MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen]
(in: MWG I/22-1, hg. von Wolfgang J. Mommsen, in Zusammenarbeit mit Michael Meyer)
Bände

[71]Editorischer Bericht

Zur Entstehung

Der nachstehende Text ist, seinem Duktus nach zu urteilen, in unterschiedlichen Schreibphasen entstanden, auch wenn diese nicht präzise voneinander zu unterscheiden sind. Er beginnt mit einer Definition von „Wirtschaft“, die sich in Abgrenzung zu anderen zeitgenössischen Begriffsbestimmungen von „Wirtschaft“ an der Theorie des Grenznutzens orientiert; der Begriff der „Wirtschaft“ setzt die Knappheit von nachgefragten Gütern voraus und dient der Deckung des jeweiligen Bedarfs an diesen. Dabei wird ausdrücklich betont, daß dieser Bedarf sich auf die unterschiedlichsten Zwecke erstrecken kann, „von der Nahrung bis zur religiösen Erbauung“.1[71] Vgl. unten, S. 78. Diese Definition findet sich in analoger Weise schon im „Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine (‚theoretische‘) Nationalökonomie“.2 Weber, Vorlesungs-Grundriß. Am Ende des ersten Absatzes bricht diese Argumentation abrupt ab. Es findet sich dann der Satz „Das soziale Handeln kann nun zur Wirtschaft in verschiedenartige Beziehung treten“,3 Vgl. unten, S. 79. der weder an die vorherigen noch an die folgenden Passagen inhaltlich anbindet und mit einiger Sicherheit als späterer Einschub zu gelten hat, der den Zweck verfolgte, das vorstehende Textfragment (höchstwahrscheinlich der Rest einer längeren Deduktion von Begriffsbestimmungen) mit den nachfolgenden Ausführungen zu verbinden.4 Orihara, Hiroshi, Über den „Abschied“ hinaus zu einer Rekonstruktion von Max Webers Werk: „Wirtschaft und Gesellschaft“, 3. Teil: Wo findet sich der Kopf des „Torsos“? Die Terminologie Max Webers im „2. und 3. Teil“ der 1. Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“. – Tokio: University of Tokyo, Department of Social and International Relations 1993, S. 12. Dafür spricht die Verwendung des in dieser Phase terminologisch bei Max Weber noch nicht gebräuchlichen Begriffs „soziales Handeln“.5 So auch Orihara, ebd., S. 15.

Die nachfolgenden Darlegungen geben eine Übersicht über die verschiedenen Formen des Gemeinschaftshandelns in ihrer Beziehung zur Wirtschaft. Weber legt dabei besonderes Gewicht auf den Nachweis, daß alle [72]Formen des Gemeinschaftshandelns, nicht nur solches wirtschaftlicher Art, eine wirtschaftliche Dimension besitzen. Im gleichen Zuge wird dargelegt, daß, entgegen den Annahmen der marxistischen Theorie, weder ein eindeutiges Abhängigkeitsverhältnis des Gemeinschaftshandelns von wirtschaftlichen Tatbeständen bestehe, noch umgekehrt Gemeinschaftshandeln bestimmte Wirtschaftsformen determiniere. Stattdessen wird die „Eigengesetzlichkeit der Strukturen des Gemeinschaftshandelns“ betont, und um deren Untersuchung geht es dann auch im Folgenden. Im übrigen wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf das bedeutsame Phänomen der „Schließung“ des Gemeinschaftshandelns gelenkt, das zur Monopolisierung bestimmter Interessen führe und die Tendenz aufweise, übergreifende „Vergesellschaftungen mit rationalen Ordnungen“ entstehen zu lassen. Schließlich werden die wirtschaftsregulierenden Auswirkungen behandelt, die unterschiedliche Formen der Bedarfsdeckung von Gemeinschaften haben können, und, wie es heißt, „nur noch in Kürze“ die Arten der Bedarfsdeckung von Gemeinschaften in Form einer Kasuistik von „reinen Typen“ abgehandelt. Dabei wird der Frage, welche dieser Typen für die Entwicklung des Kapitalismus am günstigsten gewesen sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der Text gleitet dann über in eine Erörterung der Rolle des Kampfes konkurrierender politischer Gebilde, nicht zuletzt der Großmächte der Gegenwart, welcher immer wieder zu einer Privilegierung des Kapitalismus Anlaß gegeben habe und bricht mit einer Anspielung auf das damalige europäische Mächtesystem ab.

In Bezug auf die Einordnung innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ deutet vieles auf eine Funktion des Textes als Einleitungskapitel, zumindest aber auf eine vordere Position hin. Weber verweist darauf, daß „schon früher allgemein“ festgestellt worden sei, „daß fast jeder auf rein freiwilligem Beitritt ruhende Zweckverband über den primären Erfolg hinaus, […] Beziehungen zwischen den Beteiligten zu stiften pflegt, welche Grundlage eines […] auf ganz heterogene Erfolge ausgerichteten Gemeinschaftshandelns werden können.“6[72] Siehe den Text, unten, S. 91. Da dieser Verweis innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht ohne weiteres aufzulösen ist, spricht manches dafür, daß den „Wirtschaftliche[n] Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ ursprünglich ein anderer Text vorangestellt gewesen sein könnte. Orihara und ihm folgend Schluchter haben angenommen, daß es sich dabei um den Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ gehandelt haben müsse.7 Orihara, Hiroshi, Eine Grundlegung zur Rekonstruktion von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Authentizität der Verweise im Text des „2. u. 3. Teils“ der 1. Aufl., in: KZfSS, 46. Jg., 1994, S. 103–121; Schluchter, Webers Beitrag zum Grundriss. Allerdings sind in der uns überlieferten Fassung des Kate[73]gorienaufsatzes die besagten Verweise nicht zuverlässig identifizierbar.8[73] Weber, Kategorienaufsatz; die möglicherweise zutreffende Textstelle findet sich S. 275. Die Frage, ob tatsächlich ein Vorläufer des Kategorienaufsatzes ursprünglich den Anfang des älteren Manuskriptes von „Wirtschaft und Gesellschaft“ gebildet hat, muß hier offengelassen werden. Es ist dies eigentlich eher unwahrscheinlich. Vielmehr dürfte ein Kapitel über „Kategorien der wirtschaftlichen Ordnungen“, von dem uns nur der erste Absatz des nachstehenden Textes als Fragment erhalten ist, den Anfang von „Wirtschaft und Gesellschaft“ gebildet haben,9 Es ist zu vermuten, daß Max Weber 1919 diesen Text bei der Abfassung des Kapitels über „Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens“, WuG1, S. 31 ff. (MWG I/23), zugrunde gelegt und dann weggeworfen hat, mit Ausnahme der auf die Grenznutzentheorie bezüglichen Passagen, die er nun für entbehrlich gehalten hat, und die deshalb der Vernichtung entgangen sein dürften. während der Text über die „Wirtschaftlichen Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ als Überleitung zu den nachfolgenden Ausführungen über die verschiedenen Typen der Gemeinschaften, beginnend mit der Hausgemeinschaft, gedient haben dürfte. Für eine vordere Stellung spricht die Verweisstruktur des nachfolgenden Textes, insbesondere ein Vorausverweis, wonach bei „wirtschaftende[n] Gemeinschaften […] normalerweise ein gewisses Maß von rationaler Vergesellschaftung“ erforderlich sei, welches aber „den aus der Hausgemeinschaft emporwachsenden, später zu erörternden Gebilden“ fehle.10 Siehe den Text, unten, S. 96. Eben diese Gebilde aber werden in dem nächsten Abschnitt eingehend abgehandelt. Wenn ferner davon die Rede ist, daß Strukturformen des Gemeinschaftshandelns ihre Eigengesetzlichkeit besitzen, „wie wir immer wieder sehen werden,“11 Siehe den Text, unten, S. 81. oder darauf hingewiesen wird, daß Adäquanzbeziehungen zwischen Gemeinschaftshandeln und Wirtschaftsformen „immer wieder zu besprechen“ sein werden,12 Ebd., S. 81. so sind solche Formulierungen nur in einem vorderen Kapitel sinnvoll. Innerhalb des sogenannten „älteren Teils“ von „Wirtschaft und Gesellschaft“ finden sich insgesamt acht Verweise, die sich nur in dem nachstehenden Text auflösen lassen. Sie beziehen sich auf Monopolisierungs- beziehungsweise Abschließungsmechanismen innerhalb unterschiedlicher Gemeinschaften und sind als Rückverweise formuliert, mit anderen Worten, sie setzen den Inhalt dieses Textes voraus.13 Ein Verweis findet sich im Text „Hausgemeinschaften“, unten, S. 124, Anm. 17, und drei Verweise im Text „Ethnische Gemeinschaften“, unten, S. 169, Anm. 2, S. 173, Anm. 10. Die anderen vier Verweise befinden sich in den Texten „‚Klassen‘, ‚Stände‘ und ‚Parteien‘“, unten, S. 265, Anm. 25, sowie innerhalb der „Herrschaftssoziologie“, WuG1, S. 731, 743, 777 (MWG I/22-4). Darüber hinaus finden sich in WuG1 noch fünf Verweise, die sowohl in dem nachstehenden Text als auch an anderen Stellen aufzulösen sind. Die beiden aus [74]dem Text herausführenden Verweise sind Vorverweise, die sich auf Ausführungen in den „Hausgemeinschaften“ bzw. in der sogenannten „Herrschaftssoziologie“ beziehen.14[74] Vgl. den Text, unten, S. 96, Anm. 29, S. 106, Anm. 48.

An eindeutigen Datierungshinweisen findet sich in dem Text ein Bezug auf den 1909 gegründeten „Verband Deutscher Diplom-Ingenieure“. Der 28. Juni 1909 hat als Gründungsdatum des Verbandes daher als Datum post quem für die Entstehung dieses Textes zu gelten.15 Siehe den Text, unten, S. 83. Desweiteren enthält der Text einen Hinweis auf den Boykott sozialdemokratischer Versammlungslokale durch Reichswehrangehörige, der im Sommer 1913 aufgehoben wurde.16 Vgl. den Text, unten, S. 89 f. Demnach müßte der Text vor diesem Zeitpunkt verfaßt worden sein. Verweise auf zeitgenössische Literatur, die zur genaueren Datierung dienen könnten, finden sich in dem Text nicht. Es gibt also nur wenige Anhaltspunkte für eine Datierung. Gleichwohl spricht vieles dafür, daß dieser Text 1910 bis 1911 niedergeschrieben sein könnte, zumal er und die nachfolgenden Kapitel eine eindeutige Sequenz aufweisen,17 Vgl. die Einleitung, oben, S. 31–33. allerdings mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit späterer Veränderungen und Ergänzungen. Der Text weist allerdings keine Spuren einer Einarbeitung der begrifflichen Innovationen des Kategorienaufsatzes in seiner im Logos zum Druck gebrachten Fassung auf, die um die Jahreswende 1912/13 datiert werden kann.18 Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 5. Sept. 1913, GStA Berlin, Rep. 92. NI. Max Weber, Nr. 25, BI. 78–79 (MWG II/8). Veränderungen der Art, wie sie zu diesem Zeitpunkt in dem Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ vorgenommen worden sind, sind jedenfalls nirgends erkennbar. Angesichts des Fehlens der Originalmanuskripte sind sichere Aussagen jedoch nicht möglich. Jedenfalls aber müßte der Text vor der Konzipierung der Einteilung vom Frühjahr 1914 entstanden sein, in der eine andere Anordnung ins Auge gefaßt war.

Zur Überlieferung und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Dem Druck wird die von Marianne Weber und Melchior Palyi veröffentlichte Fassung zugrunde gelegt, die in dem Handbuch: Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung III: Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Lieferung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1921, S. 181–193, erschienen ist (A).

[75]Die dort verwendete Kapitelüberschrift „Wirtschaft und Gesellschaft im allgemeinen“ ist bei Weber nirgendwo belegt. Weder in der Korrespondenz noch im Stoffverteilungsplan von 1910 oder in der Disposition von 1914 findet sich ein ähnlicher Titel. Wie oben im einzelnen dargelegt ist, stammen die Titel der Kapitel und auch die Überschriften der Paragraphen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von Weber, sondern sind später von den Erstherausgebern eingefügt worden.19[75] Vgl. die Einleitung, oben, S. 60–65. Im vorliegenden Fall handelt es sich mit Sicherheit um einen Eingriff der Erstherausgeber. In der Disposition von 1914 hatte Weber innerhalb des Kapitels I einen Abschnitt „Wirtschaftliche Beziehungen der Verbände im allgemeinen“ vorgesehen.20 GdS, Abt. I: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft. Bearb. von Karl Bücher, Joseph Schumpeter, Friedrich von Wieser. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1914, S. X–XI (MWG I/22-6). Dieser Abschnitt ist aber offensichtlich nicht zustande gekommen, und der Titel läßt sich keinem der uns überlieferten Abschnitte innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zuordnen. Auch der nachstehende Text löst den Inhalt dieser Überschrift nicht ein, da er durchweg von Gemeinschaften und nicht von Verbänden handelt. In Anlehnung an die von Weber autorisierte Formulierung der Disposition von 1914 wird hier daher die Überschrift „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ gewählt. Dieser Titel wird als Herausgeberrede in eckige Klammern gesetzt und die offensichtlich von den Erstherausgebern gebildete Überschrift im textkritischen Apparat mitgeteilt.

Die Paragraphentitel dieses Textes können angesichts der weitreichenden Einwirkung der Erstherausgeber auf die Gestaltung der Titel innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht als authentisch gelten. Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls von den Erstherausgebern eingefügt worden.21 Vgl. die Einleitung, oben, S. 60–65. Der Text war in der ersten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ in fünf Paragraphen gegliedert. Der Titel „§ 1. Wesen der Wirtschaft. Wirtschafts-, wirtschaftende und wirtschaftsregulierende Gemeinschaft“ hat eher den Charakter einer Inhaltsangabe als einer Überschrift. Darüber hinaus wäre anstelle von „Wesen der Wirtschaft“ eher „Begriff der Wirtschaft“ zu erwarten, eine Bezeichnung die Weber für eine frühere Definition von Wirtschaft in seinem „Grundriß zu den Vorlesungen über Allgemeine (,theoretische‘) Nationalökonomie“ verwendet hat.22 Vgl. Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 29. Irreführend ist der Titel „§ 4. Wirtschaftsformen“. In diesem Abschnitt ist vielmehr nur von unterschiedlichen Arten der Aufbringung der Kosten des Gemeinschaftshandelns die Rede. Ebenso ist die von den Erstherausgebern [76]gewählte Überschrift „§ 5. Formen der Wirtschaftsregulierung“ viel zu allgemein gehalten. In dem Textteil ist ausschließlich von den Auswirkungen der Bedarfsdeckung des Gemeinschaftshandelns auf die Wirtschaft die Rede.

Es ist davon auszugehen, daß es in den nachgelassenen Manuskripten der Texte über die „Gemeinschaften“ überhaupt keine Paragraphen- bzw. Zwischentitel gegeben hat.23[76] Vgl. die Einleitung oben, S. 60–65. Dies ergibt sich auch aus der fragwürdigen Formulierung der Mehrzahl der in der Erstausgabe befindlichen Überschriften. Daher wird hier auf die Wiedergabe der Paragraphentitel verzichtet; die Überschriften des Erstdrucks werden jedoch im textkritischen Apparat mitgeteilt. Die Paragraphengliederung als solche wird durch Leerzeilen optisch kenntlich gemacht. Eine Zählung der Einzelabschnitte erfolgt nicht.

Die Anmerkungen der Erstherausgeber werden im fortlaufenden Text nicht berücksichtigt, sondern im textkritischen Apparat wiedergegeben. Die Emendationen stützen sich teilweise auf Änderungen, die auch Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1985, vorgenommen hat.