seine Beiträge insgesamt 25 Bogen benötigen werde, obschon dies mit den entsprechenden Vorgaben des „Grundriss“ keinesfalls vereinbar war. Weber brachte das Dilemma auf die Formel: „die Schicksalsfrage wird sein, geht das?“
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Anfang 1914 schätzte er den Umfang seiner Beiträge auf nunmehr 30 Bogen. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8).
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Seine „geschlossene soziologische Theorie und Darstellung“ aller großen Gemeinschaftsformen war zum damaligen Zeitpunkt nichts weniger als abgeschlossen, geschweige denn die umfassende „soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre“, an der er bis 1914 mit ungeheurer Energie gearbeitet hat. Was im Juli 1914 vorlag, war ein [26]gigantisches Konvolut von teils abgeschlossenen, überwiegend aber noch nicht druckreifen Manuskripten, die sich in der vorliegenden Form schwerlich ohne weiteres in den „Grundriss“ hätten einfügen lassen. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 16. Januar 1914, ebd.
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Max Weber hat die für „Wirtschaft und Gesellschaft“ bestimmten Manuskripte dann nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges über lange Zeit hinweg liegengelassen, mit dem nicht eben zwingenden Argument, daß an eine Fertigstellung des „Grundrisses“ während des Krieges nicht zu denken bzw. er selbst jedenfalls dazu nicht in der Lage sei.[26] Allein die uns überlieferten, unfertigen Texte belaufen sich auf ca. 40 Bogen.
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Statt dessen hat er sich seit 1915 auf die Herausgabe der Aufsätze über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ konzentriert, deren Thematik sich an jene der „religiösen Gemeinschaften“ anschloß und an denen er schon vor 1914 parallel zu den Beiträgen für den „Grundriss“ gearbeitet hatte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dies zumindest teilweise eine Flucht vor den Schwierigkeiten darstellte, welche eine Umarbeitung der vorliegenden Texte mit sich gebracht haben würde, die erforderlich gewesen wäre, um diese hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Anlage den Vorgaben des „Grundrisses“ anzupassen und ihnen den vorgesehenen lehrbuchartigen Charakter zu geben. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 21. Febr. 1915, ebd. (MWG II/9).
Die uns überlieferten Manuskripte aus dem Nachlaß decken sich demnach nur teilweise mit den Angaben der „Einteilung des Gesamtwerkes“ vom Frühjahr 1914. Der Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, der schon im Stoffverteilungsplan von 1910 unter dem Titel „Wirtschaft und Recht“ Erwähnung findet, ist von Max Weber 1913/14 ausweislich des in diesem Falle überlieferten Manuskripts in unmittelbarem Zusammenhang mit einem umfangreichen Konvolut über „Rechtssoziologie“ zum Druck vorbereitet worden.
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Auch dieses Manuskript war ersichtlich weit über die Thematik des entsprechenden Unterabschnitts innerhalb des Kapitels „Der politische Verband“, gemäß der Disposition vom Frühjahr 1914, hinausgewachsen. Die „Rechtssoziologie“ wurde damit zu einem eigenständigen Textbestand, der allerdings vermutlich weiterhin im Anschluß an den Abschnitt 7 über den „Politischen Verband“ plaziert worden wäre. Die Herausgeber der MWG haben demgemäß einen eigenständigen Teilband „Recht“ vorgesehen. In beiden Manuskripten finden sich umfangreiche Setzeranweisungen von Webers Hand in gleichem Duktus und mit gleicher Feder, die den Schluß auf eine einheitliche Disposition für beide Manuskriptbestände unabweisbar machen. VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG I/22-3).
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Bedeutsamer ist, daß auch der Abschnitt 5 „Religiöse Gemeinschaften“ über seine ursprüngliche Thematik weit hin[27]ausgewachsen war und zugleich einen beträchtlichen Umfang angenommen hatte. Auch diesen Textbestand haben die Herausgeber, obschon dies eine Abweichung von der ursprünglich von Max Weber vorgesehenen Abfolge von Typen von „Gemeinschaften“ bedeutete, einem eigenen Teilband zugewiesen. MWG I/22-3. Vgl. die Allgemeinen Hinweise der Herausgeber zur Edition von „Wirtschaft und Gesellschaft“, oben, S. XIII–XV.
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Die Texte über die „Gemeinschaften“ decken sich in der uns überlieferten Form ebenfalls nur begrenzt mit den Angaben der „Einteilung des Gesamtwerkes“. Man wird davon ausgehen müssen, daß Max Weber beabsichtigte, diese Texte gemäß der Anordnung und der Terminologie noch einmal zu überarbeiten, was aber, soweit wir sehen, größtenteils nicht mehr geschehen ist. Insbesondere ist die offenbar beabsichtigte Modifikation der Terminologie, die laut der Disposition vom Frühjahr 1914 vorzugsweise von „Verband“ anstelle von „Gemeinschaft“ sprach, nur teilweise durchgeführt worden.[27] MWG I/22-2.
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Vielmehr dient in diesem Bande die Sequenz unterschiedlicher Typen von „Gemeinschaften“ durchgängig als Achse der Darstellung. Vgl. den Editorischen Bericht zu dem Text „Politische Gemeinschaften“, unten, S. 200 f.
Umstritten ist, wie der Anfang des älteren Manuskriptbestandes von „Wirtschaft und Gesellschaft“ ausgesehen hat. Im Stoffverteilungsplan von 1910 findet sich kein Hinweis auf eine „Einleitung“ zu Webers Beiträgen. In der Disposition von 1914 stellte Max Weber den Sachdarstellungen ein einleitendes Kapitel mit dem Titel „Kategorien der gesellschaftlichen Ordnung. Wirtschaft und Recht in ihrer prinzipiellen Beziehung. Wirtschaftliche Beziehungen der Verbände im allgemeinen“ voran. Dabei fällt auf, daß es zu den an zweiter und dritter Stelle genannten Themenbereichen Manuskripte gibt, nicht aber zu dem erstgenannten Themenbereich „Kategorien der gesellschaftlichen Ordnung“. Dieser Text, von dem unsicher ist, ob es ihn überhaupt gegeben hat, könnte der Platzhalter für eine handlungstheoretisch und methodologisch argumentierende allgemeine Einleitung gewesen sein. Es ist immerhin möglich, wie Wolfgang Schluchter vermutet, daß Max Weber dieses Manuskript 1919 aus dem alten Konvolut herausgelöst und für die Formulierung der „Soziologischen Grundbegriffe“ von 1919 verwendet sowie anschließend vernichtet hat.
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Vgl. auch Schluchter, Doppelkopf (wie oben, S. 15, Anm. 1), S. 742.
Ursprünglich ist Wolfgang Schluchter davon ausgegangen, daß der zweite Teil der Abhandlung „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ (der sogenannte Kategorienaufsatz) als Anfangskapitel gedient haben dürfte. Es hätte zusammen mit „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ eine Einführung in die Terminologie der Texte über „Gemein[28]schaften“ gegeben.
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Schluchter hat diese seine These aber inzwischen revidiert.[28] Vgl. Schluchter, Das Ende eines Mythos (wie oben, S. 15, Anm. 1), S. 628.
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Hiroshi Orihara hingegen hat aufgrund einer umfangreichen Analyse der Textverweise den Nachweis zu führen gesucht, daß „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ und der „Kategorienaufsatz“ am Anfang der Texte über die „Gemeinschaften“ gestanden beziehungsweise, wie er es genannt hat, den „Kopf“ des Ganzen gebildet haben. Vgl. Schluchter, Doppelkopf (wie oben, S. 15, Anm. 1), S. 740 f.
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Er hat seinen Standpunkt unter Hinweis auf das Netzwerk der Verweise in „Wirtschaft und Gesellschaft“ jüngst noch einmal nachdrücklich bekräftigt. Schluchter, Das Ende eines Mythos (wie oben, S. 15, Anm. 1); Orihara, Hiroshi, Der Kopf des „Torsos“. Zur Rekonstruktion der begrifflichen Einleitung ins „alte Manuskript 1911–13“ von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“, in: Working Papers No. 57. – Tokio: University of Tokyo 1995.
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Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, daß dies tatsächlich der Fall gewesen ist, schon gar nicht zum Zeitpunkt der in Aussicht genommenen Drucklegung der älteren Manuskripte im Jahre 1914. Orihara, Hiroshi, Zur Rekonstruktion der alten Vorkriegsfassung von Max Webers Beitrag zum „Grundriss der Sozialökonomik“. Eine Erwiderung auf Schluchters Replik, in: Working Paper No. 1, Sugiyama Jogakuen University März 2001.
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Zum ersten ist aus der Anmerkung, die Max Weber angelegentlich der Veröffentlichung im „Logos“ der Abhandlung beigab, keineswegs mit Gewißheit zu schließen, daß dieser, oder gegebenenfalls andere, anfänglich dazugehörende Texte wirklich für eine Veröffentlichung in „Wirtschaft und Gesellschaft“ vorgesehen waren. Die von Orihara als Beweis für seine These angeführten Rückverweise aus anderen Manuskripten sind jedenfalls nicht zwingend; sie finden an den angegebenen Stellen des Kategorienaufsatzes nur eine kursorische Entsprechung, so daß Zweifel darüber bestehen, ob sie sich wirklich auf diesen beziehen. Zwar ist dort von gleichartigen Sachverhalten die Rede, aber klare Begriffsbestimmungen der Art, wie man sie erwarten sollte, finden sich dort nicht. Die von Orihara herangezogenen Rückverweise aus dem Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ hingegen beziehen sich mit einer Ausnahme vermutlich auf den Abschnitt „Die Politischen Gemeinschaften“, welcher dem Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ unmittelbar vorgeordnet war. Sie gehören der letzten Schicht des Manuskripts an und sind daher nicht vor 1912, wahrscheinlich sogar noch später entstanden. Das macht es extrem unwahrscheinlich, daß sich diese Verweise auf den Kategorienaufsatz bezogen haben könnten, umso mehr als es sich herausgestellt hat, daß die Terminologie des Kategorienaufsatzes zu einem späten (vermutlich zum gleichen) Zeitpunkt in das Manuskript „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ eingearbeitet worden ist.
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Weiterhin ist inzwischen klar geworden, daß die älteren [29]Teile des Kategorienaufsatzes in der uns im „Logos“ überlieferten Fassung letzter Hand auf Ende 1912/Anfang 1913 datiert werden müssen. Diese sind überdies im Zuge der Veröffentlichung 1913 in nicht unerheblichem Umfang überarbeitet oder ergänzt worden. Weber, Kategorienaufsatz, S. 253, Anm. 1. Hier heißt es, daß „der zweite Teil des Aufsatzes […] ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung“ sei, „welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags (Wirtschaft und Gesellschaft) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk dienen sollte und von welcher andre Teile wohl anderweit gelegentlich publiziert werden“.
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Dies erlaubt den Schluß, daß der Kategorienaufsatz jedenfalls in dieser teils überarbeiteten, teils neu formulierten Fassung sicherlich nicht am Anfang der Texte über „Gemeinschaften“ gestanden haben kann, zumal diesbezügliche Hinweise von Weber selbst in diesem Punkte fehlen. Die Herausgeber der Max Weber-Gesamtausgabe haben sich daher entschieden, den Kategorienaufsatz nicht in „Wirtschaft und Gesellschaft“ aufzunehmen und an den Anfang der Edition des Bandes „Gemeinschaften“ zu stellen, ganz unabhängig von der Frage, ob Teile der älteren Kapitel, obschon diese laut Webers Mitteilung vom 5. September 1913 „schon seit ¾ Jahren“, also Ende 1912 „fertig“ vorlagen, bereits wesentlich früher entstanden waren und möglicherweise ursprünglich als Einleitung hätten dienen sollen.[29] Dies läßt sich aus dem Umstand erschließen, daß Max Weber wegen der Umarbeitung eine genaue Umfangschätzung nicht mehr möglich war. Vgl. den Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 5. Sept. 1913, GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 25, Bl. 78 f. (MWG II/8).
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So auch Schluchter, Doppelkopf (wie oben, S. 15, Anm. 1), S. 741 f.
Oriharas These, daß der Kategorienaufsatz und der Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ zusammen mit dem Text „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ den „Kopf“ der nachgelassenen Manuskripte gebildet haben, kann hier ebenfalls offen bleiben, da Max Weber, wie bereits erwähnt, selbst 1913 oder 1914 Dispositionen getroffen hat, die den Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ eng mit der sogenannten „Rechtssoziologie“ verknüpfen und einen gemeinsamen Druck vorsehen. Es ist unstrittig, daß „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ im Kern ein „früher“ Text ist, obschon für eine Datierung vor 1910 keine philologischen Anhaltspunkte bestehen, und der Text in der Tat wohl ursprünglich eine einleitende Funktion hat haben sollen, wie dies auch durch den Stoffverteilungsplan von 1910 nahegelegt wird. Aber der Text behandelt nur die Rechtsordnung, während die anderen Ordnungen, die logischerweise hätten folgen müssen, nur pauschal angesprochen werden. Wie dem auch sei, jedenfalls hat Max Weber selbst sich spätestens 1913 oder 1914 dafür entschieden, den wahrscheinlich ursprünglich an einer vorderen Stelle plazierten Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ gemeinsam mit der [30]„Rechtssoziologie“ im Anschluß an die „Politischen Gemeinschaften“ zu plazieren, wie unter anderem aus den Setzeranweisungen hervorgeht.
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[30] Das Manuskript findet sich im Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 6 und OM 10.
Auch inhaltliche Gründe sprechen dagegen, daß der Kategorienaufsatz oder Teile desselben am Anfang der älteren Manuskripte von „Wirtschaft und Gesellschaft“ gestanden haben. In der Akzentuierung des rational orientierten „Gesellschaftshandelns“ – eines Begriffs, der dort noch nicht auftaucht – oder des „Legitimitäts-Einverständnisses“ als einer Voraussetzung von stabiler Herrschaft, des „Zweckverbandes“ und eines „spezifischen Interesses des rationalen kapitalistischen ,Betriebs‘ an ,rationalen‘ Ordnungen“ geht der „Kategorienaufsatz“ über das Interpretationsniveau der Texte über „Gemeinschaften“ hinaus. Er übertrifft diese in seiner begrifflichen Präzision bei weitem. In mancher Hinsicht findet sich hier die Quintessenz der in den – ihm, wie man vermuten darf, zeitlich vorauslaufenden – Texten über „Gemeinschaften“ entwickelten Begrifflichkeit.
Wahrscheinlicher ist, daß es einen einleitenden Text gegeben hat, der die am Beginn zu erwartenden Begriffsdefinitionen bereitstellte, von dem uns allerdings nur ein Fragment überliefert ist. Es ist dies der längere Absatz zu Beginn des Textes „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“.
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Dieser Absatz ist mit dem nachfolgenden Text durch den Einschub eines Satzes, der vermutlich von den Erstherausgebern stammt, um die Brücke zu den dann folgenden Erörterungen über verschiedene Typen „wirtschaftender Gemeinschaften“ herzustellen, nur unzulänglich verknüpft. Vgl. den Text „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, unten, S. 77–79.
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Man darf vermuten, daß er durch die Erstherausgeber an dieser Stelle in das Manuskript eingefügt worden und durch eine syntaktisch wie inhaltlich nicht dazu passende Überbrückungsformulierung an den nachfolgenden Text angebunden worden ist. Das Fragment bringt eine Definition des Begriffs „Wirtschaft“, wie man sie an dieser Stelle erwarten würde; dabei ist auffällig, daß diese sich pointiert an der Begrifflichkeit der Grenznutzenschule orientiert. Vgl. den Editorischen Bericht zu „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, unten, S. 71.
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Dieser Sachverhalt legt eine relativ frühe Entstehung nahe, trat doch der Konflikt zwischen der Grenznutzenlehre und der historischen Nationalökonomie in Webers Werk späterhin zunehmend zurück. Es ist zu vermuten, daß es [31]sich dabei um ein Bruchstück bzw. den Rest eines Textes gehandelt hat, der dem in der „Einteilung des Gesamtwerkes“ vom Frühjahr 1914 vorgesehenen Text „Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen“ zugeordnet werden kann. Es ist immerhin möglich, daß es der Rest eines Manuskripts ist, das 1919 zur Abfassung des Kapitels „Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens“ der ersten Lieferung von „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“ Vgl. den Text „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, unten, S. 77 f.
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verwendet und anschließend vernichtet worden ist.[31] WuG1, S. 31–121 (MWG I/23).
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Wenn diese Annahme richtig ist, so würde dies bedeuten, daß nur die inzwischen entbehrlich gewordenen Ausführungen über die Definition der Wirtschaft im Sinne der Grenznutzentheorie diesem Schicksal entgangen sind. Vgl. den Editorischen Bericht zu dem Text „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, unten, S. 73.
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Jedoch läßt sich dies nicht mit Sicherheit nachweisen. Vielmehr handelt es sich bei Lage der Dinge um eine nur auf Indizien gestützte hypothetische Deduktion. Demgemäß folgt die Edition, ungeachtet dieser Erwägungen, in der Präsentation des Textes der Voredition von Marianne Weber und Melchior Palyi. Vgl. unten, S. 43 f.
Dem Abschnitt „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, der, wie wir annehmen dürfen, als Rest einer ursprünglich wohl umfänglicheren Einleitung erhalten geblieben ist, folgte dann in einer durchaus systematischen Abfolge die Darstellung der verschiedenen „Gemeinschaftsformen“, die der „Hausgemeinschaft“ und ihrer verschiedenen Derivate, die „ethnischen Gemeinschaften“, die „Marktgemeinschaft“ und die „Politischen Gemeinschaften“ (während die ursprünglich der „Marktgemeinschaft“ nachfolgenden „Religiösen Gemeinschaften“ sich zu einer eigenständigen Darstellung verselbständigten). Daran schlossen sich, mit den Ausführungen der „Politischen Gemeinschaften“ inhaltlich eng verbunden, die Texte über „Machtprestige und Nationalgefühl“ sowie über „,Klassen‘, ‚Stände‘ und ,Parteien‘“ an. Diese Texte stehen in einem engen Sachzusammenhang miteinander. Jedoch können nur die ersten beiden Texte als mehr oder minder abgeschlossen gelten; während die übrigen unvollendet geblieben sind. Deshalb rechtfertigt es sich auch, sie jeweils als eigenständige Texte zu edieren, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß es sich insgesamt um einen kontinuierlichen Textbestand gehandelt habe. Es ist im übrigen nicht anzunehmen, daß der Text „Machtprestige und Nationalgefühl“ ebenso wie die hier im Anhang edierten Texte über „Kriegerstände“ überhaupt für eine Veröffentlichung im Rahmen von „Wirtschaft und Gesellschaft“ bestimmt waren. Bei [32]dem Text „Machtprestige und Nationalgefühl“ handelt es sich allerdings um eine inhaltlich bedeutsame Vorfassung zu dem Unterabschnitt über die „Nation“, der in der Disposition von 1914 angekündigt war, dann aber nicht mehr zustande gekommen ist. Dieser Text weist überdies bemerkenswerte Parallelen zu den entsprechenden Passagen in dem Abschnitt über „Ethnische Gemeinschaften“ auf. Für eine Aufnahme in die Abfolge der Texte über „Gemeinschaften“ spricht der Umstand, daß sich diese Texte in dem Konvolut der Manuskripte befanden, das Marianne Weber im Schreibtisch ihres Mannes fand und die Grundlage der Erstedition von „Wirtschaft und Gesellschaft“ abgegeben hat. Unter den Manuskripten des Nachlasses fand sich darüber hinaus ein Stichwortmanuskript über „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, das Max Weber aller Wahrscheinlichkeit nach als Vorlage für die Abfassung der entsprechenden Textpassagen in dem Abschnitt über die „Hausgemeinschaften“ gedient hat und aus diesem Grunde im Anhang dieses Bandes mitgeteilt wird.
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[32] Vgl. die in Abschnitt III. gegebene Charakterisierung des Stichwortmanuskripts, unten, S. 36–38, sowie den Editorischen Bericht, unten, S. 288 f.
Man darf mit Gewißheit davon ausgehen, daß Max Weber die nachgelassenen Manuskripte von „Wirtschaft und Gesellschaft“ 1919/20 nicht mehr in der vorliegenden Form publizieren, sondern sie grundlegend überarbeiten wollte, in Übereinstimmung mit dem inzwischen erreichten Stand seiner theoretischen Auffassungen. „Das dicke alte Manuskript muß ganz gründlich umgestaltet werden […]“, schrieb er am 27. Oktober 1919 an Paul Siebeck.
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Es ist ihm wegen seines plötzlichen Todes am 14. Juni 1920 bekanntlich nicht mehr möglich gewesen, diese Umarbeitung zur Gänze durchzuführen. Brief Max Webers an Paul Siebeck undat. [27. Okt. 1919], VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/10).
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1920 begann Max Weber damit, diese Neufassungen zu veröffentlichen; sie werden in Band MWG I/23 ediert. Von den Texten über die „Gemeinschaften“ hat nur das Kapitel über „‚Klassen‘, ‚Stände‘ und ‚Parteien‘“ eine dort publizierte Überarbeitung erfahren. Vgl. Mommsen, Zur Entstehung von Max Webers hinterlassenem Werk (wie oben, S. 15 f., Anm. 1), sowie ders., Max Weber's Grand Sociology (wie oben, S. 16, Anm. 1).
Die Abfolge der Texte über „Gemeinschaften“, so wie diese hier präsentiert werden, ergibt sich teilweise aus der Verweisstruktur, über die in den Editorischen Berichten das Notwendige gesagt wird, zugleich aber auch aus ihrem inneren Zusammenhang. Einzelne der Texte setzen einander jeweils voraus. Von einer rein chronologischen Anordnung gemäß ihrer Entstehungszeit ist hingegen Abstand genommen worden, schon deshalb, [33]weil sich die Texte sämtlich nicht präzise datieren lassen. Eine Ausnahme macht in dieser Hinsicht nur der Text über „Machtprestige und Nationalgefühl“, der, wie sich aus inhaltlichen Hinweisen erschließen läßt, vor Juli 1911 niedergeschrieben worden sein muß. Überdies dürften die Texte nicht selten unterschiedliche Schichten aufweisen, die zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden sind, auch wenn wir dies mangels der Manuskripte nicht mehr im einzelnen nachweisen können. Insgesamt dürften die nachstehend edierten Texte im wesentlichen zwischen 1910 und 1912 entstanden sein, allerdings mit der Wahrscheinlichkeit späterer Überarbeitungen. Dies betrifft vor allem die Verweise auf andere, zumeist später entstandene Segmente von „Wirtschaft und Gesellschaft“, insbesondere die „Herrschaftssoziologie“, aber auch die „Rechtssoziologie“, die beide ihre uns bekannte Gestalt erst 1912/13 erhalten haben. Ansonsten aber weisen die Texte über „Gemeinschaften“, wie bereits dargelegt wurde, noch keine Spuren der grundlegenden Veränderungen der Terminologie Max Webers auf, die mit dem auf Ende 1912/Anfang 1913 zu datierenden Kategorienaufsatz einsetzen. In dieser Beziehung macht allerdings der Text über „Politische Gemeinschaften“ eine Ausnahme. Er hat offensichtlich eine Überarbeitung erfahren, welche die neuen Ansätze des Kategorienaufsatzes, aufgreift, insbesondere die Konzeption der „Legitimität“ politischer Ordnungen kraft des „Einverständnishandelns“ der Gemeinschaftsangehörigen, die als partielle Antizipation der „Drei reinen Typen legitimer Herrschaft“ gelten kann.
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Allerdings ist gerade dieser Text unvollendet geblieben. Vermutlich hat Max Weber es vorgezogen, in dem Abschnitt „Herrschaft“[33] Vgl. unten, S. 51–53 und den Editorischen Bericht zu dem Text „Politische Gemeinschaften“, unten, S. 200 f.
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einen grundlegenden Neuansatz zu unternehmen, statt den älteren Ansatz fortzuschreiben, wie er in den „Politischen Gemeinschaften“ noch vorherrscht, nämlich „Herrschaft“ und „Staat“ als Sonderformen „politischer Gemeinschaften“ zu behandeln. Insgesamt gilt für die Texte über „Gemeinschaften“ einschließlich des Textes „Politische Gemeinschaften“, daß die begrifflichen und thematischen Neuerungen, die in der Disposition vom Frühjahr 1914 angekündigt wurden, in ihnen noch keinen Niederschlag gefunden haben. MWG I/22-4.
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Sie werden vielmehr durchgängig bestimmt durch die Verwendung der Begrifflichkeit von „Gemeinschaft“ und „Ge[34]meinschaftshandeln“, während die Begriffe „Gesellschaft“ und „Gesellschaftshandeln“ so gut wie überhaupt nicht verwendet werden, wohl aber „Vergesellschaftung“ als Bezeichnung für die zweckrationale Gestaltung bestimmter Dimensionen oder Aspekte des „Gemeinschaftshandelns“. Die Disposition ist unter dem Datum vom 6. Juni 1914 im ersten Band des GdS im Druck erschienen, jedoch lag sie, was die thematische Gestaltung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ angeht, bereits im März 1914 vor. Vgl. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 18. März 1914, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8).
Max Weber hat, wie bereits erwähnt, immer wieder darauf Bezug genommen, daß er wegen der „Minderleistung“ Karl Büchers in die Bresche habe springen müssen, nachdem dieser statt eines vorgesehenen umfassenden Artikels über „Wirtschaftsstufen“ am Ende nur eine knappe Zusammenfassung seiner bekannten Thesen geliefert hatte. Schon in einem Brief an Paul Siebeck vom 23. Januar 1913 heißt es, daß es von dem bevorstehenden Manuskript Büchers abhänge, ob er seinen „großen Beitrag (Wirtschaft und Gesellschaft – incl[usive] Staat und Recht)“ schon in „nächster Zukunft oder auch erst Ende April zusenden“ könne, von dem Weber hoffte, er werde „zu den besseren oder besten Sachen gehören, die ich schrieb“.
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Am 5. Mai 1914 schließlich teilte Weber dem Verleger mit, er sei „noch in scharfer Arbeit wegen Büchers Versagen“.[34] „Er giebt eigentlich eine vollständige soziologische Staatslehre im Grundriß und hat harten Schweiß gekostet, das kann ich wohl sagen“, Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 23. Jan. 1913, ebd.
74
Dies legt den Gedanken nahe, daß Max Weber die in dem Schreiben vom 30. Dezember 1913 direkt angesprochene Theorie und Darstellung des Verhältnisses aller „großen Gemeinschaftsformen“ zur Wirtschaft erst nach Eingang des unzulänglichen Manuskripts Büchers niedergeschrieben oder zumindest erheblich erweitert habe. Doch ist dies wenig wahrscheinlich. Max Webers Typologie der „Gemeinschaftsformen“ sollte etwas ganz anderes sein als die von Bücher erwartete Theorie der Wirtschaftsstufen, und er hätte auf der Grundlage seiner Texte Büchers „Minderleistung“ schwerlich in nennenswertem Umfang ausgleichen können. Weber lag dies vielmehr durchaus fern. Er suchte Johann Plenge dafür zu gewinnen, kurzfristig die Lücke, die Bücher gelassen hatte, zu schließen und ihm „auf einem Bogen“ eine Theorie der Wirtschaftsstufen zu schreiben, welche er sofort unbesehen zu drucken bereit war. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 5. Mai 1914, ebd.
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Im übrigen meinte er, daß seine eigenen Auffassungen über Stufentheorien gegenwärtig in starkem Wandel begriffen seien und er frühestens in der zweiten Auflage [35]des „Grundriss“ eine eigene Stufentheorie werde liefern können. „Setzen Sie sich, sobald Sie Luft haben, hin und schreiben in 1 Bogen Ihre Stufentheorie nieder, ganz populär, unsoigniert und rein didaktisch. Büchers M[anu]scr[ipt] ist so miserabel […], daß ich dann diese Sache von Ihnen sofort drucke.“ Brief Max Webers an Johann Plenge vom 4. Nov. 1913, UB Bielefeld, Nl. Johann Plenge (MWG II/8).
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Dies schließt aus, daß Weber die Sequenz seiner „Gemeinschaftsformen“ als eine Art von Ersatz für Büchers „Wirtschaftsstufen“ angesehen hat. Allenfalls ist denkbar, daß Weber im Hinblick auf den ziemlich schematischen, nicht sehr informativen Beitrag Büchers seine eigenen Texte noch einmal durchgesehen und hie und da ergänzt hat. Gewiß aber hat er diese Büchers wegen nicht substantiell verändert. Vielmehr diente ihm der Hinweis auf Büchers „Versagen“ in erster Linie als Rechtfertigung für die Umfangüberschreitungen seiner eigenen Texte.[35] Brief Max Webers an Johann Plenge vom 11. Aug. 1913, ebd. Dort heißt es unter Bezugnahme auf die geplanten Arbeiten Plenges zur „Stufentheorie“: „Meine persönlichen Ansichten über diesen Punkt sind z.Z. in starkem Wandel begriffen und – nachdem Bücher mich im Stich gelassen hat, denn was er lieferte, taugt nichts – werde ich frühestens bei einer etwaigen Neuauflage des ,Handbuchs‘ in der Lage sein, zu meinem Teil etwas zu diesem Problem beizutragen […]. Diesmal bietet mein Artikel ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘ ganz andre Dinge als ‚Wirtschaftsstufen‘.“
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Im übrigen taucht diese Argumentationsfigur auch in anderen Zusammenhängen und bezogen auf andere Autoren auf. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 2. April 1914, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8): Er müsse „einen ganz dicken Abschnitt zufügen“. Vgl. Schluchter, Doppelkopf (wie oben, S. 15, Anm. 1), S. 741.
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In einem Rundschreiben an die Mitherausgeber des Handbuchs vom 8. Dezember 1913 heißt es, wegen „des fast völligen Ausfalls mehrerer besonders wichtiger Beiträge“, für die zumeist „ein Ersatz überhaupt nicht zu schaffen war“, habe er, Weber, geglaubt, „für das Werk, um ihm ein anderweitiges [Hervorhebung d. Hg.] Äquivalent zu liefern und so seine Eigenart zu heben, unter Opferung anderer“, ihm „weit wichtigerer Arbeiten in dem Abschnitt ,Wirtschaft und Gesellschaft‘ eine ziemlich umfassende soziologische Erörterung liefern zu sollen, eine Aufgabe“, die er „sonst in dieser Art niemals unternommen hätte.“ So heißt es noch am 21. Juni 1914 zur Rechtfertigung des Ausbleibens seiner eigenen Beiträge: „Ich kann ja gar nichts dafür, daß durch die Unzulänglichkeit der Beiträge von Bücher, Sieveking, auch Sombart […] und einiger Anderer es nötig wurde, daß ich einsprang.“ Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 21. Juni 1914, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8).
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Er wollte also ein „anderweitiges Äquivalent“ für die ausgefallenen bzw. unbefriedigenden Beiträge leisten, nicht aber die hier gebliebenen Lücken schließen. Man darf demnach füglich davon ausgehen, daß Webers „große Soziologie“, deren frühe Teile nachstehend ediert werden, in allem wesentlichen unabhängig von den Fehl- bzw. Minderleistungen anderer Autoren des „Grundriss der Sozialökonomik“ entstanden ist. Rundschreiben an die Mitherausgeber des Handbuchs vom 8. Dez. 1913, ebd.
[36]III. Die „großen Gemeinschaftsformen“
Max Weber hat sich, wie bereits erwähnt wurde, offenbar schon vor Beginn seiner Arbeit am „Handbuch“ mit den verschiedenen Formen von Gemeinschaften in der Menschheitsgeschichte befaßt. 1902, als er seine schwere psychische Erkrankung zu überwinden begann, wandte er sich im Zusammenhang mit der Arbeit seiner Frau an ihrem damals begonnenen Buch „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“
1
dieser Thematik erneut zu.Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter.
2
Er nahm an ihren Forschungen ein intensives Interesse und trieb sie, wie Marianne Weber bekundet, dabei „von einer Stufe zur anderen“ voran. Dies hat nach dem Zeugnis Marianne Webers zu seiner Gesundung einiges beigetragen. Siehe jetzt Roth, Guenther, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950 mit Briefen und Dokumenten. – Tübingen: Mohr Siebeck 2001, S. 565–567 (hinfort: Roth, Max Webers Familiengeschichte).
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In ihrem Werk wurden die Stellung der Frau in frühen Gesellschaften und das Mutterrecht sowie das angenommene ursprüngliche Matriarchat und ebenso die Frage der Entstehung des Eigentums eingehend behandelt. Marianne Weber berichtet am 29. Januar 1902 ihrer Schwiegermutter Helene Weber, daß Max wieder lese und eine Unmenge von historischer und sonstiger Literatur in sich hinein schlinge; Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 29. Jan. 1902, Deponat Max Weber-Schäfer, BSB München, Ana 446. Offenbar war Weber dabei, sich von seiner tiefen Depression zu befreien; nur termingebundene Verpflichtungen lösten immer noch depressive Anfälle bei ihm aus.
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Damals erstellte Max Weber eine ausführliche Ausarbeitung dieser Probleme in einem Stichwortmanuskript mit dem Titel „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, das im Herbst 1906 entstanden sein dürfte. Dieses Stichwortmanuskript besteht aus zwei Schichten, die erste gibt einen stichwortartigen Abriß der Entwicklung der „Hausgemeinschaft“ seit ihren ersten Anfängen bis hin zu Nachbarschaft, Sippe und Stamm, die zweite, die wohl etwas später in den ersten Text eingeschoben wurde, behandelt die Entwicklung der Institution der „Ehe“ vor universalhistorischem Hintergrund. Die Ausarbeitung über die „Ehe“ war vermutlich eine Zuarbeit zu Marianne Webers Buch; sie könnte allerdings auch als Material für eine Studie über „Prostitution und Familie“ gedient haben, welche Max Weber Anfang 1905 dem Verein für Socialpolitik in Aussicht gestellt hatte. Marianne Weber bestätigt selbst, daß sie in dieser letzteren Frage „in den Hauptpunkten den Gedankengängen“ ihres Mannes gefolgt sei. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 63, Anm. 1.
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Dies ergibt sich aus einem Ver[37]merk in der linken oberen Ecke des ersten Blattes des Manuskripts: „Sexualität, Prostitution“. Eine Ankündigung mit dem Zusatz: „erst für später“ findet sich in: Verein für Socialpolitik, Protokoll über die Verhandlungen des Ausschusses in Berlin am 6. Jan. 1905, British Library of Political & Economic Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114. Ich ver[37]danke Frau Dr. Hanke den Hinweis auf diese Information, welche die Datierung des Stichwortmanuskripts auf das Jahr 1906 stützt.
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Das Stichwortmanuskript gibt, vermutich gestützt auf die einschlägigen Passagen der Vorlesung über „Allgemeine (,theoretische‘) Nationalökonomie“, eine generelle Exposition dieser Thematik. Siehe unten, S. 291.
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Es stellt eine Vorstufe zu den einschlägigen Ausführungen in dem Text „Hausgemeinschaften“ dar und wird deshalb in diesem Band im Anhang veröffentlicht. Siehe den Editorischen Bericht zu „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, unten, S. 283–285.
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Es behandelt die „Hausgemeinschaft“ als die ursprünglichste Form gesellschaftlicher Organisation und wirtschaftlicher Aktivität, sowie die Herausbildung des Nachbarschaftsverbandes, der Sippe und des Stammes als frühe Formen gesellschaftlicher Ordnungen, die als Träger des wirtschaftlichen Lebens fungierten. Aus der ursprünglichen Hausgemeinschaft gingen, worauf Weber besonderen Wert legte, radikal unterschiedliche Typen wirtschaftlicher Aktivität hervor, nämlich zum einen der moderne kapitalistische Betrieb, zum anderen die im wesentlichen auf unfreier Arbeit beruhende Grundherrschaft des „Oikos“. Vgl. unten, S. 291–327. Vgl. auch den entsprechenden Editorischen Bericht, unten, S. 288 f.
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In dieses Manuskript hat Max Weber wahrscheinlich nur wenig später eine Ausarbeitung über „Die Entwicklung der Sexualbeziehungen und der Ehe“ eingeschoben, die vermutlich als Handreichung für Marianne Weber gedacht war, welche die hier formulierten Gesichtspunkte in der Folge dann auch weitgehend in ihrem Buch „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ behandelt hat. Weber rühmte damals gegenüber Paul Siebeck die von seiner Frau vorgetragene Theorie der Entstehung der legitimen Ehe als Folge des Strebens der Frauen nach Sicherstellung der materiellen Versorgung ihrer Kinder als eine ganz neue, bedeutsame These. Vgl. das Stichwortmanuskript „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, unten, S. 300–302.
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Diese Argumente gehen vermutlich in weiten Teilen auf ihn selbst zurück. Möglicherweise hat der Tatbestand, daß dieses Fragment für Marianne Weber von einiger Bedeutung gewesen ist, dazu geführt, daß es uns erhalten geblieben ist, während Max Weber ansonsten seine Vorstudien zu „Wirtschaft und Gesellschaft“, soweit wir wissen, in aller Regel nicht aufgehoben hat. Vgl. den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 11. Sept. 1906, MWG II/6, S. 156–159, hier S. 158.
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Auch Marianne Weber hat, von den frühen Vorlesungsmanuskripten und einigen Notizen und Exzerpten im Nachlaß abgesehen, nur die Materialien für erhaltungswürdig angesehen, die der Abfassung ihres „Lebensbildes“ zugrunde gelegen haben.
[38]Das Stichwortmanuskript weist enge Bezüge zu anderen Themen auf, an denen Max Weber seit 1903 arbeitete, den „Agrarverhältnissen im Altertum“,
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der Abhandlung „Die Stadt“,[38] Weber, Agrarverhältnisse3.
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der Abhandlung über „R. Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ Weber, Max, Die Stadt, MWG I/22-5.
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sowie den Aufsätzen zur „Protestantischen Ethik“. Weber, Max, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: AfSSp, Band 24, Heft 1, 1907, S. 94–151 (MWG I/7).
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Hier finden sich zahlreiche Begriffe und Aussagen, welche zentrale Thesen seines späteren soziologischen Werks vorwegnehmen, nicht zuletzt die von der „Einzigartigkeit des Okzidents“. Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1904, S. 1–54; ders., Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: ebd., Band 21, Heft 1, 1905, S. 1–110 (MWG I/9).
Möglicherweise hat Max Weber beabsichtigt, im Gegenzug zu den Theorien von Karl Marx, aber auch den organologischen Geschichtstheorien der älteren Historischen Schule, ein eigenes Modell der, wie wir heute sagen würden, gesellschaftlichen Formationen im Ablauf der Geschichte auszuarbeiten.
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Er wollte freilich nicht bloß eine neue Theorie der „Wirtschaftsstufen“ vorlegen, wie dies Roscher, Schmoller, Bücher, Sombart und andere mit wechselndem Erfolg unternommen hatten, sondern eine Typologie der, wie er das dann 1913 genannt hat, „großen Gemeinschaftsformen“ entwickeln. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8). Vgl. oben, S. 22.
Max Weber war sich anfänglich nicht schlüssig, welche Bezeichnung er dafür wählen sollte. Die zeitgenössische anthropologische Literatur verwendete fast durchweg den Begriff „Gemeinschaften“, ausgehend von der ursprünglichsten Form menschlicher Gruppenbildung, nämlich der „Hausgemeinschaft“. Weber selbst spielte mit dem Gedanken, statt „Gemeinschaft“ den engeren und vergleichsweise präziseren Begriff des „Verbandes“ zu wählen; dieser wird auch im Stoffverteilungsplan von 1910 verwendet. Aus den handschriftlichen Korrekturen der Titulatur des Stichwortmanuskripts „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“ läßt sich entnehmen, daß er in diesem Punkte von Anbeginn geschwankt hat.
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Doch entschied er sich dann für den Begriff der „Gemeinschaften“, offenbar, weil dieser umfassender war als der Begriff des „Verbandes“. Dies wurde ihm durch die damalige ethnographisch inspirierte Literatur über Entwicklungsmodelle nahegelegt. Insbesondere Ernst Grosse ver[39]wendete den Begriff der „Gemeinschaft“ in seinem von Weber mit Sicherheit benutzten Werk „Die Formen der Familie und die Formen der Wirtschaft“ in einer analogen Weise. Vgl. unten, S. 291.
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Auch in der Vorlesung „Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“ findet durchweg der Begriff „Gemeinschaft“ Verwendung, auch wenn die Begriffe „Gemeinschaftsformen“ und „Verband“ gelegentlich ebenfalls auftreten. Freilich hatte es einen systematischen Grund, weswegen Weber schließlich dem Begriff „Gemeinschaft“ den Vorzug gab und die Texte des älteren Teils von „Wirtschaft und Gesellschaft“ als eine Vielfalt von unterschiedlichen, wenn auch auseinander hervorgehenden „Gemeinschaften“ präsentierte. [39] Grosse, Ernst, Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft. – Freiburg i. Br., Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1896.
Es liegt nahe, die Wahl dieser Begrifflichkeit auf den Einfluß von Ferdinand Tönnies zurückzuführen, dessen Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ 1887 in erster Auflage erschienen war
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und dessen „Gedankengang“ sich Max Weber nach seinem späteren Bericht „seinerzeit in Auszügen skizziert“ hatte. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen. – Leipzig: Reisland 1887. Vgl. Merz-Benz, Peter-Ulrich, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstitution der Sozialwelt. – Frankfurt a. Μ.: Suhrkamp 1995, S. 310 ff.
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Weber hatte von Tönnies eine sehr hohe Meinung, gelegentlich hat er ihn als „eine der allerersten soziologischen Kapazitäten, nicht nur Deutschlands“ bezeichnet. Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies, vom 29. Aug. 1909, MWG II/6, S. 237–239. Der Brief zeigt das gespaltene Verhältnis Webers zu den Vorstellungen von Tönnies.
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Jedoch war seine Einstellung gegenüber Tönniesʼ Werk eher zurückhaltend; es entsprach nicht seiner Weise des Denkens. Brief Max Webers an Robert Wilbrandt, vor dem 18. Mai 1912, MWG II/7, S. 543.
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1920 hat er Tönniesʼ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ mit charakterischer Ambivalenz als ein „schönes Werk“ bezeichnet. Zum Verhältnis Tönnies zu Weber vgl. Cahnman, Werner J., Weber and Toennies. Comparative Sociology in Historical Perspective. – New Brunswick (NJ): Transaction Publication 1995; ders., Toennies and Weber. Comparison and Excerpts, in: ders., Ferdinand Toennies. A New Evaluation. Essays and Documents. – Leiden: E. J. Brill 1973, S. 257–283 (hinfort: Cahnman, Toennies and Weber); ferner Weber, Max, Economy and Society. An outline of interpretive sociology, 3 Bände, hg. von Guenther Roth und Claus Wittich. – New York: Bedminster Press 1968, hier: Band 1, S. XCI–XCVII (hinfort: Weber, Economy and Society).
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WuG1, S. 1 (MWG I/23).
Max Weber verwendete die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ damals in ganz anderer Weise, als dies bei Tönnies der Fall ist.
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[40]Während Tönnies in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ eine realgeschichtlich gemeinte „Verfallsgeschichte“ schrieb, in der die mittelalterliche „organische Gemeinschaft“ durch die moderne „mechanische Gesellschaft“ unheilvoll ersetzt wurde, entwickelte Max Weber eine perspektivische Sichtweise, welche an die Stelle der substantialistisch gedachten Größen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ als Grundmuster aller historischen Prozesse setzte. Vgl. König, René, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, in: KZfSS, 7. Jg., 1955, S. 348–420, hier: S. 382 ff.
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Die Rekonstruktion der unterschiedlichen Formen der Gemeinschaft im Ablauf der Geschichte ist Tönnies insoweit verwandt, als er die modernen Formen gesellschaftlicher Organisation gleichermaßen vor universalhistorischem Hintergrund abhandelte, wenn auch in weit größerer Breite und unter stärkerer Berücksichtigung der antiken Welt. Aber die dichotomische Entgegensetzung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, wie sie bei Tönnies vorherrscht, findet sich bei Weber nicht. „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sind – so sah Max Weber dies damals – keine einander ausschließenden, sondern komplementäre Begriffe; ja in gewissem Sinne figurierte „Gesellschaft“ in den frühen Texten als eine der „Gemeinschaft“ nachgeordnete Kategorie. Es ist überdies auffällig, daß Weber den Begriff „Gesellschaft“ als solchen ganz selten benutzte und statt dessen in aller Regel nur von „Vergesellschaftung“ sprach. Weber sah in „Gemeinschaft“ keineswegs eine ausschließlich durch affektuelle oder emotionale Beziehungen begründete Entität, die in einem unaufhebbarem Gegensatz zu allen Formen rationaler Vergesellschaftung stehe. Vielmehr kann „Gemeinschaft“ nach Max Weber sowohl durch affektuelle, als auch im Grenzfall durch rein zweckrationale Sozialbeziehungen konstituiert werden. Eine partielle oder gar vollständige „Vergesellschaftung“ bestimmter Lebensbereiche bedeutet keine Minderung des Charakters einer sozialen Formation als „Gemeinschaft“. In den Texten der Jahre 1910 bis 1913 verwendete Weber, wie Werner J. Cahnman mit einigem Recht gesagt hat, den Begriff „Gemeinschaft“ „in a pre-Toenniesian general sense of ,social group‘“.[40] Diese Formulierung in Anlehnung an Oexle, Otto Gerhard, Priester – Krieger – Bürger. Formen der Herrschaft in Max Webers ‚Mittelalter‘, in: Hanke, Edith, Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung. – Tübingen: Mohr/Siebeck 2001, S. 203–222, hier: S. 220.
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Wenn Tönnies die These vertrat, daß die „Gemeinschaft“, als die gleichsam urwüchsige Form menschlichen Zusammenlebens, im Zuge der fortschreitenden Entfaltung der „Gesellschaft“, als einer zweckrationalen Ordnung, mit der modernen Großstadt als ihrer vorläufig letzten Ausformung, immer mehr zerstört worden sei und allenfalls in kryptischer Form ein Fortleben [41]bzw. eine Wiedergeburt erfahren könne, so lag Weber eine derartige Ausdeutung des Prozesses der Rationalisierung fern. Er war von Tönnies beeindruckt, aber seine Verwendung des Begriffs „Gemeinschaft“ war ungleich pragmatischer; er war weit davon entfernt, sich die darin enthaltene potentiell antizivilisatorische Tendenz zu eigen zu machen. Cahnman, Toennies and Weber (wie oben, S. 39, Anm. 22), S. 259.
Seit 1912/13, mit der Entstehung des Aufsatzes „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“, setzte sich bei Max Weber eine neue Terminologie durch.
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Neben den Begriff der Vergemeinschaftung trat gleichberechtigt der Begriff der Vergesellschaftung, bezogen auf zweckrationale Ordnungen unterschiedlicher Art. Ebenso sprach Weber nun von „sozialem Handeln“, nicht mehr von „Gemeinschaftshandeln“ als der zentralen Kategorie seiner „Verstehenden Soziologie“. Der Begriff „Gemeinschaft“ trat nun tendenziell hinter den Begriff der „Gesellschaft“ zurück. In den 1919/20 verfaßten „Soziologischen Grundbegriffen“ kam diese Entwicklung seiner Begrifflichkeit zu einem definitiven Abschluß. Die nunmehr gewonnene begriffliche Ebene seiner Soziologie erlaubte jetzt eine klare Gegenüberstellung von „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“ als unterschiedlichen Formen sozialer Beziehungen, die Tönnies formal näherkam, als dies bislang der Fall gewesen war.[41] Weber, Kategorienaufsatz; vgl. oben, S. 30, 33.
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Aber auch dann noch verband Max Weber mit der Verwendung des Begriffspaars von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ keinesfalls eine antizivilisatorische Tendenz, wie sie bei Tönnies, wenn auch mit wechselnden Akzenten, anklingt. Weber distanzierte sich denn auch vorsichtig von dem „wesentlich spezifischeren Inhalt“, den Tönnies seiner Terminologie gegeben habe, die für seine Zwecke jedoch nicht nützlich sei. Vgl. die Begriffsdefinition in WuG1, S. 21 f. (MWG I/23).
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Ebd., S. 22.
Max Weber entschied, einen anderen Weg zu gehen, der sich von allen Interpretationen fernhielt, welche eine eindeutige Stufenfolge bzw. eine lineare Entwicklung von Gemeinschaften, Gesellschaften bzw. Wirtschaftsformen oder ökonomischen Formationen im Verlauf des geschichtlichen Prozesses postulierten. Er beabsichtigte, alle großen „Gemeinschaftsformen“ und die sie konstituierenden, im einzelnen höchst unterschiedlichen Faktoren, welche zu einer „Vergemeinschaftung“ oder unter zweckrationalen Gesichtspunkten zu einer „Vergesellschaftung“ führten, in gleichgewichtiger Weise zu behandeln. Alle großen gemeinschaftsbildenden Kräfte, die Blutsverwandtschaft und die aus dieser hervorgehenden primären gesellschaftlichen Gebilde, wie Nachbarschaft, Sippe und Stamm, die ethnischen Faktoren, die, obschon sie im Regelfall nicht auf biologischen Tatbeständen, sondern auf subjektiv begründetem [42]Gemeinsamkeitsglauben beruhen, dennoch große Wirksamkeit entfalten und unter neuzeitlichen Verhältnissen in der Entstehung der Nationen kulminieren, die religiösen Mächte, deren gemeinschaftsbildende Kraft jene anderer Mächte von Fall zu Fall weit übersteigen, Klasse, Stand und Parteien als gemeinschaftsbildende Faktoren besonderer Art, der Markt als ein Grenzfall einer sich rein auf zweckrationale Beziehungen gründende Form der Vergemeinschaftung, dies ist das große Thema. Hinzu tritt die Politik, inhaltlich definiert als Ausübung bzw. Hinnahme von Macht und Herrschaft im Innenverhältnis und in den Außenbeziehungen von Gemeinschaftsgebilden, sowie schließlich die Überwölbung dieser Gemeinschaftsformen durch die Ausbildung von Rechtsordnungen, die grundsätzlich die Erzwingbarkeit der Rechtsprinzipien voraussetzen, aber vielfach auch ohne das Vorhandensein entsprechender Zwangsapparate analoge Verhaltensweisen bewirken. Allerdings ist dieses idealtypische Modell der Mannigfaltigkeit weltgeschichtlicher Entwicklungen in Raum und Zeit unvollendet geblieben. Einzelne Abschnitte, wie die „Marktgemeinschaft“ und die „Politischen Gemeinschaften“, liegen uns nur in fragmentarischer Form vor, während andere Segmente, insbesondere die „Religiösen Gemeinschaften“, die „Rechtsordnung“ und die „Herrschaft“ am Ende über diesen Rahmen hinausgewachsen sind und eigenständige Konturen annahmen. Aber auch so noch ist dieses gewaltige Panorama von unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen, ethnischen und kulturellen Gemeinschaftsformen, das hier vor dem Hintergrund der ganzen uns bekannten Menschheitsgeschichte ausgebreitet wird, äußerst eindrucksvoll.
Max Webers Interesse galt weniger der Erklärung von langfristigen Entwicklungen, sondern vor allem den Prozessen der Ausdifferenzierung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen nicht nur in synchroner, sondern auch in diachroner Richtung. Er ging damit konsequent der naheliegenden Versuchung aus dem Wege, eine lineare Stufenfolge von „Gemeinschaften“ der Frühzeit der Menschheitsgeschichte bis hin zur modernen Gesellschaft zu entwerfen. Die von ihm auf der Grundlage eines reichen historischen und ethnologischen Materials präsentierten idealtypischen Entwicklungsmodelle sagen nichts über die realen historischen Prozesse als solche aus, sondern nur über das in den einzelnen Gemeinschaftsformen jeweils angelegte Potential zu einer fortschreitenden Ausdifferenzierung bzw. Entfaltung in durchaus unterschiedlichen, bisweilen in direkt konträren Richtungen. Andererseits stellen sie eine präzise Begrifflichkeit für die exakte Erfassung historischer Entwicklungen oder Formationen und deren Interpretation unter dem Gesichtspunkt der Kulturbedeutsamkeit bereit. In der „Hausgemeinschaft“ zum Beispiel sind sowohl die Entstehung des modernen kapitalistischen „Betriebs“, [43]mit seiner gleichsam explosiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik, als auch des „Oikos“ der Spätantike, also einer geschlossenen, zu Stagnation und womöglich zu Versteinerung führenden gesellschaftlichen Formation, angelegt. Dies ist die Leitidee dieser „geschlossenen soziologischen Theorie und Darstellung […], welche alle großen Gemeinschaftsformen […] von der Familie und Hausgemeinschaft zum ‚Betrieb‘, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion“ sowie zum Staat und Herrschaft „zur Wirtschaft in Beziehung setzt“.
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Der nachstehende Band „Gemeinschaften“ stellt die Einlösung der ersten Hälfte dieses eindrucksvollen Programms dar. [43] Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8), hier in leichter syntaktischer Umstellung der Wortfolge.
Seit 1913 veränderte sich allerdings die Stoßrichtung dieses Programms. In den Texten über Religion, Recht und Herrschaft trat nun der Gesichtspunkt der fortschreitenden Rationalisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen, der bislang nur ein Aspekt unter anderen gewesen war, beherrschend in den Vordergrund. Jedoch hielt Max Weber auch späterhin noch daran fest, daß „Gemeinschaftshandeln“, obschon es an subjektiven Sinnhaltungen der Individuen orientiert ist, gleichwohl unter den Bedingungen zweckrationaler Ordnungen stattfinden kann. Aber jetzt trat mehr und mehr das Theorem der Vergesellschaftung, also der rationalen bzw. der zweckrationalen Gestaltung aller Sozialbeziehungen in den Vordergrund, ohne allerdings jemals alleinherrschend zu werden. Die Kategorie der „Gemeinschaft“, als Synonym für die gesellschaftliche Einheit einer Gruppe von Menschen unter jeweils unterschiedlichen Aspekten, verlor hingegen ihre bislang dominante Funktion. Die in diesem Bande vereinigten Texte wurden allerdings von diesen Veränderungen, die mit der im Kategorienaufsatz von 1913 vorgestellten Handlungstheorie und dem Begriff des „Einverständnishandelns“ einsetzen, nur zu einem geringen Teil erfaßt. Das Verständnis der Texte wird erleichtert, wenn man sich der Veränderungen in der Terminologie des Werks Max Webers bewußt ist und die frühen Texte nicht mit der später entwickelten Begrifflichkeit zu lesen versucht. Dies gilt natürlich insbesondere für die „soziologischen Grundbegriffe“ des späteren Teils von „Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, den Max Weber seit 1919, teilweise unter Benutzung der älteren Manuskripte, ganz neu konzipierte.
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WuG1, S. 31–121 (MWG I/23).
Wie wir bereits gesehen haben, fehlt den Texten, so wie sie uns überliefert sind, eine Einleitung in die Terminologie. Es ist allerdings anzuneh[44]men, wie oben dargelegt worden ist, daß der erste Abschnitt des Textes „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ den Anfang eines derartigen Einleitungskapitels darstellen sollte. Dieses Kapitel könnte an die Stelle eines in seinem Kern älteren Textes, nämlich „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, getreten sein.
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Die hier eingangs gegebene Definition von „Wirtschaft“ hält sich eng an die Begrifflichkeit der Grenznutzentheorie und geht davon aus, daß Wirtschaft nicht durch zweckrationales Handeln zwecks Gütererwerb an sich, sondern ausschließlich durch Wirtschaften unter Bedingungen relativer Knappheit von Gütern des jeweiligen Bedarfs konstituiert wird. Dabei wird ausdrücklich offengehalten, auf welche Inhalte sich dieser Bedarf jeweils richtet. Es kann sich durchaus um ganz unterschiedliche Formen des Bedarfs handeln, solche materieller wie ideeller, religiöser oder künstlerischer Art oder was auch immer. Man würde erwarten, daß sich hier andere Begriffsbestimmungen angeschlossen hätten, doch bricht der Text offenbar ab. [44] Wie bereits erwähnt, hat Weber diesen Text später aus der Sequenz der „Gemeinschaften“ ausgegliedert und mit der Rechtssoziologie verbunden. Vgl. oben, S. 26.
Der nachfolgende Teil des Textes „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Typen des Gemeinschaftshandelns, sofern und soweit es sich auf wirtschaftliche Aktivitäten erstreckt. Man darf auf Grund des Kontexts annehmen, daß am Anfang statt des Wortes „Gesellschaftshandeln“ der Begriff „Gemeinschaftshandeln“ gestanden hat; es steht dahin, ob, wann und wer hier einen nachträglichen Texteingriff vorgenommen hat.
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Weber unterscheidet verschiedene Formen des Gemeinschaftshandelns, aus denen dann auch unterschiedliche Gemeinschaftstypen resultieren, „Wirtschaftsgemeinschaften“ beziehungsweise „wirtschaftliche Gemeinschaften“, „wirtschaftende Gemeinschaften“ sowie „wirtschaftsregulierende Gemeinschaften“. In der Folge grenzt sich Weber von der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung ab: „Gemeinschaften“ werden in sehr unterschiedlichem Grade von ökonomischen Faktoren bestimmt. In jedem Falle fehle, so heißt es, die „Eindeutigkeit der ökonomischen Determiniertheit des Gemeinschaftshandelns durch ökonomische Momente“. Es ist zu vermuten, daß dieser Texteingriff im Zusammenhang mit der Inserierung des voranstehenden verbindenden Satzes vorgenommen worden ist. Vgl. den Text „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“, unten, S. 79.
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Grundsätzlich haben die Strukturformen des Gemeinschaftshandelns vielmehr ihre Eigengesetzlichkeit; sie lassen sich nicht [45]ausschließlich auf ökonomische Bedingungen zurückführen. Ungeachtet dieser Gegenposition zu Marx, die einem Plädoyer für eine grundsätzlich pluralistische Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit gleichkommt, betont Weber gleichwohl, daß wirtschaftliche Gruppeninteressen in aller Regel zur Monopolisierung von sozialen oder ökonomischen oder auch anderen Chancen tendieren, mit der Folge einer partiellen oder vollständigen „Schließung“ der betreffenden „Gemeinschaft“ bzw. der Monopolisierung bestimmter Aspekte des Gemeinschaftshandelns zugunsten einzelner Gruppen. Eine derartige „Vergesellschaftung“ aber kann umgekehrt den Ansatz für die Bildung einer „übergreifenden Vergemeinschaftung“ abgeben; es handelt sich also nicht um eine Einbahnstraße von „Vergemeinschaftung“ hin zu „Vergesellschaftung“, sondern um ein Wechselspiel beider, mit anderen Worten um einen offenen Prozeß der Schließung und Öffnung sozialer Beziehungen. An zahlreichen Beispielen wird anschaulich demonstriert, wie dieser Prozeß der Monopolisierung von Gemeinschaftshandeln durch bestimmte Interessen zu Gruppenbildungen und scharfen Gegensätzen sowohl im gesellschaftlichen wie im politischen Raum zu führen pflegt. In der anschließenden kasuistischen Auflistung der verschiedenen Typen der Aufbringung der finanziellen Mittel für verschiedene Formen des Gemeinschaftshandelns steht die Frage im Vordergrund, welche dieser Typen für die Entwicklung des Kapitalismus günstig oder auch nachteilig gewesen sind. Vgl. ebd., S. 80 f.
Der Text „Hausgemeinschaften“ schließt an die „Wirtschaftlichen Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ unmittelbar an. Es ist zu vermuten, daß die einleitenden Bemerkungen, welche darauf verweisen, daß hier nur die „allgemeinen Strukturformen menschlicher Gemeinschaften“ erörtert werden sollen, nicht aber deren Beziehung zu bestimmten Inhalten, zu einem späten Zeitpunkt hinzugefügt worden sind, zumal ausdrücklich auf die Texte zur „Herrschaft“ verwiesen wird, die anfänglich noch gar nicht konzipiert, geschweige denn niedergeschrieben waren.
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Ansonsten greift der Text auf die Ausarbeitung „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“ zurück, die Max Weber 1906 in anderen Zusammenhängen erstellt hat.[45] Vgl. den Text „Hausgemeinschaften“, unten, S. 114.
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Die „Hausgemeinschaft“ erscheint „heute“, wie sich Max Weber mit charakteristischem Bemühen um Distanz ausdrückt, als die urwüchsige Form einer „Gemeinschaft“ überhaupt, die in frühen Phasen der Menschheitsgeschichte eine dominante Rolle gespielt hat und aus der heraus sich dann eine Vielzahl von „Gemeinschaften“ [46]bzw. von „Vergemeinschaftungen“ entwickelt hat. Sie entstand aus einer sexuellen Dauerbeziehung, war aber zugleich immer schon Versorgungsgemeinschaft, und erst als solche erlangte sie relative Dauer und Stabilität. Im einzelnen werden die sehr unterschiedlichen Varianten der „Gemeinschaft“ von Vater, Mutter und Kindern dargestellt. Sie variieren nicht nur in ihrer Binnenstruktur, sondern auch in ihrer Größe. Max Weber sieht in dem Streben nach Exklusivität der Verfügung über die Frau den Ursprung des Eigentums und damit die schrittweise Ablösung des ursprünglich gegebenen Hauskommunismus zugunsten einer Struktur, die eine dominante Stellung des Hausvaters ausbildet, welche dann sekundäre „Vergemeinschaftungen“ allgemeinerer Art wie die Nachbarschaft und die Gemeinde, und andererseits auch die Sippe als eine vorgeblich durch die Blutsverwandtschaft begründete „Gemeinschaft“ aus sich heraus entwickelt. Die Theorie des „Mutterrechts“, als der angeblich in allen frühen Gesellschaften universal herrschenden Form der Geschlechterbeziehungen, wird in diesem Zusammenhang als unhaltbar zurückgewiesen. Andererseits wird dem Prozeß der fortschreitenden Abschwächung der unbeschränkten „Vatergewalt“, die sich vorwiegend aus ökonomischen Gründen ergab, große Aufmerksamkeit gewidmet und die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Formen des Verhältnisses von Mann und Frau und schließlich der modernen Ehe als Sekundärfolge dieses Prozesses gezeigt. Bedeutsamer ist, daß sich die „Hausgemeinschaft“ zugleich zu einer anfänglich nur den Tagesbedarf deckenden, „wirtschaftenden Gemeinschaft“ entwickelt, aus der in der Folge sehr unterschiedliche Typen wirtschaftlicher Organisation hervorgegangen sind. Die dadurch ausgelösten „Vergesellschaftungen“ entfalten ihre eigene Dynamik und stellen indirekt Antriebskräfte für wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen dar, die auf lange Sicht neue Formen wirtschaftlicher Aktivität hervorgebracht haben. Insbesondere kommt es zu der nur dem Okzident eigenen förmlichen Trennung von „Haus“ und „Betrieb“, und damit zu einer wichtigen Voraussetzung für die Entwicklung des, im Vergleich mit der Antike qualitativ einzigartigen, modernen marktorientierten Kapitalismus. Die Analyse führt heran bis zu jenen Formen des Wirtschaftens, die, wie Weber sagt, „die qualitative Einzigartigkeit der Entwicklung zum modernen Kapitalismus mit am deutlichsten kennzeichnen“, Vgl. oben, S. 36–38, sowie den Editorischen Bericht zu „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, unten, S. 288 f.
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nämlich kapitalintensive, auf dem Prinzip der „Rechenhaftigkeit“ beruhende Unternehmungen aller Art. Doch bleibt es hier bei Andeutungen; die real-historische Entwicklung des modernen Kapitalismus sollte an anderer Stelle behandelt werden. [46] Vgl. den Text „Hausgemeinschaften“, unten, S. 152.
[47]Anschließend wird noch eine, in ihrer historischen Wirkung eher retardierende, Variante der Entwicklung der „Hausgemeinschaft“ vorgestellt, die Herausbildung des „Oikos“, als einer Form gewerblichen Wirtschaftens, welche die „Hausgemeinschaft“ in einen Großbetrieb umformte, normalerweise unter Einsatz von „unfreien“ Arbeitskräften, die freilich gleichwohl dem Haus des jeweiligen „Herrn“ angehörten, einer in der Antike weit verbreiteten, aber auch in der frühen Neuzeit und zuweilen noch im 19. Jahrhundert anzutreffenden Form des Wirtschaftens, die, wie Max Weber an anderer Stelle selbst gezeigt hat,
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erhebliche soziale und politische Konsequenzen gehabt hat. Weber stützte sich hier auf die Arbeiten von Rodbertus,[47] Vgl. z. B. Weber, Max, Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht 1891, MWG I/2, S. 317; und ausführlicher, Weber, Agrarverhältnisse3, S. 57 f. Ferner schon in Weber, Max, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, in: Die Wahrheit. Halbmonatsschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens, Band 6, 1. Maiheft, 1896, S. 57–77 (MWG I/6).
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gab der Thematik aber aufgrund seiner eigenen souveränen Kenntnis der antiken Sozialverfassung eine besondere Wendung. Die Wirtschaftsform des „Oikos“ war die Geburtsstätte der patrimonialen Herrschaft. Aber darüber hinaus war die in ihr angelegte Tendenz zur Stagnation und schließlich zur Erstarrung der gesellschaftlichen Ordnungen unter universalhistorischen Gesichtspunkten von besonderem Interesse; die Versteinerung der okzidentalen Gesellschaften in einer zweiten Spätantike war nach Webers Überzeugung eine mögliche zukünftige Entwicklung. Bereits hier werden, wie wir sehen, in nuce zentrale Elemente des weitgespannten Panoramas der Soziologie Max Webers angesprochen. Rodbertus, Zur Geschichte der römischen Tributsteuern.
In dem Text „Ethnische Gemeinschaften“ wandte sich Max Weber dann einer Thematik von erheblicher politischer Brisanz zu, der Frage nach der Rolle ethnisch beziehungsweise rassisch bedingten Gemeinschaftshandelns, sei es auf wirtschaftlichem, sei es auf politischem Gebiet. Max Weber war an der Frage der Rasse und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen lebhaft interessiert, zumal damals in Deutschland heftige Auseinandersetzungen über die Funktion der Rasse im gesellschaftlichen Raum geführt wurden. Unter anderem wurde gegen den Ausbau der Sozialgesetzgebung das sozialdarwinistische Argument ins Feld geführt, eine die Unterschichten unterstützende Sozialpolitik würde durch Ausschaltung der „natürlichen Auslese“ langfristig zu einer Minderung der rassischen Qualität der Bevölkerung führen. Max Weber hielt dafür, daß die Rolle rassischer Faktoren insbesondere im Wirtschaftsleben eine intensive wissenschaftliche Untersuchung verdiene. Aber andererseits verurteilte [48]er die damals geläufigen rassistischen Theorien in den Sozialwissenschaften sämtlich als unwissenschaftlich.
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Schon auf dem ersten Soziologentag hatte er die Ansicht vertreten, daß sich Rassenzugehörigkeit in erster Linie auf soziale Faktoren zumeist subjektiver Natur, nicht auf objektive Tatsachen gründe. In dem Text „Ethnische Gemeinschaften“ zeigte er ebenfalls, daß Rassenzugehörigkeit in erster Linie auf subjektive Faktoren zurückzuführen ist. Geglaubte Andersartigkeit werde, wie er betonte, in aller Regel als rassische Verschiedenheit gedeutet. Dies gilt, wie Weber zeigt, in einem noch allgemeineren Sinne. Jedwede Form ethnischen Gemeinschaftsglaubens werde durch subjektive Einschätzungen konstituiert, selbst dann, wenn objektive Faktoren dabei mitspielen. Auf der Basis der Erinnerung an kollektives Gemeinschaftshandeln entwickele sich häufig ein übergreifendes „Gemeinsamkeitsbewußtsein“, das unter modernen Verhältnissen vielfach seinen höchsten Ausdruck in den „pathetischen Empfindungen“ gefunden habe, die wir mit dem Begriff der „Nation“ verbinden.[48] Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1974, S. 43; ferner Weber, Max, Diskussionsbeitrag zu dem Vortrag von Alfred Ploetz „Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme“, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. Μ. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 151–157 (MWG I/12), hier S. 153; sowie den Brief Max Webers an Robert Michels vom 7. April 1911, MWG II/7, S. 171 ff.: „nach heutigem Stand der Kenntnisse“ seien „angeborene Rassenqualitäten als letztes causales Element ökonomischer Qualifikationen“ schwerlich nachweisbar. Ebd., S. 172.
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Obschon Weber sich persönlich uneingeschränkt mit der Idee der deutschen Nation als eines subjektiv verpflichtenden Wertes identifizierte, hielt er gleichwohl dafür, daß das „Nationalgefühl“ sich keineswegs in erster Linie auf objektive Faktoren wie eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Kultur, und schon gar nicht auf eine objektiv gegebene ethnische Gemeinsamkeiten gründe, sondern auf sehr heterogene Faktoren überwiegend subjektiver Natur. Max Weber nahm damit eines vorweg, was heute die herrschende Auffassung der Forschung geworden ist, daß nämlich die „Nation“ eine „imagined community“ Vgl. den Text „Ethnische Gemeinschaften“, unten, S. 185.
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sei, die durch schmale Intellektuelleneliten geschaffen wurde und dann allmählich im Bewußtsein der breiten Schichten eines Volkes Fuß gefaßt habe. Spezifisch für Max Webers Deutung des Nationalgefühls war allerdings, daß er der Komponente des Machtprestiges besonderes Gewicht einräumte. Es scheint, daß Max Weber auf dem [49]2. Deutschen Soziologentag 1912 liebend gern ein Hauptreferat zu diesem Thema gehalten hätte, aber als seine vorsichtigen Sondierungen ohne Resonanz blieben, zog er sich wieder zurück. Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. – London: Verso 1983; in deutscher Übersetzung: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. – Frankfurt a. Μ.: Campus 1988.
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Immerhin skizzierte er dem Vorstand der DGS, was seiner Ansicht nach der Inhalt dieses Vortrags hätte sein müssen. Dieser hätte seines „Erachtens rein referierend die verschiedenen Arten von faktisch vorkommenden ‚Nation‘-Begriffen festzustellen: z. B. staatliche Gemeinschaft, Sprachgemeinschaft, Abstammungs- und ethnische Gemeinschaft, ,Kultur‘-Gemeinschaft (in ihren verschiedenen möglichen Bedeutungen, lediglich um so die Sprachverwirrung zu beseitigen, und ohne sich für eine dieser Bedeutungen als die ,eigentliche‘ zu entscheiden). Casuistische Gliederung der faktisch vorkommenden Sachverhalte, welche denkbarer Weise eine ‚Nation‘ konstituieren, wäre die Aufgabe.“[49] In dem Brief Max Webers an Hermann Beck vom 18. Nov. 1911, MWG II/7, S. 362 f., heißt es zwar, auf einen Vortrag erhebe er keinen Anspruch. Tatsächlich aber hat er sich darum bemüht, zog jedoch sein Angebot mit dem fragwürdigen Argument zurück, zwei Brüder [d. i. er und Alfred Weber] dürften nicht gleichzeitig auf dem selben Soziologentag reden. Vgl. den Brief Max Webers an den Vorstand der DGS vom 21. März 1912, MWG II/7, S. 483 f.
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Die engen sachlichen Berührungen mit den Ausführungen im Text „Ethnische Gemeinschaften“ über Nation und Nationalgefühl liegen auf der Hand. Dieses antizipiert in gewissem Umfang die Darlegungen, die in dem in der Disposition von 1914 vorgesehenen Kapitel über „Nation“ zu erwarten gewesen wären. Vgl. ebd.
An diesen Abschnitt sollte ursprünglich derjenige über „Religiöse Gemeinschaften“ unmittelbar anschließen. Dies liegt schon deshalb nahe, weil religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen vielfach eine wesentliche Rolle bei der Konstitution ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens und speziell eines spezifischen Nationalbewußtseins spielen. Doch wurde Max Weber bei der Untersuchung der Wirkung religiöser Einstellungen auf die Lebensführung und die Wirtschaftsordnung von vornherein weit über diesen begrenzten Gesichtspunkt hinausgetragen.
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Gleichwohl betonte er, daß es kein „Gemeinschaftshandeln“ gäbe – und man darf wohl interpolieren, auch jenes der modernen Nationen nicht –, „das nicht seinen Spezialgott hätte und auch, wenn die Vergesellschaftung dauernd verbürgt sein soll, seiner nicht bedürfte“. Vgl. aber die bedeutende Funktion, welche Weber der Religion schon bei der Konstituierung der Hausgemeinschaft zumißt, MWG I/22-2, S. 140–142.
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Die Untersuchung der Auswirkungen religiöser Werthaltungen auf die Entstehung und Entwicklung der „Gemeinschaften“ verlagerte sich zunehmend auf die Frage nach deren Bedeutung für die Lebensführung des einzelnen Individuums und die da[50]von ausgehenden Wirkungen auf die geschichtliche Entwicklung, insbesondere auf die Entstehung des modernen, marktorientierten Kapitalismus. MWG I/22-2, S. 140, mit der hier übernommenen Emendation.
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[50] Vgl. oben, S. 46.
Der unvollendete Abschnitt über die „Marktgemeinschaft“ nimmt in der Sequenz von idealtypischen Gemeinschaftsformen eine strategische Sonderstellung ein. Er zeichnet sich vor allen anderen Typen der „Gemeinschaften“ dadurch aus, daß hier, anders als bei allen anderen „Gemeinschaftsformen“, keine partielle Rationalisierung des „Gemeinschaftshandelns“ vorliegt, sondern die Marktteilnehmer ausschließlich von rationalen, und zwar zweckrationalen Motiven geleitet werden und nicht von ethischen Normen, religiösen Geboten oder persönlichen Einstellungen gleichviel welcher Art. Insofern stellt die „Marktgemeinschaft“ den Grenzfall einer Gemeinschaftsbildung überhaupt dar. Sie ist, wie es heißt, der „Typus alles rationalen Gesellschaftshandelns“
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schlechthin. Der freie Tausch von Gütern oder Arbeit zu den Bedingungen des Marktes kennt kein Ansehen der Person und ebenso keine Normen des gesellschaftlichen Verhaltens, die durch nichtökonomische Faktoren, seien diese kultureller, religiöser oder sozialer Art, konstituiert werden, wenn man von den Marktregulierungen absieht. Der Gegensatz zur Terminologie von Ferdinand Tönnies könnte in diesem Punkte nicht schärfer sein. Vermutlich hatte Marianne Weber deshalb Bedenken, den Titel „Marktgemeinschaft“ zu verwenden und zog die neutralere Bezeichnung „Markt“ vor. Vgl. den Text „Marktgemeinschaft“, unten, S. 193.
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Aber die charakteristische Zuspitzung des Begriffs „Marktgemeinschaft“ als eines zweckrationalen Gebildes, das durch zweckrationale Beziehungen dauerhaft erhalten wird, war von Weber gewollt, in bewußter Entgegensetzung zu den anderen, im vorangehenden dargestellten „Gemeinschaften“. WuG1, S. 364.
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Insofern fügt sich die Marktgemeinschaft voll in die Sequenz der „großen Gemeinschaftsformen“ ein. Allerdings kam es dann 1913/14 zu einer Akzentverschiebung. In der Rechtssoziologie spricht Weber von der „universelle[n] Herrschaft der Marktvergesellschaftung“, WuG1, S. 385 (MWG I/22-3). In der Disposition von 1914 heißt es hingegen: „Marktvergemeinschaftung“. Vgl. den Editorischen Bericht zu „Marktgemeinschaft“, unten, S. 191 f.
Die Marktgemeinschaft wird durch das allen Teilnehmern am Markt gemeinsame Interesse an der Möglichkeit des Tauschs von für wertvoll gehaltenen Gütern begründet. Ebenso wird ihr relative Dauer verliehen, weil die Tauschpartner in der Regel ein Interesse an der Fortsetzung der Handelsbeziehungen besitzen. Aus diesem Tatbestand ergibt sich auch der Glaube an die Legalität des Marktes und das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des Handelns des jeweiligen Partners. Hier findet sich im Ansatz [51]bereits jener Idealtyp der kapitalistischen Verkehrswirtschaft (hier heißt es noch: „Erwerbswirtschaft“),
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der tendenziell einen irreversiblen Prozeß der Rationalisierung aller Wirtschaftsbeziehungen gemäß den rein sachlichen Erfordernissen des Marktes in Gang setzt. Allerdings listet Weber hier zunächst alle jene Kräfte auf, seien diese religiöser, ethischer oder auch ständischer Natur, die in den unterschiedlichsten Gesellschaften der Vergangenheit dem Voranschreiten des freien Marktes im Wege standen. Gleichzeitig aber wird die Tendenz der Marktgemeinschaft dargestellt, bei fortschreitender Ausschaltung aller traditionellen Hindernisse der freien Marktentfaltung neue monopolistische Strukturen hervorzubringen, die auf eine Einschränkung des Marktes zugunsten einiger weniger Marktteilnehmer hinauslaufen und schließlich die Freiheit des Marktes wieder einschränken. Grundsätzlich also ist demnach die Entwicklungsdynamik der „Marktgemeinschaft“ offen und kann sich in unterschiedlicher Richtung auswirken. Die „Marktgemeinschaft" ist von der Existenz politischer Herrschaft und von deren Möglichkeiten, die Einhaltung der Regeln des Marktes durch Sanktionen zu garantieren, unabhängig. Die durch das gemeinsame Interesse an geregelten Tauschbeziehungen begründete Rationalität der „Marktvergemeinschaftung“ transzendiert im Prinzip die Grenzen der politischen Herrschaftsgebilde, ein Sachverhalt, der sich in dem gegenwärtig bestehenden globalen ökonomischen Weltsystem immer wieder neu bestätigt. Faktisch aber bestand immer schon und besteht auch weiterhin ein Schutzbedürfnis der Marktteilnehmer gegenüber nichtökonomischen Interessen und Gewalten, und dies gehört in aller Regel zu den Aufgaben der „Politischen Gemeinschaft“. [51] Vgl. den Text „Marktgemeinschaft“, unten, S. 197.
Unter diesen Gesichtspunkten lag es für Max Weber nahe, sich unmittelbar anschließend eingehender mit den „Politische[n] Gemeinschaften“ zu befassen, die in den bisherigen Ausführungen meist nur eine marginale Erwähnung gefunden hatten. Das eigentliche Thema bildet die Entstehung von Staaten als Endstadium eines Prozesses der „Vergemeinschaftung“ einer Großgruppe von Menschen. Die Aufgabe der „Politischen Gemeinschaft“ besteht ursprünglich nur in einer Schutzfunktion vor äußerer Bedrohung. Aus dieser Urform entwickelt sich der Staat, indem die „Politische Gemeinschaft“ immer größere Bereiche des „Gemeinschaftshandelns“ monopolisiert und schrittweise die Funktionen konkurrierender Herrschaftsverbände an sich zieht. Auffallend ist dabei, daß Max Weber das Kriterium der physischen Gewaltanwendung ganz in [52]den Vordergrund rückt, und zwar nicht nur gegenüber potentiell bedrohlichen Gegnern nach außen, sondern auch nach innen. Das Recht des Staates, gegen die eigenen Bürger gewaltsame Mittel einzusetzen und von ihnen prinzipiell die Bereitschaft zu verlangen, gegebenenfalls Leib und Leben zu opfern, wird besonders betont. Die ungewöhnliche Schärfe, mit der dies geschieht, erklärt sich wohl daraus, daß Max Weber das Bauprinzip der „politischen Gemeinschaften“ scharf gegenüber den anderen Gemeinschaften abzugrenzen bemüht war, nämlich das Recht zur Anwendung legitimer Zwangsgewalt seitens des oder der Herrschenden. Als zweites Kriterium, nach welchem sich der Staat grundlegend von zahlreichen anderen, mehr oder minder lose geknüpften Herrschaftsverbänden vielfältigster Art unterscheidet, sah Max Weber die Herrschaft über ein angebbares, eindeutig abgegrenztes Territorium an.
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Der Entwicklungsprozeß, der von den vielfältigen Formen politischer Einungen und Kriegerbünden früherer Gesellschaften bis hin zum modernen Anstaltsstaat geführt hat und seinen bedeutsamsten Ausdruck in der Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit gefunden hat, wird hier in idealtypischer Form skizziert. Der Tatsache, daß das Handeln der „Politischen Gemeinschaften“ durch das für sie typische Mittel des Gewalthandelns, welches gegebenenfalls von den Gemeinschaftsangehörigen das Opfer des Lebens einfordert, wird in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht zugewiesen. Denn dadurch werden Erinnerungsgemeinschaften begründet, welche die Bürger oft stärker als die Bande der Kultur-, Sprach- und Abstammungsgemeinschaft an den „Politischen Verband“ binden. Durch den Gewaltgebrauch der „Politischen Gemeinschaft“ beziehungsweise des Staates wird vielfach ein spezifisches Pathos der Macht erzeugt, das dem „Nationalitätsbewußtsein“ erst die letzte entscheidende Note verleihe. Macht und Machtprestige werden demgemäß als wesentliche Komponenten des Selbstverständnisses „Politischer Gemeinschaften“ und – in besonderem Maße – des modernen Staates beschrieben. [52] Vgl. den Text „Politische Gemeinschaften“, unten, S. 204.
Andererseits entwickelt sich, und hier betrat Max Weber selbst Neuland, mit der Entstehung von politischen Verbänden, die das politische Gemeinschaftshandeln zunehmend monopolisieren, ein spezifischer Glaube an die Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftshandelns, mit anderen Worten eine besondere Form des Legitimitätseinverständnisses, das seine Wurzel im Einverständnishandeln der Verbandsmitglieder besitzt. Damit setzte Max Weber einen ganz neuen Akzent. Einerseits wird dem „Politischen Verband“, und dann speziell dem Staat, das uneingeschränkte Recht zur Ausübung physischen Zwangs sowohl im Verhältnis zu ande[53]ren Staaten wie auch gegenüber den eigenen Genossen zugestanden; andererseits bedarf dieser des Legitimitätseinverständnisses der Verbandsmitglieder. Die hier gemeinte Form der „Legitimität“ von Herrschaft ist freilich noch durchweg auf die „Normativität des Faktischen“ gegründet; sie fragt noch nicht nach unterschiedlichen Geltungsgründen von Herrschaft, sondern nur nach ihrer faktischen Geltung. Legitimität dieser Art wächst den „Politischen Verbänden“ freilich in aller Regel relativ mühelos zu, weil insbesondere seitens der ökonomischen Interessenten ein überwältigendes Bedürfnis nach Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens besteht. Aus den gleichen Gründen wird dem „Politischen Verband“ zunehmend die Funktion des alleinigen Friedens- und Rechtswahrers zugesprochen, die im Aufbau einer legitimen Rechtsordnung, deren Geltung ausschließlich vom Staate zu gewährleisten ist, ihren krönenden Abschluß findet. Diese Thematik hat Max Weber dann in dem Textkonvolut über „Recht“, das eigentlich an dieser Stelle hätte folgen sollen, in umfassender Form behandelt.
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Hingegen hat er die Darstellung der jüngsten Entwicklung der „Politischen Gemeinschaften“ bzw. des Staates hier nicht weitergeführt, sondern in der „Herrschaftssoziologie“ die unterschiedlichen Typen der Legitimität der Herrschaft beschrieben und jeweils unterschiedlichen politischen Herrschaftsgebilden zugerechnet.[53] Vgl. MWG I/22-3.
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Vgl. MWG I/22-4.
Die oben erwähnte These von der bedeutsamen Funktion des Pathos der Macht, das „Politische Gemeinschaften“ auszubilden pflegen, im Prozeß der Entstehung des „Nationalitätsbewußseins“ und der „Nation“ hat Max Weber zwar nicht mehr in einem eigenständigen Unterkapitel des Abschnittes „Der politische Verband“ über „Nation“, wie ihn die Disposition von 1914 vorgesehen hatte, ausführlicher darlegen können. Wohl aber finden sich entsprechende Erörterungen in einem Text über „Machtprestige und Nationalgefühl“, der (wie andere Texte auch) wahrscheinlich gar nicht für die Veröffentlichung im „Grundriss“ vorgesehen war, aber zu dem Konvolut der für diesen bestimmten Manuskripte gehörte.
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Schon Marianne Weber hat sich seinerzeit entschieden, diesen Text im Verband von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu veröffentlichen, und inhaltlich gehört er fraglos in den Kontext des Teils über „Gemeinschaften“, handelt er doch in enger Anlehnung an die Ausführungen in den „Ethnischen Gemeinschaften“ sowie den „Politischen Gemeinschaften“ über das Verhältnis von Machtausübung und Nationalbewußtsein. Denkbar wäre, daß Max Weber dieses Thema für einen Vortrag auf der bevorstehenden Tagung der DGS ausgearbeitet hat. Vgl. oben, S. 49, Anm. 43.
Der Text über „Machtprestige und Nationalgefühl“ ist unvollendet. Seine genaue Entstehung ist uns nicht bekannt, jedoch dürfte er vor dem [54]Sommer 1911 verfaßt worden sein. Hier liegt der Schwerpunkt auf den Interaktionen „politischer Gemeinschaften“ untereinander, mit anderen Worten, ihren außenpolitischen Beziehungen. Dabei wird vor allem der Frage nachgegangen, warum politische Gemeinschaften in aller Regel eine expansive Machtpolitik nach außen entfalten. In diesem Zusammenhang werden die „Prestige“-Prätentionen der jeweils führenden Eliten einer politischen Gemeinschaft als wichtige Antriebsmomente ausgemacht; allerdings sind diese wiederum verknüpft mit dem gehobenen gesellschaftlichen und ökonomischen Status der betreffenden gesellschaftlichen Gruppen, welche hoffen können, von einer Machtsteigerung der eigenen politischen Gemeinschaft zumeist unmittelbar oder mittelbar zu profitieren. Die Aussicht auf wirtschaftliche Gewinnchancen im Falle einer erfolgreichen Expansionspolitik kommt als ein zusätzliches Moment hinzu. Eines von vielen Motiven imperialistischer Politik sei die Aussicht auf die Erschließung von Märkten in Übersee, ein anderes, welches historisch von weit größerer Bedeutung gewesen sei, bilde die Erschließung neuer Einnahmequellen in Gestalt von Grundrenten aus agrarischer Produktion bzw. als Tribute an die Metropolen in Form von Schuldzinsen und Steuerabgaben. Auch das Interesse der Banken an der Emittierung von Staatsanleihen zwecks finanzimperialistischer Operationen in außereuropäischen Ländern, beflügelt von der Aussicht, die betreffenden Papiere anschließend einem breiten Publikum von „Staatsrentnern“ mit meist beachtlicher Provision verkaufen zu können, wird hier genannt, und weiterhin das Bestreben bestimmter Wirtschaftskreise, monopolistische Gewinnchancen in kolonialen oder halbkolonialen Gebieten etwa mittels Eisenbahnbaus zu erlangen, sowie nicht zuletzt das Interesse der Rüstungsproduzenten an einer expansiven Politik, die normalerweise mit steigender Nachfrage an Kriegsmaterial und „Kriegsmaschinen“ einhergehe. Der „imperialistische Kapitalismus, zumal koloniale[r] Beutekapitalismus auf der Grundlage direkter Gewalt und Zwangsarbeit“ habe „zu allen Zeiten die weitaus größten Gewinnchancen geboten.“
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Der moderne marktorientierte Kapitalismus sei nicht notwendigerweise imperialistisch, sondern prinzipiell auf friedlichen Güteraustausch ausgerichtet, ein Argument, das späterhin vor allem Joseph Schumpeter aufgegriffen hat. Allerdings könne der Kapitalismus unter bestimmten politischen Bedingungen – und diese sah Weber in seiner Gegenwart manifest gegeben – imperialistische Züge annehmen. Die zunehmende Verlagerung der Gewinnchancen der Wirtschaft zugunsten monopolistischer Aufträge seitens des Staates habe, so meinte er, jüngsthin zu einem universellen Wiederaufleben des „imperialistischen“ Kapitalismus und damit auch [55]des „politischen Expansionsdrangs“ der europäischen Machtstaaten geführt. [54] Vgl. den Text „Machtprestige und Nationalgefühl“, unten, S. 236.
Allerdings war Max Weber keineswegs ein uneingeschränkter Anhänger einer ökonomischen Imperialismustheorie. Im Gegenteil, er betonte, daß imperialistische Politik in aller Regel primär auf die sozialen und politischen Interessen der jeweiligen politischen Eliten zurückzuführen sei, deren gesellschaftliche Position regelmäßig durch eine erfolgreiche imperialistische Politik gestärkt werde. Dazu komme die emotionale Mobilisierbarkeit der breiten Massen für eine imperialistische Außenpolitik, die sich in aller Regel der Idee der „Nation“ bediene. In diesem Zusammenhang legte Max Weber, wie schon zuvor in dem entsprechenden Abschnitt der „Ethnische[n] Gemeinschaften“
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einmal mehr dar, daß „Nation“ und „Nationalgefühl“ äußerst vieldeutige Begriffe seien, hinter denen sich sehr verschiedene Arten von Gemeinsamkeitsempfindungen verbergen können. Andererseits wies er darauf hin, daß die Trägerschichten der Idee der Nation – vor allem die Intellektuellen – dabei in erster Linie hervorzutreten pflegen, weil sie sich in besonderem Maße zur Pflege und Förderung der Kulturgüter der jeweiligen politischen Gemeinschaft berufen fühlen und ihre gesellschaftliche Stellung von der Größe des Geltungsbereichs der eigenen nationalen Kultur abhänge. Leider ist diese eindringliche Analyse imperialistischer Expansionspolitik und ihrer nationalistischen Antriebskräfte, die Max Weber möglicherweise in den von ihm laut der Disposition von 1914 geplanten Abschnitt über „Die Nation“ einzubringen gedachte, unvollendet geblieben. Jedoch darf sie auch in der fragmentarischen Form, in der sie uns überliefert ist, als eine auch heute noch unvermindert aktuelle Analyse des Imperialismus und des imperialistischen Nationalismus gelten. [55] Vgl. den Text „Ethnische Gemeinschaften“, unten, S. 185–190.
Unvollendet geblieben ist auch der Text über „‚Klassen‘, ‚Stände‘ und ‚Parteien‘“, der nach der Disposition von 1914 ebenfalls eine weitere Ausgestaltung erfahren sollte.
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Es handelt sich offenbar um eine früh, zumindest in Teilen bereits vor 1910 entstandene Abhandlung, die noch den im Stoffverteilungsplan von 1910 vorgesehenen Abschnitt über „Wirtschaft und Recht“ voraussetzte. Der Text über „,Klassen‘, ,Stände‘ und ,Parteien‘“ rundet in gewissem Sinne die tour d’horizon der verschiedenen Formen von Gemeinschaften ab. Hier steht zur Frage, ob die Klassenlage oder die ständische Zugehörigkeit als solche gemeinschaftsbildend sein können. Dies wurde von Max Weber für die Klassenlage ver[56]neint. Beide, Klasse und Stand, setzen das Bestehen einer Gemeinschaft voraus, im ersten Falle darüber hinaus ein bestimmtes Maß an rationaler Vergesellschaftung, oder genauer, eine Marktgemeinschaft, weil sich sonst eine ungleiche Verteilung der Lebenschancen bestimmter Gruppen einer Gemeinschaft aufgrund der Verfügbarkeit von Gütern, Besitz oder Kapitalgewinn einerseits, der Verwertung von Arbeitsleistungen andererseits nicht einstellen könne. Jedoch führe die „Klassenlage“ keinesfalls zwangsläufig zu einem entsprechenden Gemeinschaftshandeln der betroffenen Gruppen, sondern nur, sofern und soweit diese als solche in ihren Ursachen und Folgen rational erkannt und als ein abzuschaffender Zustand wahrgenommen werde. In der großen Mehrzahl der historisch bekannten Fälle sei vielmehr eine irrationale und daher folgenlose Protesthaltung festzustellen. In jedem Fall sei die Klasse keine „Gemeinschaft“ und daher könne es auch so etwas wie ein objektives, von den subjektiven Einstellungen der Betroffenen unabhängiges Klassenbewußtsein nicht geben. Er hat allerdings dann die Grundlage des Kapitels IV „Stände und Klassen“ in der ersten Lieferung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ abgegeben; WuG1, S. 177–180 (MWG I/23).
Im Gegensatz zu diesem vergleichsweise eng gefaßten Klassenbegriff, der nur im Bereich des Arbeitsmarktes, des Gütermarkts und des kapitalistischen Betriebs voll zum Tragen komme, sprach Max Weber den Ständen, die durch einen spezifischen Begriff der sozialen Ehre und eine spezifisch geartete Lebensführung konstituiert werden, damals noch durchaus den Status von „Gemeinschaften“ zu, die zu einverständlichem Gemeinschaftshandeln von erheblicher Bedeutung befähigt seien. Stände gebe es, dieser Argumentation zufolge, keineswegs nur in vormodernen Gesellschaften. Ständische Differenzierungen, die sich an spezifischen Lebensformen orientieren, hingegen zumeist von rein kapitalistischen Statussymbolen nichts wissen wollen, bremsen das Fortschreiten der kapitalistischen Marktwirtschaft in erheblichem Maße ab, und ebenso schwächen sie die Bedeutung von Massenhandeln, welches aus spezifischen Klassenlagen resultiert.
Parteien hingegen – und mit diesen wenigen Bemerkungen bricht die Betrachtung, die ursprünglich eine umfassende Kasuistik des Parteiwesens in universalhistorischer Sicht bringen sollte, einigermaßen abrupt ab – seien in der Sphäre der „Macht“ zu Hause; ihr Ziel sei die Erringung von Einfluß auf das Gemeinschaftshandeln. Bemerkenswert an diesem Ansatz ist, daß Max Weber Parteien, ebenso wie auch Klassen und Stände, prinzipiell als Gebilde betrachtete, deren Tätigkeit sich keineswegs nur im Rahmen einer politischen Gemeinschaft bzw. eines Staates bewege. Vielmehr können sie mit ihren Aktivitäten selbst nicht „an die Grenzen je einer einzelnen politischen Gemeinschaft gebunden“ sein.
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Sie besit[57]zen tendenziell überstaatlichen – wir würden heute sagen: transnationalen – Charakter. Ihr Streben nach Machtgewinn vollzieht sich nach Webers Auffassung gleichsam noch im vorstaatlichen Raum: Sie suchen für sich und ihre Klientel jeweils eine eigenständige Sphäre „sozialer Macht“ aufzubauen, die potentiell über die Grenzen bestimmter politischer Verbände hinausreicht und nicht selten internationale Dimensionen annimmt. Max Weber hatte die Absicht, diese „Strukturformen sozialer Herrschaft“ der Parteien, die sich gleichsam im Vorfeld des politischen Herrschaftssystems etablieren, noch eingehender zu analysieren. Denn an dieser Stelle heißt es: „Diesem zentralen Phänomen alles Sozialen wenden wir uns daher jetzt zu.“[56] Vgl. den Text „,Klassen‘, ‚Stände‘ und ‚Parteien‘“, unten, S. 271.
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[57] Vgl. den Text „‚Klassen‘, ‚Stände‘ und ‚Parteien‘“, unten, S. 270. Allerdings muß man in Betracht ziehen, daß dieser vieldeutige Satz möglicherweise von den Erstherausgebern eingefügt wurde, um die Brücke zur Herrschaftssoziologie zu schlagen.
Zwei Fragmente über „Kriegerstände“, die uns erhalten sind, ohne daß ein unmittelbarer Zusammenhang mit den sonstigen Texten erkennbar ist, dürfen als Ausweis dafür dienen, daß Max Weber diese universalhistorisch angelegte Kasuistik des Themas „‚Klassen‘, ,Stände‘ und ‚Parteien‘“ noch wesentlich breiter entfalten wollte. Die Ausführungen zu „Stände und Klassen“ hat Max Weber 1919/20 für die Drucklegung überarbeitet und begrifflich verschärft sowie die Erörterung der Parteien aus diesem Zusammenhang herausgelöst; dieser Text ist allerdings ebenfalls unvollendet.
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Vgl. WuG1, S. 177–180 (MWG I/23).
Die hier mitgeteilten Texte bilden den ersten Teil einer umfassend angelegten soziologischen Darstellung, die Max Weber 1913 als „seine ,Soziologie‘“
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bezeichnet und dem Verleger Paul Siebeck für eine baldige Drucklegung avisiert hat – ins Auge gefaßt war als Termin der Drucklegung Ende Frühsommer 1915. Die Texte sind im wesentlichen bereits in den Jahren 1910 bis 1912 entstanden; doch dürften sie in der hektischen Arbeitsphase im Herbst 1913 und im Frühjahr 1914, als Weber darum bemüht war, die zahlreichen für den „Grundriss der Sozialökonomik“ bestimmten Manuskripte zu einer „geschlossenen soziologischen Theorie und Darstellung“ des Verhältnisses der Wirtschaft zu den verschiedenen sozialen Ordnungen zusammenzufügen, geringfügige Überarbeitungen erfahren haben. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges sind Änderungen an den Texten nicht mehr erfolgt. Wir haben es mit einem zwar in Teilen fragmentarischen, aber insgesamt relativ geschlossenen Textbestand zu tun, der vor universalhistorischem Hintergrund die verschiede[58]nen Formen der „Gemeinschaften“ und ihrer höchst unterschiedlichen Ausformungen in der Geschichte systematisch abhandelt. Vgl. den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 6. Nov. 1913, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/8).
IV. Zu dieser Edition und insbesondere zur Frage der Titelgestaltung der Manuskripte aus dem Nachlaß
Dem hier vorgelegten Band I/22-1 der Max Weber-Gesamtausgabe liegen, wie eingangs bereits dargelegt wurde, die in der von Marianne Weber und Melchior Palyi 1921–22 veröffentlichten 1. Auflage – genauer in der zweiten, dritten und vierten Lieferung – von „Wirtschaft und Gesellschaft“ mitgeteilten Texte zugrunde, die den Intentionen Max Webers am nächsten stehen. Allerdings verfolgten Marianne Weber und Melchior Palyi damals eine Editionsstrategie, die keineswegs mit Max Webers eigenen Absichten zum Zeitpunkt seines plötzlichen Todes am 14. Juni 1920 übereingeht. Denn Weber hatte nie die Absicht, die zahlreichen für das „Handbuch der politischen Ökonomie“ bzw. den „Grundriss der Sozialökonomik“ bestimmten Manuskripte aus den Jahren 1910 bis 1914 in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. Auch die Anordnung der Texte, die Marianne Weber und Melchior Palyi nach langen Erwägungen und Verhandlungen mit dem Verlag vornahmen, kann auf weiten Strecken nicht als autorisiert gelten. Marianne Weber hatte das Ziel, die noch von ihrem Mann selbst zum Druck gebrachten Texte – die sogenannten „Soziologischen Grundbegriffe“ – und die Manuskripte aus dem Nachlaß als ein möglichst geschlossenes einheitliches Werk zu veröffentlichen. In den älteren Manuskripten sah Marianne Weber die empirische Dokumentierung der „systematischen soziologischen Begriffslehre“, die sie als Ersten Teil den von ihr edierten Schriften aus dem Nachlaß voranstellte.
1
Das Bemühen, die „große Soziologie“ Max Webers auf diese Weise der Fachwelt und der breiteren Öffentlichkeit erstmals als Ganzes zugänglich zu machen, war unter den damaligen Umständen verdienstvoll, und, wie die Entwicklung gezeigt hat, überaus erfolgreich. Johannes Winckelmann ist dieser Editionslinie dann in der von ihm herausgegebenen 4. und 5. Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ gefolgt, allerdings mit erheblichen Abweichungen hinsichtlich der Anordnung der Manuskripte und zahlreichen Eingriffen in die Texte selbst, gipfelnd in dem Versuch einer Rekonstruktion der sogenannten „Staatssoziologie“, auf der Grundlage einer Synopse von angeblich von Werturteilen gereinigten Texten aus [59]den „Gesammelten Politischen Schriften“.[58] Vgl. das Vorwort zur 2. Lieferung, WuG1, S. III.
2
Jedoch hat die Fachkritik, beginnend mit Friedrich Tenbrucks glänzender Studie „Abschied von ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘“, den problematischen Charakter dieser Editionen deutlich gemacht.[59] Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, 4. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1956.
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Vgl. oben, S. 15, Anm. 1.
Hier wird statt dessen ein anderer Weg eingeschlagen, nämlich die Texte „Gemeinschaften“ und deren Anordnung gemäß den autoreigenen Intentionen zuverlässig zu rekonstruieren, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen einer historisch-kritischen Edition. Dies ist angesichts der Tatsache, daß uns für diesen Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“ keinerlei Manuskripte überliefert sind, keine leichte Aufgabe. Für diesen hier vorgelegten Teilband sind wir durchweg auf die Textüberlieferung angewiesen, so wie sie in der von Marianne Weber und Melchior Palyi herausgegebenen ersten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ vorgelegt worden ist. Allerdings erlauben die wenigen erhaltenen Manuskripte anderer Teile von „Wirtschaft und Gesellschaft“ in begrenztem Umfang Rückschlüsse auch auf den ursprünglichen Zustand der hier zum Abdruck kommenden Texte. Es sind dies „Die Wirtschaft und die Ordnungen“,
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die Paragraphen 1–7 der sogenannten „Rechtssoziologie“, WuG1, S. 368–385 (MWG I/22-3).
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eine sechsseitige Passage aus dem Text „Staat und Hierokratie“ WuG1, S. 386–502; es fehlt nur das Manuskript für Paragraph 8, WuG1, S. 502–512 (MWG I/22-3).
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sowie ein fragmentarisches Blatt aus der „Religionssoziologie“. Das Manuskript umfaßt WuG1, S. 782–790 (MWG I/22-4).
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Für die übrigen Teile von „Wirtschaft und Gesellschaft“ müssen die Manuskripte als definitiv verloren gelten. Das Fragment war höchstwahrscheinlich die Druckvorlage zu WuG1, S. 292 (jetzt: MWG I/22-2, S. 278–280); vgl. auch den Faksimileabdruck in: MWG I/22-2, S. 449 f.
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Darüber hinaus gibt die umfangreiche, allerdings nicht vollständig überlieferte Korrespondenz zwischen Marianne Weber, Melchior Palyi und dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) wichtige Anhaltspunkte. Außerdem erlauben die Textverweise, deren Zuverlässigkeit Hiroshi Orihara nachgewiesen hat, Mommsen, Zur Entstehung von Max Webers hinterlassenem Werk (wie oben, S. 15 f., Anm. 1).
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Rückschlüsse auf die ursprünglich beabsichtigte Anordnung der einzelnen Texte. Vgl. Orihara, Hiroshi, Über den ‚Abschied‘ hinaus zu einer Rekonstruktion von Max Webers Werk: „Wirtschaft und Gesellschaft“. Working Papers No. 30. – Tokio: Department of International Relations, University of Tokyo, 1992; sowie ders., Eine Grundlegung zur Rekonstruktion von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Authentizität der Verweise im Text des „2. und 3. Teils“ der 1. Auflage, in: KZfSS, 46. Jg., 1994, S. 103–121.
[60]Die späteren Editionen von „Wirtschaft und Gesellschaft“, insbesondere die inzwischen in mehreren Auflagen vorliegende Edition von „Wirtschaft und Gesellschaft“ durch Johannes Winckelmann, sind hingegen, was die Rekonstruktion der Texte als solche angeht, zu vernachlässigen, weil sie der autoreigenen Überlieferung ferner stehen. Allerdings hat sich schon Winckelmann intensiv darum bemüht, Druckfehler und Verschreibungen in den Texten aufzuspüren und entsprechende Emendationen vorzunehmen. Soweit diese sich bei kritischer Prüfung der Texte als angemessen erweisen, sind sie im Folgenden berücksichtigt worden. Jedoch hatte Winckelmann die Neigung, Emendationen, welche aus inhaltlichen Gründen nahelagen, auch dann vorzunehmen, wenn keinerlei Anhaltspunkte für ein Textverderbnis vorlagen. In der 5. Auflage hat Winckelmann gar auf deren Nachweis ganz verzichtet. Ein solches Verfahren ist mit den Grundsätzen einer historisch-kritischen Edition nicht zu vereinbaren. Vielmehr geht es hier darum, die ursprünglichen Texte mit größtmöglicher Zuverlässigkeit zu präsentieren, auch wenn diese Sachfehler oder Verderbnisse aufweisen, und Emendationen nur dann vorzunehmen, wenn diese unabweisbar sind, im übrigen aber alle Texteingriffe zu vermeiden.
Hingegen sind die späteren Editionen von „Wirtschaft und Gesellschaft“ von Johannes Winckelmann, die er selbst in seiner Schrift „Max Webers hinterlassenes Hauptwerk“
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gegen die Fachkritik eloquent und materialreich verteidigt hat, für die Frage der Anordnung der Texte, aber auch für die Titelgestaltung und die Kommentierung von erheblicher Bedeutung. In dieser Hinsicht sind ihm die Herausgeber und Bearbeiter dieses Bandes zu Dank verpflichtet, auch wenn sie weithin andere Wege gegangen sind. In gewissem Umfang gilt dies auch für die dreibändige englische Ausgabe von Guenther Roth und Claus Wittich, die seinerzeit hinsichtlich der Anordnung der Texte bedeutsame Fortschritte brachte.[60] Winckelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk (wie oben, S. 15, Anm. 1).
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Doch gilt auch für sie, daß die Präsentation von „Wirtschaft und Gesellschaft“ als eines einheitlichen, aus zwei Teilen bestehenden Werkes, dem von Max Weber noch selbst zum Druck gebrachten sogenannten „Ersten Teil“ und dem sogenannten „älteren Teil“, welcher die zahlreichen Texte aus dem Nachlaß enthält, der wissenschaftlichen Kritik nicht standgehalten hat. Weber, Economy and Society (wie oben, S. 39, Anm. 22).
Die Frage der Titelgestaltung erfordert eine etwas weiter ausholende Erörterung, unter Einbeziehung unserer Kenntnisse über den ursprünglichen Zustand aller Manuskripte aus dem Nachlaß. Melchior Palyi und [61]Marianne Weber haben sich bei der Edition der Manuskripte aus dem Nachlaß für die Veröffentlichung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ hinsichtlich der Einführung von Abteilungs- oder Kapiteltiteln völlig frei gefühlt und sich im übrigen in der formalen Gestaltung an den noch von Max Weber selbst zum Druck gebrachten Teilen orientiert. Klare Vorgaben gab es hingegen nicht. Schon Friedrich Tenbruck hat darauf hingewiesen, daß den von Marianne Weber im Schreibtisch Max Webers vorgefundenen Manuskripten keinerlei Hinweise für eine Anordnung beigegeben waren.
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Dies kann auch nicht verwundern, da Weber damals gar nicht mehr beabsichtigte, diese Texte in der vorliegenden Form zum Druck zu bringen. Zwar haben, wie wir aufgrund von Präzedenzen vergleichbarer Art annehmen dürfen,[61] Tenbruck, Abschied von Wirtschaft und Gesellschaft (wie oben, S. 15, Anm. 1).
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die einzelnen Manuskripte, die Marianne Weber unmittelbar nach dem Tode ihres Mannes in seinem Schreibtisch fand und die vermutlich in gebrauchten braunen Versandtaschen aufbewahrt worden waren, stichwortartige Bezeichnungen getragen, die jedoch als Abteilungs- bzw. Kapitelüberschriften nicht tauglich waren und auch nicht als solche gedacht gewesen sein dürften, da Max Weber diese Manuskripte ja ohnehin nur als Material für eine noch zu erstellende Druckfassung betrachtet hatte. Marianne Weber listete diese Bezeichnungen in einem Brief an den Verleger in folgender Weise auf: „Religionssoziologie, Rechtssoziologie, dann Formen der Gesellschaft: (Ethnische Gemeinschaft. Sippen. Nation Staat u[nd] Hierokratie etc)“ sowie „Charismatismus[,] Patrimonalismus[,] Feudalismus[,] Bürokratismus“. Bei einem Besuch des Herausgebers bei Alfred Weber und Else Jaffé wurden diesem eine größere Zahl von Fahnenkorrekturen von „Wirtschaft und Gesellschaft“ in solchen, noch aus Webers Lebenszeit stammenden, Versandhüllen überlassen; auch die Vorlesungsmanuskripte im GStA Berlin weisen Reste solcher Versandtaschen auf.
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Aufgrund der überlieferten Originalmanuskripte darf man davon ausgehen, daß nur das Kapitel über „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ mit einer zur Veröffentlichung geeigneten Kapitelüberschrift versehen war. Brief Marianne Webers an Paul Siebeck vom 30. Juni 1920, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
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Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 19. Mai 1920; VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/10).
Hinsichtlich der Zwischentitel bzw. der Paragraphentitel in den Manuskripten dürfte die Lage nicht wesentlich anders gewesen sein. In den Texten betreffend die „Religiösen Gemeinschaften“ fanden sich Zwischentitel, die ursprünglich wohl eine arabische Bezifferung aufwiesen. Nur die „Rechtssoziologie“ hatte autor-eigene Zwischentitel und eine Gliederung in Paragraphen sowie kurze Inhaltsangaben der einzelnen [62]Abschnitte. Max Weber hat für die Gliederung der einzelnen Abschnitte ursprünglich durchweg arabische oder römische Ziffern verwendet, Paragraphen sind offenbar, wenn überhaupt, dann erst anläßlich der Drucklegung eingeführt worden. Das zeitlich frühe Manuskript von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ beispielsweise besitzt keine Paragraphengliederung, sondern eine Gliederung mit arabischen Ziffern. Auch die beiden unvollendeten Manuskripte „Die Marktgemeinschaft“ sowie „,Klassen‘, ,Stände‘ und ,Parteien‘“ weisen keine Paragraphengliederung auf. In „Die Stadt“ fehlten ebenfalls Paragraphen; diese sind dort von Marianne Weber nachträglich inseriert worden. Überdies variieren die Zwischentitel in „Die Stadt“ zwischen der Archivfassung und der Fassung in WuG1, außerdem ergeben sich erhebliche inhaltliche Bedenken gegen die Authentizität des offenbar sinnlosen Zwischentitels „Die Plebejerstadt“.
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In den Texten über „Religiöse Gemeinschaften“ ist die ursprünglich numerische Bezifferung von insgesamt 12 Unterabschnitten im Zuge der Drucklegung von den Erstherausgebern unter Beibehaltung der Zwischentitel in eine Paragraphengliederung überführt worden.[62] Vgl. den Editorischen Bericht zu „Die Stadt“, MWG I/22-5, S. 56.
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Die „Herrschaftssoziologie“ scheint ursprünglich ebenfalls keine Untergliederung nach Paragraphen aufgewiesen zu haben. Nur die ersten drei Texte besitzen eine Untergliederung nach Paragraphen; dann bricht dieses Gliederungsschema ab. Für die ursprüngliche Lage vgl. den Brief von Oskar Siebeck an Marianne Weber vom 29. März 1921; VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446, sowie den Editorischen Bericht zu „Religiöse Gemeinschaften“, MWG I/22-2, S. 105 f. Das uns erhaltene Fragment des Manuskripts (vgl. MWG I/22-2, S. 448–450) weist die Kapitelzugehörigkeit des Blatts in römischen Ziffern aus, vermutlich von der Hand Marianne Webers.
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Ersichtlich haben die Erstherausgeber sich bemüht, die fehlende Paragraphengliederung nach dem Vorbild der „Rechtssoziologie“ und der 1. Lieferung nachträglich für alle Manuskripte durchzuführen. Dies haben sie aber dann nicht durchgehalten, was vermutlich ursächlich auf das vorzeitige Ausscheiden Melchior Palyis zurückzuführen ist, der die vierte Lieferung großenteils nicht mehr bearbeitet hat. Es handelt sich um das Kapitel „Herrschaft“, WuG1, S. 603–612 (MWG I/22-4), sowie die Texte „Politische Gemeinschaften“, ebd., S. 613–618, und „Machtgebilde. ‚Nation‘“, ebd., S. 619–630; die beiden letzteren Texte sind in diesem Band ediert, unten, S. 204–217 und der zweite unter dem Titel „Machtprestige und Nationalgefühl“, unten, S. 223–247.
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Vgl. die Briefe Marianne Webers an den Verlag vom 26. Okt. 1921 und 2. Mai 1922; VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
Gleichermaßen führten Marianne Weber und Melchior Palyi bei der Vorbereitung der Manuskripte aus dem Nachlaß für den Druck in die Texte neue oder bei Max Weber an anderer Stelle verbürgte Abteilungs- bezie[63]hungsweise Kapitelüberschriften ein. Auch die Zwischentitel wurden vielfach modifiziert, beziehungsweise, soweit solche in den Texten nicht vorhanden waren, neue Zwischentitel eingefügt, gelegentlich unter Unterbrechung des kontinuierlichen Textflusses.
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Die Einführung von Paragraphen, Zwischentiteln und Inhaltsübersichten diente dem Ziel, aus der ungeordneten Masse von Manuskripten und Texten unterschiedlicher Entstehungszeit und unterschiedlichen Bearbeitungszustands ein einheitliches Werk entstehen zu lassen. [63] Eine ausführliche Darlegung der Probleme der Zwischentitel findet sich bei Mommsen, Max Weber’s Grand Sociology (wie oben, S. 16, Anm. 1), S. 11–13.
Unter diesen Umständen wird man die Authentizität der Titulatur des älteren Teils von „Wirtschaft und Gesellschaft“ insgesamt als ungesichert ansehen müssen. Dieser Befund wird durch die Verlagskorrespondenz erhärtet. Aus der Korrespondenz Marianne Webers mit dem Verlag geht mit Zuverlässigkeit hervor, daß sie die sogenannten Abteilungstitel mit dem Verlag vereinbart hat, diese also mit Sicherheit nicht authentisch sind. Dies erstreckt sich auch auf den Abteilungstitel des ersten Teils „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“.
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Daß die Kapitelüberschriften großenteils nicht autor-eigen sind, ergibt sich aus dem Sachverhalt, daß Marianne Weber mit dem Gedanken spielen konnte, die Texte „Politische Gemeinschaften“, „Machtprestige und Nationgefühl“ und „,Klassen‘, ,Stände‘ und ,Parteien‘“ in einem einzigen Kapitel zusammenzufassen. Wenn diese Konvolute originale Kapitelüberschriften gehabt hätten, wäre dies nicht möglich gewesen. Briefe Marianne Webers an Oskar Siebeck vom 14. und 15. Okt. 1920 und vom 20. Okt. 1921, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446; ferner Mommsen, Max Weber’s Grand Sociology (wie oben, S. 16, Anm. 1), S. 11.
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Marianne Weber und Melchior Palyi haben vielmehr keine Bedenken getragen, nicht nur Kapitel mehrfach hin- und herzuschieben, sondern auch einzelne Textbestände innerhalb dieser Kapitel andernorts zu plazieren. Vgl. die Beilage zu dem Schreiben Marianne Webers an Oskar Siebeck vom 25. März 1921, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
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Der Schluß ist unabweisbar, daß die Kapitelüberschriften der „Gemeinschaften“ ganz überwiegend von den Erstherausgebern in die Manuskripte eingefügt worden sind, vielfach in Anlehnung an den damals schon in Umbruchbögen vorliegenden sogenannten „Ersten Teil“ von „Wirtschaft und Gesellschaft“. Dies trifft analog auch für die Paragraphenüberschriften und Inhaltsangaben zu. Sie sind ebenfalls zumeist erst von den Erstherausgebern eingeführt worden. Dazu einschlägig Schluchter, Das Ende eines Mythos (wie oben, S. 15, Anm. 1), S. 613 ff.
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Auch rein stilistische Beobachtun[64]gen stützen diesen Befund. Nicht selten unterbrechen die von den Erstherausgebern eingeschobenen Zwischentitel den Gang der Darlegungen in einer syntaktisch störenden Weise. Vgl. oben, S. 61 f.
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Eine sorgfältige Prüfung der Zwischentitel an den Texten selbst gemäß den Grundsätzen der inneren historischen Quellenkritik ergibt, daß die Paragraphentitel die überschriebenen Inhalte in zahlreichen Fällen nicht angemessen wiedergeben; ja mehr noch, daß sie vielfach den Sinn der jeweiligen Darlegungen Max Webers verfälschen.[64] Ein Beispiel dafür findet sich etwa im Text „Machtprestige und Nationalgefühl“. Hier unterbricht der offensichtlich später inserierte § 3. Die „Nation“ regelrecht den Argumentationsgang. Am Ende des § 2 ist von der starken Wirkung „emotionaler Beeinflussung“ die Rede. Der in den § 3 geratene Folgesatz schließt unmittelbar daran. Hier heißt es: „Das Pathos dieser emotionalen Beeinflussung aber ist dem Schwerpunkt nach nicht ökonomischen Ursprungs […].“ Vgl. unten, S. 240.
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Die Texte des Teils „Gemeinschaften“ sind transparenter und verständlicher, wenn die vielfach sinnentstellenden, zuweilen den Sachzusammenhang unterbrechenden, Zwischenüberschriften, die den jeweiligen Paragraphen von den Erstherausgebern beigegeben worden sind, vernachlässigt werden. Es ist kein Zufall, daß alle späteren Herausgeber bzw. kritischen Interpreten von „Wirtschaft und Gesellschaft“, von Winckelmann Ein eingehender Nachweis, wie er von dem Herausgeber vorgenommen worden ist, kann an dieser Stelle nicht vorgestellt werden, da dies den Charakter und den Umfang der Einleitung sprengen würde. Vgl. aber die Ausführungen in den Editorischen Berichten zu den einzelnen Texten.
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und Roth bis Orihara, den Wortlaut der Zwischenüberschriften nicht für authentisch angesehen und diese in unterschiedlichster Weise modifiziert haben. Winckelmann weist im Vorwort zur 4. Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“, S. XIII, ausdrücklich darauf hin, daß „die bisherigen Überschriften und Inhaltsangaben der Kapitel mannigfache Änderung erfahren“ hätten, „soweit das Bedürfnis der Neugliederung in Anpassung an den ursprünglichen Plan und das Bedürfnis nach einer sinnadäquateren Zusammenfassung des Inhalts sie nahelegten.“
Die Grundsätze einer historisch-kritischen Edition erlauben es nur in Ausnahmefällen, durch Einführung von Titeln oder Zwischentiteln ordnende Eingriffe in die Texte vorzunehmen. Dem wird in dem hier vorgelegten Bande der MWG Rechnung getragen und auf den Wiederabdruck der Paragraphengliederung sowie der dazugehörenden, nicht authentischen Zwischentitel der Erstausgabe verzichtet. Allerdings wird in die durch die Einführung von Zwischentiteln verursachten Zäsuren im Text nicht eingegriffen; diese werden jeweils durch eine Leerzeile gekennzeichnet. Ebenso werden die von den Erstherausgebern eingeführten Zwischentitel sowie alle sonstigen Eingriffe der Erstherausgeber im textkritischen Apparat mitgeteilt, um die hier getroffenen editorischen Entscheidungen für [65]den Leser transparent zu machen. Sämtliche Überschriften bzw. Untertitel der Erstausgabe, soweit sie nicht definitiv als von Max Weber selbst herrührend gelten können, werden in eckige Klammern gesetzt und damit als Herausgeberrede gekennzeichnet. Nur in solchen Fällen, in denen dies unabweisbar ist, sind unter Anlegung eines strengen Maßstabs neue Titel eingeführt oder überlieferte Titel modifiziert worden, jeweils in enger Anlehnung an den Text beziehungsweise an Titel und Begriffe, die in den Texten an anderer Stelle nachgewiesen sind. Auch wenn es sich dabei um Begriffe oder Formulierungen handelt, die bei Weber an anderer Stelle verwendet sind, werden sie in eckige Klammern gesetzt und damit als Herausgeberrede gekennzeichnet. Darüber hinaus werden alle Eingriffe dieser Art in den Editorischen Berichten jeweils im einzelnen begründet, unter Mitteilung der von den Erstherausgebern eingeführten Titeln. Hier wie auch sonst ist die Edition durchgängig darum bemüht, die autor-eigenen Texte in möglichster Präzision zu präsentieren und von alten Ergänzungen oder Eingriffen Dritter Hand zu befreien. Andererseits ist es dem Leser stets möglich, auf die älteren Ausgaben zurückzugreifen und die vorgenommenen Änderungen nachzuvollziehen.