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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. [(Zweiter und dritter Artikel.)]. II. Knies und das Irrationalitätsproblem. 1905/1906
(in: MWG I/7, hg. von Gerhard Wagner in Zusammenarbeit mit Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn)
Bände

[243][A [89]]Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie.a[243] In A folgt: Von Max Weber.

(Zweiter Artikel.)bFehlt in A; (Zweiter Artikel.) sinngemäß ergänzt.

II. Knies und das Irrationalitätsproblem.

Inhaltsverzeichnis.

1. Die Irrationalität des Handelns. Charakter des Kniesschen Werkes S. 243. ‒ „Willensfreiheit“ und „Naturbedingtheit“ bei Knies im Verhältnis zu modernen Theorien S. 247. – Wundts Kategorie der „schöpferischen Synthese“ S. 259. ‒ Irrationalität des konkreten Handelns und Irrationalität des konkreten Naturgeschehens S. 273. – Die „Kategorie“ der „Deutung“ S. 277. – Erkenntnistheoretische Erörterungen dieser „Kategorie“: 1) Münsterbergs Begriff der „subjektivierenden“ Wissenschaften S. 282. – 2) „Verstehen“ und „Deuten“ bei Simmel S. 310. – 3) Gottls Wissenschaftstheorie S. 313.

1.

Das methodologische Hauptwerk von Knies „Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode“ erschien in erster Auflage 1853,1[243] Knies, Oekonomie1. vor dem Erscheinen des ersten Bandes von Roschers System (1854),2 Roscher, System I1. mit dem sich Knies in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ (1855) auseinandersetzte.3 Knies, Roscher. Knies’ Werk fand außerhalb enger Fachkreise relativ wenig Beachtung;4 Knies, Oekonomie2, S. III, weist selbst darauf hin. darüber, daß Roscher ihn nicht eingehender erwähnt und behandelt habe, [244]glaubte er sich beklagen zu können1)[244][A [89]] Übrigens kaum mit Recht, da R[oscher] ihn sowohl im „System“ eingehend zitiert, wie in der Geschichte der Nationalökonomik anerkennend behandelt.10 Mit Bezug auf Knies, Oekonomie1, vgl. Roscher, System I1, S. 16 (§ 11 Anm. 2), und Roscher, System I2, S. 18 (§ 11 Anm. 2), S. 44 (§ 28 Anm. 3), S. 415 (§ 213 Anm. 1), S. 543 (§ 266 Anm. 2). Mit Bezug auf Knies, Oekonomie2, vgl. Roscher, System I23, S. 17 (§ 7 Anm. 1), S. 28 (§ 11 Anm. 4), S. 77 (§ 28 Anm. 3), S. 79 (§ 29 Anm. 5), S. 536 (§ 178 Anm. 8), S. 641 (§ 213 Anm. 1), S. 837 (§ 265 Anm. 4). Vgl. auch Roscher, Geschichte, S. 1010 f., S. 1015, Anm. 1, S. 1038 f. und S. 1041. Auffallend ist freilich, daß Roscher auf Knies’ z. T. tiefgreifende Angriffe weder eingehend antwortete, noch seine eigene Darstellung entsprechend modifizierte. ,5[244] Knies, ebd., S. IV: Roscher sehe sich in seinem Kapitel über „Methoden der Nationalökonomik“ nicht genötigt mitzuteilen, daß bereits „ein eigenes Werk über die Fragen der Methode in der politischen Oekonomie und zwar eines grade ,vom Standpuncte‘ der geschichtlichen Methode‘ erschienen sei“. Vgl. Roscher, System I1, S. 41 (§ 28 Anm. 3), und Roscher, System I2, S. 44 (§ 28 Anm. 3). Unter Verwendung des Verses „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“ („Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale“) von Terentianus Maurus klagt Knies, Oekonomie2, S. IV, daß ihm „noch heutzutage ein anderes ,Fatum libelli‘ wahrscheinlich“ sei, wenn Roscher nicht erst 1874 in seiner „Geschichte der National-Ökonomik“, sondern bereits 1854 darauf hingewiesen hätte, daß in seinem Werk „zuerst die geschichtliche Methode unserer Wissenschaft zu einer reichen, mit trefflich durchgeführten Beispielen versehenen Methodologie entwickelt sei“. Vgl. Roscher, Geschichte, S. 1038 f.; Roscher, System I23, S. 79 (§ 29 Anm. 5). mit Bruno Hildebrand geriet er in eine heftige [A 90]Fehde.6 Knies, Oekonomie1, S. 33, wirft Hildebrand vor, in seinem Werk „Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“ (1848) Roscher „mit keiner Sylbe erwähnt“ zu haben, obwohl dieser „den meisten Ansichten, welche Hildebrand darlegt, schon seit längerer Zeit Geltung zu verschaffen sucht“. Hildebrand kündigt Knies daraufhin die Freundschaft. – Als dann in den sechziger Jahren die Freihandelsschule7 Gemeint sind Ökonomen, „welche die Freilassung des Verkehrs von staatlicher Beschränkung als die wichtigste Vorschrift ansehen, die sich aus der nationalökonomischen Forschung ergebe“. Vgl. Leser, Emanuel, Freihandelsschule, in: HdStW1, Band 3, 1892, S. 665–672, hier S. 665. von Erfolg zu Erfolg schritt, geriet das Buch fast in Vergessenheit. Erst als die „kathedersozialistische“ Bewegung8 1871 von Heinrich Bernhard Oppenheim eingeführter Spottname für Nationalökonomen der jüngeren Generation der historischen Schule, die die soziale Frage und die Arbeitsbedingungen in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellten und 1872 an der Gründung des Vereins für Socialpolitik beteiligt waren. Vgl. Lexis, Wilhelm, Kathedersozialismus, in: HdStW2, Band 5, 1900, S. 50–52. Macht über die Jugend gewann, begann es in steigendem Maße gelesen zu werden, so daß Knies, dessen zweites in den 70er Jahren entstandenes Hauptwerk „Geld und Kredit“9 Knies, Geld und Credit I2, II,1 und II,2. der „histori[245]schen“ Methode völlig fern steht, nach 30 Jahren (1883) vor einer zweiten Auflage stand.11[245] Knies, Oekonomie2. Sie erschien unmittelbar ehe durch Mengers „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften“,12 Menger, Untersuchungen. Schmollers Rezension derselben13 Schmoller, Methodologie. und Mengers heftige Replik14 Menger, Historismus. der Methodenstreit in der Nationalökonomie die Höhe seiner Temperatur erreichte, und gleichzeitig in Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“15 Dilthey, Einleitung. der erste groß angelegte Entwurf einer Logik des nicht naturwissenschaftlichen Erkennens vorgelegt wurde.

Eine Analyse des Kniesschen Werkes bietet nicht geringe Schwierigkeiten. Einmal ist der Stil teilweise bis dicht an die Unverständlichkeit ungelenk, dank der Arbeitsweise des Gelehrten, der in einen geschriebenen Satz, weitergrübelnd, Nebensatz auf Nebensatz hineinschachtelte, unbekümmert darum, ob die entstehende Periode syntaktisch aus allen Fugen ging2)[245][A 90] S[iehe] eine so entstandene unmögliche Periode 1. Aufl. S. 203.16 Knies, Oekonomie1, S. 203. . Die Fülle der ihm zuströmenden Gedanken ließc[245]A: ließen Knies dabei gelegentlich auch die offenbarsten Widersprüche in bald aufeinanderfolgenden Sätzen übersehen, und sein Buch gleicht so einem Mosaik aus Steinen von sehr verschiedener, nur im großen, nicht immer im einzelnen aufeinander abgestimmter Färbung. Die Zusätze der zweiten Auflage, welche ziemlich unorganisch neben dem fast unveränderten Text stehen, stellen gegenüber dem Gedankengehalt der ersten teils eine Verdeutlichung und Fortentwickelung, teils aber auch eine bewußte Umbiegung zu ziemlich abweichenden Gesichtspunkten dar. Wer den ganzen Inhalt dieses eminent gedankenreichen Werkes überhaupt in voller Tiefe wiedergeben wollte, dem bliebe nichts übrig, als zunächst die gewissermaßen aus verschiedenen Gedankenknäueln stammenden Fäden, welche neben- und durcheinan[246]der herlaufen, voneinander zu sondern und sodann jeden Gedankenkreis für sich zu systematisieren3)[246] Hier, wo es uns nur auf die Entwickelung bestimmter logischer Probleme ankommt, wird eine solche erschöpfende Wiedergabe nicht beabsichtigt. Für unsere Zwecke ist von der ersten Auflage19 Knies, Oekonomie1. und Knies’ Aufsätzen aus den 50er Jahren20 In der ersten Hälfte der 1850er Jahre publizierte Knies u.a. anonyme Aufsätze: Anonymus [Knies], Wissenschaft; Anonymus [Knies], Bankwesen; Knies, Wert. Zur Urheberschaft der anonymen Texte vgl. [Art.] Knies (Karl), in: Gerland, Otto (Hg.), Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte seit der Reformation bis auf die gegenwärtige Zeit, Band 21. – Kassel: August Freyschmidt 1868, S. 67–74, bes. S. 72. auszugehen, die zweite und die späteren Arbeiten, insbesondere „Geld [A 91]und Kredit“, werden da ohne weiteres mit herangezogen, wo ihre Ausführungen lediglich ein Ausbau jener sind; die abweichenden Gesichtspunkte der späteren Zeit werden, soweit dabei überhaupt neue logische und methodische Anschauungen hervortreten – was nur in geringem Maße der Fall ist – zusammen mit den Ansätzen, die sich dazu schon in der ersten finden, kurz behandelt. Auch hier geschieht – wie bei Roscher – durchaus das Gegenteil dessen, was zu geschehen hätte, wenn es gelten würde, Knies’ Leistung „historisch“ zu würdigen. Seine Formulierungen werden zu Problemen der Wissenschaft in Beziehung gesetzt, die noch heute bestehen, und die Absicht ist nicht, ein Bild von Knies,21 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 41. sondern ein Bild von jenen Problemen zu geben, welche für unsere Arbeit notwendig entstehen mußten, und zu zeigen, wie er sich damit abgefunden hat und auf Grundlage von Anschauungen, die auch heute von vielen geteilt werden, sich damit abfinden mußte. Ein adäquates Bild seiner wissenschaftlichen Bedeutung entsteht dadurch natürlich in keiner Weise, ja in den Ausführungen dieses ersten Abschnittes muß zunächst der Anschein entstehen, als sei Knies nur der „Vorwand“ für das hier Gesagte. .

[A 91]Seine Ansicht über die Stellung der Nationalökonomie im Kreise der Wissenschaften hat Knies erst in der zweiten Auflage endgültig präzisiert4) 2. Aufl. S. 1 ff. und 521d[246]A: 215.22 Vgl. das in drei Abschnitte unterteilte Kapitel I. (Einleitendes) und den Zusatz zu Abschnitt I,2, den Knies allerdings erst als letzten Abschnitt des letzten Kapitels III. (Volkswirtschaftslehre) bringt. Vgl. Knies, Oekonomie2, S. 1–43 und S. 521–533. , jedoch in einer Weise, welche durchaus den Gedankengängen der ersten entspricht. Danach erörtert sie jene Vorgänge, welche daraus entspringen, daß der Mensch für die Deckung des Bedarfs „des menschlich persönlichen Lebens“17[246] Knies, Oekonomie2, S. 2. auf die „Außenwelt“18 Ebd., S. 5. angewiesen ist: – eine, gegenüber dem historisch gewordenen Aufgabenkreise unserer Wissenschaft offenbar teils zu weite, teils zu enge Umgrenzung. Um nun aus diesem Aufgabenkreis der [247]Nationalökonomie ihre Methode abzuleiten, stellt Knies neben die schon von Helmholtz je nach dem behandelten Objekt unterschiedenen Gruppen der „Naturwissenschaften“ einerseits, der „Geisteswissenschaften“ anderseits,23[247] Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft: Akademische Festrede gehalten zu Heidelberg beim Antritt des Prorectorats 1862, in: ders., Vorträge und Reden, Band 1, 5. Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S. 157–185 (hinfort: Helmholtz, Verhältniss). Für Helmholtz liegt ein „Gegensatz“ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften „in der Natur der Dinge begründet“ (ebd., S. 165), weil sie es mit Objekten unterschiedlicher Komplexität zu tun haben. als dritte Gruppe die „Geschichtswissenschaften“, als diejenigen Disziplinen, welche es mit äußeren, aber durch „geistige“ Motive mitbedingten Vorgängen zu tun haben.24 Knies, Oekonomie2, S. 5 ff., bezieht sich auf Lotzes Unterscheidung zwischen Natur- und Geschichtswissenschaften. Vgl. Lotze, Hermann, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, Band 3. – Leipzig: S. Hirzel 1864, S. 10 ff. Zu Webers Lektüre dieses Werks in seinem ersten Studiensemester vgl. Hübinger, Gangolf, Einleitung, in: MWG II/1, S. 14 mit Anm. 66.

Von der für ihn selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß die wissenschaftliche „Arbeitsteilung“25 Knies, Oekonomie2, S. 3, spricht generell von einer „mit der Entwicklung menschlichen Kulturlebens erwachsenden ,Teilung‘ von Arbeitsaufgaben“. eine Repartierung des objektiv gegebenen Tatsachenstoffes darstelle, und daß ferner dieser objektiv ihr zugewiesene Stoff es sei, der einer jeden Wissenschaft ihre Methode vorschreibe, geht nun Knies an die Erörterung der methodologischen Probleme der Nationalökonomie. Da diese Wissenschaft menschliches Handeln unter einerseits naturgegebenen, anderseits historisch bestimmten Bedingungen behandelt, so ergibt sich ihm, daß in ihr Beobachtungsmaterial als Determinanten auf der einen Seite, der [A 92]des menschlichen Handelns, die menschliche „Willensfreiheit“, auf der anderen dagegen „Elemente der Notwendigkeit“ „eingehen“, nämlich – erstens – in den Naturbedingungen die blinde Nezessitierung des Naturgeschehens und – zweitens – in den historisch gegebenen Bedingungen die Macht kollektiver Zusammenhänge5)[247][A 92] Vgl. S. 119 (1. Aufl. – dieselbe ist mangels eines besonderen Zusatzes im folgenden immer gemeint).e[247]A: gemeint.)26 Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 119. .

[248]Die Einwirkung der natürlichen und „allgemeinen“27[248] Für Knies, Oekonomie1, S. 344, ist das Gesetzmäßige „ein Allgemeines“. Zusammenhänge faßt nun Knies ohne weiteres als gesetzmäßige Einwirkung auf, da für ihn wie für Roscher Kausalität gleich Gesetzmäßigkeit ist6)[248] Dies spricht er S. 344 ausdrücklich aus.30 Vgl. ebd., S. 344: „Der Nachweis der Gesetzmäßigkeit einer Erscheinung ist abhängig von dem Beweis des Causalitätsverhältnisses von Ursache und Wirkung.“ . So schiebt sich ihm an die Stelle des Gegensatzes: Zweckvolles menschliches Handeln auf der einen Seite, – durch die Natur und die geschichtliche Konstellation28 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 177 mit Anm.9. gegebene Bedingungen dieses Handelns auf der andern, der ganz andere: „freies“ und daher irrational-individuelles Handeln der Personen einerseits, – gesetzliche Determiniertheit der naturgegebenen Bedingungen des Handelns anderseits7) Die kollektiven Zusammenhänge fallen als Sondergruppe unter den Tisch. Da sie „Handeln“ enthalten, sind auch sie für Knies irrational. . Die Einwirkung der „Natur“ auf die ökonomischen Erscheinungen würde, so meint Knies, an sich einen gesetzlichen Ablauf derselben bedingen müssen. Tatsächlich wirken nun zwar die Naturgesetze auch in der menschlichen Wirtschaft, aber sie sind nicht Gesetze der menschlichen Wirtschaft8) S. 237, 333/4, 352, 345. , und zwar, nach ihm, deshalb nicht, weil in diese in Gestalt des „personalen“ Handelns die Freiheit des menschlichen Willens hineinragt.

Wir werden weiterhin sehen, daß diese „prinzipielle“ Begründung der Irrationalität des ökonomischen Geschehens dem, was Knies an anderen Stellen29 Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 37 ff. (= Kapitel II. „Volkswirthschaft“). über die Einwirkung der Naturbedingungen auf die Wirtschaft ausführt, geradezu ins Gesicht schlägt, indem dort gerade die geographisch und historisch „individuelle“ Gestaltung der Wirtschaftsbedingungen als dasjenige Element erscheint, welches die Aufstellung allgemeiner Gesetze des rationalen wirtschaftlichen Handelns ausschließt.

Es verlohnt aber, auf die ganze Frage, die Knies hier berührt hat, schon an dieser Stelle etwas näher einzugehen9) Schon Schmoller hat, in seiner Besprechung des Kniesschen Werkes, dessen For[249]mulierung abgelehnt, da auch die Natur sich nie genau wiederhole (Zur Lit[teratur]-Gesch[ichte] der Staats- u[nd] Sozialwissensch[aften], S. 209gA: 205).31[249] Vgl. Schmoller, Knies2, S. 209. . Die Identi[A 93]fikation von Determiniertheit mit Gesetzlichkeit einerseits, von „freiem“ [249]und „individuellem“, d. h. nicht gattungsmäßigem Handeln anderseits, ein so elementarer Irrtum sie ist, findet sich nämlich keineswegs nur bei Knies. Vielmehr spukt sie auch in der historischen Methodologie gelegentlich bis in die Gegenwart hinein, und namentlich gilt dies für das Hineinspielen der „Frage“ der Willensfreiheit in die methodologischen Erörterungen der Spezialwissenschaften. Noch immer wird dieses Problem, und zwar ganz in demselben Sinne wie von Knies, ohne alle Not von den Historikern in die Untersuchungen über die Tragweite „individueller“ Faktoren für die Geschichte hineingetragen. Man findet dabei immer wieder die „Unberechenbarkeit“ des persönlichen Handelnsf[249]A: Handels, welche Folge der „Freiheit“ sei, als spezifische Dignität des Menschen und also der Geschichte angesprochen, entweder ganz direkt10)[A 93] So von Hinneberg, Histor[ische] Zeitschr[ift] 63 (1889) S. 29, wonach das Freiheitsproblem „die Grundfrage der gesamten Geisteswissenschaften“ sein soll.32 Vgl. Hinneberg, Grundlagen, S. 29. Ganz ähnlich wie Knies hält z. B. auch Stieve (D[eutsche] Z[eitschrift] f[ür] Gesch[ichts]-Wissensch[aft] VI, 1891, S. 41) die Annahme einer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit durch die „Tatsache der menschlichen Willensfreiheit“ für ausgeschlossen.33 Vgl. Stieve, Maximilian, S. 41. – „Man wird,“ glaubt Meinecke, Hist[orische] Zeitschr[ift] 77 (1896) S. 26434 Vgl. Meinecke, Erwiderung, S. 264. [,] „den geschichtlichen Massenbewegungen doch mit ganz anderen Augen gegenüberstehen, wenn man in ihnen die Leistungen vieler Tausende freiheitlicher X verborgen weiß, als wenn man sie nur als das Spiel gesetzmäßig wirkender Kräfte ansieht.“ – Und S. 266 das[elbst] spricht der gleiche Schriftsteller von diesem „X“ – dem irrationalen „Rest“ der Persönlichkeit – als dem „inneren Heiligtum“ derselben,35 Meinecke, ebd., S. 265, spricht vom „erfahrungsmäßig gegebenen Kerne des Individuums“, der für ihn das „innere Heiligthum“ ist, „in dem auch die Weltanschauung wurzelt“. Für ihn kommt dieses „X“ nicht als etwas Irrationales in Betracht: „Freiheit hier natürlich immer in dem Sinne spontaner Impulse geistig-sittlicher Natur, nicht etwa als absolute Willkür verstanden.“ (ebd., S. 263). Schon für Droysen ist dieses „X“ nichts Irrationales. Vgl. Droysen, Johann Gustav, Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: Historische Zeitschrift, Band 9, 1863, S. 1–22, hier S. 13 f.: „wenn man alles, was ein einzelner Mensch ist und hat und leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfaßt, was er durch äußere Umstände von seinem Land, Volk, Zeitalter u.s.w. hat und das verschwindend kleine x sein eigenes Zuthun, das Werk seines freien Willens ist. Wie verschwindend klein immer dies x sein mag, es ist von unendlichem Werth, sittlich und menschlich betrachtet allein von Werth.“ ganz ähnlich wie [250]Treitschke mit einer gewissen Andacht von dem „Rätsel“ der Persönlichkeit redet.37 Vgl. Treitschke, Heinrich von, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hg. von Max Cornicelius, Band 1. – Leipzig: S. Hirzel 1897, S. 6: „Wäre die Geschichte eine exacte Wissenschaft, so müßten wir im Stande sein die Zukunft der Staaten zu enthüllen. Das können wir aber nicht, denn überall stößt die Geschichtswissenschaft auf das Räthsel der Persönlichkeit.“ Vgl. auch Below, Methode, S. 235 f., 247 f. Vgl. auch Webers Notizen zu Knies, abgedruckt im Anhang, unten, S. 626 ff. Allen diesen Äußerungen, denen als methodisch berechtigter Kern natürlich die Mahnung an die „ars ignorandi“38 Ein auf das Werk „De arte dubitandi et confidendi ignorandi et sciendi“ des Humanisten Sebastian Castellio zurückgehendes Prinzip der Auslegung. Vgl. bereits Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 199, Anm. 102. innewohnt, liegt doch auch die seltsame Vorstellung zugrunde, daß die Dignität einer Wissenschaft oder aber ihres Objektes gerade in dem beruhe, was wir von ihm in concreto und generell nicht wissen können. Das menschliche Handeln würde also seine spezifische Bedeutung darin finden, daß es unerklärlich und daher unverständlich ist. oder [250]verhüllt, indem die „schöpferische“ Bedeutung der handelnden Persönlichkeit in Gegensatz zu der „mechanischen“ Kausalität des Naturgeschehens gestellt wird.

Es erscheint angesichts dessen nicht ganz ungerechtfertigt, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen und diesem hundertmal „erledigten“, aber in stets neuer Form auftauchenden Problem etwas ins Gesicht zu leuchten. Nichts als „Selbstverständlichkeiten“ zum Teil trivialster Art können dabei herausspringen, aber gerade diese sind, wie sich zeigen wird, immer wieder in Gefahr, verdunkelt zu werden [A 94]oder geradezu in Vergessenheit zu geraten11)[A 94] Ausdrücklich sei dabei bemerkt, daß die Frage: ob dabei für die praktische Methodik der Nationalökonomie etwas „herauskommt“, a limine39 Lat.: von der Schwelle; von vornherein, kurzerhand. abgelehnt wird. Es wird hier Erkenntnis gewisser logischer Beziehungen um ihrer selbst willen gesucht mit demselben Recht, mit welchem die wissenschaftliche Nationalökonomie nicht lediglich danach bewertet zu werden wünscht, ob für „die Praxis“ durch ihre Arbeit „Rezepte“ ermittelt werden. . – Dabei akzeptieren wir vorläufig einmal ohne Diskussion den Standpunkt von Knies, wonach die Wissenschaften, in welchen menschliches „Handeln“,36[250] Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 109; Knies, Oekonomie2, S. 2, 6. sei es allein, sei es vorzugsweise, den Stoff der Untersuchung bilde, innerlich zusammen gehören, und, da dies unstreitig in der Geschichte der Fall ist, so wird hier von „der Geschichte und den ihr verwandten Wissenschaften“ gesprochen, wobei vorerst ganz dahingestellt bleibt, welche jene Wissenschaften sind. Wo von „Geschichte“ allein die Rede ist, ist immer an den [251]weitesten Sinn des Wortes (politische, Kultur- und Sozialgeschichte eingeschlossen) zu denken. – Unter jener noch immer so stark umstrittenen „Bedeutung der Persönlichkeit“ für die Geschichte kann nur zweierlei verstanden werden. Einmal 1. das spezifische Interesse, welches die möglichst umfassende Kenntnis von dem „geistigen Gehalt“ des Lebens geschichtlich „großer“ und „einzigartiger“ Individuen als eines „Eigenwerts“ besitzt; oder 2. die Tragweite, welche dem konkret bedingten Handeln bestimmter Einzelpersonen – gleichviel[,] ob wir sie „an sich“ als „bedeutende“ oder „unbedeutende“ Persönlichkeiten bewerten würden – als ursächlichem Moment in einem konkreten historischen Zusammenhang zuzuschätzen ist. Beides sind offenbar logisch ganz und gar heterogene gedankliche Beziehungen. Wer jenes Interesse (ad 1) prinzipiell leugnet, oder als „unberechtigt“ verwirft, ist auf dem Boden der Erfahrungswissenschaft natürlich ebenso unwiderlegbar, wie derjenige, welcher umgekehrt die verstehende und „nacherlebende“40[251] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 178 mit Anm. 16. Analyse „großer“ Individuen in ihrer „Einzigartigkeit“ für die einzige menschenwürdige Aufgabe und als einzig die Mühe verlohnendes Ergebnis der Erforschung der Kulturzusammenhänge ansieht. Gewiß lassen sich diese „Standpunkte“ ihrerseits wieder zum Gegenstand der kritischen Analyse machen. Aber jedenfalls wird dann kein geschichtsmethodologisches und auch kein einfach erkenntniskritisches, sondern ein geschichtsphilosophisches Problem: die Frage nach dem „Sinn“ des wissenschaftlichen Erkennens des Historischen, aufgerollt12)[251] Denn die Erkenntnistheorie der Geschichte konstatiert und analysiert die Bedeutung der Beziehung auf Werte für die historische Erkenntnis, aber sie begründet die Geltung der Werte ihrerseits nicht. . – Die [A 95]kausale Bedeutung aber, sei es konkreter Einzelhandlungen, sei es jenes Komplexes „konstanter Motive“,41 Weber benutzt diese Formulierung mit Bezug auf Windelband, Willensfreiheit, S. 87 f. Vgl. Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 292, Fn. 58a. welche wir im formalen Sinn „Persönlichkeit“ nennen, generell zu bestreiten, ist nur dann möglich, wenn man a priori entschlossen ist, diejenigen Bestandteile eines historischen Zusammenhanges, welche dadurch ursächlich bedingt sind, als eben deshalb unseres kausalen Erklärungsbedürfnisses nicht würdig, außer Betracht zu lassen. Ohne diese, wie[252]derum den Boden der Erfahrung verlassende und auf ihm nicht begründbare, weil ein Werturteil enthaltende, Voraussetzung hängt es natürlich lediglich vom Einzelfall, d. h. von der Frage, welche Bestandteile einer gegebenen historischen Wirklichkeit im Einzelfall kausal erklärt werden sollen und welches Quellenmaterial zur Verfügung steht, ab, ob wir 1. beim kausalen Regressus42[252] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 164 mit Anm. 65. Vgl. auch unten, S. 263. auf eine konkrete Handlung (oder Unterlassung) eines Einzelnen als eine in ihrer Eigenart bedeutsame Ursache stoßen – etwa auf das Edikt von Trianon43 Mit dem Edikt von Trianon (1810) führte Napoleon Bonaparte seinen 1806 mit dem Berliner Dekret begonnenen Wirtschaftskrieg gegen England fort, indem er das Handelsverbot der Kontinentalstaaten mit England (Kontinentalsperre) um eine drastische Erhöhung der Einfuhrzölle für Kolonialwaren ergänzte. Neben der Durchsetzung fiskalischer Interessen wollte er damit den Schmuggel eindämmen. –, und weiter 2., ob es alsdann genügt, zur kausalen Interpretation jener Handlungen die Konstellation der „außerhalb des Handelnden“ liegenden Antriebe zum Handeln als eine nach allgemeinen Erfahrungssätzen sein Verhalten zulänglich motivierende Ursache aufzuhellen oder ob wir daneben 3. seine „konstanten Motive“ in ihrer Eigenart festzustellen, bei diesen aber haltzumachen genötigt und berechtigt sind, oder ob endlich 4. das Bedürfnis erwächst, auch noch diese letzteren charakterogenetisch,44 Möglicherweise Bezug auf Malapert, Paulin, Le caractère. – Paris: Octave Doin 1902. Dieses Buch findet sich, mit Marginalien, An- und Unterstreichungen im VI. Kapitel „Les classifications des caractères“, S. 236–270, versehen, in Webers Handbibliothek (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). z. B. in ihrem Entstehen aus „ererbten Anlagen“ und Einflüssen der Erziehung, konkreten Lebensschicksalen und der individuellen Eigenart des „Milieus“,45 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 170 mit Anm. 87. nach Möglichkeit kausal erklärt zu sehen. – Irgend ein prinzipieller Unterschied zwischen Handlungen eines Einzelnen und Handlungen vieler Einzelner besteht nun hier natürlich, soweit die Irrationalitätsfrage in Betracht kommt, in keiner Weise: das alte lächerliche Vorurteil naturalistischer Dilettanten, als ob die „Massenerscheinungen“, wo sie als historische Ursachen oder Wirkungen in einem gegebenen Zusammenhang in Betracht kommen, „objektiv“ weniger „individuell“ seien als die Handlungen der „Helden“, wird sich hoffentlich auch in den Köp[253]fen von „Soziologen“ nicht mehr allzu lange behaupten13)[253][A 95] An dem individuellen Charakter der „Massenerscheinung“,47 Möglicherweise Bezug auf Lexis, Massenerscheinungen (wie oben, S. 219, Anm. 47). sobald sie als Glied historischer Zusammenhänge erscheint, wird durch die Bemerkungen Simmels (Probleme der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., S. 63 unten) natürlich, zweifellos auch nach Simmels eigener Ansicht, nichts geändert.48 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 63: „Geschichte aber bilden sie [die Massenelemente] nur mit denjenigen Bestimmungen, die ihnen allen gemeinsam sind, in denen ihre Kräfte sich zu einer einheitlichen Wirkung addieren“. Daß das generell [A 96]Gleiche an der beteiligten Vielheit von Individuen die „Massenerscheinung“ konstituiert, hindert nicht, daß ihre historische Bedeutung in dem individuellen Inhalt, der individuellen Ursache, den individuellen Wirkungen dieses den Vielen Gemeinsamen (z. B. einer konkreten religiösen Vorstellung, einer konkreten wirtschaftlichen Interessenkonstellation) liegt. Nur wirkliche, d. h. konkrete Objekte sind in ihrer individuellen Gestaltung reale Ursachen, und diese sucht die Geschichte. Über die Beziehung der Kategorie „Realgrund“ und „Erkenntnisgrund“ zu den geschichtsmethodologischen Problemen siehe meine demnächst im Jaffé-Braunschen Archiv erscheinenden Auseinandersetzungen mit Eduard Meyer und einigen anderen.49 Vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S. 409 f. Vgl. bereits Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 53 f. mit Anm. 63. . Auch bei Knies ist ja in dem erwähnten Zusammenhang [A 96]von menschlichem Handeln überhaupt, nicht aber von dem der „großen Persönlichkeiten“ die Rede, und so wird bei unseren weiteren Bemerkungen ein für allemal – soweit nicht das Gegenteil sich aus dem Zusammenhang unzweifelhaft ergibt bezw. ausdrücklich gesagt ist, – nicht nur an ein Sich-Verhalten eines Einzelnen, sondern ganz ebenso an „Massenbewegungen“ gedacht, wo von „menschlichem Handeln“, „Motivation“, „Entschluß“ u. dgl. die Rede ist. –

Wir beginnen mit einigen Bemerkungen über den Begriff des „Schöpferischen“, welchen namentlich Wundt in seiner Methodologie der „Geisteswissenschaften“ als grundlegend aufgenommen hat.46 [253]Gemeint ist: Wundt, Logik II,2. Vgl. hierzu auch den Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 10. Okt. 1905, MWG II/4, S. 550–553. In welchem Sinne immer man nun jenen Begriff mit Bezug auf „Persönlichkeiten“ verwenden möge, so muß man sich jedenfalls sorgsam hüten, in ihm etwas anderes als den Niederschlag einer Wertung, die wir an den ursächlichen Momenten einerseits, und dem ihnen zugerechneten Endeffekt anderseits vornehmen, finden zu wollen. Insbesondere ist die Vorstellung gänzlich irrig, als hänge das, was unter jenem „schöpferischen“ Charakter menschlichen Tuns etwa verstanden werden kann, mit „objektiven“, – d. h. [254]hier: von unseren Wertungen abgesehen in der empirischen Wirklichkeit gegebenen oder aus ihr abzuleitenden, – Unterschieden in der Art und Weise der Kausalbeziehungen zusammen. Als ursächliches Moment greift die Eigenart und das konkrete Handeln einer konkreten „historischen“ Persönlichkeit „objektiv“, – d. h. sobald wir von unserem spezifischen Interesse abstrahieren, – in keinem irgend verständlichen Sinn „schöpferischer“ in das Geschehen ein, als dies bei „unpersönlichen“ ursächlichen Momenten, geographischen oder sozialen Zuständlichkeiten oder individuellen Naturvorgängen, ebenfalls der Fall sein kann. Denn der Begriff des „Schöpferischen“ ist, wenn er nicht einfach mit dem der „Neuheit“ bei qualitativen Veränderungen überhaupt gleichgesetzt, also ganz farblos wird, kein reiner Er[A 97]fahrungsbegriff, sondern hängt mit Wertideen zusammen, unter denen wir qualitative Veränderungen der Wirklichkeit betrachten. Die physikalischen und chemischen Vorgänge z. B., welche zur Bildung eines Kohlenflötzes oder Diamanten führen, sind „schöpferische Synthesen“50 [254]Für Wundt gilt das von ihm formulierte „Princip der schöpferischen Synthese“ nur im psychischen Bereich. Vgl. Wundt, Logik II,2, S. 267. Bei einem physischen Gebilde sind die Eigenschaften des ganzen Gebildes bereits vollständig in den Eigenschaften seiner Elemente vorgebildet, so daß sie aus ihnen deduziert bzw. umgekehrt auf sie reduziert werden können. Ein psychisches Gebilde hingegen hat „neue Eigenschaften“, die in den Eigenschaften seiner Elemente nicht enthalten sind: „In diesem Sinne sind daher alle psychischen Gebilde Erzeugnisse einer schöpferischen Synthese.“ (ebd., S. 268 f.). Vgl. auch Wundt, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 112 ff. in formal ganz demselben – nur durch die Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte inhaltlich verschieden bestimmten – Sinn wie etwa die Motivationsverkettungen, welche von den Intuitionen eines Propheten zur Bildung einer neuen Religion führen. Unter logischen Gesichtspunkten betrachtet, hat die qualitative Veränderungsreihe in beiden Fällen die gleiche Eigenart der Färbung lediglich dadurch angenommen, daß infolge der Wertbeziehungen51 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 153 f. mit Anm. 49, S. 166 mit Anm. 71, und S. 189 mit Anm. 53. eines ihrer Glieder die Kausalungleichung,52 Diesen Begriff hat Rickert in Auseinandersetzung mit Wundt, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), geprägt und seiner Theorie historischer Kausalität zugrunde gelegt. Vgl. Rickert, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 64, 82 ff.; Rickert, Grenzen, S. 422. Rickert geht davon aus, daß „jede Ursache und jede Wirkung von jeder anderen Ursache und jeder anderen Wirkung verschieden“ ist (ebd., S. 413). Solche [255]„individuelle[n] Kausalzusammenhänge“ sind die Basis aller Kausalbetrachtung: Betrachtet man sie auf ihre Besonderheit hin, spricht man von „historische[r]“ Kausalität; betrachtet man sie auf ihre Allgemeinheit hin, d. h. darauf, „was ihnen mit anderen Kausalzusammenhängen gemeinsam ist“, um ein „Kausalgesetz“ zu formulieren, spricht man von „naturwissenschaftliche[r] Kausalität“ (ebd., S. 414). Um ein Kausalgesetz zu formulieren, gilt es, „von der stets vorhandenen Verschiedenheit der beiden, Ursache und Wirkung genannten Objekte zu abstrahiren, und zu sagen, dass die Ursache niemals mehr hervorbringe, als sie selbst enthalte“, was „dem Satz: causa aequat effectum“ entspricht und dem Kausalgesetz die Form einer „Kausalgleichung“ verleiht (ebd., S. 420, 422). Für die historischen Wissenschaften hingegen „ist der historische Effekt stets etwas Anderes als die Ursache, die ihn hervorbringt“, so daß man diesen Zusammenhang nur in „Kausalungleichungen“ darstellen kann (ebd., S. 422). Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 46 mit Anm. 31, und S. 52 f. mit Anm. 59. Vgl. auch Einleitung, oben, S. 18 f. in welcher sie – wie an sich jede ledig[255]lich auf ihre qualitative Seite hin betrachtete Veränderung in der individuell besonderten Wirklichkeit – verläuft, als eine Wertungleichung ins Bewußtsein tritt. Damit wird die Reflexion auf diese Beziehung zum entscheidenden Grund unseres historischen Interesses. Wie die Unanwendbarkeit des Satzes „causa aequat effectum“53 Ein aus der Scholastik stammendes Prinzip der Naturphilosophie, wonach Ursache und Wirkung gleich sind. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Specimen dynamicum, in: ders., Philosophische Werke, Band 1: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. von Ernst Cassirer. – Leipzig: Dürr 1904, S. 256–272, hier S. 269. Vgl. auch Rickert, Grenzen, S. 420. auf das menschliche Handeln nicht aus irgendwelcher „objektiven“ Erhabenheit des Ablaufes der psychophysischen Vorgänge über die „Naturgesetzlichkeit“ im allgemeinen oder über spezielle Axiome, wie etwa das von der „Erhaltung der Energie“54 Die erste Formulierung des Energieerhaltungssatzes findet sich in Mayer, Kräfte (wie oben, S. 2, Anm. 11). Mayer beantwortet die Frage, „was wir unter ,Kräften‘ zu verstehen haben“, indem er „Kräfte“ als „Ursachen“ konzipiert, auf die der „Grundsatz: causa aequat effectum“ insofern „volle Anwendung“ findet, als sich ihre Größen durch alle Wandlungen hindurch erhalten (ebd., S. 233). Hat die Ursache c die Wirkung e, so ist c = e. Ist e die Ursache einer Wirkung f, so ist e = f, und ebenso ist c = e = f. In einer solchen „Kette von Ursachen und Wirkungen“ kann „nie ein Glied oder ein Theil eines Gliedes zu Null werden“; daher ist die erste Eigenschaft aller Ursachen ihre „Unzerstörlichkeit“ (ebd., S. 233). Hat die Ursache c eine ihr gleiche Wirkung e hervorgebracht, so hat c aufgehört zu sein und ist zu e geworden. Da mithin c in e, e in f, usw. übergeht, müssen „diese Größen als verschiedene Erscheinungsformen eines und desselben Objectes“ betrachtet werden: daher ist die zweite Eigenschaft aller Ursachen ihre „Fähigkeit, verschiedene Formen annehmen zu können“ (ebd., S. 234). Zusammen ergibt sich: „Ursachen sind (quantitativ) unzerstörliche und (qualitativ) wandelbare Objekte“ (ebd., S. 234). In diesem Sinne kann Bewegung als Ursache von Wärme betrachtet werden, oder Fallkraft als Ursache von Bewegung (ebd., S. 235 ff.). oder dergleichen[,] abzuleiten ist, sondern aus dem rein logischen Grund, daß eben die Gesichtspunkte, unter welchen das „Han[256]deln“ für uns Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wird, die Kausalgleichung55 [256]Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 46 mit Anm. 31. als Ziel derselben a priori ausschließen, – so verhält es sich, lediglich in einem noch um eine Stufe gesteigerten Grade, mit demjenigen „Handeln“, sei es Einzelner, sei es einer als Gruppe begrifflich zusammengefaßten Vielheit von Menschen,56 Für Gumplowicz ist die Gruppe die Grundeinheit der Soziologie, weil sie im Gegensatz zum Individuum keinen „individuellen Zufälligkeiten und Abweichungen“ unterliegt, sondern „von einer festen Regel beherrscht“ wird und „einem festen Gesetze“ folgt. Vgl. Gumplowicz, Ludwig, Individuum, Gruppe und Umwelt, in: ders., Soziologische Essays. – Innsbruck: Wagner 1899, S. 1–18, hier S. 4. welches wir als „historisches“ Handeln aus der Fülle des vom geschichtlichen Interesse nicht erfaßten Tuns herausheben. Das „Schöpferische“ desselben liegt lediglich darin, daß für unsere „Auffassung“ der geschichtlichen Wirklichkeit der kausale Ablauf des Geschehens einen nach Art und Maß wechselnden Sinn empfängt: – m.a. W. das Eingreifen jener Wertungen, an denen unser geschichtliches Interesse verankert ist, läßt aus der Unendlichkeit der an sich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das eine Mal gleichgültige Ergebnisse, das andere Mal aber eine bedeutungsvolle, d. h. in bestimmten Bestandteilen von jenem historischen Interesse57 Für Rickert, Grenzen, S. 572, haben wir nur dann „ein historisches Interesse an einer Wirklichkeit, wenn mit ihr geistige Wesen zusammenhängen, die zu den allgemeinen menschlichen Werthen selbst Stellung nehmen“. Vgl. auch ebd., S. 475, 579. erfaßte und gefärbte Konstellation entstehen. Im letzteren Fall sind für unsere „Auffassung“ neue Wertbeziehungen gestiftet worden, die [A 98]vorher fehlten, und wenn wir nun weiterhin diesen Erfolg anthropozentrisch dem „Handeln“ der Menschen kausal zurechnen,58 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 185 mit Anm. 39. dann gilt uns dasselbe in solchen Fällen als „schöpferisch“. Nicht nur aber kann, wie gesagt, rein logisch betrachtet, die gleiche Dignität auch reinen „Naturvorgängen“ zukommen, – sobald nämlich von jener „objektiv“ ja ganz und gar nicht selbstverständlichen anthropozentrischen Zurechnung abstrahiert wird, – und nicht nur kann dies „Schöpferische“ natürlich auch – je nach dem „Standpunkt“ – mit negativem, herostratischem Vorzeichen versehen sein oder einfach qualitativen Weltwandel ohne eindeutiges Vorzeichen bedeuten, – sondern vor allem ist aus all diesen Gründen selbstverständlich zwischen Sinn und Maß des „Eigenwerts“ des „schöpferisch“ handelnden Men[257]schen und seines Tuns und demjenigen des ihm zugerechneten Erfolges keinerlei notwendige Beziehung vorhanden. Ein – nach seinem „Eigenwert“ bemessen – für uns absolut wert- und geradezu sinnloses Handeln kann in seinem Erfolge durch die Verkettung historischer Schicksale eminent „schöpferisch“ werden,59 [257]Für Rickert, Grenzen, S. 422, braucht der Historiker dem „Satz: kleine Ursachen ‒ grosse Wirkungen“ entsprechend „sich niemals zu scheuen“, „historisch wesentliche Wirkungen aus historisch unwesentlichen Ursachen entstehen zu lassen“. Dieser „Satz“ geht auf Julius Robert Mayers Theorie der Auslösung zurück. Vgl. unten, S. 265 mit Anm. 90. Vgl. auch die Einleitung, oben, S. 18 f. und anderseits können menschliche Taten, welche, isoliert „aufgefaßt“, durch unsere „Wertgefühle“ mit den grandiosesten Farben getränkt werden, in den ihnen zuzurechnenden Erfolgen in der grauen Unendlichkeit des historisch Gleichgültigen versinken und also für die Geschichte kausal bedeutungslos werden, oder – das in der Geschichte regelmäßig Wiederkehrende – in der Verkettung der historischen Schicksale ihren „Sinn“ nach Art und Maß bis zur Unkenntlichkeit ändern.

Gerade diese letzteren Fälle des historischen Bedeutungswandels pflegen unser historisches Interesse im intensivsten Maße auf sich zu ziehen, und man kann also die spezifisch historische Arbeit der Kulturwissenschaften auch hierin als äußerste Antithese aller auf Kausalgleichungen hinarbeitenden Disziplinen ansehen: Die Kausalungleichung als Wertungleichung ist für sie die entscheidende Kategorie, und lediglich diesen Sinn kann es also auch haben, wenn man von „schöpferischer Synthese“ als einem dem Gebiet, sei es des individualpsychischen Geschehens, sei es der Kulturzusammenhänge, oder beider, eigentümlichen Vorgang spricht. Die Art hingegen, wie dieser Begriff von Wundt bei den verschiedensten Gelegenheiten14)[257][A 98] Z. B. auch in seiner „Völkerpsychologie“.61 Vgl. Wundt, Völkerpsychologie I,1, S. 246 f. verwendet wird, ist, wie ich glauben möchte, nicht haltbar und direkt irreführend, wennschon natürlich niemand diesem hervorragenden Gelehrten den Gebrauch, welchen Historiker wie Lamprecht [A 99]gelegentlich von dieser Kategorie zu machen versucht haben,60 Lamprecht, Kulturgeschichte, S. 81, sieht in der Psychologie die Grundlage aller historischen Wissenschaften und benutzt Wundts Konzept der schöpferischen Synthese, um seine „Lehre vom Gesamtwillen“ oder vom „Gesamtbewusstsein der sozialen Bildungen“ zu begründen. zur Last legen wird. [258]‒ Wundts angeblich „psychologische“ Theorie mag hier in gedrängter Skizze analysiert werden.

Die „psychischen Gebilde“ stehen nach Wundt15)[258][A 99] Logik (2. Aufl.) II2, S. 267 ff. zu den sie komponierenden „Elementen“ zwar in bestimmten kausalen Beziehungen, – d. h. also doch selbstverständlich: sie sind eindeutig determiniert –, aber sie besitzen zugleich „neue Eigenschaften“, die in jenen einzelnen Elementen „nicht enthalten sind“.62 [258]Vgl. Wundt, Logik II,2, S. 268. – Es ist doch wohl zweifellos, daß dies bei allen Naturvorgängen ganz in gleichem Sinn und Maß der Fall ist, wann immer wir sie als qualitative Veränderungen auffassen. Wasser z. B. besitzt, mit bezug auf seine qualitative Eigenart betrachtet, Eigenschaften, die absolut nicht in seinen Elementen „enthalten“ sind.63 Für Wundt, ebd., S. 269 f., ist Wasser ein Beispiel für eine zwar noch nicht gelungene, aber wie bei allen physischen Gebilden prinzipiell mögliche „Ableitung“ der Eigenschaften eines Ganzen aus den Relationen seiner Elemente oder umgekehrt für eine „Zurückführung“ der Eigenschaften eines Ganzen auf die Relationen seiner Elemente. Sobald vollends die Beziehung auf Werte erfolgt, gibt es überhaupt keinen Naturvorgang, der nicht gegenüber seinen „Elementen“ spezifisch „neue“ Eigenschaften enthielte. Auch die rein quantitativen Beziehungen des Sonnensystems, gegenüber den, als seine „Elemente“, isoliert betrachteten einzelnen Planeten oder gegenüber den mechanischen Kräften, die es aus einem hypothetischen Urnebel herausentwickelt haben mögen,64 Weber referiert auf die Kant-Laplace-Theorie. Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber die Entstehung des Planetensystems, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5. Aufl. ‒ Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S. 53–91. machenh[258]A: macht durchaus in keinem Sinn eine Ausnahme davon, trotzdem doch hier eine Verkettung von rein physikalisch interessierenden Einzelvorgängen vorliegt, deren jeder also in einer Kausalgleichung ausdrückbar wäre. – Aber hören wir zunächst wieder Wundt. Ein Kristall, meint er, könne für den Naturforscher „nichts anderes“ sein, als „die Summe seiner Moleküle samt den ihnen eignen äußeren Wechselwirkungen“.65 Wundt, Logik II,2, S. 270. Das Gleiche gelte für eine organische Form, die für den Naturforscher, auch wenn er „das Ganze“ noch nicht „kausal abzuleiten“ ver[259]möge, nur das „in den Elementen vollständig vorgebildete Produkt dieser Elemente“ sei.66 [259]Ebd. Das entscheidende Zugeständnis, welches Wundt hier in die Feder geflossen ist, liegt in den Worten: „für den Naturforscher“, – der eben für seine Zwecke von den in der unmittelbar erlebten Wirklichkeit gegebenen Beziehungen zu abstrahieren hat. Denn für den Nationalökonomen, – um unter Außerachtlassung der feineren Zwischenglieder gleich zu ihm zu kommen, – liegt die Sache offenbar anders. Ob die „Wechselbeziehung“ der chemischen Elemente eine solche ist, daß durch sie ein für die menschliche Ernährung geeigneter Getreidehalm oder etwa ein Diamant dargestellt wird, oder ob chemisch gleiche Ele[A 100]mente sich in irgendeiner für die Befriedigung menschlicher Nahrungs- oder Schmuckbedürfnisse indifferenten Verbindung befinden, ist für seine Betrachtung ein fundamentaler Unterschied: im ersteren Falle hat der Naturprozeß ein Objekt hervorgebracht, welches ökonomisch bewertbar ist. Würde dagegen nun eingewendet, daß es sich eben deshalb hier um das Hineinspielen „psychologischer“ Momente, – der mittels „psychischer Kausalität“ zu interpretierenden „Wertgefühle“ und „Werturteile“ ‒[,] handle, so wäre dieser Einwand zwar in dieser Fassung falsch formuliert, aber in dem, was er sagen möchte, natürlich durchaus richtig. Nur gilt eben für das gesamte „psychische“ Geschehen genau das Gleiche. „Objektiv“67 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 153 mit Anm. 43. ‒ d. h. hier: unter Abstraktion von allen Wertbeziehungen – betrachtet, stellt es gleichfalls ausschließlich eine Kette qualitativer Veränderungen dar, deren wir uns teils direkt in der eigenen „inneren Erfahrung“, teils indirekt, durch analoge Interpretation von Ausdrucksbewegungen „anderer“, bewußt werden. Es ist ganz und gar nicht abzusehen, warum diese Veränderungsreihen nicht absolut ohne alle Ausnahme in ganz demselben Sinn einer von „Wertungen“ freien Betrachtung sollten unterworfen werden können, wie irgend einei[259]A: einer Reihe qualitativer Veränderungen in der „toten“ Natur16)[259][A 100] Dies hat übrigens niemand klarer betont als Rickert, – es bildet geradezu das Grundthema seiner in dieser Hinsicht im wesentlichen auch gegen Dilthey sich richten[260]den Schrift: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“.74 Rickert, Grenzen. Es ist erstaunlich, daß manche „Soziologen“ in einer Art von blindem Eifer dies immer wieder übersehen.75 Welche „Soziologen“ Weber meinte, konnte nicht nachgewiesen werden. . Wundt freilich stellt dem Kristall und dem organischen [260]Gebilde eine „Vorstellung“ als etwas gegenüber, was „niemals bloß die Summe der Empfindungen, in die sie sich zerlegen läßt“,68[260] Wundt, Logik II,2, S. 272. darstelle, und bezeichnet weiter die „intellektuellen Vorgänge“, also z. B. ein Urteil oder einen Schluß, als Gebilde, die sich niemals „als bloße Aggregate einzelner Empfindungen und Vorstellungen begreifen“ lassen: denn, so fügt er hinzu, „was diesen Vorgängen erst die Bedeutung gibt, das entsteht“ (in streng kausaler Determination, dürfen wir auch hier unzweifelhaft Wundts Ansicht interpretieren) „… aus den Bestandteilen, ohne daß es doch in ihnen enthalten ist“.69 Ebd. Sicherlich: aber ist dies etwa bei der Bildung jener „Naturprodukte“ anders? War etwa die „Bedeutung“, welche der Diamant oder der Getreidehalm für gewisse menschliche „Wertgefühle“ besitzt, in den physikalisch-chemischen Bedingungen ihrer Entstehung in höherem Grade oder in [A 101]anderem Sinne „vorgebildet“,70 Ebd., S. 270. als dies – bei strenger Durchführung der Kategorie der Kausalität auf psychischem Gebiet – bei den „Elementen“ der Fall ist, aus denen sich Vorstellungen und Urteile bilden? Oder – um „historische“ Vorgänge heranzuziehen – war die Bedeutung des schwarzen Todes71 Gemeint ist die Pest-Epidemie, die im 14. Jahrhundert Europa heimsuchte. Vgl. unten, S. 296 f. mit Anm. 83 und 84. für die Sozialgeschichte, oder die Bedeutung des Einbruchs des Dollart72 Eine Meeresbucht westlich der Mündung der Ems gegenüber der Stadt Emden, die vermutlich 1277/87 entstand, als sich das Land senkte und vom Meer überflutet wurde. für die Geschichte der Kolonisationsbewegung usw. usw. „vorgebildet“ in den Bakterien und den anderen Ursachen der Infektion, welche jenes, oder in den geologischen und meteorologischen Ursachen, welche dieses Ereignis bedingten? Es steht mit beiden absolut nicht anders als mit dem Einbruch Gustav Adolfs in Deutschland73 König Gustav Adolf von Schweden unterstützte 1630 mit seinem Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg die Protestanten in Deutschland gegen die kaiserlichen Truppen Wallensteins. oder dem Einbruch Dschingis[261]chans in Europa.76[261] Möglicherweise ist der Einmarsch der Mongolen in die Ukraine 1223 gemeint. Die Eroberungen in Europa, die heute als Mongolensturm bezeichnet werden, begannen erst um 1237, d. h. nach Dschingis Khans Tod. Zu den Mongolen vgl. Schurtz, Heinrich, Hochasien und Sibirien, in: Helmolt, Hans F. (Hg.), Weltgeschichte, Band 2: Ostasien und Ozeanien. Der indische Ozean. – Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1902, S. 117–222, hier S. 165 ff. Historisch bedeutsame – d. h. für uns an „Kulturwerten“ verankerte – Folgenj[261]A: Folge haben alle jene Vorgänge hinterlassen. Kausal determiniert waren sie, – wenn man, wie Wundt, mit der Universalherrschaft des Kausalprinzips77 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 52 mit Anm. 59. Ernst machen will, ‒ ebenfalls alle. Alle bewirkten „psychisches“ ebenso wie „physisches“ Geschehen. Daß wir ihnen aber historische „Bedeutung“ beilegen, war bei keinem von ihnen aus der Art ihrer kausalen Bedingtheit abzulesen. Insbesondere folgte dies ganz und gar nicht daraus, daß „psychisches Geschehen“ in ihnen enthalten ist. In allen diesen Fällen ist vielmehr der Sinn, den wir den Erscheinungen beilegen, d. h. die Beziehung auf „Werte“, die wir vollziehen, dasjenige, was der „Ableitung“ aus den „Elementen“ als prinzipiell heterogenes und disparates Moment die Pfade kreuzt.78 Vgl. Wundt, Logik II,2, S. 269. Diese „unsere“ Beziehung „psychischer“ Hergänge auf Werte, – gleichviel ob sie als undifferenziertes „Wertgefühl“ oder als rationales „Werturteil“ auftritt, – vollzieht eben die „schöpferische Synthese“. Bei Wundt ist erstaunlicherweise die Sache gerade umgekehrt gedacht: das in der Eigenart der psychischen Kausalität „objektiv“ begründete Prinzip der „schöpferischen Synthese“ findet nach ihm seinen „charakteristischen Ausdruck“ in Wertbestimmungen und Werturteilen.79 Vgl. ebd., S. 273. Würde damit nur gemeint sein, daß es ein berechtigtes Ziel psychologischer Forschung sei, z. B. die psychischen oder psychophysischen „Bedingungen“ des Entstehens von Wertgefühlen und -urteilenkA: -Urteilen aufzusuchen und den Versuch zu machen, psychische oder psychophysische „Elementar“vorgänge als kausale Komponenten derselben zu erweisen, so wäre dagegen nichts zu erinnern. Man braucht aber nur wenige Seiten weiter zu lesen, um sich zu überzeugen, welches in Wahrheit die Konsequenzen von Wundts angeblich „psychologischer“ Betrachtungsweise sein sollen: „Im [262]Laufe jeder individuellen wie generellen Entwickelung“ – also [A 102]natürlich doch in derjenigen des geborenen Trunkenbolds oder Lustmörders ebenso wie in derjenigen des religiösen Genius – werden, nach Wundt, geistige (d. h. nach Wundts Interpretation logische, ethische, ästhetische) Werte erzeugt, „die ursprünglich in der ihnen zukommenden spezifischen Qualität überhaupt nicht vorhanden waren“,80[262] Ebd., S. 274. weil – nach Wundt – innerhalb der Lebenserscheinungen zu dem Prinzip der Erhaltung der physischen Energie das Gesetz des „Wachstums der psychischen Energie“ (d. h. der aktuellen und potentiellen Werte) tritt.81 Dieses Gesetz besagt, daß sich die schöpferischen Synthesen des individuellen Seelenlebens und der darüber hinausreichenden geistigen Zusammenhänge zu progressiven Entwicklungsreihen verketten. Es steht mit dem Prinzip der Heterogonie der Zwecke in enger Beziehung. Vgl. ebd., S. 277; Wundt, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 116. Vgl. oben, S. 254 mit Anm. 50. Diese generelle „Tendenz“ zur Bildung „wachsender Wertgrößen“ kann durch „Störungen“ zwar „teilweise oder ganz vereitelt“ werden, aber selbst „eine der wichtigsten dieser Unterbrechungen psychischer Entwickelung: das Aufhören der individuellen geistigen Wirksamkeit“ – gemeint ist offenbar diejenige Erscheinung, die man gewöhnlich einfacher als „Tod“ bezeichnet – „pflegt“, wie nach Wundt „immerhin zu beachten“ ist, „durch das Wachstum der geistigen Energie innerhalb der Gemeinschaft, welcher der Einzelne angehört, . . . mehr als kompensiert“ zu werden:82 Wundt, Logik II,2, S. 277. Das Entsprechende gelte im Verhältnis der einzelnen Nation zur menschlichen Gemeinschaft. Eine empirisch sein wollende Disziplin müßte dies nun aber auch in einer wenn auch noch so entfernten Annäherung an „Exaktheit“ nachzuweisen imstande sein. Und da doch offenbar nicht nur der Professor, sondern auch der Staatsmann und überhaupt jeder Einzelne eine „psychische Entwickelung“ erlebt, so entsteht die Frage: für wen denn nun dieses tröstliche Verhältnis des „Kompensiertwerdens“ gelten soll? – d. h. ob der Tod Cäsars oder irgendeines braven Straßenfegers als „psychologisch“ kompensiert zu gelten hat – 1. dem Verstorbenen oder Sterbenden selbst, oder 2. seiner hinterbliebenen Familie, oder 3. demjenigen, für welchen sein Tod eine „Stelle“ oder eine Gelegenheit zum „Wirken“ frei machte, oder 4. der Steuerkasse, 5. der Aushebungsbehörde, oder 6. bestimm[263]ten politischen Parteirichtungen usw., oder etwa 7. Gottes providentieller Weltleitung, – oder endlich: dem psychologistischen Metaphysiker. Nur diese letztere Annahme erscheint zulässig. Denn wie man sieht, handelt es sich hier nicht um Psychologie, sondern um eine im Gewande „objektiver“ psychologischer Betrachtung auftretende geschichtsphilosophische Konstruktion des a priori postulierten „Fortschritts“ der Menschheit. Weiterhin wird denn auch aus der „schöpferischen Synthese“ das „Gesetz der historischen Resultanten“83[263] Nach Wundt, ebd., S. 408, besagt dieses Gesetz, „jeder einzelne […] Inhalt der Geschichte [sei] die resultirende Wirkung aus einer Mehrheit geschichtlicher Bedingungen, mit denen er derart zusammenhängt, dass in ihm die qualitative Natur jeder einzelnen Bedingung nachwirkt, während er doch zugleich einen neuen und einheitlichen Charakter besitzt, der zwar durch die historische Analyse aus der Verbindung jener geschichtlichen Factoren abgeleitet, niemals aber aus ihnen durch eine a priori ausgeführte Synthese construirt werden kann“. abgeleitet, welches mit dem Gesetz der historischen „Relationen“84 Vgl. ebd., S. 410: Dieses Gesetz besagt, „dass jeder geschichtliche Inhalt, der den Charakter eines zusammengesetzten, aber vermöge irgend welcher geistiger Beziehungen einheitlichen Ganzen hat, nur aus Factoren von verwandtem geistigem Charakter besteht“; so gibt es z. B. zwischen der Kunst und der Wissenschaft eines Zeitalters „durchgängige Beziehungen“. und demjenigen der historischen „Kontraste“85 Vgl. ebd., S. 414: Dieses Gesetz besagt, daß die kausale Wirksamkeit eines Vorgangs nicht nur „Gleichartiges“, sondern auch „entgegengesetzte“ Wirkungen erzeugt; seine Bedeutung liegt darin, „dass es alle die geschichtlichen Veränderungen beherrscht, die nicht in der Weiterentwicklung und fortschreitenden Differenzirung in gegebener Richtung sondern in der Erzeugung qualitativ neuer Erscheinungen bestehen“. [A 103]die psychologistische Dreieinigkeit der historischen Kategorien bildet. Und sie muß weiterhin auch dazu dienen, Entstehung und „Wesen“ der „Gesellschaft“ und der Totalitäten überhaupt in einer vermeintlich „psychologisch“ begründeten Weise zu interpretieren.86 Ebd., S. 598, 617. Und endlich soll sie verständlich machen, warum wir Kulturerscheinungen (angeblich) ausschließlich in Form des kausalen Regressus (von der Wirkung zur Ursache) zu erklären imstande sind, – als ob nicht genau das gleiche bei jedem mit den Mitteln der Physik zu interpretierenden konkreten „Naturvorgang“ der Fall wird, sobald es auf die individuellen Komplikationen und die Einzelheiten seiner Konsequenzen für die konkrete Wirklichkeit aus irgendwelchen Gründen einmal ankommt. Doch davon später. Hier sollten zunächst nur die elementarsten Charakterzüge [264]der Theorie konstatiert werden. – Die außerordentliche, dankbare Hochachtung, welche der umfassenden Gedankenarbeit dieses hervorragenden Gelehrten geschuldet wird, darf nicht hindern, für diese speziellen Probleme zu konstatieren, daß eine solche Art von angeblicher „Psychologie“ für die wissenschaftliche Unbefangenheit des Historikers geradezu Gift ist, weil sie ihn dazu verleitet, die geschichtsphilosophisch gewonnenen Werte, auf welche er die Geschichte bezieht, sich selbst durch Verwendung angeblicher psychologischer Kategorien zu verhüllen und so sich und andern einen falschen Schein von Exaktheit vorzutäuschen, – wofür Lamprechts Arbeiten ein abschreckendes Beispiel geliefert haben.87[264] Vgl. oben, S. 257 mit Anm. 60.

Verfolgen wir, der außerordentlichen Bedeutung wegen, welche Wundts Ansichten auf dem Gebiet psychologischen Arbeitens zukommt, das Verhältnis von kausal erklärender Psychologie zu den „Normen“ und „Werten“ noch etwas weiter. Es sei vor allem betont, daß die Ablehnung jener angeblichen psychologischen „Gesetze“ Wundts und die Hervorhebung des Werturteils-Charakters gewisser angeblich „psychologischer“ Begriffe nicht etwa dem Streben nach Beeinträchtigung der Bedeutung und des Arbeitsgebietes der Psychologie und der ihr aggregierten „psychophysischen“ Disziplinen, oder gar dem Wunsch, „Lücken“ in der Geltung des Kausalprinzips für die empirischen Wissenschaften aufzuweisen, entspringenl[264]A: entspringt. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Psychologie wird als empirische Disziplin erst durch Ausschaltung von Werturteilen – wie sie in Wundts „Gesetzen“ stecken – möglich. Die Psychologie mag hoffen, irgendwann einmal jene Konstellationen psychischer „Elemente“ festzustellen, welche kausal eindeutige Bedingungen dafür sind, daß bei uns das „Gefühl“ entsteht, ein „objektiv“ gültiges „Urteil“ bestimmten In[A 104]halts zu „fällen“ oder „gefällt“ zu haben. Die Hirnanatomie irgendeiner Zukunft mag die für diesen Tatbestand unentbehrlichen und ihn eindeutig bedingenden physischen Vorgänge ermitteln wollen. Ob dies sachlich möglich ist, fragen wir hier nicht, jedenfalls enthält die Annahme einer solchen Aufgabe keine logisch widersinnige Voraussetzung und, was die sachliche Seite anlangt, so zeigt z. B. der Begriff der „poten[265]tiellen Energie“,88[265] Mit diesem 1853 von Rankine geprägten Begriff wird die Fähigkeit eines Körpers bezeichnet, aufgrund seiner relativ zu einem niedereren Referenzpunkt höheren Lage Arbeit zu verrichten (Energie der Lage). Vgl. Rankine, William John Macquorn, On the General Law of the Transformation of Energy, in: ders., Miscellaneous Scientific Papers. From the Transactions and Proceedings of the Royal and other Scientific and Philosophical Societies, and the Scientific Journals. – London: Charles Griffin 1881, S. 203–209, bes. S. 203. Vgl. auch ders., On the Phrase „Potential Energy“, and on the Definitions of Physical Quantities, in: ebd., S. 229–233. auf dessen Einführung das Energiegesetz ruht,89 Mayer, Kräfte (wie oben, S. 2, Anm. 11), S. 235, hatte 1842 von „Fallkraft“ gesprochen, was man später mit dem Begriff der potentiellen Energie identifizierte. Vgl. Riehl, Alois, Robert Mayers Entdeckung und Beweis des Energieprincipes, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. 159-184 (hinfort: Riehl, Mayers Entdeckung), hier S. 177: „Ohne die Trennung von Fallkraft, oder, wie wir heute sagen: potentieller Energie, und Bewegung war der Grundgedanke Mayers nicht durchführbar“. ganz ebenso „unbegreifliche“ (hier: unanschauliche) Bestandteile wie irgendwelche noch so verwickelten hirnanatomischen Voraussetzungen der Psychophysik zum Zweck der Erklärung des „explosions“artigen Verlaufs gewisser „Auslösungs“vorgänge.90 Vgl. Mayer, Auslösung (wie oben, S. 19, Anm. 31). Mayer hat auf Erscheinungen hingewiesen, die „keine Ausnahme von dem Satze ,causa aequat effectum‘ begründen“, aber „die Ausdrücke ,Ursache und Wirkung‘ in total anderem Sinne“ gebrauchen lassen. Bei solchen „Auslösungen“ wie z. B. einem „Funken“, der „Knallgas“ zur Explosion bringt, handelt es sich um Erscheinungen, wo „die Ursache der Wirkung nicht nur nicht gleich oder proportional ist, sondern wo überhaupt zwischen Ursache und Wirkung gar keine quantitative Beziehung besteht, vielmehr in der Regel die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Grösse zu nennen ist“ (ebd., S. 9 f.). Solche Erscheinungen „entziehen sich jeder Berechnung, denn Qualitäten lassen sich nicht, wie Quantitäten, numerisch bestimmen“ (ebd., S. 11). Auslösungen gibt es auch in der „lebenden Welt“, in der „Physiologie“ und „Psychologie“, aber auch in der Geschichte, wie „Attentate“ zeigen (ebd., S. 11, 16). Daran anknüpfend Rickert, Grenzen, S. 422; vgl. dazu oben, S. 257, Anm. 59. Die Voraussetzung der Möglichkeit solcher Feststellungen ist, als ideales Ziel der psychophysischen Forschung gedacht, trotz der höchsten Wahrscheinlichkeit seiner Unerreichbarkeit, jedenfalls als Problemstellung positiv sinnvoll und fruchtbar. Es mag ferner ‒ um noch eine andere Seite heranzuziehen – die Biologie die „psychische“ Entfaltung unserer logischen Kategorien, die bewußte Verwendung des Kausalprinzips z. B., etwa als Produkt der „Anpassung“91 Vgl. Darwin, Entstehung (wie oben, S. 163, Anm. 64), S. 216: „Es ist allgemein anerkannt, dass alle organischen Wesen nach zwei grossen Gesetzen gebildet worden sind: Einheit des Typus und Anpassung an die Existenz-Bedingungen.“ „verstehen“: man hat bekanntlich die „Schranken“ unserer [266]Erkenntnis prinzipiell daraus abzuleiten versucht, daß „das Bewußtsein“ eben nur als Mittel der Erhaltung der Gattung entstanden sei und daher – weil die Erkenntnis „nur“ um des Erkennens selbst willen ja Produkt des „Spieltriebs“ sei – seine Sphäre nicht über das durch jene Funktion bedingte Maß ausdehnbar sei.92[266] Vgl. Nietzsche, Wissenschaft (wie oben, S. 96, Anm. 51), S. 294: „Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ,Wahrheit‘: wir ,wissen‘ […] gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag“. Vgl. ebd., S. 151 zum Zusammenhang von Erkenntnis und Spieltrieb: Die „feinere Redlicheit und Skepsis“ sind immer dort entstanden, wo „über den höheren oder geringeren Grade des Nutzens für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber auch nicht schädlich zeigten, als Äusserungen eines intellectuellen Spieltriebes“. Und man mag diese freilich dem Wesen nach „teleologische“ Interpretation weiterhin durch eine mehr kausale zu ersetzen suchen, indem etwa die allmähliche Entstehung des Wissens von der Bedeutung jener Kategorie als Ergebnis ungezählter spezifischer „Reaktionen“ auf gewisse, irgendwie näher zu bestimmende „Reize“ im Laufe einer langen phylogenetischen Entwicklung – für die jam[266]A: je die nötigen Jahrmillionen gratis zur Verfügung stehen ‒ interpretiert wird. Man mag ferner über die Verwendung so summarischer und stumpfer Kategorien, wie „Anpassung“, „Auslösung“ u. dgl. in ihrer generellen Fassung hinausgehen und die speziellen „Auslösungsvorgänge“, welche die moderne Wissenschaft entbunden haben, auch streng historisch in gewissen – im weitesten Sinne des Wortes – „praktischen“ Problemen zu finden suchen, vor welche konkrete Konstellationen der gesellschaftlichen Verhältnisse das Denken stellten, und weiterhin aufzeigen, wie die Verwendung bestimmter Formen des „Auffassens“ der Wirklichkeit, zugleich praktische Optimalitäten der Befriedigung gewisser jeweils [A 105]ausschlaggebender Interessen bestimmter sozialer Schichten darstellten, – und man mag so in einem freilich stark veränderten Sinne mit dem Satz des historischen „Materialismus“, daß der ideelle „Überbau“ Funktion des gesellschaftlichen Gesamtzustandes sei,93 Vgl. Marx, Karl und Engels, Friedrich, Zur Kritik der politischen Ökonomie, hg. von Karl Kautsky. – Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachf. 1897, S. XI: Auf der materialen Basis der ökonomischen Struktur der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bildet sich ein bestimmten gesellschaftlichen Bewußtseinsformen entsprechender „juristischer und politischer Überbau“ geistiger Lebensprozesse. auch auf dem Gebiet des Denkens Ernst machen: der [267]Satz, daß letztlich als „wahr“ uns zu gelten pflege, was uns „nützlich“ sei, würde so gewissermaßen historisch erhärtet werden. Jene Aufstellungen mögen sachlich sehr skeptisch zu beurteilen sein, ‒ einen logischen Widersinn schließt dieser Satz jedenfalls erst da ein, wo „Erkenntniswert“ und „praktischer Wert“ konfundiert werden und die Kategorie der „Norm“ fehlt, wo also behauptet wird: daß das Nützliche, weil nützlich, auch wahr sei,94[267] Möglicherweise bezieht sich Weber auf Simmel, für den wahr ist, was allen nützlich ist. Vgl. Simmel, Georg, Über eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie, in: Archiv für systematische Philosophie, Band 1, 1895, S. 34–45, hier S. 45. daß jene „praktische Bedeutung“ oder jene „Auslösungs-“ und Anpassungsvorgänge die Sätze der Mathematik – nicht etwa nur zu einer faktisch erkannten, sondern – zu einer normative Geltung besitzenden Wahrheit erst gemacht haben. Das wäre freilich „Unsinn“, – im übrigen finden alle jene Überlegungen ihre prinzipielle erkenntnistheoretische Schranke nur in dem ihrem Erkenntniszweck immanenten Sinn und die Schranken ihrer sachlichen Verwertbarkeit lediglich an der Grenze ihrer Fähigkeit, die empirisch gegebenen Tatsachen widerspruchslos derart zu „erklären“, daß die Erklärung sich „in aller Erfahrung bewährt“. Was nun aber bei idealster Lösung aller solcher Zukunftsaufgaben einer physiologischen, psychologischen, biogenetischen, soziologischen und historischen „Erklärung“ des Phänomens des Denkens und bestimmter „Standpunkte“ desselben natürlich gänzlich unberührt bleiben würde, das ist eben die Frage nach der Geltung der Ergebnisse unserer „Denkprozesse“, ihrem „Erkenntniswert“. Welche anatomische Vorgänge der Erkenntnis von der „Geltung“ des kleinen Einmaleins korrespondieren, und wie diese anatomischen Konstellationen phylogenetisch sich entwickelt haben, dies könnten, käme es nur auf die logische Möglichkeit an, irgendwelche „exakten“ Zukunftsforschungen zu ermitteln hoffen. Nur die Frage der „Richtigkeit“ des Urteils: 2 x 2 = 4 ist dem Mikroskop ebenso wie jeder biologischen, psychologischen und historischen Betrachtung aus logischen Gründen für ewig entzogen. Denn die Behauptung, daß das Einmaleins „gelte“, ist für jede empirische psychologische Beobachtung und kausale Analyse einfach transzendent und als Objekt der Prüfung sinnlos, sie gehört zu den für sie gar nicht nachprüfbaren logischen Voraussetzungen ihrer eigenen psychometrischen Beobachtun[268]gen.95[268] Psychometrie ist die methodische Messung psychischer Prozesse. Einer ihrer Wegbereiter war der Wundt-Schüler McKeen Cattell. Vgl. McKeen Cattell, James, Psychometrische Untersuchungen, 3 Bände. – Leipzig: W. Engelmann 1886–1888. Der Umstand, daß die Florentiner Bankiers des Mittelalters, infolge Unkenntnis des [A 106]arabischen Zahlensystems, sich selbst bei ihren Erbteilungen ganz regelmäßig – wie wir vom „normativen“ Standpunkt aus sagenn[268]A: sagen, – „verrechneten“ und wirklich „richtige“ Rechnungen bei größeren Posten in manchen Buchungen der damaligen Zeit beinahe die Ausnahme bilden,96 Vgl. Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, MWG I/1, S. 109–340, hier S. 308 ff. – dieser Umstand ist kausal genau so determiniert wie der andere: daß die „Richtigkeit“ heute die Regel bildet, und wir solche Vorkommnisse bei heutigen Bankiers höchst übel zu „deuten“ geneigt sein würden. Wir werden zur Erklärung jenes Zustandes in den Büchern etwa der Peruzzi97 Vgl. ebd., S. 302, über „Auszüge aus den Büchern der beiden großen […] Bankiersfamilien der Alberti und Peruzzi“. alles mögliche, – nur das Eine jedenfalls nicht geltend machen können, daß das kleine Einmaleins zu ihrer Zeit noch nicht „richtig“ gewesen sei, ebensowenig wie seine „Richtigkeit“ heute etwa erschüttert werden würde, falls eine Statistik über die Anzahl der Fälle, in denen im Laufe eines Jahres tatsächlich „unrichtig“ gerechnet worden ist, ein „ungünstiges“ Resultat ergeben sollte, – denn „ungünstig“ wäre es eben nicht für die Beurteilung des Einmaleins auf seine Geltung hin, sondern für eine vom Standpunkt und unter Voraussetzung dieser Geltung aus vorgenommene Kritik unserer Fähigkeiten im „normgemäßen“ Kopfrechnen. – Würde nun – um bei dem Beispiel der intellektuellen Entwickelung zu bleiben – eine an Wundts Begriffen orientierte Betrachtungsweise auf alle diese etwas sehr simplen und natürlich von Wundt selbst am allerwenigsten bestrittenen, nur eben sachlich von ihm nicht festgehaltenen Bemerkungen antworten, daß das Prinzip der „schöpferischen Synthese“ oder der „steigenden psychischen Energie“ ja, unter anderm, gerade dies bedeute, daß wir im Laufe der „Kulturentwickelung“ zunehmend „befähigt“ werden, solche zeitlos gültigen „Normen“ intellektuell zu erfassen und „anzuerkennen“, dann wäre damit lediglich konstatiert, daß diese angeblich empirisch-„psychologische“ Betrachtung eben keine im [269]Sinne der Abwesenheit von Wertungen „voraussetzungslose“98[269] Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 100 mit Anm. 67. empirische Analyse, sondern eine Beurteilung der „Kulturentwickelung“ unter dem Gesichtspunkt eines bereits als geltend vorausgesetzten „Werts“: des Werts „richtiger“ Erkenntnis, darstellt. Denn jenes angebliche „Gesetz“ der „Entwickelung“ würde dann eben nur da als vorhanden anerkannt, wo sich eine Veränderung in der Richtung auf die Anerkennung jener „Normen“ hin bewegte17)[269][A 106] Dies würde von psychologistischen Entwickelungstheoretikern wohl in die Form etwa der These gekleidet werden: „wo Entwickelung“ ist, da ist sie eine [A 107]solche in der Richtung auf jene „Werte“. In Wahrheit ist der Sachverhalt der, daß wir nur dann eine Veränderung als „Kulturentwickelung“ bezeichnen, wenn sie Beziehungen zu Werten [270]aufweist, vom Standpunkt der in Werten orientierten Betrachtung aus „relevant“ ist, d. h. entweder selbst „Wertwandel“ ist oder dazu in kausalem Verhältnis steht.4 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 473. . Dieser Wert – an welchem der Sinn unseres ge[A 107]samten wissenschaftlichen Erkennens verankert ist – versteht sich aber doch nicht etwa „empirisch“ von selbst. Während, wenn wir z. B. den Zweck wissenschaftlicher Analyse der empirisch gegebenen Wirklichkeit als wertvoll – es sei aus welchen Motiven immer – anerkennen wollen, bei der wissenschaftlichen Arbeit selbst die „Normen“ unseres Denkens sich ihre Beachtung (so weit sie uns bewußt bleiben und so lange zugleich jener Zweck festgehalten wird) erzwingen, – ist der „Wert“ jenes Zweckes selbst etwas aus der Wissenschaft als solcher ganz und gar nicht begründbares. Ihr Betrieb mag in den Dienst klinischer, technischer, ökonomischer, politischer oder anderer „praktischer“ Interessen gestellt sein: dann setzt, für die Wertbeurteilung, ihr Wert denjenigen jener Interessen voraus, welchen sie dient, und dieser ist dann ein „a priori“. Gänzlich problematisch aber wird dann, rein empirisch behauptet, der „Wert“ der „reinen Wissenschaft“. Denn, empirisch-psychologisch betrachtet, ist der Wert der „um ihrer selbst willen“ betriebenen Wissenschaft ja nicht nur praktisch, von gewissen religiösen Standpunkten und etwa demjenigen der „Staatsraison“ aus, sondern auch prinzipiell unter Zugrundelegung radikaler Bejahung rein „vitalistischer“99 Zum Vitalismus vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 180 mit Anm. 22. Werte oder umgekehrt radikaler Lebensverneinung1 Als Apologet radikaler Lebensverneinung galt Arthur Schopenhauer, wie Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Vorträgen ausführen sollte. Vgl. Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. – Leipzig: Duncker & Humblot 1907, S. 195; Handexemplar Max Webers in der Diözesanbibliothek Aachen. tatsächlich bestritten worden, und ein logischer Widersinn liegt in [270]dieser Bestreitung ganz und gar nicht oder nur dann, wenn etwa verkannt würde, daß damit eben lediglich andere Werte als dem Wert der wissenschaftlichen Wahrheit übergeordnet angesprochen werden. ‒

Es würde nun zu weit führen, nach diesen umständlichen Darlegungen von „Selbstverständlichkeiten“ hier auch noch zu erörtern, daß für andere Werte genau das gleiche gilt, wie für den Wert des Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Es gibt schlechterdings keine Brücke, welche von der wirklich nur „empirischen“ Analyse der gegebenen Wirklichkeit mit den Mitteln kausaler Erklärung zur Feststellung oder Bestreitung der „Gültigkeit“ irgend eines Werturteils führt, und die Wundtschen Begriffe der „schöpferischen Synthese“, des „Gesetzes“ der stetigen „Steigerung der psychischen Energien“2[270] Vgl. dazu oben, S. 262 mit Anm. 81. usw. enthalten Werturteile vom reinsten Wasser. Ver[A 108]deutlichen wir uns nur kurz noch die Denkmotive, welche zu diesen Aufstellungen geführt haben. Sie sind ganz offenbar darin zu finden, daß wir eben die Entwickelung derjenigen Völker, die wir „Kulturvölker“3 In Wundtscher Tradition vgl. Vierkandt, Alfred, Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1896. Vgl. dazu Rickert, Grenzen, S. 620 f. Für Rickert sind „Kulturvölker“ alle Völker, „welche mit Rücksicht auf uns bekannte Werthe von normativ allgemeiner Geltung wesentliche Veränderungen zeigen“ (ebd., S. 587). nennen, als Wertsteigerung beurteilen, und daß dies Werturteil, welches den Ablauf qualitativer Veränderungen, den wir an ihnen feststellen, als eine Kette von Wertungleichungen aufgefaßt werden läßt, eben dadurch unser „historisches Interesse“ in spezifischer Art auf sie hinlenkt, ‒ bestimmter ausgedrückt: dafür konstitutiv wird, daß diese Entwickelungen für uns „Geschichte“ werden. Und jene durch unsere Wertbeurteilung hergestellten Wertungleichungen, die Erscheinungen des historischen Wert- und Bedeutungswandels, der Umstand, daß jene Bestandteile des zeitlichen Ablaufes des Geschehens, welche wir als „Kulturentwickelung“ bewerten und so aus der Sinnlosigkeit der endlosen Flucht unendlicher Mannigfaltigkeiten herausheben, eben für unser Werturteil in gewissen wichtigen [271]Hinsichten, – so namentlich am Maßstabe des Umfanges der „Erkenntnis“ gemessen – „Fortschritte“ zeigen: – dies alles erzeugt nun den metaphysischen Glauben, als ob, auch bei Abstraktion von unserer wertenden Stellungnahme, aus dem Reiche der zeitlosen Werte5[271] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 232 mit Anm. 80. in das Reich des historischen Geschehens durch Vermittelung, sei es der genialen „Persönlichkeit“, sei es der „sozialpsychischen Entwickelung“, ein Jungbrunnen hinübersprudle, welcher den „Fortschritt“ der Menschheitskultur in die zeitlich unbegrenzte Zukunft hinein „objektiv“ stets von neuem erzeuge.

Diesem „Fortschritts“-Glauben stellt sich Wundts „Psychologie“ als Apologet zur Verfügung. Und den gleichen, – vom Standpunkt einer empirischen Psychologie aus gesprochen: – metaphysischen Glauben teilte offenbar auch Knies. Und sicherlich hatte er sich dieses Glaubens zu schämen keinen Anlaß, nachdem ihm ein Größerer eine in ihrer Art klassische Form gegeben hatte. Kants „Kausalität durch Freiheit“6 Im Rahmen der dritten Antinomie der reinen Vernunft verknüpft Kant das Problem der Kausalität mit dem moralphilosophischen Problem der Freiheit. Er stellt die These auf, es gebe neben der „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ noch eine „Kausalität durch Freiheit“, eine „absolute Spontaneität der Ursachen“, ohne die Kausalreihen niemals vollständig sein können, da ansonsten jede Ursache immer auch eine Wirkung sein müsse, die wiederum selbst auf eine Ursache zurückgehe. Vgl. Kant, Kritik, S. 392–399 (B 472–B 479), Zitate: S. 392 (dort im Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München, mit doppeltem Randstrich versehen) und S. 394. ist, zusammen mit den mannigfachen Verzweigungen, welche in der weiteren Entwickelung des philosophischen Denkens aus diesem Begriff hervorgewachsen waren, der philosophische Archetypos7 Archetypos oder Archetypus meint ein Original, Ur- oder Vorbild, das als Muster für Nachbildungen dient. Rickert, Grenzen, S. 676, spricht mit Bezug auf Kants Erkenntnistheorie von einem „intellectus archetypus“. aller metaphysischen „Kultur-“ und „Persönlichkeits“-Theorien dieser Art. Denn jenes Hineinragen des intelligiblen Charakters in die empirische Kausalverkettung vermittelst der ethisch normgemäßen Handlungen läßt sich ja mit der größten Leichtigkeit zu der Anschauung verschieben und verbreitern, daß entweder alles Normgemäße in ähnlicher Art aus der Welt der „Dinge an sich“ in die empirische Wirklichkeit hineinverwebt sein müsse oder daß, noch weiter, aller Wertwandel in [A 109]der Wirklichkeit durch „schöpferische“ Kräfte hervorgebracht werde, welche einer spezifisch anderen Kausalität unterliegen als andere, [272]für unser „Werturteil“ indifferente qualitative Veränderungsreihen. In dieser letzteren Form taucht jene Gedankenreihe, freilich arg degeneriert gegenüber dem – trotz aller Widersprüche, in die er bei jeder näheren Erwägung führt – grandiosen und vor allem in seinem logischen Wesen rückhaltlos unverhüllten Charakter des Kantschen Gedankens, in dem Wundtschen Begriff der „schöpferischen Synthese“ und des Gesetzes der „steigenden psychischen Energie“ auf. ‒

Ob und welcher Sinn solchen Aufstellungen etwa auf dem Gebiet metaphysischer Betrachtungen zukommen könnte, bleibt hier ganz dahingestellt, und ebenso sind die sachlichen Schwierigkeiten der „Kausalität durch Freiheit“ und aller ihr verwandten Konstruktionen, welche wohl gerade auf dem metaphysischeno[272]A: metaphysischem Gebiet beginnen dürften, hier nicht zu besprechen18)[272][A 109] S[iehe] darüber z. B. die Ausführungen Windelbands, Über WillensfreiheitpA: Willensfreiheit“, S. 161 ff. . Jedenfalls ist der „Psychologismus“, d. h. hier: die Prätension der Psychologie, „Weltanschauung“ zu sein oder zu schaffen, ganz ebenso sinnlos und für die Unbefangenheit der empirischen Wissenschaft ganz ebenso gefährlich wie der „Naturalismus“ auf Grundlage sei es der Mechanik, sei es der Biologie auf der einen, der „Historismus“ auf Grundlage der „Kulturgeschichte“ auf der anderen Seite19) Die Erscheinung, daß wirkliche oder angebliche Forschungsmethoden und -ergebnisseqA: -Ergebnisse empirischer Disziplinen zum Aufbau von „Weltanschauungen“ benützt werden, ist ja nachgerade ein trivial gewordener Vorgang. In klassischer Reinheit ist er wieder an den einigermaßen „fürchterlichen“ Ergebnissen zu beobachten, welche gewisse Äußerungen Machs (S. 18 Anm. 12 der „Analyse der Empfindungen“)8[272] Vgl. Mach, Analyse, S. 18, Anm. 12. im letzten Kapitel von L[udo] M[oritz] Hartmanns Buch über die „historische Entwickelung“ gezeitigt haben.9 Hartmanns Buch ist Mach gewidmet. Nicht alle Bezüge auf Mach werden expliziert. Hartmann, Entwickelung, S. 84 ff., weist auf das „Unwissenschaftliche“ an solchen „üblichen Wertmaßstäben“ hin, führt aber dann selbst mit seinem „Satz von der fortschreitenden Vergesellschaftung“ einen „ethischen“ Maßstab ein, um den Wert von Handlungen zu beurteilen. Durch eine Reformulierung von Kants kategorischem Imperativ in der Frage „Was hat er getan?“ soll jede einzelne Persönlichkeit in der Geschichte danach beurteilt werden, „ob ihre Motive Förderung oder Zersetzung der Vergesellschaftung waren“. Vgl. hierzu auch den Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, MWG II/4, S.491 f. Eine Auseinandersetzung mit der merkwürdigen Verirrung eines mit Recht angesehenen Gelehrten, welche diese Arbeit darstellt, erspare ich mir für einen [273]andern Ort.12 Eine solche Besprechung von Hartmann, Entwickelung, durch Max Weber liegt nicht vor. Die Schrift ist – allerdings wider den Willen des Autors – methodologisch recht lehrreich. (Vergl. über sie die Rezension von F[ranz] Eulenburg, D[eutsche] Lit[eratur]-Zeitung 1905, Nr. 24.)13 Eulenburg, Hartmann. Dazu auch der oben, S. 272 mit Anm. 9, bereits zitierte Brief Max Webers vom 29. Juni 1905. .

[273]Daß mit diesem angeblichen „Prinzip“ des psychischen Geschehens für irgend eine Psychologie absolut nicht das Geringste anzufangen ist, hat bereits Münsterberg20) Grundzüge der Psychologie. Bd. I, Leipzig 1900.14 Münsterberg, Psychologie. Wir kommen alsbald eingehend auf ihn zurück.15 Unten, S. 282 ff. zur Evidenz erwiesen. Das „objektivierte“, d. h. von der Beziehung auf Wertideen gelöste „psychische“ Geschehen kennt eben lediglich den Begriff der quali[A 110]tativen Veränderung, und die objektivierte kausale Beobachtung dieser Veränderung denjenigen der Kausalungleichung. Der Begriff des „Schöpferischen“ kann erst da in Funktion treten, wo wir individuelle Bestandteile jener „an sich“ durchaus indifferenten Veränderungsreihen auf Werte zu beziehen beginnen. Tun wir dies aber, dann kann, wie gesagt,10[273] Oben, S. 258 mit Anm. 64. die Entstehung des Sonnensystems aus irgend einem Urnebel oder, wenn man für die Anwendbarkeit des Begriffs auf die Plötzlichkeit des Ereignisses Gewicht legen will, der Einbruch des Dollart ganz ebenso unter den Begriff des „Schöpferischen“ gebracht werden wie die Entstehung der Sixtinischen Madonna oder das Erdenken von Kants Kritik der reinen Vernunft.11 Vgl. Kant, Kritik. – Aus irgend einem von Werturteilen freien, „objektiven“, Merkmal der Art ihrer kausalen Wirkungsweise kann eine spezifische „schöpferische Bedeutung“ der „Persönlichkeiten“ oder des „menschlichen Handelns“ nicht abgeleitet werden. Dies allein – so selbstverständlich es ist, – sollte hier ausdrücklich festgestellt werden.

In welchem Sinn im übrigen der Historiker den Begriff des „Schöpferischen“ verwendet und mit „subjektivem“ Recht verwenden darf, erörtern wir hier nicht. Vielmehr wenden wir uns wieder mehr dem Ausgangspunkt dieser Erörterungen – der Ansicht von Knies – durch einige Bemerkungen zu, betreffend den Glau[274]ben an die spezifische Irrationalität des menschlichen Handelns oder der menschlichen „Persönlichkeit“. Wir nehmen hier den Begriff „Irrationalität“ zunächst einfach in dem vulgären Sinn von jener „Unberechenbarkeit“, welche, nach der Meinung von Knies16[274] Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 119. und, noch immer, so vieler Anderen, das Symptom der menschlichen „Willensfreiheit“ sein soll, und auf welche – daß sie es nämlich mit solchen vermöge dieser Unberechenbarkeit spezifisch reputierlichen Wesen zu tun hätten – eine Art von spezifischer Dignität der „Geisteswissenschaften“ zu begründen versucht wird. Nun ist ja zunächst in der „erlebten“ Wirklichkeit von einer spezifischen „Unberechenbarkeit“ menschlichen Tuns ganz und gar nichts zu spüren. Jedes militärische Kommando, jedes Strafgesetz, ja jede Äußerung, die wir im Verkehr mit anderen machen, „rechnet“ auf den Eintritt bestimmter Wirkungen in der „Psyche“ derer, an die sie sich wendet, – nicht auf eine absolute Eindeutigkeit in jeder Hinsicht und bei allen, aber auf eine für die Zwecke, denen das Kommando, das Gesetz, die konkrete Äußerung überhaupt dienen wollen, genügende. Sie tut dies, logisch betrachtet, in ganz und gar keinem anderen Sinn, als „statische“ Berechnungen eines Brückenbaumeisters, agrikulturchemische [A 111]Berechnungen eines Landwirts und physiologische Erwägungen eines Viehzüchters, und diese wieder sind „Berechnungen“ in demselben Sinn, in dem die ökonomischen Erwägungen eines Arbitrageurs17 Ein Arbitrageur ist ein Händler, der die zur gleichen Zeit zwischen verschiedenen Märkten bestehenden Kurs-, Preis- oder Zinsunterschiede nutzt. Ein Terminhändler spekuliert auf die für einen zukünftigen Zeitpunkt erwarteten Unterschiede. und Terminmaklers es auch sind: jede von diesen „Berechnungen“ begnügt sich mit dem für sie erforderlichen und bescheidet sich mit dem für ihre spezifischen Zwecke nach Lage ihres Quellenmaterials in concreto erreichbaren Maß von „Exaktheit“. Ein prinzipieller Unterschied gegen „Naturvorgänge“ besteht nicht. Die „Berechenbarkeit“ von „Naturvorgängen“ in der Sphäre von „Wetterprophezeihungen“ etwa ist nicht entfernt so „sicher“ wie die „Berechnung“ des Handelns einer uns bekannten Person, ja, sie ist einer Erhebung zur gleichen Sicherheit auch bei noch so großer Vervollkommnung unseres nomologischen Wissens18 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 186 mit Anm. 41. gar nicht fähig. So steht es aber [275]überall, wo nicht bestimmte, abstrahierte Relationen, sondern die volle Individualität eines künftigen „Naturvorgangs“ in Frage steht21)[275][A 111] Daher sollte die Frage der „Vorausberechenbarkeit“ überhaupt nicht in der Art in den Mittelpunkt der Methodologie gerückt werden, wie es bei Bernheim, Hist[orische] Methode,sA: Methodol. 3. Aufl. S. 9721 Gemeint ist: Bernheim, Lehrbuch, S. 97. geschieht.. Schon die allertrivialsten Erwägungen zeigen aber ferner, daß auch auf dem Gebiet des kausalen Regressus die Dinge in gewissem Sinn gerade umgekehrt liegen als die „Unberechenbarkeitsthese“ annimmt, jedenfalls aber von einem auch bei Abstraktion von unsren Wertgesichtspunkten gültig bleibenden, also in diesem Sinn ,,objektiven“ Plus an jener Art von Irrationalität auf Seiten des menschlichen „Handelns“ schlechterdings nicht die Rede sein kann.

Wenn der Sturm einen Block von einer Felswand herabgeschleudert hatr[275]A: hat,19[275] Weber erläutert hier die von Windelband und Kries im Anschluß an Laplace vertretene Annahme, daß das ontologische Wissen – die Kenntnis der Anfangsbedingungen – für den menschlichen Geist stets unvollständig bleibt. Vgl. Einleitung, oben, S. 7 f., 20; Weber, Kritische Studien, unten, S. 461 mit Anm. 4. Webers Ausführungen auf den nächsten Seiten folgen Windelband und Kries. und er dabei in zahlreiche verstreut hegende Trümmer zersplittert ist, dann ist die Tatsache und, – jedoch schon ziemlich unbestimmt, – die allgemeine Richtung des Falles, die Tatsache und vielleicht, – aber wiederum ziemlich unbestimmt, – der allgemeine Grad des Zersplitterns, günstigenfalls bei vorausgegangener eingehender Beobachtung auch noch die ungefähre Richtung des einen oder anderen Sprunges, aus bekannten mechanischen Gesetzen kausal „erklärbar“ im Sinn des „Nachrechnens“. Aber beispielsweise: in wie viele und wie geformte Splitter der Block zersprang, und wie gruppiert diese verstreut liegen, – für diese und eine volle Unendlichkeit ähnlicher „Seiten“ des Vorganges würde, obwohl auch sie ja rein quantitative Beziehungen darstellen, unser kausales Bedürfnis,20 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 169 mit Anm. 80. wenn es aus irgend einem Grunde einmal auf ihre Kenntnis [A 112]ankäme, sich mit dem Urteil begnügen, daß der vorgefundene Tatbestand eben nichts „Unbegreifliches“, – das heißt aber: nichts mit unserem „nomologischen“ Wissen im Widerspruch Stehendes – enthalte. Ein wirklicher kausaler „Regressus“ aber [276]würde uns nicht nur wegen der absoluten „Unberechenbarkeit“ dieser Seiten des Vorganges – weil die konkreten Determinanten spurlos für uns verloren sind – gänzlich unmöglich, sondern auch, abgesehen davon, gänzlich „zwecklos“ erscheinen. Unser Bedürfnis nach Kausalerklärung würde erst wieder erwachen,22[276] Vgl. Mach, Ernst, Die Principien der Wärmelehre historisch-kritisch entwickelt. ‒ Leipzig: Barth 1896, S. 430: „Nach Ursachen zu fragen haben wir im allgemeinen nur ein Bedürfnis, wo eine (ungewöhnliche) Aenderung eintritt“. wenn innerhalb jenes Resultates des Felsabsturzes eine Einzelerscheinung aufträte, die auf den ersten Blick im Widerspruch mit den uns bekannten „Naturgesetzen“ zu stehen schiene.23 Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 6, 29 [182, 204]: Tritt „ein Ereigniss als Ausnahmefall“ auf und läßt sich diese „Abweichung“ auf eine „bestimmte Abweichung der bedingenden Umstände von ihrem regelmässigen Verhalten zurückführen“, dann bezeichnet man „gerade diese Differenz als Ursache des Ereignisses“. – So einfach dieser Sachverhalt liegt, so ist es doch gut, sich so klar wie möglich darüber zu werden, daß diese höchst unbestimmte, jedes sachlich begründete Notwendigkeitsurteil ausschließende, Form der kausalen Erklärung – bei welcher die universelle Geltung des „Determinismus“24 Vgl. Einleitung, oben, S. 2, 19. reines a priori bleibt – durchaus typisch ist für den Hergang der „kausalen“ ErklärungNxA; MWG: Erklärung“; in MWG digital korrigiert. von konkreten Einzelhergängen.25 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 184 ff. ‒ Mit im Prinzip durchaus gleichartigen Formen der Befriedigung unseres Kausalbedürfnisses wie in diesem trivialen Falle müssen nicht nur Wissenschaften wie die Meteorologie, sondern auch die Geographie und die Biologie außerordentlich häufig antworten, sobald wir an sie mit dem Begehren der Erklärung konkreter Einzelerscheinungen herantreten. Und wie unendlich weit von aller „exakten“ Zurechnung festgestellter (oder vermuteter) phylogenetischer Vorgänge z. B. der biologische Begriff der „Anpassung“ ist, wie fremd ihm namentlich kausale Notwendigkeitsurteile sind, braucht heute wohl kaum mehr hervorgehoben zu werden22)[276][A 112] Die Ansichten L[udo] M[oritz] Hartmanns a. a. O. zeigen freilich, daß die Natur jenes Begriffes doch immer wieder verkannt wird.26 Vgl. Hartmann, Entwickelung, S. 38 ff. Davon ein anderes Mal.27 Bezug nicht nachweisbar. . Wir begnügen uns eben in solchen Fällen damit, daß die konkrete Einzelerscheinung im allgemeinen als „begreiflich“ interpretiert ist, d. h. nichts unserem nomologischen Erfahrungswissen direkt Zuwi[277]derlaufendes enthält, und wir üben diese Genügsamkeit teils – wie bei den Erscheinungen der Phylogeneset[277]A: Psylogenese – überwiegend deshalb, weil wir jetzt und vielleicht für immer nicht mehr wissen können, teils – wie in jenem Beispiel vom Felsabsturz – weil wir überdies nicht mehr zu wissen das Bedürfnis empfinden.

Die Möglichkeit kausaler Notwendigkeitsurteile ist bei der [A 113]„Erklärung“ konkreter Vorgänge nicht etwa die Regel, sondern die Ausnahme, und sie beziehen sich stets nur auf einzelne, allein in Betracht gezogene Bestandteile des Vorganges unter Abstraktion von einer Unendlichkeit von anderen, die als „gleichgültig“ bei Seite bleiben müssen und können. Ähnlich komplex und individuell verzweigt, wie in dem Beispiel von der Gruppierung der Felsblocksplitter, liegen nun die Chancen des kausalen Regressus normalerweise auf dem Gebiet des geschichtlich relevanten menschlichen Tuns, sei es, daß es sich um konkrete, geschichtlich relevante Handlungen eines Einzelnen, oder daß es sich etwa um den Ablauf einer Veränderung innerhalb der sozialen Gruppenverhältnisse handelt, an deren Herbeiführung viele Einzelne in komplexer Verschlingung beteiligt gewesen sind. Und da man in jenem Beispiel von der Gruppierung der Felssplitter durch weiteres Hineinsteigen in die Einzelheiten des Herganges und Ergebnisses die Zahl der möglicherweise mit in Betracht zu ziehenden ursächlichen Momente „größer machen kann als jede gegebene, noch so große Zahl“,28[277] Vgl. Ohm, Martin, Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik. Erster Theil, Arithmetik und Algebra enthaltend, 2., umgearbeitete, durch viele neue erläuternde Beyspiele verdeutlichte Ausgabe. – Berlin: T. H. Riemann 1828, S. 300: „Man kann die Reihe der ganzen Zahlen von der 1 ab ohne Aufhören wachsend, zwischen je zwey auf einander folgenden ganzen Zahlen p und p + 1 aber wiederum eine beliebig zu vermehrende Menge gebrochener Zahlen sich denken […] so daß man sich von der 0 ab, eine ohne Aufhören fort größer werdende Reihe gebrochener und ganzer Zahlen denken kann, die zuletzt jede noch so groß gegebene Zahl erreicht und übersteigt“. da also dieser Vorgang, wie jeder scheinbar noch so einfache individuelle Hergang, eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen enthält, sobald man ihn als eine solche sich ins Bewußtsein bringen will, – so kann kein noch so komplexer Ablauf menschlicher „Handlungen“ prinzipiell „objektiv“ mehr „Elemente“ in sich enthalten, als sie selbst in jenem einfachen Vorgang der physischen [278]Natur sich auffinden lassen. Unterschiede aber gegenüber jenem „Naturvorgang“ finden sich in folgender Richtung:

1. Unser kausales Bedürfnis kann bei der Analyse menschlichen Sichverhaltens eine qualitativ andersartige Befriedigung finden, welche zugleich eine qualitativ andre Färbung des Irrationalitätsbegriffs nach sich zieht. Wir können für seine Interpretation uns, wenigstens prinzipiell, das Ziel stecken, sie nicht nur als „möglich“ im Sinn der Vereinbarkeit mit unserem nomologischen Wissen „begreiflich“ zu machen, sondern sie zu „verstehen“, d. h. ein „innerlich“ „nacherlebbares“ konkretes „Motiv“ oder einen Komplex von solchen zu ermitteln, dem wir sie, mit einem je nach dem Quellenmaterial verschieden hohen Grade von Eindeutigkeit, zurechnen. Mit anderen Worten: individuelles Handeln ist, seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht – prinzipiell spezifisch weniger „irrational“ als der individuelle Naturvorgang. Soweit die Deutbarkeit reicht: denn wo sie aufhört, da verhält sich menschliches Tun wie der Absturz jenes Felsblocks: die „Unberechenbarkeit“ im Sinn der fehlenden Deutbarkeit ist, mit anderen Worten, das Prinzip des „Verrückten“. Wo [A 114]es für unser historisches Erkennen auf ein im Sinne der Undeutbarkeit „irrationales“ Verhalten einmal ankommt, da muß freilich unser kausales Bedürfnis regelmäßig sich mit einem an dem nomologischen Wissen etwa der Psychopathologie oder ähnlicher Wissenschaften orientierten „Begreifen“ ganz in dem Sinn begnügen, wie bei der Gruppierung jener Felssplitter, – aber eben auch nicht mit weniger. Den Sinn dieser qualitativen Rationalität „deutbarer“ Vorgänge kann man sich leicht veranschaulichen. Daß bei einem konkreten Würfel29[278] Würfeln und andere Zufallsspiele sind klassische Beispiele der Wahrscheinlichkeitstheorie. Vgl. z. B. Windelband, Zufall, S. 30 ff.; Kries, Möglichkeit, S. 10 ff. [185 ff.]. mit dem Würfelbecher die Sechs nach oben fällt, ist, – sofern der Würfel nicht „falsch“ ist, – durchaus jeder kausalen Zurechnung entzogen. Es erscheint uns als „möglich“, d. h. gegen unser nomologisches Wissen nicht verstoßend, aber die Überzeugung, daß es „notwendig“ so kommen mußte, bleibt reines a priori. Daß in einer sehr großen Zahl von Würfen sich – „Richtigkeit“ des Würfels vorausgesetzt – die nach oben fallenden Zahlen annähernd gleich auf alle sechs Flächen verteilen, erscheint uns „plausibel“, wir „begreifen“ diese empirisch feststellbare Geltung des „Gesetzes der gro[279]ßen Zahlen“30[279] Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 93 mit Anm. 35. dergestalt, daß das Gegenteil: – dauernde Begünstigung gewisser einzelner Zahlen trotz immer weiterer Fortsetzung des Würfelns, – uns die Frage nach dem Grunde, dem dieser Unterschied zuzurechnen sein könnte, aufdrängen würde. Aber das Charakteristische ist offenbar die wesentlich „negative“ Art, in der hier unser kausales Bedürfnis abgespeist wird, verglichen mit der „Deutung“ statistischer Zahlen, welche z. B. die Einwirkung bestimmter ökonomischer Veränderungen etwa auf die Heiratsfrequenz wiedergeben[,] und welche durch unsere eigene, von der Alltagserfahrung geschulte, Phantasie zu einer wirklich positiv kausalen Deutung aus „Motiven“ heraus wird.31 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 28 ff. Und während auf dem Gebiet des „Undeutbaren“ der individuelle Einzelvorgang: – der einzelne Wurf mit dem Würfel, die Splitterung des abstürzenden Felsens – durchaus irrational in dem Sinn blieb, daß wir uns mit dem Feststehen der nomologischen Möglichkeit: – Nichtwiderspruch gegen Erfahrungsregeln – begnügen mußten und erst die Vielheit der Einzelfälle unter bestimmten Voraussetzungen darüber hinaus zu „Wahrscheinlichkeitsurteilen“ zu führen vermochte, – gilt uns z. B. das Verhalten Friedrichs II. im Jahre 1756,32 Im August 1756 begann Friedrich II. den (Siebenjährigen) Krieg gegen Österreich. in einer einzelnen höchst individuellen Situation also, nicht nur als nomologisch „möglich“, wie jene Felssplitterung, sondern als „teleologisch“ rational, nicht in dem Sinn, daß wir in kausaler Zurechnung zu einem Notwendigkeitsurteil gelangen könnten, wohl aber dergestalt, daß wir den Vorgang als „adäquat verursacht“,33 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 186 mit Anm. 43. [A 115]– d. h. als, bei Voraussetzung bestimmter Absichten und (richtiger oder fälschlicher) Einsichten des Königs und eines dadurch bestimmten rationalen Handelns, „zureichend“ motiviert finden. Die „Deutbarkeit“ ergibt hier ein Plus von „Berechenbarkeit“, verglichen mit den nicht „deutbaren“ Naturvorgängen. Sie steht, rein auf den Modus der Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses hin angesehen, den Fällen der „großen Zahlen“ gleich. Und selbst wenn die „rationale“ Deutbarkeit aus Absichten und Einsichten mangelt, also z. B. „irrationale“ Affekte hineinspielen, bleibt das Verhältnis wenigstens möglicherweise noch ein ähnliches, da wir auch sie, bei [280]Kenntnis des „Charakters“, als in ihrer Wirkung „verständliche“ Faktoren in die Zurechnung einzustellen vermögen. Erst wenn wir, wie zuweilen bei Friedrich Wilhelm IV., auf direkt pathologische, die Deutung ausschließende Sinn- und Maßlosigkeit des Reagierens stoßen,34[280] Zum Krankheitsbild vgl. Reumont, Alfred von, Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden und kranken Tagen. – Leipzig: Duncker & Humblot 1885. Vgl. auch unten, S. 319 f., Fn. 56, mit Anm. 89 und 90, wo Weber auf Meinecke, Friedrich Wilhelm IV., und Rachfahl, Deutschland, verweist. gelangen wir zu dem gleichen Maß von Irrationalität, wie bei jenen Naturvorgängen. In gleichem Maße aber, wie die Deutbarkeit abnimmt (und also die „Unberechenbarkeit“ sich steigert) pflegen wir – und hier ergibt sich der Zusammenhang dieser Erörterungen mit unserem Problem – dem Handelnden die „Willensfreiheit“ (im Sinn der „Freiheit des Handelns“23)[280][A 115] Für alles Nähere siehe hierzu Windelband, Über Willensfreiheit, S. 19 ff. abzusprechen: es zeigt sich m.a. W. schon hier, daß „Freiheit“ des Handelns (wie immer der Begriff gedeutet werden möge) und Irrationalität des historischen Geschehens, wenn überhaupt in irgend einer allgemeinen Beziehung, dann jedenfalls nicht in einem solchen Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit durcheinander stehen, daß Vorhandensein oder Steigerung des einen auch Steigerung des anderen bedeuten würde, sondern – wie sich immer deutlicher ergeben wird ‒ gerade umgekehrt.

2. Unser kausales Bedürfnis verlangt nun aber auch, daß da, wo die Möglichkeit der „Deutung“ prinzipiell vorliegt, sie vollzogen werde, d. h. die bloßen Beziehungen auf eine lediglich empirisch beobachtete noch so strenge Regel des Geschehens genügt uns bei der Interpretation menschlichen „Handelns“ nicht. Wir verlangen die Interpretation auf den „Sinn“ des Handelns hin. Wo dieser „Sinn“ – wir lassen vorerst ununtersucht, welche Probleme dieser Begriff birgt – im Einzelfall unmittelbar evident feststellbar ist, da bleibt es uns gleichgültig, ob sich eine „Regel“ des Geschehens formulieren läßt, [A 116]die den konkreten Einzelfall umfaßt24)[A 116] Daß dadurch für die Deutung nicht etwa die Beziehung auf „Regeln“ logisch oder sachlich irrelevant wird, werden wir sehr bald nachdrücklich zu betonen haben. Hier soll nur betont werden, daß die „Deutung“ phänomenologisch nicht einfach unter die Kategorie der Subsumtion unter Regeln fällt. Daß ihr erkenntnistheoretisches Wesen ein komplexes ist, werden wir später sehen.35 Unten, S. 310 ff. . Und [281]anderseits kann die Formulierung einer solchen Regel, selbst wenn sie den Charakter strenger Gesetzmäßigkeit an sich tragen würde, niemals dahin führen, daß die Aufgabeu[281]A: Aufgaben „sinnvoller“ Deutung durch die einfache Bezugnahme auf sie ersetzt werden könnte. Ja, noch mehr: solche „Gesetze“ „bedeuten“ uns bei der Interpretation des „Handelns“ an sich noch gar nichts. Gesetzt, es gelänge irgendwie der strengste empirisch-statistische Nachweis, daß auf eine bestimmte Situation seitens aller ihr jemals ausgesetzt gewesenen Menschen immer und überall in, nach Art und Maß, genau der gleichen Weise reagiert worden sei und, so oft wir die Situation experimentell schaffen, noch immer reagiert werde, dergestalt also, daß diese Reaktion im wörtlichen Sinn des Wortes „berechnet“ werden könnte, – so würde das an sich die „Deutung“ noch keinen Schritt weiterbringen; denn es würde ein solcher Nachweis, für sich allein, uns noch nicht im mindesten in die Lage versetzen, zu „verstehen“, „warum“ überhaupt jemals und vollends, warum immer in jener Art reagiert worden sei. Wir würden solange dieses Verständnis nicht besitzen, als uns eben nicht auch die Möglichkeit „innerer“ „Nachbildung“25)[281] Wir werden noch sehen,36[281] Bezug nicht nachweisbar. daß man von „Nachbildung“ nur in sehr uneigentlichem Sinn reden darf. Aber hier, wo es sich um den phänomenologischen Gegensatz gegen das „Undeutbare“ handelt, ist der Ausdruck unmißverständlich.37 Vgl. Dilthey, Einleitung, S. 45: Anders als die Natur, die „uns stumm ist“, sind uns die Tatbestände der Gesellschaft „von innen verständlich, wir können sie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unserer eigenen Zustände, bis auf einen gewissen Punkt nachbilden“. Von „Nachbildung“ ist auch die Rede in Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 13, 28, 30 f., 34, 37, 41, 50, 56 ff., und Münsterberg, Psychologie, S. 214, 343, 353, 355, 364. der Motivation in der Phantasie gegeben wäre: Ohne diese würde der denkbar umfassendste empirisch-statistische Nachweis der Tatsache einer gesetzmäßig auftretenden Reaktion mithin hinter den Anforderungen, die wir an die Geschichte und die ihr in dieser Hinsicht verwandten „Geisteswissenschaften“ – wir lassen es, wie gesagt, zunächst ganz dahingestellt, welche diese sind – stellen, der Erkenntnisqualität nach zurückbleiben. –

Man hat nun infolge dieser Inkongruenz der formalen Erkenntnisziele der „deutenden“ Forschung mit den Begriffsgebilden der [282]„gesetzeswissenschaftlichen“ Arbeit die Behauptung aufgestellt, daß die Geschichte und andere ihr verwandte „subjektivierende“ Wissenschaften, z. B. auch die Nationalökonomie, es mit einem prinzipiell andersartigen Sein als Objekt zu tun haben, als alle jene Wissenschaften, [A 117]welche, wie Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, auf die Bildung von Allgemeinbegriffen auf dem Wege der in „Induktion“, „Hypothesenbildung“ und Verifizierung der Hypothesen an den „Tatsachen“ verlaufenden „objektivierenden Erfahrung“ ausgehen. Nicht um die von keinem Verständigen geleugnete absolute Gegensätzlichkeit alles „physischen“ zu allem „psychischen“ Sein handelt es sich dabei, sondern um eine Ansicht, nach welcher jenes „Sein“, welches „Objekt“ einer analytischen Betrachtung überhaupt werden könne: – „physisches“ wie „psychisches“ –, prinzipiell in einem ganz anderen Sinne „sei“, wie diejenige Wirklichkeit, die wir unmittelbar „erleben“ und innerhalb deren der Begriff des „Psychischen“, wie ihn die „Psychologie“ verwertet, gar nicht anwendbar sei. Eine solche Auffassung würde nun auch dem von uns bisher noch gar nicht näher analysierten Begriffe der „Deutung“ eine prinzipielle Grundlage geben: in dieser Art des Erkennens würde offenbar die „subjektivierende“ Methode ihre eigentümliche Ausdrucksform besitzen. Die Kluft zwischen jenen beiden Arten von Wissenschaften würde aber offenbar die Gültigkeit aller Kategorien des „objektivierenden“ Erkennens: „Kausalität“, „Gesetz“, „Begriff“, problematisch werden lassen. Die Grundthesen einer derartigen Wissenschaftstheorie sind wohl am konsequentesten in Münsterbergs „Grundzügen der Psychologie“38[282] Münsterberg, Psychologie, S. XXIV, 34 ff., strebte eine „Synthese von Fichtes ethischem Idealismus mit der physiologischen Psychologie“ seiner Zeit an. Dabei knüpfte er an Windelbands These an, daß man dasselbe Objekt in zweierlei Hinsicht erkennen könne: Entweder versuche man, seiner Einzigartigkeit gerecht zu werden, oder man abstrahiere davon und suche seine Gesetzesartigkeit. Der Geschichte komme die erste, den Naturwissenschaften die zweite Perspektive zu. Münsterberg zufolge gibt es einen dritten Standpunkt, wenn nämlich dasselbe Objekt in unterschiedlicher Beziehung zum Subjekt gedacht wird. Die psychophysische Welt läßt sich entweder in ihrer wirklichen Zugehörigkeit zum ursprünglichen Ich denken oder losgelöst davon. Dieses Ich ist eine stellungnehmende, d. h. wertende und wollende, Aktualität. Die Geisteswissenschaften und damit die Geschichte versuchen, dem Objekt in seiner Abhängigkeit vom Ich gerecht zu werden. Insofern sind sie subjektivierende Wissenschaften. Die Naturwissenschaften und die Psychologie hingegen lösen das Objekt von der Aktualität des Subjekts, indem sie es zu einer der Wahrnehmung zugänglichen Wirklichkeit [283] umdeuten. Insofern sind sie objektivierende Wissenschaften. Der Gegensatz dieser Wissenschaften ist kein methodologischer, sondern ein ontologischer. entwickelt und haben alsbald die Theorie der „Kulturwissenschaf[283]ten“ zu beeinflussen begonnen. So wenig hier eine erschöpfende Kritik des geistvollen26)[283][A 117] Auch eine lobende Prädizierung eines Werkes ist eine Anmaßung, wo die Berechtigung zur Beurteilung fehlt. Bemerkt sei daher, daß hier nur von den die erkenntnistheoretischen Probleme der historischen Disziplinen betreffenden Partien die Rede ist, deren Wert ich, auch ohne Fachmann zu sein, schätzen zu können glaube. Die höchst interessanten Erörterungen über die Methodologie der Psychologie zu beurteilen, erlaube ich mir in keiner Weise; den Versuch, mir über ihren Wert oder Unwert bei den Fach-Psychologen Auskunft zu holen, werde ich allerdings auch kaum unternehmen, da diese Gelehrten sich zurzeit nach Art jener beiden Löwen im Liede gegenseitig ohne alle für den Außenstehenden wahrnehmbaren Überbleibsel zu verschlingen pflegen.40 Das Kommerslied „Zwei Löwen“ lautet: „1. Zwei Löwen gingen einst selband in einem Wald spazoren und haben da, von Wut entbrannt einander aufgezoren. 2. Da kamen eines Tags daher des Wegs zwei Leute edel, die fanden von dem Kampf nichts mehr als beider Löwen Wedel. 3. Daraus gehet nun für groß und klein die weise Lehr hervor: Selbst mit dem besten Freunde dein im Walde nie spazor!“ Vgl. Schauenburgs allgemeines Deutsches Kommersbuch. Unter musikalischer Redaktion von Friedrich Silcher und Friedrich Erk, 31. Aufl. – Lahr: Moritz Schauenburg 1888, S. 686. Bei einzelnen von Münsterbergs Ausführungen, namentlich bei der „erkenntnistheoretischen“ Begründung der Introjektion des Psychischen in das Gehirn darf allerdings m. E. auch der Nichtpsychologe den Kopf schütteln. Hier möchte man nach einer Erörterung der „Grenzen der Erkenntnistheorie“ rufen, denn bei dem erfreulichen Aufschwung des erkenntnistheoretischen Interesses entsteht doch auch die Gefahr, daß sachliche Probleme aus logischen Prinzipien heraus entschieden werden sollen, und das ergäbe eine Renaissance der Scholastik. Buches am Platze ist, so kann doch, da hier der Begriff [A 118]der Irrationalität des „Persönlichen“ und derjenige der „Persönlichkeit“ selbst einen ganz anderen Sinn zu erhalten scheint, eine Stellungnahme wenigstens zu denjenigen seiner Aufstellungen nicht umgangen werden, welche das Problem der Kausalität auf dem Gebiete menschlichen Handelns berühren und in diesem Sinne von einigen Autoren – namentlich F[riedrich] Gottl – für die Erkenntnistheorie der Geschichte und der ihr verwandten Wissenschaften nutzbar gemacht worden sind.39 Gottl nennt Münsterberg namentlich nur an einer Stelle. Vgl. Gottl, Grenzen, S. 64, wo er Münsterberg ebenso wie Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Johann Gustav Droysen, Ernst Bernheim, Ottokar Lorenz, Eduard Meyer, Wilhelm Schuppe, Rudolf Stammler trotz aller „Divergenzen“ die „Emanzipation des historischen vom naturwissenschaftlichen Denken“ als Ziel zuschreibt. Münsterbergs Gedankengang bezüglich der für uns hier wesentlichen Punkte27)[A 118] Nur auf diese wird eingegangen. Daher bleiben eine ganze Anzahl gerade solcher Thesen hier ganz außer Betracht, auf welche Münsterberg sicherlich entscheidende Bedeutung legt. Nicht nur die Art, wie das Psychische als Objekt der Experimentalpsychologie gewonnen wird, sondern auch der Begriff der „erlebten Wirklichkeit“, des „stel[284]lungnehmenden Subjektes“ usw. bleiben hier unberührt. Von Münsterbergs Standpunkt aus gesehen, handelt es sich vielmehr wesentlich um einen Grenzstreit zwischen „subjektivierenden“ und „objektivierenden“ Wissenschaften, der die Zugehörigkeit speziell der Geschichte betrifft. Eine kurze, aber sehr durchsichtige Analyse des Münsterbergschen Buches gibt Rickert, Deutsche Lit[eratur]-Zeitung 1901, Nr. 14.42 Rickert, Münsterberg. [284]läßt sich wohl etwa so zusammenfassen: Das „Ich“ des wirklichen Lebens, wie wir es in jedem Augenblicke „erleben“, kann nicht Objekt analysierender, mit Begriffen, Gesetzen und kausaler „Erklärung“ operierender Forschung sein, denn es wird niemals in gleichem Sinn „vorgefunden“ wie z. B. unsere „Umgebung“, es ist von „unbeschreibbarer“ Art. Und ebenso die von ihm wirklich „gelebte“ Welt. Denn jenes Ich ist nie nur anschauend, sondern stets und in jedem Augenblick „stellungnehmend, bewertend, beurteilend“, und die Welt kommt daher für dieses Ich – für jeden von uns, so lange er „wirkt“ – gar nicht als „beschreibbar“, sondern nur als „bewertbar“ in Betracht. Erst wenn ich zum Zweck der Mitteilung und Erklärung die Welt als der Abhängigkeit vom Ich entzogen denke, wird sie zu einem „lediglich wahrgenommenen“ Tatsachenkomplex. Schon hier ist einzuschalten, daß in dieser Theorie, wenn wir sie wörtlich verstehen wollten, offenbar die rationale Überlegung der Mittel zum Zweck eines konkreten „Wirkens“ und der möglichen Folgen eines erwogenen Handelns keine Stätte als Teil des noch unobjektivierten „Erlebens“ hättev[284]A: hätten, denn in jeder solcher Überlegung wird die „Welt“ als „wahrgenommener Tatsachenkomplex“ unter der Kategorie der Kausalität zum „Objekt“. Ohne „erfahrene“ Regeln des Ablaufs des Geschehens, wie sie nur durch „objektivierende“ bloße „Wahrnehmung“ zu gewinnen sind, kein „rationales“ Handeln28) Auf diesen Punkt kommen wir ebenfalls wiederholt zurück.43 Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 355 ff., 361 ff. [A 119]Darauf würde indessen Münsterberg entgegnen, daß allerdings die Objektivierung41[284] Für Münsterberg, Psychologie, S. 56, 60, ist „Objektivierung“ die „Loslösung des Objekts vom Subjekt“. der „Welt“ zum Zweck der Erkenntnis letztlich in jenem rationalen Handeln wurzele, welches für seinen Zweck der Welt des „Erlebten“ einen Kosmos des „Erfahrenen“ unterbaut, um unsere „Erwartung“ der Zukunft behufs Stellungnahme zu sichern, und daß hier tatsächlich [285]die Quelle aller mit Begriffen und Gesetzen arbeitenden Wissenschaft liege. Die „Erfahrung“ aber, welche die objektivierende Wissenschaft schaffe, sei erst möglich nach Loslösung der Wirklichkeit von der Aktualität des wirklich Erlebten. Sie sei ein für bestimmte, ursprünglich praktische, später logische Zwecke geschaffenes, unwirkliches Abstraktionsprodukt. Das aktuelle „Wollen“ insbesondere werde nie in dem gleichen Sinne „erlebt“, wie man sich der Willensobjekte – welche nachher Gegenstände der „objektivierenden“ Wissenschaften werden – „bewußt“ werde (S. 51) und sei daher von allem „vorgefundenen“ Erfahrungsinhalt prinzipiell verschieden. Man wird zunächst geneigt sein, hiergegen einzuwenden, daß es sich dabei doch lediglich um die „Verschiedenheit“ des „Existenten“ selbst vom „Existenzialurteil“ handle, welch letzteres von uns an einem konkreten (auch eignen) Wollen genau ebenso realisiert werden könne und tatsächlich werde, wie an irgend einem „Objekt“. Daß das Wollen existent ist, d. h. also „erlebt“ wird, ist natürlich – aber ganz wie bei „wahrgenommenen“ Objekten – etwas logisch anderes, als daß wir von diesem Erlebnis „wissen“. Münsterberg würde hierauf entgegnen, seine Ansicht besage ja nur, daß erst nach vollzogener „Introjektion“44[285] Münsterberg, Psychologie, S. 434, definiert diesen Begriff im Kontext des von ihm vertretenen „psychophysischen Parallelismus“. „Introjektion“ oder „Introjizierung“ ist die Zuordnung psychischer Inhalte zu Gehirnvorgängen, wodurch die Raum- und Zeitwerte der Vorgänge auf die Inhalte übertragen werden: „Wir projizieren dadurch jeden Inhalt unseres Bewußtseins in Raum und Zeit, und da es sich um den Raum in unserem Körper und um die Zeit in unserem Leben handelt, so können wir die Projektion als Introjektion bezeichnen.“ des Psychischen in einen Körper, welche ihrerseits erst nach vollzogener Trennung des „Psychischen“ vom „Physischen“ möglich werde (eine Trennung, von der das unmittelbare „Erleben“ gar nichts wisse), also erst nach vollzogener „Objektivierung“ der Weit, der „Wille“ Gegenstand der „Beschreibung und Erklärung45 Münsterberg, ebd., S. 2, folgt nicht dem von Gustav Kirchhoff geforderten Verzicht auf kausale Erklärung zugunsten von Beschreibung. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 175 mit Anm. 1. werden könne. Dieser Wille sei aber alsdann nicht mehr der „wirkliche“ Wille des „aktuellen Subjektes“, sondern ein durch Abstraktion gewonnenes und nun weiter zum Gegenstand der Analyse gemachtes „Objekt“. Wir wissen – nach seiner Ansicht – nun aber auch von dem wirklichen Willen in seiner erlebten Realität. Aber dieses „Wissen“ von der [286]eignen ununterbrochen „stellungnehmenden“ und wertenden „Aktualität“, und ebenso von derjenigen eines anderen stellungnehmenden, d. h. wollenden und wertenden Subjekts – Mensch, oder, wie er gelegentlich ausdrücklich hervorhebt, Tier!46[286] Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 8, 98 f., 101. – bewege sich in derw[286]A: die Sphäre der unmittelbar gelebten Wirklichkeit, der „Welt der Werte“,47 Vgl. ebd., S. 18 f., 52, 95, 156. bedeute deshalb auch [A 120]ein unmittelbares „Verstehen“[,] d. h. ein Mit- und Nacherleben, Nachfühlen, Würdigen und Bewerten von „Aktualitäten“ – im Gegensatz zu jenemxA: jenen erst durch „Objektivierung“, d. h. künstliche Loslösung vom ursprünglichen „verstehenden und wertenden“ Subjekt[,] zu erzeugenden Gegenstand des „wertfreien48 Für Münsterberg, ebd., S. 20, ist „Vorstellen“ ein „wertfreies Besitzen des Objektes“: er spricht auch von einem „unabhängigen wertfreien bestimmbaren Objekte“ (ebd., S. 56) oder „wertfreien Objekte[n]“ (ebd., S. 53, 182); vgl. auch ebd., S. 444 ff. analytischen Erkennens, welches seinerseits eben nicht eine Welt der Aktualität innerlich „verstehen“, sondern eine Welt der „vorgefundenen“ Objekte „beschreiben“ und durch Auflösung in ihre Elemente „erklären“ wolle. Schon zum bloßen „Beschreiben“ und vollends zum „Erklären“ bedürfe aber diese „objektivierende“ Erkenntnis nicht nur der „Begriffe“, sondern auch der „Gesetze“, die anderseits auf dem Gebiet des „Verstehens“ des „aktuellen“ Ich als Erkenntnismittel weder wertvoll noch überhaupt sinnvoll seien. Denn die Aktualität des Ich, von der eine „Wirklichkeitswissenschaft“49 Münsterberg spricht nicht explizit, aber der Sache nach von Wirklichkeitswissenschaft. Zur Kritik an Windelbands und Rickerts Konzept der Wirklichkeitswissenschaft vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 37 ff. nicht abstrahieren könne, sei die „Welt der Freiheit“50 Ebd., S. 129 f. und manifestiere sich als solche dem Erkennen als die Welt des deutbar Verständlichen, „Nacherlebbaren“, eine Welt, von der wir eben jenes „erlebte“ Wissen haben, welches durch die Anwendung der Mittel des „objektivierenden Erkennens“: Begriffe und Gesetze, in keiner Weise vertieft werden könne. – Da nun aber, nach Münsterberg, die „objektivierende“ Psychologie ebenfalls von den erlebten Inhalten der Wirklichkeit ausgeht, um sie alsdann „beschreibend“ und „erklärend“ zu analysieren, so verbleibt schließlich als Gegensatz [287]der objektivierenden und der subjektivierenden Disziplinen nur die „Abhängigkeit vom Ich“,51[287] Ebd., S. 71. welche von den letzteren nicht aufgegeben werden kann und soll, während die ersteren von jener Abhängigkeit nur das rein theoretische, wertfreie „Erfahrenwerden“ ihrer Objekte beibehalten, und daher die Einheit des „stellungnehmenden“ Ich durch ihre Konstruktionen gar nicht erreichen können, da dieses Ich eben nicht „beschreibbar“, sondern nur „erlebbar“ ist. Und da die Geschichte von „Akten“ der „Persönlichkeiten“ berichtet, einen „Willenszusammenhang“ herstellen will, bei dem menschliches Werten und Wollen in seiner vollen „erlebten“ Realität „nacherlebt“ wird, so ist sie eine subjektivierende Disziplin.

Daß das nur auf dem Gebiet „geistiger“ Vorgänge mögliche „Einfühlen“ und „Verstehen“ die eigentümliche Kategorie des „subjektivierenden“ Erkennens sei, daß es von ihr aus keine Brücke zu den Mitteln des objektivierenden Erkennens gebe, daß wir deshalb auch nicht berechtigt seien, nach Beheben von der einen, z. B. von der psychophysischen[,] zur „noetischen“52 Noema (griech.), Sinngehalt eines Gedankens. Münsterberg, Psychologie, S. 308, spricht von einem „noëtischen Zusammenhang“, der zwischen uns und einem Wahrnehmungsobjekt besteht, d. h. um einen „ursprünglichen Erkenntniszusammenhang, in dem wir gerade dieses Physische durch dieses Psychische ,meinen‘“: vgl. auch ebd., S. 558 f. (verstehenden) Deutung eines [A 121]Vorgangsy[287]A: Vorgangs, gewissermaßen überzuspringen29)[287][A 121] Anderseits behandelt Münsterberg (S. 92)53 Münsterberg, Psychologie, S. 92. die Interpolation von Lücken der gehirnanatomischen Kenntnisse durch psychologische als möglich. , oder etwa Lücken, welche die eine Erkenntnisart läßt, durch die andere auszufüllen –, auf diese Sätze gründet sich – wenn man eine Anzahl offenbarer logischer Fehler streicht30) Zu diesen logischen Mängeln ist m. E. zu rechnen:
1. Die Verkennung der intensiven Unendlichkeit alles empirisch gegebenen Mannigfaltigen (S. 38), welche doch die („negative“) Voraussetzung der in jeder empirischen Wissenschaft vollzogenen Stoff-Auslese ist. Diese Verkennung ist, wie Rickert bereits bemerkt hat,54 Zur Kritik der Abbildtheorien vgl. Rickert, Grenzen, S. 33 ff., 98 f., 145, 166, 186 f., 216, 245 ff. nur möglich infolge Festhaltung des vorkritischen Standpunktes der Betrachtung, der die Gesamtheit des jeweils Gegebenen mit demjenigen an und in ihm, [288]worauf es für uns „ankommt“ – also eben mit dem Produkt jener Auslese –, identifiziert. Dieser Standpunkt führt nun, in Verbindung mit einem anderen Irrtum,
2. zur Verkennung der Beziehungen zwischen „Gesetz“ und „Individuum“ (im logischen Sinne), insbesondere zu der Meinung, die individuelle „objektivierte“ Wirklichkeit gehe in die Gesetze ein (S. 39). Der Irrtum tritt als solcher am handgreiflichsten zu tage, wenn Münsterberg (S. 114) meint: „Hätte Nero andere Vorstellungen erlebt, so müßte das ideale System der Psychologie geändert werden“,z[288]A: werden,“ – weil eben, unter genügender Spezialisierung der „Bedingungen“, das Gesetz auch den individuellsten Einzelfall erreiche, ja ein Gesetz für den Einzelfall möglich sei. Hier ist nicht bemerkt, daß die Annahme eines anderen Vorstellungsablaufs bei Nero doch wohl in erster Linie die Annahme einer abweichenden Bedingungskonstellation hervorrufen muß[,] und diese „gegebenen Bedingungen“ ihrerseits enthalten erstens kausal den ganzen individuellen Ablauf der antiken Geschichte nicht minder als die ganze Ahnenreihe Neros usw. usw. in sich, – also doch nicht nur Objekte irgendeiner noch so „vielseitigen“ Psychologie, – und sind zweitens, – auch wenn wir sie eben als „gegeben“ einfach hinnehmen, – überdies nur dann und nur soweit nicht unendlich an Zahl, wenn wir von vornherein nur gewisse allgemeine klinisch-psychologische Qualitäten der Vorstellungen Neros, also – mögen wir diese Qualitäten noch so „speziell“ nehmen – ein durch Auslese gewonnenes Objekt, nicht aber den individuellen Gesamtablauf als das zu Erklärende allein in Betracht ziehen. Das „Historische“ an dem Vorgange, d. h. das nur historisch zu erklärende Objekt, ist die aus einem Gesetz (und aus einer noch so großen Zahl von Gesetzen) doch nimmermehr zu deduzierende Tatsache der faktischen Gegebenheit gerade dieser Bedingungen in diesem Zusammenhang. [Ganz ebenso mißverständlich klingt es freilich, wenn Simmel (Probleme der Geschichtsphilosophie, 2. Aufl., S. 95) ausführt, bei absoluter Vollständigkeit unseres nomologischen Wissens würde „eine einzige historische Tatsache“ zur „Vollendung des Wissens überhaupt“ genügen. Diese „eine“ Tatsache würde nämlich in diesem Falle immer noch einen unendlich großen Inhalt haben müssen. Weil, wie man gesagt hat,55[288] Möglicherweise referiert Weber auf Fichte: „In jedem Momente ihrer Dauer ist die Natur ein zusammenhängendes Ganzes; in jedem Momente muss jeder einzelne Theil derselben so seyn, wie er ist, weil alle übrigen sind, wie sie sind; und du könntest kein Sandkörnchen von seiner Stelle verrücken, ohne dadurch, vielleicht unsichtbar für deine Augen, durch alle Theile des unermesslichen Ganzen hindurch etwas zu verändern.“ Vgl. Fichte, Johann Gottlieb, Die Bestimmung des Menschen, in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hg. von J. H. Fichte. Erste Abtheilung. Zur Theoretischen Philosophie, 2. Band. – Berlin: Veit & Comp. 1845, S. 167–319, hier S. 178. die Gesamtheit des Weltgeschehens anders verlaufen sein müßte, wenn wir ein Sandkorn auf eine andere Stelle verschoben denken als [A 122] die, an der es sich faktisch befindet, ist es doch nicht etwa richtig, zu glauben, daß – um im Beispiel zu bleiben – bei absolut vollendetem nomologischem Wissen die Kenntnis der Lage dieses „Sandkorns“ in einem Zeitdifferential zur Konstruktion der Lage aller „Sandkörner“ genügen würde. Immer noch würde für diesen Zweck vielmehr die Lage aller Sandkörner (und aller anderen Objekte) in einem anderen Zeitdifferential gekannt werden müssen.]a[ ] in A.
[289]3. Es ist – was ebenfalls schon Rickert (Deutsche Lit[eratur]-Z[ei]t[un]g 1901, Nr. 14) angedeutet hat57 Vgl. Rickert, Münsterberg, S. 846. – bei den mehrfachen Erörterungen darüber, daß die Geschichte es mit einem „Allgemeinen“ zu tun hat, der seither von Rickert klar entwickelte grundverschiedene Sinn des Begriffs des „Allgemeinen“58 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 62 mit Anm. 97. (in diesem Fall: universelle Bedeutung im Gegensatz zur generellen Geltung) im Unklaren geblieben, was mit dem Irrtum ad 1 zusammenhängt.
4. Trotz des großen Scharfsinns und der Eleganz, mit welchen die Scheidung und der Parallelismus der beiden Münsterbergschen Wissenschaftskategorien durchgeführt wird, ist das so höchst verschiedener logischer Bedeutungen fähige Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht restlos aufgeklärt und die gegebenen Begriffsbestimmungen nicht unbedingt festgehalten (an zwei Stellen fließen sogar, ich nehme an aus Versehen, „erkenntnistheoretisches“ und „stellungnehmendes“ Subjekt ineinander: S. 35 Mitte, S. 45 oben). Und damit kommt die für Münsterberg entscheidende Kategorie, die „Objektivierung“, in ein bedenkliches Schwanken, denn die entscheidende Frage ist eben, wo sie einsetzt, ob – worauf es hier ankommt – die Geschichte und die ihr verwandten Disziplinen als „objektivierend“ zu gelten haben. Wenn Münsterberg sagt (S. 57): Das „erfahrende“ Subjekt (dasjenige also, welches der objektivierten Welt gegenübersteht) sei das wirkliche Subjekt, wenn von dessen Aktualität „abstrahiert“ werde, so ist das eben irreführend formuliert. Das „erfahrende“ Subjekt existiert entweder in der Wirklichkeit als ein aktuelles Subjekt, dessen für den Wissenserfolg allein in Betracht kommende Aktualität auf die Realisierung von Werten empirischen Erkennens gerichtet ist, – oder aber es handelt sich um jenen theoretischen Begriff des nur gedachten „erkenntnistheoretischen Subjektes“, dessen Grenzfall das vielverlästerte „Bewußtsein überhaupt“ bildet. Münsterberg trägt sodann in den Begriff des „Erfahrens“ alsbald den des Zerlegens in „Elemente“ hinein und darüber hinaus noch den des Zurückgehens auf die „letzten“ Elemente, obwohl doch, wie er selbst gelegentlich erwähnt, z. B. die (nach ihm) zweifellos „objektivierende“ Biologie davon weit entfernt ist. Es ist, wenigstens bei Münsterbergs Auffassung des Verhältnisses zwischen Gesetz und (logischer) Individualität ganz und gar nicht abzusehen, warum, was auf S. 336 unten für die Naturwissenschaften gesagt wird,59 Für Münsterberg, Psychologie, S. 336, bleibt den Naturwissenschaften das „Prinzip der mechanischen Beschreibung“ stets das „grundsätzliche Endziel“. nicht auch für die Geschichte, Nationalökonomie usw. gelten sollte: „angewandte Psychologie“ würden sie damit in keiner Weise werden, da sie nun einmal nicht nur den psychischen Ablauf – dessen Erforschung von manchen Historikern (Ed[uard] Meyer) geradezu als indifferent behandelt wird –, sondern auch und gerade die äußeren Bedingungen des Handelns in den Umkreis ihrer Betrachtungen ziehen. – Wenn die Geschichte „ein System von Absichten und Zwecken“60 Vgl. ebd., S. 14. ist, so bleibt das Entscheidende [A 123]lediglich: ob es eine Art des „Verstehens“ gibt, welche in [290]dem Sinne „objektiv“ ist, daß sie nicht im Sinne des Bewertens ihres Stoffes (also jener „Absichten“ und „Zwecke“) „Stellung nimmt“, sondern lediglich „gültige“ Urteile über den faktischen Ablauf und den Zusammenhang von „Tatsachen“ erstrebt. Bei Münsterberg fehlt der entscheidende Begriff des theoretischen Beziehens auf Werte, den er vielmehr mit dem Begriff des „Wertens“ ineinander schiebt. – Gegen die Theorie von der Scheidung objektivierender und nicht objektivierender empirischer Disziplinen (in Natorps Fassung)65 Vgl. Natorp, Paul, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. – Freiburg i. B.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1888, S. 11 ff. (§ 4). vgl. auch Husserl, Logische Untersuchungen II, S. 340 f.
– der für uns wesentliche [288]Gehalt dieser Münster[A 122]bergschen Auffassung von der Eigenart der Geschichte und der ihr verwandten „Geisteswissenschaften“. Nun hat schon Schopenhauer [A 123]einmal gesagt, die Kausalität sei „kein [289]Fiaker, den man beliebig halten lassen kann“.56[289] Weber folgt einer Paraphrasierung in Rickert, Grenzen, S. 474. Vgl. Schopenhauer, Satz vom Grunde (wie oben, S. 54, Anm. 63), S. 38: „Das Gesetz der Kausalität ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen, wie ein Fiaker, den man, angekommen wo man hingewollt, nach Hause schickt.“ Da aber, nach Münsterberg, die Kluft zwischen „subjektivierender“ und „objektivierender“ Auffassung ein solches Innehalten an der Grenze des [290]„noëtisch“ Zugänglichen unvermeidlich machen würde, so verwirft er die Anwendbarkeit der Kausalitätskategorie auf das „subjektivierende“ Erkennen überhaupt. Denn wenn wir, so meint er, mit der kausalen Erklärung einmal beginnen, können wir keinenfalls mit dem Erklären aufhören, wenn wir „zufällig auf eine Willenshandlung stoßen, die neben ihrer erfahrbaren Konstitution auch noch eine verstehbare Innenseite hat“.61[290] Münsterberg, Psychologie, S. 130. Wir müßten vielmehr alsdann versuchen, auch diese Willenshandlung in eine Reihe von (psychophysischen) Elementarprozessen aufzulösen: können wir das nicht, so „bliebe eine dunkle Stelle zurück“, die wir durch „Einfühlung“ nicht (d. h. aber doch wohl nur: nicht im Sinn der Psychophysik) „erleuchten“ würden.62 Ebd., S. 131. Und umgekehrt können wir für die Erkenntnis von Subjektszusammenhängen nichts gewinnen – d. h. aber doch wohl nur: kein Mehr von „nacherlebendem“ Verständnis erreichen –, wenn wir „Unverstandenes unter die Kategorie von Objektzusammenhängen bringen“.63 Ebd. Um nun mit den zuletzt wiedergegebenen, mehr peripherischen Argumenten zu beginnen, so sind diese jedenfalls nicht zwingend. Die „subjektivierenden“ Deutungen, mit denen z. B. eine kulturhistorische Analyse etwa der Zusammenhänge zwischen religiösen und sozialen Umwälzungen in der Reformationszeit arbeiten würde, beziehen sich zunächst, soweit die „Innenseite“ der Handelnden in Betracht kommt, vom Standpunkt des experimentierenden Psychologen aus betrachtet, auf Bewußtseinsinhalte von unerhört komplexem Charakter; so komplex, daß vorerst noch kaum der erste Anfang einer „Auflösung“64 Ebd., S. 348. derselben in einfache „Empfindungen“ oder andere, auch nur vorläufig nicht weiter zerlegbare „Elemente“ vorliegt. Diesem [291]sehr trivialen Umstand tritt der fernere, noch trivialere, hinzu, daß [A 124]schwer abzusehen ist, wie für eine solche „Auflösung“, die ja doch nur im Wege „exakter“ (Laboratoriums-)Beobachtung möglich wäre, das Material jemals beschafft werden könnte. Das Entscheidende aber ist schließlich, daß die Geschichte sich ja doch keineswegs nur auf dem Gebiet jener „Innenseite“ bewegt, sondern die ganze historische Konstellation der „äußeren“ Welt als einerseits Motiv, andererseits Ergebnis der „Innenvorgänge“ der Träger historischen Handelns „auffaßt“, – Dinge also, die in ihrer konkreten Mannigfaltigkeit nun einmal weder in ein psychologisches Laboratorium noch überhaupt in eine rein „psychologische“ Betrachtung, wie immer man den Begriff der Psychologie begrenzen möge, eingehen. Und die bloße „Unzerlegbarkeit“ und „teleologische Einheit“ der Willenshandlung, oder vielmehr der Umstand, daß eine Wissenschaft die „Handlungen“ mit ihren „Motiven“ oder etwa die „Persönlichkeiten“ als für sich unzerlegbar behandelt – weil für ihre Fragestellung eine Zerlegung keinem wertvollen Erkenntniszweck dienen würde –, dieser Umstand allein genügt sicherlich nicht, um diese Disziplin aus dem Umkreis der „objektivierenden“ Wissenschaften zu streichen. Der Begriff der „Zelle“,66[291] Ebd., S. 30. mit welcher der Biologe arbeitet, zeigt in seinem Verhältnis zu physikalischen und chemischen Begriffen ganz die gleiche Erscheinung. Es ist weiterhin gar nicht abzusehen, warum nicht z. B. die exakte psychologische Analyse etwa der religiösen Hysterie67 Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S. 316. Weber referiert auf Hellpach, Willy, Nervosität und Kultur. – Berlin: Johannes Räde 1902, und ders., Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1904. einmal gesicherte Ergebnisse zeitigen könnte, welche die Geschichte als begriffliche Hülfsmittel zur kausalen Zurechnung bestimmter Einzelvorgänge ganz ebenso verwerten könnte und müßte, wie sie die brauchbaren Begriffe irgend welcher anderen Wissenschaften, wo sie ihren Zwecken nützen, anstandslos verwendet. Wenn dies geschieht – wenn also die Geschichte sich etwa von der Pathologie belehren ließe, daß gewisse „Handlungen“ Friedrich Wilhelms IV.68 Vgl. oben, S. 280 mit Anm. 34. sich gewissen von ihr ergründeten Regeln psychopathischer Reaktion fügen – dann passiert genau das, was Münsterberg für unmöglich erklärt: daß wir „Unverstandenes“ auf dem Wege [292]der „Objektivierung“ erklären31)[292][A 124] Wir werden gleich sehen, inwiefern Münsterberg trotzdem für die Geschichte Recht behält. Allein für andere Disziplinen gilt der Gegensatz des „Noëtischen“ zum „Gesetzlichen“ keineswegs in gleicher Art wie dort. Die Münsterbergsche Schilderung der Aufgaben der „Sozialpsychologie“ als „Psychophysik der Gesellschaft“69[292] Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 558 ff. ist ganz willkürlich. Für sozialpsychologische Untersuchungen ist der psychophysische Parallelismus ebenso gleichgültig wie etwa „energistische“ Hypothesen.70 Die Energetik ist eine naturphilosophische Auffassung, die sich gegen den mechanistischen Materialismus ebenso richtet wie gegen den Spiritualismus. Für sie sind Materie und Bewußtsein sowie alle Vorgänge in der Natur auf Erscheinungsformen der Energie zurückzuführen. Vgl. z. B. Ostwald, Wilhelm, Vorlesungen über Naturphilosophie. Gehalten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig. – Leipzig: Veit & Comp. 1902, S. 163 ff., und dazu Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, MWG I/12, S. 145–182. Wir werden ferner sehen, daß die „Deutung“ weit davon entfernt ist, nur Interpretation individueller Vorgänge sein zu können. „Sozialpsychologische“ [A 125]Untersuchungen, soweit sie heute vorliegen, sind durchweg mit dem Mittel und Ziel der Deutung arbeitende, aber generalisierende, „nomothetische“ Leistungen. Sie werden von den Ergebnissen experimentalpsychologischer, psychopathologischer und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen Notiz nehmen, wie sie dieselben verwerten können, selbst aber sich nicht im mindesten genötigt fühlen, als generelles Ziel ihrer Begriffsbildung das Zurückgehen auf „psychische Elemente“ im strengen Sinn aufzustellen. Sie begnügen sich ebenfalls mit demjenigen Maß von „Bestimmtheit“ ihrer Begriffe, welches ihrem Erkenntniszweck genügt. Und daß [A 125]die „subjektivierenden“ Wissenschaften überall da, wo die Ergebnisse „objektivierender“ Disziplinen für sie relevant werden, ähnlich verfahren, zeigt Münsterberg selbst, indem er die Verwertbarkeit experimentalpsychologischer Resultate für die Pädagogik betont32) S. 193 unten.71 Münsterberg, Psychologie, S. 193. , und dabei nur den gewiß zutreffenden – aber für die Geschichte und alle theoretischen Disziplinen nicht in Betracht kommenden – Vorbehalt macht, daß der praktische Pädagoge in seiner praktischen Tätigkeit, im lebendigen Verkehr also mit den Schülern, nicht einfach zum Experimentalpsychologen werden könne und dürfe. Dies nach Münsterberg deshalb nicht, weil 1. er hier, – wo er eben, nach Münsterbergs Terminologie, „stellungnehmendes Subjekt“, eben deshalb aber nicht Mann der Wissenschaft, auch nicht einer „subjektivierenden“, ist, – Ideale des Sein-Sollenden zu verwirklichen hat, über deren Wert oder Unwert eine analytische Erfahrungswissenschaft gar kein Ergebnis zeitigen kann –, 2. weil die für pädagogische Zwecke äußerst dürftigen Ergebnisse der Experimentalpsychologie durch den „gesunden Menschenverstand“ und die [293]„praktische Erfahrung“ an Bedeutung bei weitem übertroffen werden. Woher nun – um bei diesem ganz lehrreichen Beispiel einen Augenblick zu verweilen – diese letztere Erscheinung, für welche bei Münsterberg eine Begründung zu vermissen ist, und welche doch eigentlich allein interessiert? Offenbar daher, daß der konkrete Schüler oder die Vielzahl konkreter Schüler für die praktische Erziehung als Individuen in Betracht kommen, deren für die pädagogische Beeinflussung relevante Qualitäten in wichtigen Punkten durch eine ungeheure Summe von ganz konkreten Einflüssen der „Veranlagung“ und des individuellen „Milieus“ im weitesten Sinn dieses Wortes bedingt werden, – Einflüsse, die ihrerseits unter allen möglichen Gesichtspunkten zum Gegenstand wissenschaftlicher, auch „objektivierender“ Betrachtung gemacht, sicherlich aber nicht im Laboratorium eines Psychologen experimentell her[A 126]gestellt werden können. Jeder einzelne Schüler repräsentiert, vom Standpunkt der „Gesetzeswissenschaften“ aus, eine individuelle Konstellation einer Unendlichkeit einzelner Kausalreihen, er kann als „Exemplar“ in eine noch so große Anzahl von „Gesetzen“ auch bei Erreichung des denkbaren Maximums nomologischen Wissens immer nur in der Art eingeordnet werden, daß diese Gesetze als unter Voraussetzung einer Unendlichkeit „schlechthin“ gegebener Bedingungen wirkend gedacht werden.72[293] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 177 mit Anm. 10. Und die „erlebte“ Wirklichkeit „physischer“ Vorgänge unterscheidet sich darin in absolut nichts von der „erlebten“ Wirklichkeit „psychischer“ Vorgänge, wie gerade Münsterberg, der nachdrücklich den sekundären, erst im Gefolge der „Objektivierung“ eintretenden Charakter der Spaltung der Welt in „Physisches“ und „Psychisches“ betont, in keiner Weise bestreiten wird. Noch so umfassendes nomologisches Wissen – Kenntnis also von „Gesetzen“, d. h. aber: Abstraktionen – bedeutet eben hier so wenig wie sonst Kenntnis der „ontologischen“ Unendlichkeit der Wirklichkeit.73 Vgl. Einleitung, oben, S. 19 f. Daß die, zu ganz heterogenen Erkenntniszwecken gewonnene, wissenschaftlich-psychologische Kenntnis im Einzelfall einmal die „Mittel“ für die Erreichung eines pädagogischen „Zweckes“ nachweisen kann, ist gänzlich unbestreitbar, – ebenso sicher aber, daß dafür keinerlei Gewähr a priori bestehen kann, denn es hängt eben [294]natürlich auch von dem Inhalt des konkreten Zweckes der pädagogischen Tätigkeit ab, inwieweit generelle „exakte“ Beobachtungen der Psychologie von der Art, wie dies z. B. bei denjenigen über die Bedingungen der Ermüdung, über Aufmerksamkeit und Gedächtnis der Fall ist, auch generell und „exakt“ geltende pädagogische Regeln ergeben können. Die fundamentale Eigenschaft des „einfühlenden Verständnisses“ ist es nun, gerade individuelle „geistige“ Wirklichkeiten in ihrem Zusammenhang derart in ein Gedankenbild fassen zu können, daß dadurch die Herstellung „geistiger Gemeinschaft“74[294] Münsterberg, Psychologie, S. 61, spricht von „seelischer Gemeinschaft“. Für ihn können auch Gruppen zum Träger seelischer Inhalte werden: „Erkenntnis und Wille der nationalen oder wirtschaftlichen oder religiösen oder verwandtschaftlichen Gemeinschaft existieren nicht weniger wirklich als die seelischen Funktionen des einzelnen Nebenmenschen“ (ebd., S. 99). des Pädagogen mit dem oder den Schülern und damit deren geistige Beeinflussung in einer bestimmten gewollten Richtung möglich wird. Der unermeßliche Fluß stets individueller „Erlebnisse“, welcher durch unser Leben strömt,75 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 193 f. mit Anm. 69. „schult“ die „Phantasie“ des Pädagogen – und des Schülers – und ermöglicht jenes „deutende Verständnis“ des Seelenlebens, welches dem Pädagogen not tut. Inwieweit er daneben Anlaß hat, diese seine „Menschenkenntnis“ durch die Besinnung auf abstrakte „Gesetze“ aus dem Gebiet des „Anschaulichen“ in dasjenige des „Begrifflichen“ zu übertragen,76 Für Rickert sind Dinge und Vorgänge in ihrer individuellen Wirklichkeit anschaulich. Die Naturwissenschaften abstrahieren davon, um generelle Begriffe, d. h. Gesetze, zu formulieren. Als Gesetzeswissenschaften sind sie Begriffswissenschaften, während die historischen bzw. Kulturwissenschaften Wirklichkeitswissenschaften sind. Vgl. Rickert, Grenzen, S. 263, 265, 270, 285, 327. und, vor allem, wieweit alsdann die logische Bearbeitung in der Richtung auf die Bildung [A 127]von tunlichst „exakten“77 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 198 mit Anm. 86; Einleitung, oben, S. 15 f. mit Anm. 10. und generell geltenden Gesetzesbegriffen im Interesse der Pädagogik als wertvoll zu gelten hat, das hängt lediglich davon ab, ob für einzelne Zwecke die „exakte“ Bestimmtheit einer begrifflichen Formel irgend welche durch die „Vulgärpsychologie“ nicht erreichbaren „neuen“ Erkenntnisse einschließt, welche für den Pädagogen irgend welchen praktischen Wert haben33)[294][A 127] Die so oft verwertete Gegenüberstellung der „wissenschaftlichen“ Psychologie und der „Psychologie“ des „Menschenkenners“ ist in ihrer Bedeutung von Münster[295]berg – wie von so manchen anderen – m. E. unzutreffend aufgefaßt und mit Unrecht in den Dienst seines Dualismus gestellt worden. Wenn er (S. 181) sagt:79 Gemeint ist: Münsterberg, Psychologie, S. 181. „Der Menschenkenner kennt den ganzen Menschen, oder er kennt ihn gar nicht“, – so ist darauf zu antworten: er kennt das von ihm, was für bestimmte konkrete Zwecke relevant ist, und sonst nichts. Was an dem Menschen unter bestimmten konkret gegebenen Gesichtspunkten bedeutsam wird, das kann eine Gesetze suchende[,] rein psychologische Theorie unmittelbar schon aus logischen Gründen nicht in sich enthalten. Faktisch aber hängt es von den jeweils in Betracht kommenden, natürlich nicht nur „Psychisches“ enthaltenden Konstellationen des Lebens in ihrer unendlichen Variation ab, welche keine Theorie der Welt erschöpfend in ihre „Voraussetzungen“ aufnehmen kann. – Wenn Münsterberg die Bedeutungslosigkeit psychologischer Kenntnisse für die Politik mit der Bedeutung physikalischer Kenntnisse für den Brückenbau vergleicht,80 Vgl. ebd., S. 182. um die Kluft zwischen der durch Objektivierung gewonnenen „Psyche“ der Psychologie und dem „Subjekt“ des praktischen Lebens zu verdeutlichen, so paßt dieser Vergleich nicht, weil – von dem Gegensatz abgesehen, den das Beharren der technischen Situation, welche umständlichen Rechnungen geduldig stand hält, im Gegensatz zu der Flüchtigkeit der politischen Gelegenheit enthält – für den Brückentechniker bei den dem Schwerpunkt nach generell bestimmbaren Eigenschaften, welche die Brücke besitzen soll, generell bestimmbare Mittel eine absolut andere Rolle spielen als für den Politiker. Setzt man an Stelle des Brückenbauers etwa einen Billardvirtuosen, so tritt die Unzulänglichkeit der Kenntnis abstrakter Gesetze für die „Praxis“ auch auf dem Gebiet des Physikalischen deutlich hervor. Irreführend ist auch Münsterbergs gegen die Bedeutung jeglicher „Objektivierung“ des „nur“ Psychischen für das praktische Leben gerichtete Formulierung (S. 185),81 Ebd., S. 185. daß „die psychischen Inhalte“ eines andern für uns „gar keine praktische Bedeutung“ haben können, daß „unsere praktischen Vorausbestimmungen unseres Nachbars und seiner Handlungen“ sich vielmehr nur auf „seinen Körper und dessen Bewegungen“ bezögen. In unzähligen Fällen kann es uns: – der Mutter, dem Freunde, dem „Gentleman“ überhaupt – nicht gleichgültig sein, was der andere „empfindet“, auch wenn davon keinerlei „Handlung“ irgend einer Art, am allerwenigsten eine „Körperbewegung“ zu gewärtigen ist. . Bei der hochgradig [295]„historischen“ Natur der Bedingungen, mit welchen die Pädagogik zu rechnen hat, wird es sich dabei um relativ sehr kleine „Enklaven“78[295] Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 131: „Das Gebiet der Freiheit besteht nicht aus Enklaven, die zerstreut im Reich der Natur liegen“. innerhalb eines weiten Gebiets von „Lebenskennt[A 128]nissen“ handeln, welche nur eine relative, und zwar geringe, begriffliche Bestimmtheit besitzen, besitzen können und auch nur zu besitzen brauchen, um den Zwecken, um die es sich handelt, zu dienen.

Das Gleiche gilt nun aber für die historischen Disziplinen. Richtig ist an den Ausführungen Münsterbergs über ihre Stellung alles, was sich auf die lediglich negative Bedeutung des nicht „Deutbaren“ für die Geschichte bezieht. Erfahrungssätze der Psychopathologie und Gesetze der Psychophysik kommen für die Geschichte [296]nur genau in dem gleichen Sinn in Betracht, wie physikalische, meteorologische, biologische Erkenntnisse. Das heißt: Es ist ganz und gar Frage des Einzelfalls, ob die Geschichte oder die Nationalökonomie von den feststehenden Ergebnissen einer psychophysischen Gesetzeswissenschaft Notiz zu nehmen Anlaß hat. Denn die zuweilen gehörte Behauptung,82[296] Vgl. Lamprecht, Kulturgeschichte, S. 77: „Einig ist man sich allerdings darin, dass die Psychologie die Grundlage aller Geschichtswissenschaft sein müsse.“ daß die „Psychologie“ im allgemeinen oder eine erst zu schaffende besondere Art von Psychologie um deswillen für die Geschichte oder die Nationalökonomie ganz allgemein unentbehrliche „Grundwissenschaft“ sein müsse, weil alle geschichtlichen und ökonomischen Vorgänge ein „psychisches“ Stadium durchlaufen, durch ein solches „hindurchgehen“ müßten, ist natürlich unhaltbar. Man müßte sonst, da alles „Handeln“ heutiger Staatsmänner durch die Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, also durch Schallwellen und Tintentropfen usw. „hindurchgeht“, auch die Akustik und die Lehre von den tropfbaren Flüssigkeiten für unentbehrliche Grundwissenschaften der Geschichte halten. Die heute so populäre Meinung, es genüge, die „Bedeutung“ bestimmter realer „Faktoren“ für kausale Zusammenhänge des Kulturlebens aufzuweisen, um schleunigst eine spezielle „Wissenschaft“ von diesen „Faktoren“ zu gründen, übersieht, daß die erste Frage doch stets ist, ob in jenen „Faktoren“ generell etwas Problematisches steckt, welches nur durch eine spezifische Methode gelöst werden kann. Wir wären vor vielen „…logien“ bewahrt geblieben, wenn diese Frage regelmäßig auch nur aufgeworfen würde. – Es läßt sich – schon aus diesen Gründen – nicht einmal behaupten, daß die Geschichte a priori ein „näheres“ Verhältnis zu irgend einer Art von „Psychologie“ haben müsse als zu anderen Disziplinen. Denn sie behandelt eben nicht den im Menschen durch gewisse „Reize“ ausgelösten Innenvorgang um seiner selbst willen, sondern das Verhalten des Menschen zur „Welt“, in seinen „äußeren“ Bedingungen und Wirkungen. Der „Standpunkt“ ist dabei freilich stets ein in einem spezifischen Sinn „anthropozentrischer“. Wenn in der Geschichte Englands der [A 129]schwarze Tod83 Zur Pest in der Geschichte Englands im 14. Jahrhundert vgl. Pauli, Reinhold, Geschichte von England, Band 4. – Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1855, S. 417 ff. nicht in kausalem Regressus auf das Gebiet etwa [297]der bakteriologischen Erkenntnis verfolgt, sondern als ein Ereignis gewissermaßen aus einer „außerhistorischen“ Welt, als ein „Zufall“ behandelt wird, so hat dies zunächst einfach seinen Grund in den „Kompositionsprinzipien“, denen auch jede wissenschaftliche Darstellung untersteht, ist also in soweit nicht erkenntnistheoretisch begründet. Denn eine „Geschichte des schwarzen Todes“,84[297] Vgl. z. B. Hecker, Justus Friedrich Karl, Der schwarze Tod im vierzehnten Jahrhundert. Nach den Quellen für Aerzte und gebildete Nichtärzte bearbeitet. – Berlin: Friedrich August Herbig 1832. welche sorgsam die konkreten Bedingungen und den Verlauf der Epidemie auf Grund medizinischer Kenntnisse analysiert, ist natürlich sehr wohl möglich: – sie ist dann „Geschichte“ im wirklichen Sinn des Wortes, wenn sie durch jene Kulturwerte, welche unsere Betrachtung einer Geschichte Englands in der betreffenden Zeit leiten, sich ebenfalls leiten läßt, wenn also ihr Erkenntniszweck nicht ist: Gesetze z. B. der Bakteriologie zu finden, sondern kulturhistorische „Tatsachen“ kausal zu erklären. Das bedeutet nun, infolge des begrifflichen Wesens der „Kultur“, stets, daß sie darin gipfelt, uns zur Erkenntnis eines Zusammenhanges hinzuleiten, in welchen verständliches menschliches Handeln oder, allgemeiner, „Verhalten“ eingeschaltet und als beeinflußt gedacht ist, da hieran sich das „historische“ Interesse heftet.

Eine psychologische Begriffsbildung, welche im Interesse der „Exaktheit“ unter die Grenze des „Noëtischen“85 Vgl. oben, S. 287, Anm. 52. herunter auf irgend welche nicht in der empirisch gegebenen Psyche verstehend „nacherlebbare“ Elemente griffe, würde für die Geschichte ganz in die gleiche Stellung rücken, wie das nomologische Wissen irgend einer anderen Naturwissenschaft oder wie – nach der anderen Seite – irgend eine Reihe nicht verständlich deutbarer statistischer Regelmäßigkeiten. Soweit psychologische Begriffe und Regeln oder statistische Zahlen der „Deutung“ nicht zugänglich sind, stellen sie Wahrheiten dar, welche von der Geschichte als „gegeben“ hingenommen werden, die aber zur Befriedigung des spezifisch „historischen Interesses“ nichts beitragen.

Die Verknüpfung des historischen Interesses mit der „Deutbarkeit“ bleibt also als das eigentlich zu Analysierende immer wieder allein zurück.

[298]Münsterberg trägt in die Erörterung der Bedeutung dieses Umstandes erhebliche Unklarheiten hinein. Es verwirrt sich sein Gedankengang auf das Bedenklichste namentlich dadurch, daß, um die Kluft zwischen „objektivierender“ und „subjektivierender“ Betrachtungsweise möglichst weit aufzureißen, bei ihm Erkenntniskategorien und Begriffe sehr heterogener Art miteinander teils terminologisch, teils sachlich verquickt werden. Es bleibt bei [A 130]seinen verschiedenen Aufstellungen über jene Erkenntniskategorie zunächst unklar, inwieweit das Wortpaar „Verstehen und Bewerten“ (Münsterbergs Bezeichnung der „natürlichen Betrachtung des Geisteslebens“)34)[298][A 130] S. 14 oben.87 Vgl. ebd., S. 14. ging einheitliche, oder zwei an sich verschiedene, wenn auch bei der „subjektivierenden“ Betrachtungsweise in steter Gemeinschaft miteinander auftretende Formen des „subjektivierenden“ Sich-Verhaltens zum „Geistesleben“ bedeuten sollen. Sicher und von Münsterberg nicht bestritten ist, daß das „Bewerten“ von Seiten des „stellungnehmenden Subjektes“ auch an nicht „geistigen“, also nicht „verstehbaren“ Dingen vollzogen wird. Die Frage bleibt also, inwieweit auch ein subjektivierendes „Verstehen“ – von „geistigem“ Leben – ohne „Bewerten“ möglich ist. Die bejahende Beantwortung könnte zweifellos erscheinen, da Münsterberg ja „normative“ und „historische“ subjektivierende Wissenschaften unterscheidet.86[298] Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 15, 18, 35, 65 f., 104, 109. Alles wird aber wieder zweifelhaft angesichts der Tatsache, daß die Tabelle der Wissenschaftssystematik, welche Münsterberg seinem Buche nachgesendet hat35)In der Psychological Review Monogr[aph] Suppl[ements] Vol. IV.88 Münsterberg, Position, Faltblatt nach S. 654. Umgekehrt noch Grundzüge der Psychologie, S. 17.89 Münsterberg, Psychologie, S. 17. Münsterbergs Ansichten befinden sich im Fluß. Der Aufsatz einer seiner Schülerinnen Mary Whiton Calkins, Der doppelte Standpunkt in der Psychologie (1905)90 Calkins, Standpunkt. – zeigt schon in seinem Titel, was aus der „subjektivierenden“ Betrachtungsweise geworden ist., die Mutter aller „exakten“ Wissenschaften: die Philologie, restlos den objektivierenden Wissenschaften zuweist, obwohl der Philologe ohne allen Zweifel (nicht nur, aber auch und in hervorragendem Maße) deutend verfährt und nicht nur bei Konjekturen – die Mün[299]sterberg vielleicht als „Teilarbeit“ der Literatur-, also Kulturgeschichte ansprechen würde –[,] sondern ebenso bei jeder nicht rein klassifizierenden Arbeit der Grammatik ausschließlich, und – obwohl dies den „Grenzfall“ darstellt – sogar bei der Lautwandellehre doch auch36)[299] Siehe dazu die wesentlich gegen Wechßlers Aufsatz in der Festgabe für Suchier,92 Vgl. Wechssler, Lautgesetze. aber überhaupt gegen die ausschließlich psychophysische Behandlung dieser methodologischen crux philologorum gerichtete Schrift von K[arl] Voßler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904),93 Voßler, Positivismus. auch die, freilich in der Identifikation von „Gesetzlichkeit“ und „Kausalität“ fehlerhaften Erwiderungen Wundts in seiner „Völkerpsychologie“, Bd. I.94 Wundt, Völkerpsychologie I,1, S. 360 ff. sich an das „nacherlebende Verstehen“ wenden muß. Es scheint daher, als ob es auch „deutendes“ wissenschaftliches Arbeiten gebe, welches dennoch „objektivierenden“ Disziplinen angehört, weil es nicht „wertet“. Es spielen aber bei Münsterberg überhaupt heterogene Gesichtspunkte in das Problem hinein. Entscheidend tritt dies darin [A 131]zutage, daß er das „Verstehen“, das „Einleben“, „Würdigen“ und „Einfühlen“ der „subjektivierenden Wissenschaften“ mit „teleologischem Denken“ identifiziert37)[A 131] A.a.Ob[299]a. a. O. weiter unten.95 Münsterberg, Psychologie, S. 14. – Noch verwirrender ist es, wenn (S. 14 f.) der Satz „wer Zwecke setzt, ist frei“ aufgestellt und dann das Zwecke-Setzen, also eine rationale Funktion, mit der „anschaulichen Mannigfaltigkeit“ des „Erlebten“ ineinander geschoben wird. Ebenso wird S. 106 „Stellungnahme“ und „Willensakt“ identifiziert und die „erlebte“ Wirklichkeit mit dem „Geltenden“. .

Nun kann man ja unter „teleologischem Denken“ sehr Verschiedenes verstehen. Nehmen wir zunächst an, es handle sich um die Deutung von Vorgängen aus ihrem Zweck. Dann ist sicher – und wir werden es noch näher erörtern91[299] Möglicherweise Bezug auf Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 363. –, daß das „teleologische Denken“ einen engeren Umkreis deckt als unsere Fähigkeit des „subjektivierenden Einlebens“ und „Verstehens“. Anderseits erstreckt sich teleologisches „Denken“ in diesem Sinn keineswegs nur auf „Geistesleben“ oder menschliches Handeln, sondern ist in allen Wissenschaften, welche mit „Organismen“ – z. B. Pflanzen – zu tun haben, zum mindesten als eine höchst wichtige „Durchgangsstufe“ anzutreffen. Endlich schließen die Kategorien „Zweck“ und „Mit[300]tel“, ohne welche es teleologisches „Denken“ überhaupt nicht gibt, sobald mit ihrer Hülfe wissenschaftlich operiert wird, gedanklich geformtes nomologisches Wissen, d. h. also: Begriffe und Regeln, an der Hand der Kausalitätskategorie entwickelt, ein. Denn es gibt zwar kausale Verknüpfung ohne Teleologie, aber keine teleologischen Begriffe ohne Kausalregeln38)[300] Wir kommen auf das Thema der „teleologischen“ Begriffsbildung in diesem Sinne eingehender zurück.98 Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 358 ff. – Äußerst unklar ist die Bemerkung Bernheims, Hist[orische] Methode, 3. Aufl. S. 119:99 Bernheim, Lehrbuch, S. 119. „Die geschichtlichen Betätigungen der Menschen sind für unsere Erkenntnis nur teleologisch zu fassen, d. h. wesentlich als Willenshandlungen, die durch Zwecke bestimmt sind, und ihre begriffliche Erkenntnis unterscheidet sich dadurch wesentlich von der naturwissenschaftlichen, bei deren Begriffen die Zusammengehörigkeit und Einheit nicht von dem psychologischen Moment erreichter oder zu erreichender Zwecke bestimmt wird“. Der Versuch, den Unterschied näher zu präzisieren, wird gar nicht gemacht. Denn es kann doch wohl eine Begriffsbildung nicht als „teleologisch“ qualifizieren, daß die von ihr zu erfassenden Vorgänge der „psychischen Kausalität“ unterliegen, „welcher“, wie es im gleich darauf folgenden Satze heißt; „die Zwecke angehören“.1 Ebd., S. 118 f., bezieht sich auf Rickerts Theorie teleologischer Begriffsbildung in Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62), S. 49 ff., meint aber offenbar – was Rickert ausschließt –, „dass die Geschichte aus den bewussten Zwecksetzungen der Personen, von denen sie handelt, ,erklärt‘ werden soll“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 353, Fn. 29 mit Anm. 17. . – Würde unter „teleologischem Denken“ dagegen lediglich die Gliederung des Stoffs durch Wertbeziehungen, also die „teleologische Begriffsbildung“96[300] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 192 mit Anm. 64. oder das Prinzip der „teleologischen Dependenz“ gemeint sein, in dem Sinne, in [A 132]welchem Rickert und nach ihm andere97 Rickert verwendet diesen Begriff nicht. Vgl. aber Windelband, Wilhelm, Vom System der Kategorien, in: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900. – Tübingen, Freiburg i. B. und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. 43–58, hier S. 57: „Die Bestimmtheit der zeitlichen Reihenfolge aber, in der die reale Zusammengehörigkeit der Zustände zum Ausdruck gelangt, wird entweder so gedacht, dass der vorhergehende Zustand den nachfolgenden oder so, dass umgekehrt der nachfolgende den vorhergehenden ,zum Dasein in der Zeit bestimmt‘: im ersteren Falle handelt es sich um die causale, im zweiten um die teleologische Dependenz.“ diese Begriffe verwenden39)[A 132] Mit Bezug auf die „teleologische Begriffsbildung“ in diesem Sinne ist auch Conradc[300]A: Konrad Schmidt (in seiner Besprechung des Adlerschen Buches im Jaffé-Braunschen Ar[301]chiv XX, S. 397) insofern ein Irrtum unterlaufen, als er Rickert den „Teleologen“ vom Gepräge Stammlers zuzählt und mich gegen ihn zitiert.6 Vgl. Schmidt, Adler, S. 397, 401, 404, mit den Bezügen auf Weber, Rickert und Stammler. – Allein selbstredend hat jene „teleologische Begriffsbildung“ mit einem Ersatz der Kausalität als Kategorie der Erklärung durch irgendwelche Teleologie nichts zu tun. , so hätte dies natürlich weder mit einem „Ersatz“ der Kausalität durch irgendwelche „Teleologie“, noch mit einem [301]Gegensatz zur „objektivierenden“ Methode irgend etwas zu tun, da es sich hier lediglich um ein Prinzip der Auswahl des für die Begriffsbildung Wesentlichen durch Beziehung auf Werte handelt, die „Objektivierung“ und Analysis der Wirklichkeit also dabei gerade vorausgesetzt wird. –

Man könnte nun aber die Verwendung „teleologischen Denkens“ in den historischen Disziplinen etwa darin finden wollen, daß sie Begriffe „normativer“ Disziplinen, z. B. namentlich solche der Jurisprudenz, übernehmen und verwenden. – Nun ist selbstverständlich die juristische Begriffsbildung keine „kausale“.2[301] Vgl. Jellinek, System2, S. 18. Sie erfolgt, soweit sie begriffliche Abstraktion ist, unter der Fragestellung: wie muß der zu definierende Begriff X gedacht werden, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll, neben- und miteinander bestehen können?3 Vgl. z. B. Jellinek, ebd., S. 16 f.: „Wie muss das Eigentum gedacht werden, damit alle auf dasselbe sich beziehenden Normen zu einer widerspruchslosen Einheit zusammengefasst werden können? Also nicht: was ist das Eigentum, sondern wie ist es zu denken, ist die Weise wissenschaftlicher juristischer Fragestellung.“ Es steht nichts im Wege, diese Art der Begriffsbildung, welche die eigenartige „subjektive Welt“4 Für Jellinek, ebd., S. 28, arbeitet der Jurist „in der subjektiven Welt, in der das Rechtsleben sich abspielt und nicht theoretische Erkenntnis, sondern praktisches Handeln herrscht“. der juristischen Dogmatik konstituiert, „teleologisch“5 Jellinek, ebd., S. 21, 26, referiert auf Sigwarts „Ausführung über die teleologische Einheit“. Für Sigwart, Logik II (wie oben, S. 5, Anm. 31), S. 258, sind „Collectivbegriffe“ Begriffe „eines Ganzen, das aus einer Vielheit discreter, für sich als Einheiten gedachter Theile besteht, eines Ganzen aus Stücken oder Individuen“. Die „Einheit“ eines solchen Ganzen kann erstens eine „äusserliche und zufällige Einheit“ sein, z. B. bei einem „Sandhaufen“; sie kann zweitens auf einer „causale[n] Beziehung“ beruhen, sei es „Abhängigkeit von Einer Ursache, sei es Wechselwirkung“, z. B. beim „Sonnensystem“: sie kann drittens als „teleologische Einheit“ auftreten, wo „der Zweck den einzelnen Gliedern als bewusster Gedanke oder wenigstens als Trieb immanent ist, wie bei allen Verhältnissen menschlicher Gemeinschaft oder in den Schwärmen der Bienen“ (ebd., S. 258 f.). zu nen[302]nen40)[302] Siehe über die prinzipielle logische Geschiedenheit der juristischen Gedankengebilde von denjenigen der rein empirisch-kausalen Disziplinen die anschaulichen Formulierungen von Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 23 ff. . Allein so selbstverständlich die Bedeutung der so gewonnenen juristischen Begriffsgebilde gegenüber den Begriffsbildungen aller kausal erklärenden Disziplinen gänzlich autonom ist, mit kausaler Interpretation der Wirklichkeit gar nichts zu schaffen hat, – so unzweifelhaft ist es, daß die Geschichte und alle Spielarten der nicht normativen „Gesellschaftswissenschaften“ diese Begriffsbildungen in ganz anderem Sinne verwerten als die juristische Dogmatik. Für letztere steht der begriffliche Geltungsbereich gewisser Rechtsnormen, für jede empirisch-geschichtliche Betrachtung dagegen das faktische „Bestehen“ [A 133]einer „Rechtsordnung“, eines konkreten „Rechtsinstituts“ oder „Rechtsverhältnisses“ nach Ursachen und Wirkungen in Frage. Sie finden als diesen „faktischen Bestand“ in der historischen Wirklichkeit die „Rechtsnormen“ einschließlich der Produkte der dogmatisch-juristischen Begriffsbildung lediglich als in den Köpfen der Menschen vorhandene Vorstellungen vor, als einen der Bestimmungsgründe ihres Wollens und Handelns neben anderen, und sie behandeln diese Bestandteile der objektiven Wirklichkeit wie alle anderen: kausal zurechnend. Das „Gelten“ eines bestimmten „Rechtssatzes“ kann z. B. für die abstrakte ökonomische Theorie7[302] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 197 mit Anm. 82. unter Umständen begrifflich sich auf den Inhalt reduzieren: daß bestimmte ökonomische Zukunftserwartungen eine an Sicherheit grenzende faktische Chance8 Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S. 472 mit Anm. 41. der Realisierung haben. Und wenn die politische oder soziale Geschichte juristische Begriffe verwenden – wie sie dies fortwährend tun –[,] so wird das ideale Geltenwollen des Rechtssatzes hier nicht erörtert, sondern die juristischen Normen sind nur der für die Geschichte allein in Betracht kommenden faktischen Realisierung gewisser äußerer Handlungen von Mensch zu Mensch terminologisch soweit substituiert, als dies nach Lage der Sache möglich ist. Das Wort ist dasselbe, – was gemeint ist, etwas in logischem Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen, [303]teils ein „idealtypischer“ Kollektivbegriff geworden.9[303] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 203 ff., S. 228 mit Anm. 71, und S. 231. Daß dies leicht übersehen wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit Naturobjekten identifiziert werden. Der wirkliche Tatbestand ist, wie gesagt: daß der juristische Terminus zur Erfassung eines rein kausal zu analysierenden realen Sachverhaltes verwendet wird und normalerweise auch verwendet werden kann, weil wir alsbald dem Geltenwollen juristischer Begriffsgebilde das faktisch existente soziale Kollektivum unterschieben41)[303][A 133] Wenn man von den „handelspolitischen Interessen Deutschlands“ redet, so ist der Begriff „Deutschland“, der hier verwendet wird, ganz offenbar ein anderer, als der juristische Begriff des „Deutschen Reichs“, welches, als Rechtspersönlichkeit, den Handelsvertrag abschließt.11 Vgl. Jellinek, Staatslehre (wie oben, S. 91, Fn. 86, Anm. 26), S. 160: „Seiner juristischen Seite nach kann der Staat […] nur als Rechtssubjekt gefasst werden, und zwar ist es näher der Begriff der Körperschaft, unter den er zu subsumieren ist. […] Der Begriff der Körperschaft aber ist ein rein juristischer Begriff, dem, wie allen Rechtsbegriffen, in der Welt der Tatsachen nichts objektiv Wahrnehmbares entspricht; er ist eine Form der juristischen Synthese, um die rechtlichen Beziehungen der Verbandseinheit, ihr Verhältnis zur Rechtsordnung auszudrücken.“ – Ob freilich nicht gerade in diesen Fällen die Verwendung der Kollektiva die Quelle arger Unklarheiten werden kann, ist eine Frage für sich. Ganz zu vermeiden sind sie nicht. . –

[A 134]Würde man endlich – wie dies sicherlich Münsterbergs eigentlicher, wennschon durch seine eigenen Ausführungen verdunkelter Ansicht entspricht –, unter „subjektivierendem“ und deshalb „teleologischem“ Denken ein solches verstehen, welches, unbekümmert um die Abstraktionen psychologischer Theorien, das „Wollen“ in seiner empirischen, ungebrochenen Gegebenheit nimmt, und seinen Ablauf, seine Konflikte und Verbindungen mit fremdem Wollen und – was aber bei Münsterbergs Ausdrucksweise immer wieder unter den Tisch fällt – mit den Widerständen und „Bedingungen“ der „Natur“, denkend zu erfassen sucht, so würde die Tatsache, daß es andere Disziplinen gibt, welche für ihre Erkenntniszwecke das „Wollen“ als einen „Empfindungskomplex“ behandeln, doch keine prinzipielle, wie Münsterberg sagt: „ontologische“,10 Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 35, 41 f., 45, 158. Kluft zwischen beiden Betrachtungsweisen begründen. [304]Sie würde auch einer Gewinnung von kausalen Regeln durch eine Disziplin, für welche das „Wollen“ ein für allemal die letzte, nicht weiter zu zerlegende „Einheit“ bildet, nach dem früher Ausgeführten natürlich durchaus nicht im Wege stehen.

Immer wieder bleibt also als spezifisches Merkmal der „subjektivierenden“ Wissenschaften, soweit sie historische Wissenschaften und nicht normative Disziplinen sind, das Ziel des „Einfühlens“, „Nacherlebens“, kurz des „deutenden Verstehens“. Der „Objektivierung“ entrinnt aber bei den auf dieses „Verstehen“ abzielenden Disziplinen der konkrete psychische „Vorgang“, z. B. das „unmittelbar“ verständliche „Wollen“ und ebenso auch das „Ich“ in seiner „unmittelbar“ verständlichen „Einheit“ niemals, wo immer es sich um eine wissenschaftliche Darstellung von Tatsachen handelt, zu deren Wesen es eben gehört, daß sie überindividuell als „objektive Wahrheit“ gelten will. Diese Objektivierung wird sich, wo es sich um die Ausnutzung unserer Fähigkeit des „deutenden“ Verstehens handelt, teilweise, namentlich in der Art und Weise ihrer begrifflichen Bestimmtheit, anders gestalteter Demonstrationsmittel bedienen, als da, wo das Zurückgehen auf „unverstandene“ aber eindeutig bestimmte „Formeln“ das Ziel sein soll, und allein sein kann, aber „Objektivierung“ ist sie eben auch. Münsterberg42)[304][A 134] S. 12614 Münsterberg, Psychologie, S. 126. ist der Ansicht, daß das subjektivierende „Nachfühlen“, welches im Gegensatz zu der ebenfalls von dem „Anerkennen“ fremder Subjekte ausgehenden, dann aber im Interesse der Beschreibung, Erklärung und Mitteilung den Weg der „Introjektion“12[304] Vgl. oben, S. 285 mit Anm. 44. einschlagenden Psychologie, der Historiker [A 135]verwende, sich auf das „Zeitlose“ des „Erlebnisses“ beziehe, daher wesensgleich mit dem „Verstehen“ des „stellungnehmenden Subjektes“ sei. Je weniger „begrifflich“ bestimmt der Ausdruck, desto sicherer erreiche daher der Historiker seinen Zweck. Wir kommen darauf noch näher zurück,13 Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 347 ff. hier sei nur folgendes dazu bemerkt: Die Kategorie der „Deutung“ zeigt ein doppeltes Gesicht: sie kann 1. eine Anregung zu einer bestimmten gefühlsmäßigen Stellungnahme sein wollen – so die „Suggestion“ eines Kunstwerks oder einer „Naturschön[305]heit“: dann bedeutet sie die Zumutung zum Vollzug einer Wertung bestimmter Qualität.15[305] Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 146 f., 151 f. Oder sie kann 2. Zumutung eines Urteils im Sinn der Bejahung eines realen Zusammenhanges als eines gültig „verstandenen“ sein: dann ist sie das, was wir hier allein behandeln: kausal erkennende „Deutung“43)[305][A 135] Wir erörtern hier noch nicht, daß zwischen beiden Kategorien eine dritte liegt: die „Deutung“ im Sinn einer nicht „kausalen“, und auch nicht wertenden, sondern die Wertung durch Analyse möglicher Wertbeziehungen eines Objektes (etwa des „Faust“) vorbereitenden „Interpretation“.18 Zu Goethe, Faust I–II, und den „Interpretationen“ vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 349 ff. . Sie ist bei der „Naturschönheit“ in Ermangelung metaphysischer Aufstellungen ausgeschlossen, beim Kunstwerk auf die historische „Deutung“ der „Intentionen“ und der „Eigenart“ des Künstlers in ihrer Bedingtheit durch die zahllosen in Betracht kommenden Determinanten seines Schaffens beschränkt. Wenn in den „Genuß“ des Kunstwerks beides ungeschieden einzugehen pflegt und in den Darstellungen der Kunsthistoriker nur zu oft beides nicht geschieden wird, wenn ferner die faktische Scheidung ungemein schwer fällt und die Fähigkeit dazu erarbeitet werden will, und wenn endlich und vor allem die wertende Deutung in gewissem Umfang der unentbehrliche Schrittmacher für die kausale Deutung ist, – so ist die prinzipielle Scheidung beider von der Logik doch selbstverständlich unbedingt zu postulieren.16 Vgl. ebd., S. 146. Sonst wird „Erkenntniszweck“ und „praktischer Zweck“ ähnlich ineinander geschoben, wie dies so oft zwischen Erkenntnisgrund und Realgrund17 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 53 mit Anm. 63. geschieht. Es steht jedermann frei, sich auch in Form einer historischen Darstellung als „stellungnehmendes Subjekt“ zur Geltung zu bringen, politische oder Kulturideale oder andere „Werturteile“ zu propagieren und zur Illustration der praktischen Bedeutung dieser und anderer, bekämpfter, Ideale das ganze Material der Geschichte zu verwenden, ganz ebenso wie Biologen oder Anthropologen gewisse „Fortschritts“-Ideale sehr subjektiver Art oder philosophische Überzeugungen in ihre Untersuchungen hineintragen und damit natürlich nichts anderes tun, als [A 136]jemand, der das ganze Rüstzeug naturwissenschaftlicher Erkenntnis zur erbaulichen Illustration etwa der „Güte Gottes“ [306]verwertet.19[306] Möglicherweise Bezug auf Reinke, Johannes, Die Welt als Tat. Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage, 3. Aufl. – Berlin: Gebrüder Paetel 1905. In jedem Fall redet aber dann nicht der Forscher, sondern der wertende Mensch, und wendet sich die Darlegung an wertende, nicht an nur theoretisch erkennende Subjekte. Die Logik ist durchaus außer stande zu hindern, daß eben aus diesem Grunde der Markt des stürmisch wollenden und ethisch oder ästhetisch wertenden Lebens20 „Markt des Lebens“ ist Titel eines Gedichts von Herder: „Staune nicht an den glänzenden Markt des Lebens; doch geh auch nicht vorüber; tritt ein! Kaufe, was kaufen du kannst. Und erharre der Zeit: Sie ist die Göttin des Armen, Was man heut theurer erkauft, giebt sie dir morgen umsonst.“ Vgl. Herder, Johann Gottfried, Zerstreute Blätter. Erste Sammlung. – Gotha: Carl Wilhelm Ettinger 1785, S. 85. Vgl. auch Tiedge, Christoph August, Wanderungen durch den Markt des Lebens, 2 Bände. – Halle: Renger 1835; Thackeray, William Makepeace, Der Markt des Lebens. Ein Roman ohne einen Helden. Aus dem Englischen übersetzt von August Diezmann, 6 Bände. – Leipzig: B. G. Teubner 1848–1849. gerade diese Bestandteile als das eigentlich „Wertvolle“ einer „historischen Leistung“ ansieht, – was sie allein feststellen kann und, will sie sich treu bleiben, muß, ist: daß in diesem Fall nicht der Erkenntniszweck es ist, an welchem gemessen wird, sondern andere Zwecke und Gefühlswerte der Lebenswirklichkeit. Auch die Geschichte behandelt „objektivierte Selbststellungen“, wie dies Münsterberg44)[306][A 136] S. 95, 96.21 Münsterberg, Psychologie, S. 95 f. für die Psychologie in dem Anfangsstadium ihrer Begriffsbildung statuiert. Der Unterschied beider ist, daß die Geschichte zwar generelle Begriffe und „Gesetze“ verwendet, wo sie ihrer kausalen Zurechnung des Individuellen dienlich sind, aber nicht selbst auf die Bildung solcher Gesetze ausgeht, daher zur Entfernung von der Wirklichkeit in der Richtung, welche die Psychologie einschlägt, von sich aus keinen Grund hat.

Daß wir bei der „deutenden“ Synthese eines individuellen historischen Vorganges oder einer historischen „Persönlichkeit“ Wertbegriffe verwenden, deren „Sinn“ wir selbst als stellungnehmende Subjekte handelnd und fühlend fortwährend „erleben“, ist ganz richtig. Dies ist jedoch zwar auf dem Gebiet der „Kulturwissenschaften“ infolge der Eigenart ihres durch den Erkenntniszweck geformten und begrenzten Objekts am umfassendsten der Fall, aber durchaus nicht nur ihnen eigentümlich. „Deutungen“ bilden z. B. den unvermeidlichen Durchgangspunkt auch der „Tierpsycho[307]logie“45)[307] Münsterberg selbst sagt ja gelegentlich, daß wir auch das Tier als stellungnehmendes Subjekt „anerkennen“.22[307] Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 8, 98 f., 101, 192, 464 ff. Die Tierpsychologie ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Wegbereiter waren u. a. Christian Josef Fuchs, Andreas Christian Gerlach, Hermann Pütz, Peter Scheitlin. Vgl. auch später Weber, Soziologische Grundbegriffe, MWG I/23, S. 163 f. Man fragt vergebens nach logischen Gründen, welche angesichts dessen die „subjektivierenden“ Disziplinen auf den Menschen beschränken sollten. , und „Deutungen“ enthalten ihrem ursprünglichen Gehalt nach auch die „teleologischen“ Bestandteile biologischer Begriffe. Aber wie hier an Stelle der metaphysischen Hineindeutung eines „Sinnes“ die bloße Faktizität der mit Bezug auf die Daseinserhaltung „zweckmäßigen“ Funktionen tritt, so an Stelle der „Wertung“ die theoretische Wertbeziehung, an Stelle der „Stellungnahme“ des erlebenden Subjekts [A 137]das kausale „Verstehen“ des deutenden Historikers. In all diesen Fällen tritt die Verwendung von Kategorien der „erlebten“ und „nacherlebten“d[307]A: nacherlebten“ Wirklichkeit eben in den Dienst „objektivierender“ Erkenntnis. Das hat methodisch wichtige und interessante Folgen, aber nicht die, welche Münsterberg voraussetzt. Welche? – könnte nur eine, soweit ersichtlich, heute kaum angebahnte Theorie derDeutung“ geben46)[A 137] Die Arbeiten von Schleiermacher und Boeckh über die „Hermeneutik“ kommen hier nicht in Betracht, da sie nicht erkenntnistheoretische Ziele verfolgen.23 Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, hg. von Friedrich Lücke (ders., Sämmtliche Werke, 1. Abt.: Zur Theologie, Band 2: Friedrich Schleiermacher’s literarischer Nachlaß). – Berlin: G. Reimer 1838; Boeckh, August, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck, 2. Aufl., besorgt von Rudolf Klussmann. – Leipzig: B. G. Teubner 1886. Die von den Psychologen (Ebbinghaus) scharf abgelehnten Erörterungen Diltheys in den Abhandlungen der Berliner Akademie (1895)24 Dilthey, Ideen, erschien bereits 1894; dazu die Kritik von Ebbinghaus, Hermann, Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Band 9, 1896, S. 161–205. leiden unter dem Vorurteil, daß bestimmten formalen Kategorien unseres Erkennens auch eigene systematische Wissenschaften entsprechen müßten. (Dazu vgl. Rickert a. a. O. S. 188 Anm.)25 Für Rickert, Grenzen, S. 188, muß auch der Historiker ein „Kenner des Seelenlebens“ sein und braucht insofern eine „historische Psychologie“; Rickert bezweifelt jedoch die Möglichkeit, diese zu einer „systematischen Wissenschaft“ zu machen. Eine spezielle Auseinandersetzung mit den Gedanken dieses Gelehrten unterbleibt im übrigen in diesem Zu[308]sammenhang besser, da alsdann für das Verständnis der Münsterbergschen ebenso wie der weiterhin zu besprechenden Gottlschen Ansichten auch Mach und Avenarius herangezogen werden müßten und wir ins Bodenlose gerieten. Zu manchen der folgenden Ausführungen sind jedoch Diltheys Aufsatz in der Festgabe für Sigwart (Zur Entstehung der Hermeneutik),26[308] Dilthey, Hermeneutik. seine „Beiträge zum Studium der Individualität“ (Berliner Akademie 1896, XIII)27 Dilthey, Individualität. und seine „Studien zur Grundlegung der Wissenschaftslehre“ (Berliner Akademie 1905, XIV)28 Dilthey, Grundlegung. zu vergleichen; über Diltheys Stellung zur „Soziologie“ vgl. O[thmar] Spann in der Zeitschr[ift] f[ür] Staatswissensch[aft] 1903, S. 193e[308]A: 192.29 Spann, Dilthey, S. 193–222. – Der Vortrag von Elsenhans: „Die Aufgaben einer Psychologie der Deutung als Vorarbeit für die Geisteswissenschaften“, Gießen 1904,30 Gemeint ist: Elsenhans, Deutung. betrifft nur die psychologische, nicht aber die z. B. wichtigere erkenntnistheoretische Seite des Problems. Auf jene kommen wir später kurz zurück.31 Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 344 ff. . Hier kann nur im Anschluß an das vorstehend Gesagte noch einiges zur Feststel[308]lung der Lage und der möglichen Tragweite dieses Problems für uns bemerkt werden. –

Die logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des „Verstehens“ finden sich in der zweiten Auflage von Simmels „Probleme der Geschichtsphilosophie“ (S. 27–62)47) In den hier entscheidenden erkenntnistheoretischen Punkten kommt Simmel jetzt (in manchen wichtigen Beziehungen im Gegensatz zu früher vertretenen Ansichten) im wesentlichen völlig mit dem Standpunkt Rickerts (a. a. O.)32 Rickert, Grenzen. überein. Ich kann nicht finden, daß die Polemik S. 43 unten33 Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 43, gibt zu bedenken, „daß historische Wissenschaft selbst dann etwas anderes als die Abspiegelung des Wirklichen wäre, wenn die volle Treue derselben technisch erzielbar wäre“. einen Punkt von Belang trifft: auch Simmel wird nicht verkennen können, daß nur die auch von ihm zugegebene Unendlichkeit und absolute Irrationalität jedes konkreten Mannigfaltigen die absolute Sinnlosigkeit des Gedankens einer „Abbildung“ der Wirklichkeit durch irgendeine Art von Wissenschaft wirklich zwingend erkenntnistheoretisch erweist. Daß sie – als eine „negative“ Instanz – nicht als historische Ursache oder überhaupt als Realgrund für die logische Konstitution unseres empirisch gegebenen Wissenschaftsbetriebes gelten kann, diese vielmehr aus der positiven [A 138]Gestaltung unserer Erkenntniszwecke und Erkenntnismittel abzuleiten ist, würde anderseits Rickert nicht bestreiten wollen. – Durchaus zutreffend ist natürlich die Bemerkung (S. 121), daß die Bezeichnung der die historische Begriffsbildung formenden Quellen des historischen Interesses als „Werte“ das Problem nur durch Verweisung auf einen Gattungsbegriff löst.34 Simmel, ebd., S. 121, spricht von „Wertungen“ und „Allgemeinbegriff“. Zweifellos ist die Aufgabe der psychologischen Analyse des historischen Interesses damit nur gestellt, nicht gelöst, und die Probleme der Wertinhalte bleiben bestehen. Allein für die Feststellung der logischen Grundlage der spezifisch historischen Begriffsbildung genügt eben jene For[309]mulierung, die ja psychologische und metaphysische Probleme nicht lösen will, vollauf. – Von Simmels Formulierungen könnten m. E. überdies manche (S. 124, 126, 133 Anm. 1) unter logischen Gesichtspunkten Anlaß zu Bedenken geben. Nur ein Punkt, der Simmel mit Münsterberg gemeinsam ist, sei hier herausgehoben. Beide betonen gegenüber Rickerts Theorie von der Bedeutung der Wertbeziehung für die Erkenntnis des Individuellen, daß Wertgefühle keineswegs nur an die „Einzigartigkeit“, sondern auch an die Wiederholung als solche sich knüpfen können.36 Für Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 139, ist es „die spezifische Interessiertheit für die Tatsächlichkeit gewisser ausgewählter Reihen von Ereignissen, Personen, Zuständen, die die Historik begründet“. Für Münsterberg, Psychologie, S. 40, kommt ein „Wert“ im Sinne eines „psychologischen Gefühlsproze[sses]“, der „im objektiven gesetzmäßigen Geschehen durch die Dinge hervorgerufen wird“, dem „wiederholten Vorgänge durchaus nicht seltener zu als dem einmaligen“: „Gewiß gibt es Akte, deren Reiz in ihrer Einzigkeit ruht; alles Gute und Edle aber vertieft den Gefühlston durch die Wiederholung sowie auch die Unlust am Niedrigen und Gemeinen bei der Erneuerung wächst.“ Diese psychologische Betrachtung berührt aber jenes logische Problem schon deshalb nicht, weil Rickert für seine These gar nicht genötigt ist zu behaupten, daß nur dasf[309]A: daß Einzigartige zu Werten in Beziehung stehe. Es genügt, daß – möge die Rolle der Werte außerhalb des Historischen welche immer sein – jedenfalls eine historische Erkenntnis individueller Zusammenhänge ohne Wertbeziehung nicht sinnvoll möglich ist. . Die um[A 138]fassendste [309]methodologische Verwertung der Kategorie hat, und zwar teilweise unter dem Einfluß der Ausführungen Münsterbergs,35[309] Vgl. oben, S. 283 mit Anm. 39. für die Geschichte und die Nationalökonomie Gottl versucht48) Siehe über ihn die erste Abteilung dieses Aufsatzes (Jahrbuch XXVII, S. 1184, 1192gA: 1182),37 Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 45, Fn. 5, S. 57, Fn. 25. ferner Eulenburg in der Deutschen Literaturzeitung 1903, Nr. 7.38 Eulenburg, Gottl. Seitdem ist sein auf dem Historikertage 1903 gehaltener Vortrag (Die Grenzen der Geschichte) im Druck erschienen,39 Gottl, Grenzen. Vermutlich hat Weber auf diesem Historikertag zumindest einige Vorträge angehört. In der offiziellen Teilnehmerliste der VII. Versammlung Deutscher Historiker zu Heidelberg vom 14. bis 18. April 1903. – Heidelberg: Hörning & Berkenbusch 1903, ist er allerdings nicht aufgeführt. welcher (während Gottl zu seinen Grundansichten durchaus auf eigenen Wegen, nur etwa von Dilthey und Mach, daneben von Wundt, beeinflußt, gelangte) deutlich eine stärkere Beeinflussung durch Münsterberg zeigt. Uns interessiert in Gottls Ausführungen hier nur seine Interpretation der „Deutung“. Bemerkt sei nur nebenher, daß alles dashA: Das, was von dem jetzt in Schwung befindlichen konfusen Gerede von der Bedeutung des „Telos“ im Gegensatz zur Kausalität richtig oder auch nur diskussionsfähig ist,40 Wahrscheinlich ist Stammler gemeint. Vgl. Stammler, Wirtschaft1. Weber hat diesbezüglich auch Wilhelm Eduard Biermann im Visier. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 355 f., Fn. 32 mit Anm. 22. von Gottl bereits entwickelt war. , während für die Ästhetik bekanntlich Lipps und B[enedetto] Croce sich eingehender mit ihr beschäftigt haben.

[310]Simmel49)[310] Gar nicht eingegangen wird an dieser Stelle auf Simmels in seinen verschiedenen Schriften verstreute Äußerungen über den Gesellschaftsbegriff und die Aufgaben der Soziologie. Vgl. dazu O[thmar] Spann in der Zeitschr[ift] f[ür] Staatsw[issenschaft] 1905 (61) S. 311 ff.42 Spann, Gesellschaftsbegriff III, S. 311 ff. hat zunächst das Verdienst, innerhalb des weitesten Umkreises, den der Begriff des „Verstehens“ – wenn man ihn in [A 139]Gegensatz stellt zu dem „Begreifen“50)[A 139] Gottl verwendet beide termini gerade umgekehrt,43 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 181 ff. – was gegenüber dem Sprachgebrauch des Lebens ebenso wie der Forschung (Dilthey, Münsterberg u. a.)44 Vgl. Dilthey, Hermeneutik, S. 187 ff.; Münsterberg, Psychologie, S. 395. meines Erachtens ebenso unzweckmäßig ist wie seine Verwendung des Ausdrucks „Formeln“ von Begriffen, die verständliches Handeln erfassen sollen.45 Für Gottl, Herrschaft, S. 80, sind Formeln „Begriffe“, die „für unser geistiges Auge in den Alltag hineinleuchten, weil sie unserem eigenen Handeln voranleuchten“: sie sind „Schlüssel“ für das „Verständniss des Alltäglichen“. der nicht der „inneren“ Erfahrung gegebenen Wirklichkeit – umfassen kann, das objektive „Verstehen“ des Sinnes einer Äußerung von der subjektiven „Deutung“ der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen klar geschieden zu haben51) S. 28 a. a. O.46 Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 28. Dilthey, Festgabe f[ür] Sigwart (S. 109) schränkt den von der „Hermeneutik“ zu behandelnden Vorgang des „Verstehens“ auf die „Interpretation aus äußeren Zeichen“ ein, was nicht einmal für das „Verständnis des Gesprochenen“ (im Sinne Simmels) restlos zutrifft.47 Vgl. Dilthey, Hermeneutik, S. 188. Anderseits ist nach ihm (ebenda S. 187) die „Erhebung der Verständlichkeit des Singulären zur Allgemeingültigkeit“ ein spezifisches Problem der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften, – was zu weit geht. . Im ersten Fall „verstehen“ wir das Gesprochene, im letzteren den Sprechenden (oder Handelnden). Simmel ist der Meinung, daß die erstere Form des „Verstehens“ nur vorkomme, wo es sich um theoretische Erkenntnis, um ein Darbieten von sachlichem Inhalte in logischer Form handele, die – weil Erkenntnis – einfach in genau identischem Sinn erkennend nachgebildet werden könne.41[310] Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 28. Das ist so nicht zutreffend. Um ein Verstehen nur des Gesprochenen handelt es sich z. B. auch bei dem Aufnehmen und Befolgen eines Kommandos, eines Appells an das Gewissen, an Wertgefühle und Werturteile des Hörers überhaupt, welches den Zweck hat, nicht ein theoretisches Deuten, sondern ein unmittelbar „praktisch“ werdendes Fühlen und Handeln zu erzeugen. Gerade das Münsterbergsche „stellungnehmende“, d. h. [311]wollende und wertende, Subjekt des wirklichen Lebens begnügt sich normalerweise mit dem Verstehen des Gesprochenen (korrekter ausgedrückt: des „Geäußerten“) und ist zu einer „Deutung“ in dem Sinn, wie sie die „subjektivierenden“ Wissenschaften Münsterbergs betreiben sollen, weder geneigt noch – in den meisten Fällen – fähig: die „Deutung“ ist eine durchaus sekundäre, in der künstlichen Welt der Wissenschaft heimische Kategorie. Auf dem Boden des „stellungnehmenden“ wirklichen Lebens hält sich dagegen auch das „Verstehen des Gesprochenen“ in jenem Sinn, den Simmel im Auge hat. Hier handelt es sich bei dem „Verstehen“ um ein Stellungnehmen zu dem „objektiven“ Sinn eines Urteils. Die „verstandene“ Äußerung kann jede mögliche logische Form, auch [A 140]natürlich die einer Frage haben, – stets ist das, worum es sich handelt, ihre Beziehung zur Geltung von Urteilen, eventuell eines einfachen Existenzialurteils, zu dem der „Verstehende“ bejahend, verneinend, zweifelnd, urteilsfällend „Stellung“ nimmt. Simmel drückt das in seiner psychologistischen Formulierungsweise so aus, daß „durch das gesprochene Wort die Seelenvorgänge des Sprechenden . . . auch im Hörer erregt werden“, der erstere als dabei „ausgeschaltet“ und nur der Inhalt des Gesprochenen in dem Denken des letzteren, parallel zu demjenigen des ersteren, fortbestehen bliebe.48[311] Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 27 f. Ich zweifele, ob durch diese psychologische Beschreibung der logische Charakter dieser Art des „Verstehens“ hinlänglich scharf zu Tage tritt: irrig wäre m. E. – wie schon gezeigt49 Oben. S. 291 f. – jedenfalls, daß der Vorgang dieses „Verstehens“ nur bei „objektiver Erkenntnis“ stattfände. Das Entscheidende ist, daß es sich in diesen Fällen von „Verstehen“: – eines Kommandos, einer Frage, einer Behauptung, eines Appells an Mitgefühl, Vaterlandsliebe oder dergleichen, – um einen Vorgang innerhalb der Sphäre der „stellungnehmenden Aktualität“ handelt, um in der hier durchaus brauchbaren Münsterbergschen Terminologie zu reden.50 Münsterberg, Psychologie, S. 24 ff., 50. Mit diesem „aktuellen“ Verstehen haben wir es bei unserer „Deutung“ nicht zu tun. Diese letztere würde in solchen Fällen erst in Funktion treten, wenn z. B. der „Sinn“ einer Äußerung, einerlei welchen Inhalts, [312]nicht unmittelbar „verstanden“ ist, und eine aktuelle „Verständigung“ darüber mit dem Urheber nicht möglich, ein „Verstehen“ aber unbedingt praktisch nötig wäre: ein mehrdeutig abgefaßter schriftlicher Kommandobefehl z. B. – um auf dem Boden der „aktuellen“ Lebenswirklichkeit zu bleiben – nötigt den Empfänger, etwa einen patrouillenführenden Offizier, zur „Deutung“ desselben die „Zwecke“, d. h. aber: die Motive des Befehls zu erwägen, um danach handeln zu können52)[312][A 140] Simmel exemplifiziert auf Äußerungen, die durch „Voreingenommenheit, Ärger, Spottlust“ usw. hervorgerufen seien.52 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 28. Allein das Entscheidende ist: ob auf diese Motive der Äußerung aus irgendeinem Grunde erkennend – wenn auch ev. zu praktischen Zwecken – reflektiert wird. Dann erst tritt das, was wir hier „Deutung“ nennen, in Funktion. . Die kausale Frage: wie ist der Befehl „psychologisch“ entstanden, wird dabei also zu dem Zweck aufgeworfen, die „noëtische Frage“51[312] Vgl. oben, S. 287 mit Anm. 52. nach seinem „Sinn“ zu lösen. Hier tritt die theoretische „Deutung“ des persönlichen Handelns und eventuell der „Persönlichkeit“ (des Befehlendeni[312]A: befehlenden) in den Dienst des aktuell praktischen Zweckes.

Wo sie in den Dienst der empirischen Wissenschaft tritt, [A 141]da haben wir sie in der Gestalt, in welcher sie uns hier beschäftigt. Sie ist, wie gerade diese Auseinandersetzungen wieder zeigen: durchaus im Gegensatz zu Münsterbergs Aufstellungen, eine Form kausalen Erkennens, und es sind uns bisher noch keinerlei, im Sinne Münsterbergs, grundsätzliche Unterschiede gegenüber den Formen der „objektivierenden“ Erkenntnis begegnet, – denn, daß das „Gedeutete“ in ein „Subjekt“, d. h. aber hier: in ein psychophysisches Individuum, als dessen Vorstellung, Gefühl, Wollen „introjiziert“ wird, bedingt einen solchen Unterschied gerade nach Münsterbergs Ansicht ja nicht53)[A 141] Daß gleichwohl noch andere Elemente in dieser Kategorie stecken können, wird uns später beschäftigen.53 Möglicherweise Bezug auf unten, S. 323 f. . Für die weitere Erörterung des Wesens der „Deutung“ knüpfen wir nun zweckmäßigerweise zunächst an die Ansichten von Gottl an. Denn wir können seine Ausführungen bequem als Anknüpfungspunkt benutzen, um uns klar zu machen, worin die erkenntnistheoretische Bedeutung der „Deutbarkeit“ [313]nicht besteht54)[313] Eine in irgendeinem Sinne erschöpfende Auseinandersetzung mit Gottl kann hier nicht geliefert werden. Seine in hohem Maße geistvolle bisherige Hauptleistung: „Die Herrschaft des Wortes“ ist infolge der gewählten Form platt zu Boden gefallen, obwohl ich mich bei nochmaligem Lesen wiederum überzeugt habe, wie viele vortreffliche Bemerkungen sie enthält. Ich sehe u. a., daß die Kritik, die ich an anderer Stelle an der Vorstellung von dem „systematischen“ Charakter der Nationalökonomie übte,54[313] Möglicherweise ist Webers Kritik an Roschers „System der Volkswirthschaft“ gemeint. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 37–101. in den Ausführungen Gottls S. 147 u. 149 in nuce schon enthalten ist.55 Für Gottl, Herrschaft, S. 147, 149, hat eine „systematische“ Wissenschaft in dem „Allgemeinen“ ihren Kern: „In den ,systematischen‘ Naturwissenschaften beziehen sich die Artbegriffe auf die Gegenstände des zerfällenden Denkens, in der schildernden Wissenschaft auf die Gegenstände des unzerfällenden Denkens.“ Doch in unserem Zusammenhang ist zur „positiven“ Kritik leider kein Raum, ich verspare sie mir für eine andere Gelegenheit.56 Bezug nicht nachweisbar. Hier seien vielmehr kurz die Punkte angedeutet, wo er mir logisch zu irren scheint:
1. Um die Kluft zwischen Naturerkenntnis und Erkenntnis des Handelns – so muß man den Gegensatz der Objekte bei ihm wohl formulieren – zu einerj[313]A: einem „ontologischen“ zu deuten, wie er es tut, muß Gottl die bereits wissenschaftlich bearbeitete Welt der Naturwissenschaft (besonders deutlich „Herrschaft des Wortes“ S. 149 unten) dem logisch noch unbearbeiteten inneren „Erlebnis“ gegenüberstellen.57 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 77 f., 149 f. Denn die wirklich in der „erlebten“ Wirklichkeit gegebene „äußere“ Welt weist jenes „knatternde bloße Nach- und Neben-Einander“58 Vgl. ebd., S. 79: „Auch jene Flut des Geschehens, das Alltägliche, fällt uns nicht als ein knatterndes Nacheinander zu, in das wir erst hinterher Zusammenhang denken. Wir erleben auch dieses flutende Geschehen in lauter Zusammenhängen, durchschauen es von Haus aus als ein unablässig Auseinander, Wegeneinander, Miteinander.“ Gottls ganz und gar nicht auf. Gerade Mach, der ihn stark beeinflußt hat, steht nicht nur, wie bekannt, prinzipiell darin anders, sondern hat gelegentlich geradezu gemeint: wenn man von dem Erdbeben von Lissabon die volle anschauliche Kenntnis des in den Sinnen gegebenen Hergangs hätte und die potentiell den Sinnen zugänglichen, von der Wissenschaft zu ermittelnden subterrestrischen Vorgänge in gleicher Anschaulichkeit kenne, so sei es weder nötig noch prinzipiell möglich, mehr zu wissen.59 Möglicherweise referiert Weber auf die dritte Auflage von Ernst Machs Studie zur Analyse der Empfindungen. Vgl. Mach, Analyse, S. 144 f.: „Wir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erdbeben, so vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere Gedanken uns die Gesammtheit der zusammengehörigen sinnlichen Thatsachen so vorführen, dass sie fast als ein Ersatz derselben angesehen werden können […]. Wenn […] uns auch noch die unterirdischen Vorgänge […] sinnlich so vor Augen stehen, dass wir das Erdbeben herankommen sehen wie einen fernen Wagen, bis wir endlich die Erschütterung unter den Füssen fühlen, so können wir mehr Einsicht nicht [314]verlangen.“ Mach bezieht sich allerdings nicht auf das Erdbeben von Lissabon. Als Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien ist ihm von 1897 bis 1898 die Österreichische Erdbebenkommission unterstellt gewesen, die man am 25. April 1895 nach dem Erdbeben von Ljubljana vom 14. April 1895 gegründet hatte. Auf das Erdbeben, das Lissabon am 1. November 1755 zerstört hatte, bezieht sich hingegen Rickert, Grenzen, S. 414. Auf dem Boden der „rei[314]nen“,61 Möglicherweise referiert Weber auf Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 49 f.: „Ich habe hier die Form, die ein Stoff annehmen muß, um wissenschaftliche Geschichte zu sein, der unmittelbar gelebten Wirklichkeit, die eben dieser Stoff sei, gegenübergestellt. Nun aber wäre möglich, auch diese als eine Form anzusehn, in die ein Gesche-hensinhalt sich kleidet. Vielleicht nun kann dieser letztere für sich niemals in ein Bewußtsein eingehen, sondern liegt für dieses im Unendlichen, so daß die Formen, durch und in die wir ihn fassen, sich ihm nur in mannigfaltigen Abständen nähern. Diese reine Wirklichkeit wäre etwa dem reinen Inhalt unserer Begriffe zu vergleichen, den wir uns auch als etwas Ideelles denken, jenseits seiner psychologischen wie seiner äußeren Realisierung in logischer Gültigkeit bestehend“. stets individuellen Wirklichkeit ist es in der Tat so. Erst die generalisierende Bearbeitung schafft jenes abstrakte System von Gesetzen und von Objekten, an denen sich jene vollziehen, welches nichts Anschauliches mehr hat und daher dem an[A 142]schaulich erfaßten Handeln natürlich logisch nicht gleichwertig ist. Der Glaube Gottls aber, daß wir – im Gegensätze zur „Natur“ – das „erlebte“ Geschehen auch so zu denken vermöchten, wie es „erlebt“ werde,62 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 108: „Wir erleben stets nur das Handeln selber in seiner Einheit; das heisst, die Handlungen in jenen Zusammenhängen, aus denen sich der ,rote Faden‘ spinnt. Weil dieser jedoch unstreitig da ist, steht unser Denken mit unserem Erleben im Einklang, wo immer ein Zuständliches Gebilde erfasst wird.“ ist logisch unrichtig. Das trifft, in gewissem Sinne, nur bei der objektivierten und isoliert betrachteten streng teleologisch rationalen Erwägung zu, die eben selbst „Gedanke“ ist. Im übrigen aber ist, auch auf dem Gebiet des Persönlichen, ein „Begriff“ unter allen Umständen etwas anderes: ein, sei es durch generalisierende Abstraktion, sei es durch Isolierung und Synthese hergestelltes Gedankengebilde,63 Zu Abstraktion, Isolierung und Synthese vgl. die Einleitung, oben, S. 16 f. als das „Erlebnis“, auf welches er sich bezieht. Nicht erst von den „zuständlichen Gebilden“64 Für Gottl, Herrschaft, S. 108, ist ein „Zuständliches Gebilde […] für sich selber nichts, was wir erlebten; es ist eine durch unser Denken bewirkte […] denkende Umformung von Erlebtem“. – wie Gottl annimmt, sondern ganz ebenso von dem einzelnen „inneren“ Vorgang gilt dies. Sein Irrtum hängt damit zusammen, daß
2. Gottls Vorstellungen über die Prinzipien der wissenschaftlichen Stoffauslese m. E. unklar sind. Er glaubt (S. 128, 131 a. a. O.),65 Ebd., S. 128, 131. es gebe objektiv „dichtere“ Zusammenhänge in der Wirklichkeit des Geschehens, welche als solche „erlebt“ würden, so daß also die „Auffassung“ des Stoffs diesem selbst (dem Erlebten: Mit- und Nach-Erlebten) entnommen werde. Tatsächlich handelt es sich aber doch überall um eine gedankliche Auslese des mit bezug auf „Werte“ Bedeutsamen und danach entscheidet sich z. B. auch, was eine „Haupt- und Staatsaktion“ und wer ein „ungekrönter König“ ist.66 Vgl. ebd., S. 93 f.
[315]3. Ähnlich zu beurteilen ist seine damit korrespondierende Vorstellung, daß das Objekt der „schildernden Wissenschaft“ vom Handeln, die bei ihm das generalisierende Seitenstück zur historischen Erkenntnis desselben bildet, einfach mit der „Ungeschichte“, dem „Alltag“, ohne Stoffauslese zu identifizieren sei (S. 133 ff., 139 f., 171 ff.), und daß eine Sonderung bestimmter „Seiten“ innerhalb dieses Inbegriffes kein logisches oder auch nur methodisches Prinzip, sondern allenfalls zu Lehrzwecken zulässig, im übrigen aber „Willkür“ oder bloße „Bequemlichkeit“ sei. Allein es ist nicht richtig, ‒ und Gottl würde bei dem (aussichtslosen) Versuch einer genauen Verbuchung aller Alltagserlebnisse in allen ihren Bestandteilen auch nur eines einzigen seiner eigenen Tage sich davon leicht überzeugen –, daß in eine wissenschaftliche Behandlung, möge sie auch noch so umfassend gestaltet sein, schlechthin alles Tun, welcher Art immer, eingehe. Eine noch so weit ausgreifende Darstellung des „Kulturinhaltes“ eines Zeitalters ist stets eine Beleuchtung seines „Erlebens“ unter einer Mehrzahl qualitativ verschiedener „Gesichtspunkte“,67[315] Für Gottl, ebd., S. 136, „entspringen“ die Gesichtspunkte „aus dem Stoffe selber“. welche ihrerseits an Werten orientiert sind,68Für Rickert, Grenzen, S. 627, sind „Werthe die leitenden Gesichtspunkte der historischen Begriffsbildung“. Ebd., S. 356 (und passim), spricht Rickert auch von „Werthgesichtspunkten“. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 189 mit Anm. 53. und als Objekte wissenschaftlicher Betrachtung werden auch diejenigen „Alltagserlebnisse“, welche überhaupt zu Gegenständen „kulturwissenschaftlicher“ Betrachtung werden, in gedanklich gegliederte konkrete Zusammenhänge gefügt und dann unter den mannigfaltigsten, teilweise disparaten „Gesichtspunkten“ Objekte „historischer“ oder „nomothetischer“k[315]A: „monothetischer“ Begriffsbildung.69 Zur Unterscheidung von „idiographisch“ und „nomothetisch“ vgl. Windelband, Geschichte, S. 12. Zur daran anschließenden Unterscheidung von historischen Wissenschaften, die das Besondere im Sinne historischer Individuen erforschen, und Naturwissenschaften, die allgemeine Begriffe im Sinne von Gesetzen formulieren, vgl. Rickert, Grenzen, S. 302 f.
4. Der Kern der Irrtümer Gottls gruppiert sich m. E. um die, allem Psychologismus so naheliegende, Verwechselung des psychologischen Hergangs bei der Entstehung sachlicher Erkenntnis mit dem logischen Wesen der Begriffe, in denen sie geformt wird. Zugegeben einmal, daß wir in weitem Umfang zu unserer Erkenntnis der Zusammenhänge des „Handelns“ auf psychologisch [A 143]eigenartigem Wege gelangen, so wäre damit noch nicht das Geringste darüber ausgemacht, daß der logische Charakter der Begriffe, die man heuristisch sowohl wie als Mittel der Formulierung verwendet, prinzipiell von denen anderer Wissenschaften abweiche. „Elefant“ und „Freund“ könne man doch nicht gleichartig definieren, meint Gottl.70 Gottl, Herrschaft, S. 149, 151. Natürlich nicht, weil der eine ein Dingbegriff ist, der andere einen Relationsbegriff in sich schließt.71 Zur Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 47 mit Anm. 32. „Elefant“ und „kommunizierende Röhre“72 Kommunizierende Röhren sind miteinander verbundene offene Gefäße, die Flüssigkeit austauschen, bis die Flüssigkeit in allen den gleichen Pegelstand erreicht. 1647 hat Blaise Pascal ein entsprechendes Gesetz formuliert. Sigwart, Logik II (wie [316]oben, S. 5, Anm. 31), S. 506, bringt in seiner Diskussion empirischer Gesetze u. a. die „communicierenden Röhren“ als Beispiel. z. B. kann man aus diesem Grunde auch nicht in gleicher Art [316]definieren. Dagegen ist die logische Form der Definition irgendeines spezifisch „sozialpsychologischen“ von der irgendeines chemischen Relationsbegriffs nicht verschieden, so gänzlich disparat der Inhalt ist. Mit einigen Konsequenzen von Gottls dem Ausgangspunkt nach m. E. verfehlter Logik werden wir es im Text zu tun haben: Daß in der Welt des Handelns der Begriff vor dem Begriffenen da sei,75 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 149. ist eine ebenso schiefe Formulierung, wie die Behauptung, daß die „gemeine Erfahrung“, der „Mutterwitz“, für die Nationalökonomie unbedingt ausreiche.76 Vgl. ebd., S. 81, 87 f. Ersteres ist nicht nur in der „Welt des Handelns“ so, letzteres kann nur besagen wollen: daß die verständliche Deutung der ökonomischen Erscheinungen Ziel der Nationalökonomie ist. Denn eine logische Bearbeitung der „gemeinen Erfahrung“, und zwar mit ganz entsprechenden Mitteln wie in der Naturwissenschaft, findet auch hier statt.
. Da[A 142]durch wird es möglich, auch zu einigen noch unerledigten wichtigen Thesen Münsterbergs, auf dem Gottl (in [314]seiner zweiten Schrift) fußt,60 Gottl, Grenzen. [A 143]Stellung zu nehmen und zugleich [315]Simmels Formulierungen entweder zu verwerten oder unter [316]Angabe der Gründe abzulehnen55) Eine systematische Kritik von Simmels Standpunkt ist hier nicht beabsichtigt. Auf manche seiner, wie immer, sachlich feinen und künstlerisch geformten Thesen komme ich demnächst wohl im Jaffé-Braunschen Archiv zurück.77 Im „Archiv“ ist diesbezüglich nichts erschienen. Gemeint ist möglicherweise das vermutlich 1908 entstandene Fragment: Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft, MWG I/12, S. 95–110. Siehe zur logischen Kritik des zweiten Kapitels seines Buches (Gesetze der Geschichte)78 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 67 ff. Die Kapitelüberschrift lautet: „Von den historischen Gesetzen“. jetzt O[thmar] Spann in der Zeitschr[ift] f[ür] Staatsw[issenschaft] 1905, S. 302 f.79 Vgl. Spann, Gesellschaftsbegriff III, S. 302 ff., bes. S. 309 f. . Dabei soll, soweit dies in unseren Zusammenhang gehört, auch eine kurze Auseinandersetzung mit den Ansichten von Lipps und Croce versucht werden.

Nach Gottl ist das „historische“ Erkennen seinem Wesen nach im Gegensatz zur „Erfahrung“ der Naturwissenschaften

1. Erschließung des zu Erkennenden.73 Vgl. Gottl, Grenzen, S. 38 ff. Das heißt: es setzt mit einem Akt – wie wir sagen würden – deutenden Durchschauens des Sinnes menschlicher Handlungen ein, und schreitet fort, indem immer neue deutend erfaßte Bestandteile des Zusammenhanges der historischen Wirklichkeit angegliedert, immer neue einer „Deutung“ zugängliche „Quellen“ auf den Sinn jenes Handelns hin, dessen Spuren sie sind, erschlossen und so ein stets umfassenderer Zusammenhang sinnvollen Handelns gebildet wird, dessen Einzelbestandteile sich gegenseitig stützen, weil der gesamte Zusammenhang für uns „von innen heraus“ durchsichtig bleibt.74 Für Gottl, ebd., S. 54, ist es möglich, „das historische Geschehen […] aus seinen inneren Zusammenhängen zu begreifen“. [317]Dieses „Erschließen“ ist nach Gottl dem Erkennen menschlichen Handelns eigentümlich und scheidet es von aller Naturwissenschaft, als welche stets nur im Wege von Analogie[A 144]schlüssen die Annäherung an ein möglichstes Maximum der Wahrscheinlichkeit ‒ durch immer wiederkehrende Bewährung der hypothetischen „Gesetze“ – erstreben könne.80[317] Zur Analogiebildung der Naturwissenschaften vgl. ebd., S. 50 f. Hier ist zunächst der psychologische Hergang des Erkennens mit seinem erkenntnistheoretischen Sinn, das Ziel des Erkennens mit seiner Methode, Formen der Darstellung mit Mitteln der Forschung identifiziert, dann aber auch für den tatsächlichen Verlauf des Erkennens ein Unterschied behauptet, der in dieser Art gar nicht besteht. Es ist schon rein faktisch nicht generell richtig, daß die Gewinnung historischer Erkenntnis mit der „Deutung“ einsetzt. Die Rolle ferner, welche unsere „historische“, oder allgemeiner: deutende Phantasie in der „Erschließung“ geschichtlicher Hergänge spielt, fällt auf dem Gebiet des physikalischen Erkennens z. B. etwa der „mathematischen Phantasie“81 Möglicherweise bezieht sich Weber auf Cantor, Moritz, Phantasie und Mathematik, in: Deutsche Revue, Band 28, 1903, S. 362–365. Referenzperson für mathematische Phantasie war für Weber Karl Weierstraß; vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 83. zu, und die Erprobung der so gewonnenen Hypothesen ‒ denn darum handelt es sich hier und dort – ist ein, logisch betrachtet, keineswegs prinzipiell verschiedener Vorgang. Ranke „erriet“82 Vgl. den Begriff „errathen“ in Ranke, Leopold, Ueber die Zeiten Ferdinands I. und Maximilians II., in: Historisch-politische Zeitschrift, Band 1, 1832, S. 223–339, hier S. 263. Vgl. auch ders., Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Band 5. ‒ Berlin: Duncker & Humblot 1843, S. 472, sowie bereits Humboldt, Geschichtschreiber, S. 305, und Gervinus, Historik, S. 368, 377, 395. die geschichtlichen Zusammenhänge ganz ebenso[,] wie Bunsens „Experimentierkunst“ an ihm als die spezifische Grundlage seiner Erfolge bewundert zu werden pflegt.83 Robert Wilhelm Bunsen hielt in den 1870er und 1880er Jahren an der Universität Heidelberg regelmäßig Vorlesungen über „Experimentalchemie“. Für seine „große Geschicklichkeit“ bei der Durchführung von Experimenten war er berühmt. Vgl. Debus, Heinrich, [Art.] Bunsen, Robert Wilhelm, in: Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47, 1903, S. 369–376, hier S. 370. Den Begriff der „Experimentierkunst“ hat Weber möglicherweise von Gerlach, Ernst und Traumüller, Friedrich, Geschichte der Physikalischen Experimentierkunst. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1899. Besteht hier also ein Unterschied, so ist er jedenfalls mit der Funktion der „Erschließung“, auf [318]die Gottl immer wieder zurückkommt, nicht charakterisiert. – Gottl spezialisiert nun seine Behauptung näher dahin, daß

2. jene „Erschließung“ historischen Geschehens eine solche „vom Boden der Denkgesetze“ aus sei, worauf es beruhe, daß für die Geschichte als Bestandteil des von ihr zu schildernden Geschehens nur in Betracht komme, was „durch logische Denkgesetze erfaßbar“ sei,84[318] Vgl. Gottl, Grenzen, S. 56: „Bei der historischen Interpretation handelt es sich um ein Geschehen, das wir vom Boden der logischen Denkgesetze aus als ein Geflechte vernünftigen Tuns erschließen, so daß wir es aus seinen inneren Zusammenhängen begreifen.“ Vgl. ebd., S. 37, 49. alles andere aber – so etwa historisch relevante Naturereignisse, wie der Einbruch des Zuyder Sees oder des Dollart usw. – als bloße „Verschiebung“ der „Bedingungen“ des sie allein interessierenden menschlichen Handelns.85 Vgl. ebd., S. 103, zum „Wandel der Umwelt“ als „chronische Verschiebung der Bedingungen, unter denen gehandelt wird“. Vgl. ebd., S. 58, zum Zuyder See; der Dollart wird nicht genannt.

Hier ist die Verwendung des vieldeutigen Gegensatzes von „Ursache“ und „Bedingung“ – auf dessen Sinn hier nicht im einzelnen einzugehen ist – in diesem Zusammenhang zu beanstanden. Wer eine „Geschichte“ der Syphilis schreibt86 Gemeint sind möglicherweise Proksch, Karl Johann, Die Geschichte über die venerischen Krankheiten, 2 Bände. – Bonn: Peter Hanstein 1895; Bloch, Iwan, Der Ursprung der Syphilis. Eine medizinische und kulturgeschichtliche Untersuchung, 1. Abt. – Jena: Gustav Fischer 1901. – d. h. die kulturgeschichtlichen Wandlungen verfolgt, welche ihr Auftreten und ihre Verbreitung ursächlich beeinflußt haben, um dann anderseits die durch sie hervorgerufenen oder doch mitbedingten kulturhistorischen Erscheinungen von ihr aus ursächlich zu erklären – der wird im allgemeinen die Krankheits-Erreger als „Ursache“, die kulturhistorischen Situationen als wandelbare „Bedingungen“ einerseits, „Folgen“ [A 145]anderseits, zu behandeln haben. Gleichwohl wird, soweit seine Arbeit ein Beitrag zur Kulturgeschichte, und nicht eine Vorarbeit für eine klinische Theorie zu sein beabsichtigt, dasjenige Moment bestehen bleiben, welches als berechtigter Kern der irrig formulierten Gottlschen Darlegungen übrig bleibt: das wissenschaftliche Interesse ist in letzter Instanz in denjenigen Bestandteilen des historischen Ablaufs verankert, welche verständlich deutbares menschliches Sich-Verhalten in sich schließen, auf die Rolle, welche jenes für uns „sinnvolle“ Tun in seiner Verflechtung mit [319]dem Walten „sinnloser“ Naturmächte gespielt[,] und auf die Beeinflussungen, welche es von dorther erfahren hat. Insofern also, als die Geschichte die „Naturvorgänge“ stets auf menschliche Kulturwerte bezieht, daher stets ihr Einfluß auf menschliches Handeln die Gesichtspunkte der Untersuchung – wenn sie eben eine historische sein will – bestimmt, aber auch nur insofern, ist Gottls Ansicht begründet. Es ist auch hier wieder nur jene schon früher erörterte,87[319] Oben. S. 256. spezifische Wendung unseres wertbedingten Interesses, welche in Verbindung mit sinnvoller Deutbarkeit auftritt, was Gottl vorschwebt. – Ein sehr entschiedener Mißgriff aber ist es natürlich, wenn von Erschließbarkeit des historischen Geschehens auf dem Boden der „logischen Denkgesetze“ gesprochen wird, wo doch nur dessen Zugänglichkeit für unser nacherlebendes Verstehen – eben seine „Deutbarkeit“ – gemeint ist. Ganz irrelevant ist sachlich diese Terminologie keineswegs, denn nicht nur spricht Gottl infolge dessen an anderer Stelle da, wo es heißen sollte: „verständliches Handeln“, von „vernünftigem Geschehen“88 Vgl. Gottl, Grenzen, S. 74: „Rein nur als Repräsentant des logisch zusammenhängenden, des ‚vernünftigen‘ Geschehens ist der Mensch unzertrennlich von der Geschichte; sagen wir, als Vernunftwesen pur et simple, als bloßer Knotenpunkt – ,Subjekt‘ – des vernünftigen, vom Boden der Denkgesetze aus erfaßlichen Geschehens.“ – was offenbar etwas ganz und gar anderes, durch ein Werturteil Qualifiziertes besagt ‒[,] sondern jene Gleichsetzung von dem, was wir „deutend“ zu verstehen vermögen, mit logisch erschließbarem Tun, wie sie in Gottls hier stark schillernder Terminologie liegt, spielt auch in der Praxis der Kulturwissenschaften, und zwar auch der Historiographie, noch heute zuweilen ihre Rolle, und kann dann zu einem Prinzip rationaler Konstruktion historischer Vorgänge führen, welches der Wirklichkeit Gewalt antut56)[319][A 145] Siehe die ungemein feinsinnige Kritik, welche Meinecke an dem Versuch, das Verhalten Friedrich Wilhelms IV. wesentlich aus rationalen Gesichtspunkten zu erklären, in der Histor[ischen] Zeitschr[ift] 1902 geübt hat.89 Meinecke, Friedrich Wilhelm IV. (Ob sachlich im vorliegenden Fall sein Gegner – Rachfahl – mit seiner Interpretation90 Vgl. Rachfahl, Felix, Deutschland, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution. – Halle a.S.: Max Niemeyer 1901. vielleicht im Rechte ist, entzieht [320]sich meinem Urteil und ist hier gleichgültig. Uns interessiert nur die Kritik des Erklärungsprinzips, nicht des in concreto ja möglicherweise dennoch richtigen sachlichen Ergebnisses.) . Die „Erschließung“ [A 146]eines Sinnes einer Handlung aus der gegebenen Situation, unter Voraussetzung des rationalen Charakters ihrer Motivierung, ist stets lediglich eine zum Zweck der „Deutung“ vorgenommene Hypothese, die prinzi[320]piell immer der empirischen Verifizierung bedarf, mag sie in Tausenden von Fällen noch so sicher erscheinen, und die dieser Verifizierung auch zugänglich ist. Denn wir „verstehen“ nun einmal das irrationale Walten der maßlosesten „Affekte“ genau so gut wie den Ablauf rationaler „Erwägungen“, und das Handeln und Fühlen des Verbrechers und des Genius – obwohl wir uns bewußt sind, es nie selbst haben erleben zu können – vermögen wir im Prinzip wie das Tun des „Normalmenschen“91[320] Sigwart, Logik II (wie oben, S. 5, Anm. 31), S. 628, spricht vom „Normalmenschen“, der „nicht bloss vom Princip des wirthschaftlichen Egoismus allein erfüllt“ ist. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 58, spricht von „den Alltagsmenschen“ im Unterschied zu „den Genies“. nachzuerleben, wenn es uns adäquat „gedeutet“ wird57)[A 146] Diesen Punkt – daß man „kein Caesar zu sein braucht, um Caesar zu verstehen“ – hat Simmel (S. 57) speziell erörtert.92 Simmel, ebd., S. 57. Merkwürdigerweise gestaltet sich ihm die Frage nach der Möglichkeit des Hinauswachsens unseres denkenden Verstehens über den Umkreis des Selbsterlebten hinaus zu einem psychogenetischen, statt zu einem Problem der Genese der einzelnen konkreten Erkenntnis, und er glaubt zur Lösung des ersteren zu einer Art biologischer Umformung des platonischen Anamnesis-Gedankensl[320]Anamnesis-Gedenkens93 Simmel, ebd., S. 58 f., begreift „dieses Verständnis über alles Selbsterlebte hinaus als das Bewußtwerden latenter Vererbungen“: „Wie […] unser Körper die Errungenschaften vieltausendjähriger Entwicklung in sich schließt […] so enthält unser Geist die Resultate und die Spuren vergangener psychischer Prozesse von den verschiedenen Stufen der Gattungsentwicklung her“. greifen zu müssen, welche nur dann auch nur als Hypothese zulässig wäre, wenn jeder Mensch gerade einen Caesar mit dessen individuellen „Erlebungen“ unter seinen Vorfahren zählte, welch letztere dann in irgendeiner Weise vererbt worden wären. Allein wenn hier eine nur durch solche Mittel zu lösende Schwierigkeit vorliegt, dann weist ja jede Vermehrung der eigenen Erlebnisse, jeder eigen- oder einzigartige Zug jedes einzelnen individuellen inneren Vorganges bei jedem Individuum hinsichtlich seiner Möglichkeit ganz das gleiche Problem auf. Daß eine Konstellation der nach Qualität und Intensität äußerst variablen, durch unzählbare Komplikationen und Relationen untereinander und zu der stets individuell gearteten Wirksamkeitssphäre in ihrem Sinn in schlechthin unendlichen Kombinationen auftretenden psychischen „Elemente“94 Simmel, ebd., S. 33, spricht von einem qualitativ einzigartigen „Gebilde“ als dem „Kristallisationspunkt, an dem die einzelnen psychischen Elemente zusammenschießen und so, durch überzeugend nachgefühlte Kräfte untereinander verbunden, die Einheit einer Persönlichkeit ergeben“. – was immer wir unter diesem letzten Ausdruck verstehen95 Für Menger, Untersuchungen, S. 41, 45, sucht die exakte Richtung der theoretischen Nationalökonomie die „einfachsten Elemente alles Realen“ zu ergründen, wozu [321]er neben den von der Natur dargebotenen „Güter[n]“ die menschlichen „Bedürfnisse“ und das „Streben“ nach ihrer Befriedigung zählt. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 199 mit Anm. 94. – für uns etwas [321]Einzigartiges und in dieser Einzigartigkeit von uns als „Genius“ Gewertetes, dennoch aber keine schlechthin unbekannten „Elemente“ in sich Enthaltendes darstellt, erscheint an sich keineswegs besonders schwer erklärlich, nicht schwerer jedenfalls, als daß jeder von uns sich stetig zum eigenen inneren „Erleben“ von etwas qualitativ „Neuem“ fähig zeigt. Die feine Beobachtung Simmels (a. a. O. S. 61), daß „scharf umrissene“, höchstgradig „individuelle“ Persönlichkeiten tiefer und unzweideutiger „verstanden“ zu werden pflegen – oder wir wenigstens im konkreten Fall glauben, es sei so ‒ hängt mit der Struktur des historischen Erkennens zusammen: die „Einzigartigkeit“ ist hier dasjenige, welches die Beziehung zum Wert herstellt und das spezifische Interesse am „Verstehen“ des durch seine Eigenart Bedeutsamen auf sich zieht, welches mit jeder Annäherung zum „Durchschnitt“ notwendig sinkt.97 Für Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 61, „gelingt die innere Nachbildung scharf umrissener Individualitäten relativ leicht. Themistokles und Cäsar, Augustin und Kaiser Friedrich II. glauben wir tiefer und unzweideutiger zu verstehen als einen typischen Athener des fünften Jahrhunderts oder den Durchschnittsitaliener vor der Renaissance. Das völlig Individuelle nämlich, obgleich historisch nur je ein einziges Mal realisiert, hat doch sozusagen ein allgemeiner menschliches, gewissermaßen zeitloseres Wesen, als die in vielen Exemplaren existierenden Repräsentanten einer raumzeitlich bestimmten Situation.“ Auch die Herstellung jener „Einheit“98 Vgl. Simmel, ebd., S. 61: „Jene zwar historisch festgelegten, aber doch anonymen Wesen erscheinen als je eine Summe nebeneinanderliegender Eigenschaften, während in der markanten Individualität die Einheitsform, die alle Einzelbestimmungen zusammenhält, entscheidend hervortritt.“ Vgl. ebd., S. 22 ff., 38. des historischen Individuums, auf welche Simmel zurückgreift, erfolgt ja durch Wertbeziehung, und es erklärt sich daraus auch dasjenige, was von den Ausführungen Simmels (S. 51 f.) über die Bedeutung einer ausgeprägten Indi[A 147]vidualität des Historikers für das Gelingen seiner „Deutungen“ als unbedingt richtig zuzugestehen ist.99 Vgl. ebd., S. 53: „Und so scheinen auch nur diejenigen Historiker, die selbst eine stark ausgeprägte geistige Eigenart haben, geschichtliche Individualitäten in ihrem Grunde ergreifen und darstellen zu können.“ (Wieviel dies ist, soll hier nicht untersucht werden. Der Begriff „ausgeprägte Individualität“ ist ziemlich unbestimmt. Man würde doch wohl etwa an Ranke als Beispiel anknüpfen müssen und dann mit dieser Kategorie in arge Verlegenheit geraten.)1 Simmel, ebd., S. 51, kommt auf Rankes „Wunsch“ zu sprechen, „er möchte sein Selbst auslöschen, um die Dinge zu sehen, wie sie an sich gewesen sind“. Die Verankerung des ganzen Sinns einer Erkenntnis des Individuellen an Wertideen manifestiert sich eben auch in der „schöpferischen“ Kraft, welche eigene starke Werturteile des Historikers bei der Entbindung historischer Erkenntnis entwickeln können. Wie die teleologische „Deutung“ in den Dienst der biologischen Erkenntnis – und in [322]der Zeit der ersten Entwickelung der modernen Naturforschung in den Dienst aller Naturerkenntnis – trat, obwohl doch ihre möglichste Eliminierung den Sinn des Naturerkennens ausmacht, so treten hier die Werturteile in den Dienst der Deutung. [Für die Spekulationen über den „Sinn“ der Geschichte hat grade Simmel (im letzten Kapitel) etwas Ähnliches sehr fein ausgeführt.]m[322][ ] in A.3 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 118: „Die teleologische Reflexion belebt das Bild der Geschichte selbst, wenn die Individualisierung der Seelen oder ihre Egalisierung, wenn der Reichtum objektiv geistiger Gestaltungen oder die sittliche Vollendung, wenn die Steigerung des Glücksquantums oder die allein erreichbare Minderung der Leidenssumme als der Zweck oder Sinn der geschichtlichen Bewegungen vorgeführt wird.“ . Nur dies: die „Deutbar[A 147]keit“ menschlichen [321]Handelns als Voraussetzung der Entstehung des spezifisch „historischen“ Interesses besagt denn auch das von Ranke96 Eine Formulierung zur „natürlichen Gleichheit aller Menschen“ findet sich in Ranke, Leopold von, Weltgeschichte. Fünfter Theil: Die arabische Weltherrschaft und das Reich Karls des Großen. Erste Abtheilung, 1. bis 3. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 10. ebensowohl [322]wie von neueren Methodologen58) In recht bedenklicher Formulierung bei Bernheim, Histor[ische] Methode, 3. Aufl., S. 170: „Analogie der Empfindungs-, Vorstellungs- und Willensweise der Menschen“, „Identität der Menschennatur“, „Identität der allgemeinen psychischen Prozesse“, „der Denkgesetze“, „immer gleiche seelische und geistige Anlagen“ usw. seien die „Grundaxiome“ jeder historischen Erkenntnis.4 Vgl. Bernheim, Lehrbuch, S. 170 f.: „Diese auf die allgemeine Erfahrung tief und fest gegründete Gewißheit der Analogie der Empfindungs-, Vorstellungs-, Willensweise unter den Menschen oder, wie wir auch sagen können, die Identität der Menschennatur ist das Grundaxiom jeder historischen Erkenntnis.“ Man habe es mit „immer gleichen seelischen und geistigen Anlagen“ zu tun; die „Gesetze des Denkens“ verändern sich nicht, und selbst wenn sich die Inhalte des Empfindens wandeln, bleiben die zugrundeliegenden „allgemeinen psychischen Prozesse“ doch „unveränderlich“. Gemeint ist doch einfach: daß die Geschichte in ihrer Eigenart möglich ist, weil und soweit wir Menschen zu „verstehen“ und ihr Handeln zu „deuten“ vermögen. Inwieweit dies „Gleichheit“ voraussetzt, wäre alsdann zu untersuchen. Anderseits ist es auch nicht zu billigen, wenn Bernheim S. 104 „die qualitative Differenz der Individuen, diese Grundtatsache allen organischen Lebens“ – die Unmöglichkeit historischer Gesetze begründen läßt. Denn jene Differenz gilt für die Gesamtheit aller, auch anorganischen, „Individuen“. stark betonte „Axiom aller historischen Erkenntnis“ von der „prinzipiellen Gleichheit“ der Menschennatur. Denn der „normale“ Mensch und das „normale“ Handeln sind natürlich ganz ebenso zu bestimmten Zwecken konstruierte idealtypische Gedankengebilde, wie – im umgekehrten Sinne – das bekannte „kranke Pferd“ in Hoffmanns „Eisernem Rittmeister“,2[322] In Hoffmann, Rittmeister II, S. 235 f., wird über ein Bildchen gesprochen, „bezeichnet: das fehlerhafte Pferd. Genau wie der griechische Künstler für seine Marmorgöttin aus hundert lebenden Vorbildern ein letztes reines Urbild aller Vollkommenheiten herauszuziehen und zusammenzufügen wußte, so hat der geistvolle Meister jenes Kunstwerkes in seinem Rosse ein reines, ganzes, von keiner zufälligen Einzelheit getrübtes Idealbild aller lebenswirklichen Unvollkommenheit hingestellt.“ Als Herkunft des Motivs nebst Bildchen kommt in Frage: Pöllnitz, Gottlob Ludwig von, Das fehlerhafte Pferd oder Darstellung aller an einem Pferde äußerlich sichtbaren Mängel und Gebrechen, nebst kurzer Beschreibung und Heilung derselben. Mit einem Kupfer. – Halberstadt: H. Vogler 1820. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 mit Anm. 3. und das „Wesen“ z. B. des Affekts eines Tiers „ver[323]stehen“ wir durchaus in gleichem Sinn wie den menschlichen. Schon dies zeigt, daß – im Gegensatz zu Gottls Annahme – die „Deutung“ natürlich keineswegs ausschließlich im Wege einer von „Objektivierung“ freien Anschaulichkeit und einer einfachen Nachbildung entstanden zu denken ist. Nicht nur ist die deutende „Erschließung“ eines konkreten Gedankens gelegentlich geradezu auf die Unterstützung durch klinisch-pathologische Kenntnisse angewiesen59)[323] Denn auch die Psychopathologie verhält sich – z. B. auf dem Gebiet der Hysterie5[323] Vgl. oben, S. 291 mit Anm. 67. ‒ nicht nur, aber doch auch – „deutend“.n[323]A: auch –, „deutend“ Auf das Verhältnis [A 148]des „Einfühlens“ zur „Erfahrung“ auf diesem Gebiet werden wir weiterhin noch exemplifizieren.6 Weber, Roscher und Knies 3, unten, S. 335, Fn. 10. , sondern sie be[A 148]dient sich selbstredend überhaupt, im Gegensatz zu Gottls Annahme, fortwährend der „Kontrolle“ durch „Erfahrung“ in logisch gleichem Sinn wie die Hypothesen der „Naturwissenschaften“.

Man hat zwar – und so verfährt im wesentlichen auch Gottl – zugunsten einer spezifischen „Gewißheit“ der „Deutungen“ gegenüber anderen Erkenntnisarten geltend gemacht, daß der sicherste Inhalt unseres Wissens das „eigene Erlebnis“ sei60) Auch Münsterberg (S. 55) (wie sehr viele andere) ist dieser Meinung. Die „amechanische Bedeutung“ des fremden „Subjektsaktes“ sei „unmittelbar gegeben“.7 Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 54 f.: „In der Welt der Bewertungen aber handelt es sich nicht um psychophysische Individuen, sondern um stellungnehmende Subjekte, die einander nicht vorfinden, sondern anerkennen und nicht erst durch physische Zwischenglieder voneinander wissen, sondern die fremde Aussage unmittelbar als Zumutung, als Urteil, als Subjektakt erleben. Im Erfassen des Sinnes liegt also nichts Hypothetisches; ist irgend etwas mir als Wirklichkeit gegeben, so ist es die amechanische Bedeutung der fremden Aussagen, zu denen ich Stellung nehme; daß sie auch mechanisch existieren, ist erst nachträgliche Einsicht.“ Das kann doch nur heißen: verstanden – oder mißverstanden. Oder endlich: unverstanden. In jedem der beiden erstenoA: ersten Fälle ist sie formal „evident“, aber ob sie empirisch „gültig“ ist, ist eben Frage der „Erfahrung“. – Cf. gegen die spezifische „Gewißheit“ und den höheren „Wirklichkeitsgehalt“ der inneren Erfahrung auch Husserl, Logische Untersuchungen, Beilage zu Bd. II, S. 703.8 Gemeint ist Husserl, Beilage. . Das ist – in einem bestimmten, gleich zu erörternden Sinn – richtig, sobald als Gegensatz dazu fremde „Erlebnisse“ gemeint sind, sobald ferner der Begriff des „Erlebnisses“ auf die in einem bestimmten Moment uns unmittelbar gegebene psychische und physische Welt erstreckt [324]wird und sobald unter dem „Erlebten“ nicht die von der wissenschaftlichen Betrachtung zu formende Wirklichkeit gemeint ist, sondern die Gesamtheit der „Wahrnehmungen“ in Verbindung mit den gänzlich ungeschieden mit ihnen verbundenen „Empfindungen“, „Wollungen“, – den „Stellungnahmen“ also, die wir in jedem Augenblick vollziehen und deren wir uns in dem betreffenden Augenblick in sehr verschiedenem Grade und Sinn „bewußt“ werden. So gemeint, ist aber das „Erlebte“ etwas, was nicht zum Objekt von Urteilen im Sinn der empirischen Tatsachenerklärung gemacht wird und daher im Zustande der Indifferenz gegenüber jeder empirischen Erkenntnis verharrt. Soll dagegen unter dem „Erlebten“ das „psychische“ Geschehen „in“ uns im Gegensatz zu der Gesamtheit des Geschehens „außer“ uns – gleichviel wie die Grenze zwischen beiden gezogen wird – verstanden sein, und soll dies „psychische“ Geschehen als Gegenstand einer gültigen Tatsachen-Erkenntnis verstanden werden – dann liegt die Sache selbst nach der von Gottl akzeptierten Auffassung Münsterbergs eben doch wesentlich anders.9[324] Weber benützt hier gegen Gottl die Ausführungen von Münsterberg über „Die reine Erfahrung“. Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 44 ff.

Aber auch wenn man – wie dies Gottls Intentionen entspricht ‒ sich jenseits der zur „Introjektion“ leitenden Scheidung des „Erlebten“ in „physische“ und „psychische“ Teile der objektivierten Wirklichkeit hält, die „physische“ Welt also nur als Anlaß [A 149]unsrer Stellungnahme „auffaßt“, setzt jede gültig-sein-wollende Erkenntnis erlebbarer konkreter Zusammenhänge „Erfahrung“ von logisch gleicher Struktur wie jede Bearbeitung der „objektivierten“ Welt voraus. Zunächst enthält ja das zum Gegenstand der Deutung gemachte Sich-Verhalten von Menschen überall Bestandteile, welche ganz ebenso als letzte „Erfahrungen“ einfach hinzunehmen sind, wie irgend welche „Objekte“. Nehmen wir etwas Allereinfachstes: Der Vorgang der „Einübung“ geistigen Könnens, wie er überall in der Kulturgeschichte begriffliche Verwendung findet, ist ganz gewiß unmittelbar „verständlich“ in seinem Hergang und seinen Konsequenzen. Wie er abläuft, kann für gewisse meßbare Bestandteile Gegenstand von exakter „Psychometrie“10 Vgl. oben, S. 268 mit Anm. 95. werden, im übrigen kennen wir seinen Effekt aus massenhafter eigner [325]Erfahrung, insbesondere etwa aus der eignen Erlernung fremder Sprachen. Daß er stattfindet und möglich ist, ist aber letztlich eben doch nur einfach „konstatierbar“ in durchaus gar keinem anderen Sinn als etwa die Tatsache, daß die Körper „schwer“ sind. Aber weiter: unsre eignen, das Werten und Handeln mitbestimmenden, „Stimmungen“ – im „vulgärpsychologischen“ Sinn des Wortes, wie ihn die Kulturwissenschaften unzählige Male brauchen – sind uns in ihrem Sinn, ihrem „Mit-, Aus- und Wegen-einander“ (um mit Gottl zu reden)11[325] Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 79. ganz und gar nicht unmittelbar „deutbar“. Sondern – wie am klarsten etwa beim ästhetischen Genuß, nicht minder aber auch z. B. bei klassenbedingtem inneren Sich-Verhalten zu Tage tritt – es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß sie uns in all diesen Hinsichten durch Interpretation an der Hand der Analogie, d. h. unter Heranziehung fremder „Erlebungen“, die zum Zweck der Vergleichung denkend gewählt sind, also ein bestimmtes Maß von Isolation und Analyse als vollzogen unbedingt voraussetzen,12 Zu Isolation und Analyse vgl. Einleitung, oben, S. 16. nicht nur „gedeutet“ werden können, sondern in dieser Weise geradezu kontrolliert und analysiert werden müssen, wenn anders sie jenen Charakter der Klarheit und Eindeutigkeit annehmen sollen, mit dem Gottl als einem a priori operiert. Die dumpfe Ungeschiedenheit des „Erlebens“ muß – zweifellos auch nach Gottls Ansicht – gebrochen sein, damit auch nur der erste Anfang wirklichen „Verstehens“ unsrer selbst einsetzen kann. Wenn man sagt, daß jedes „Erlebnis“ das Gewisseste des Gewissen sei,13 Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 51: „Daß ich in meinem Willen etwas erlebe, das von jedem vorgefundenen Erfahrungsinhalt prinzipiell verschieden ist, das ist die sicherste unmittelbarste Gewißheit“. so trifft dies natürlich darauf zu, daß wir erleben. Was wir aber eigentlich erleben, dessen kann auch jede „deutende“ Interpretation erst habhaft werden, nachdem das Stadium des „Erlebens“ selbst verlassen ist und das Erlebte zum [A 150]„Objekt“ von Urteilen gemacht wird, die ihrerseits ihrem Inhalt nach nicht mehr in ungeschiedener Dumpfheit „erlebt“, sondern als „geltend“ anerkannt werden.14 Ebd., S. 54 f. Dies „Anerkennen“, als ein Bestandteil des Stellungnehmens gedacht, kommt aber nicht, wie Münsterberg seltsamerweise [326]annimmt, dem fremden „Subjekt“,15[326] Ebd., S. 55. sondern der Geltung eigner und fremder Urteile zu. Das Maximum der „Gewißheit“ aber im Sinn des Geltens – und nur in diesem Sinn hat irgend eine Wissenschaft damit zu schaffen – haftet an Sätzen wie 2 x 2 = 4, nachdem sie einmal „anerkannt“ sind, nicht aber an dem Gefühl unmittelbaren, aber ungeschiedenen Erlebens, welches wir jeweils „haben“ oder, was dasselbe ist, eben „sind“. Und die Kategorie des „Geltens“ tritt alsbald in ihre formende Funktion, sobald die Frage nach dem „Was?“ und „Wie?“ des Erlebten auch nur vor unserm eignen Forum aufgeworfen wird und gültig beantwortet werden soll61)[326][A 150] Auch Münsterberg führt (S. 31) aus,16 Ebd., S. 31. daß die „erlebte Einheit“ auch nicht einmal ein „Zusammenhang beschreibbarer Vorgänge“ sei. Sofern sie „erlebt“ wird, gewiß nicht, sofern sie aber „gedacht“ wird, zweifelsohne. Wenn der Umstand, daß die „Beschaffenheit“ von etwas „bestimmbar“ ist, genügt, um es, schon im vorwissenschaftlichen Stadium, zum „Objekt“ zu machen, – und gegen eine solche Terminologie ist von dem hier festgehaltenen Standpunkte an sich nichts zu erinnern –, dann hat es die Geschichte als Wissenschaft eben mit „Objekten“ zu tun.17 Vgl. ebd.: „Beschreibung, auch wenn sie noch im vorwissenschaftlichen Stadium ist, setzt stets ein Objekt voraus, dessen Beschaffenheit bestimmbar ist, und bestimmbar ist nur, was in sich bestimmt ist, was also nicht vom Subjekt abhängig ist.“ Es ist die Eigenart der dichterischen „Wiedergabe“ der Wirklichkeit – obwohl auch sie natürlich nicht ein „Abbild“, sondern eine geistige Formung ihrer enthält –, sie so zu behandeln, daß „ein jeder fühlt, was er im Herzen trägt“.18 Abwandlung eines Goethe-Zitats. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 227 mit Anm. 68. „Geschichte“ sind aber auch einfache anschauliche Niederschriften von „Erlebnissen“, obwohl auch sie das Erlebnis bereits gedanklich formen, noch ebensowenig, wie etwa eine Zolasche Schilderung, und sei sie die getreueste Wiedergabe eines wirklich genau so „erlebten“ Vorganges an der Börse oder in einem Warenhaus,19 Vgl. Zola, Emile, Das Geld. Die Rougon-Macquart: die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich, Band 18. Übersetzt von Armin Schwarz. – Budapest: Grimm 1897; ders., Zum Paradies der Damen. Die Rougon-Macquart: die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich, Band 11. Übersetzt von Armin Schwarz, ebd. 1894–1895. schon eine wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet. Wer darin, daß die Worte des Historikers, wie Münsterberg sagt, „lachen und weinen“,20 Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 36 f. das logische Wesen der Geschichte findet, könnte es ebensogut in den etwa beigegebenen Illustrationen oder schließlich in dem nach moderner Manier unter Umständen vorhandenen stimmungserregenden „Buchschmuck“21 Ein Ende des 19. Jahrhunderts von William Morris mit seinem Verlag Kelmscott Press begründetes Kunsthandwerk, an dem sich in Deutschland u. a. der Leipziger Verleger Eugen Diederichs orientierte. Der Begriff Buchschmuck wird alsbald durch den Begriff Buchkunst ersetzt. Vgl. Kautzsch, Rudolf, Die neue Buchkunst. Studien im In- und Ausland. – Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1902. suchen. – Wir werden weiterhin noch sehen, daß jeden[327]falls die so viel betonte „Unmittelbarkeit“ des „Verstehens“ in die Lehre von der psychologischen Genesis, aber nicht in diejenige vom logischen Sinn des historischen Urteils gehört. Die konfusen Vorstellungen, daß die Geschichte „keine“ oder doch „eigentlich keine“ Wissenschaft sei, fußen meist auf falschen Vorstellungen grade hierüber.22[327] Vgl. z. B. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung (ders., Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Band 2). – Leipzig: F. A. Brockhaus 1891, S. 502; Bernheim, Lehrbuch, S. 141 ffp[327] In A folgt: (Ein weiterer Aufsatz folgt.)23 Gemeint ist der dritte Artikel, unten, S. 328–379. . – [327]Darauf, wie dies geschieht, kommt es aber für die Beurteilung des logischen Wesens der „deutend“ gewonnenen Erkenntnis allein an, und damit allein werden wir uns hier weiterhin beschäftigen.23 Gemeint ist der dritte Artikel, unten, S. 328–379.

[328][A 81]II.a[328] In A geht voraus: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie./ (Dritter Artikel.) / Von Max Weber. Knies und das Irrationalitätsproblem.
(Fortsetzung.)

Inhaltsverzeichnis.bErster Teil des Inhaltsverzeichnisses (zum zweiten Artikel), oben, S. 243.

1. Die Irrationalität des Handelns. (Schluß). 4) Die „Einfühlung“ bei Lipps und die „Anschauung“ bei Croce S. 328. – „Evidenz“ und „Geltung“ S. 339. – Heuristisches „Gefühl“ und „suggestive“ Darstellung des Historikers S. 344. – Die „rationale“ Deutung S. 355. – Die doppelte Wendung der Kausalitätskategorie und das Verhältnis zwischen Irrationalität und Indeterminismus S. 361. – Der Begriff des Individuums bei Knies. Anthropologischer Emanatismus S. 369.

Für die Erörterung der logischen Stellung des „Deutens“ (in dem hier festgehaltenen Sinne) ist zunächst ein Blick auf gewisse moderne Theorien über seinen psychologischen Hergang unvermeidlich.

Nach Lipps1) [328][A [81]]Grundlegung der Ästhetik. Hamburg 1903. Es werden hier nur die wenigen Punkte herausgegriffen, die für unsere Betrachtungen wesentlich sind., welcher, wennschon wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Begründung der ästhetischen Werte, eine eigenartige Theorie der „Deutung“ entwickelt hat, ist das „Verstehen“ der „Ausdrucksbewegung“ eines anderen, z. B. eines Affektlautes, „mehr“ als bloßes „intellektuelles Verständnis“ (S. 106).1[328] Vgl. Lipps, Ästhetik, S. 106, 108. Es enthält „Einfühlung“, und diese für Lipps grundlegende Kategorie ist ihrerseits (nach ihm) ein Seitentrieb der „Nachahmung“, nämlich die aus[A 82]schließlich „innere“ Nachahmung eines Vorganges (S. 120) – z. B. des Seiltanzens eines Akrobaten – als eines „eigenen“.2 Vgl. ebd., S. 120 ff. Und zwar ist es nicht reflektierende Betrachtung des fremden Tuns, sondern eigenes, aber rein innerlich bleibendes „Erlebnis“, neben welchem das „Urteil“, daß – im Beispiel – nicht ich, sondern eben der [329]Akrobat auf dem Seile steht, „unbewußt“ bleibt (S. 122)2)[329][A 82] Lipps hebt deshalb hervor (S. 126 f.), daß die Bezeichnung als „innere Nachahmung“ nur eine provisorische sei, denn in Wahrheit handele es sich nicht um Nachahmung, sondern um eigenes Erleben. .3[329] Vgl. ebd., S. 122 f. Aus dieser „vollkommenen“ Einfühlung, welche also ein gänzliches inneres Hineingehen des „Ich“ in dasjenige Objekt, in welches man sich „einfühlt“: – ein wirkliches phantastisches, eigenes (inneres) Tun also, nicht etwa ein bloß phantasiertes, d. h. zum Objekt einer „Vorstellung“ gemachtes Tun3) Auf diese Scheidung legt L[ipps] (S. 129) großen Nachdruck. Es gibt nach ihm drei psychologisch zu scheidende Arten des realen Tuns; 1. „phantastisches“ inneres Tun, – 2. „intellektuelles“ (nachdenkendes und urteilendes) Tun, – 3. jenes Tun, welches sich erst „befriedigt im realen Dasein, d. h. in Empfindungen und dem Bewußtsein, daß etwas wirklich sei“, also doch wohl reales äußeres Tun. Der psychologische Wert dieser Scheidung kann hier nicht kritisiert werden. ,4 Vgl. ebd., S. 127 ff. – bedeutet, und welches Lipps als „ästhetische Einfühlung“5 Vgl. ebd., S. 123 ff. zur konstitutiven Kategorie des ästhetischen Genusses erhebt, entwickelt (nach ihm) sich das „intellektuelle Verständnis“ dadurch, daß, um im Beispiel zu bleiben, zunächst jenes „unbewußte“ Urteil: – „nicht ich, sondern der Akrobat steht (oder: stand) auf dem Seil“ – ins Bewußtsein erhoben, und damit das „Ich“ in ein „vorgestelltes“ (auf dem Seil) und ein „reales“ (jenes andre sich vorstehendes) sich zerspaltet (S. 125), so daß alsdann die – wie Münsterberg sagen würde: – „Objektivierung“6 Für Münsterberg, Psychologie, S. 56, 60, ist „Objektivierung“ die „Loslösung des Objekts vom Subjekt“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 282 mit Anm. 38. des Vorganges, insbesondere also seine kausale Interpretation, beginnen kann. Ohne vorangegangene kausale „Erfahrung“ ist anderseits aber „Einfühlung“ nicht möglich: ein Kind „erlebt“ den Akrobaten nicht. Aber – dürfen wir in Lipps’ Sinne einschalten – diese „Erfahrung“ ist nicht das objektivierte Produkt nomologischer Wissenschaft, sondern die anschaulich „erlebte“ und erlebbare, mit dem Begriff des „Wirkens“, der „wirkenden Kraft“, des „Strebens“ verknüpfte Subjektskausalität des Alltags.7 Lipps, Ästhetik, S. 170, will nicht den „geläuterten Kraftbegriff der Naturwissenschaft“ benutzen, der nur ein „kürzerer Name für eine regelmäßige Folge von Naturer[330]scheinungen“ ist, sondern den „alltäglichen Kraftbegriff“, demzufolge Kraft „ein von den Dingen verschiedenes Reales“ ist, das „in den Dingen wohnt oder sitzt, und nach Betätigung verlangt“. Dieses Verlangen ist ein „Streben“ (ebd., S. 171). Dies äußert sich insbesondere bei der „Einfühlung“ in reine „Natur“vorgänge. Denn die Kategorie der „Einfühlung“ ist nach Lipps keineswegs auf „psychische“ Vorgänge beschränkt. Wir „fühlen“ uns vielmehr auch in die [330]physische Außen[A 83]welt ein, indem wir Bestandteile ihrer als Ausdruck einer „Kraft“, eines „Strebens“, eines bestimmten „Gesetzes“ usw. gefühlsmäßig „erleben“ (S. 188), und diese phantastisch „erlebbare“ anthropomorphe individuelle Kausalität in der Natur ist nach Lipps die Quelle der „Naturschönheiten“.8 Vgl. ebd., S. 202. Die „erlebte“ Natur besteht im Gegensatz zur objektivierten, d. h. in Relationsbegriffe9 Zur Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 47 mit Anm. 32. aufgelösten oder aufzulösenden, aus „Dingen“ ganz ebenso, wie das erlebte eigene „Ich“ ein Ding ist, – und der Unterschied zwischen „Natur“ und „Ich“ liegt eben darin, daß das „erlebte Ich“ das einzige realeDing“ ist, von dem alle „Natur-“individuen ihre anschaulich „erlebbare“ Dinghaftigkeit und „Einheit“ zu Lehen tragen (S. 196).

Wie man nun auch über den Wert dieser Aufstellungen für die Begründung der Ästhetik denken mag: für logische Erörterungen ist vor allem daran festzuhalten, daß das „individuelle Verstehen“ – wie das ja auch bei Lipps wenigstens angedeutet ist – nicht ein „eingefühltes Erlebnis“ ist. Aber jenes entwickelt sich auch nicht in der Art aus diesem, wie Lipps es darstellt. Wer sich in den Lippsschen Akrobaten „einfühlt“, „erlebt“ ja weder, was dieser auf dem Seil „erlebt“, noch was er „erleben“ würde, wenn er selbst auf dem Seil stände, sondern etwas dazu nur in durchaus nicht eindeutigen, phantastischen Beziehungen Stehendes,10 Vgl. Lipps, Ästhetik, S. 123 ff., 127 ff. und deshalb vor allem: etwas, was nicht nur keinerlei „Erkenntnis“ in irgendeinem Sinne enthält, sondern auch garnicht das „historisch“ zu erkennende Objekt enthält. Denn dies wäre eben doch im gegebenen Falle das Erlebnis des Akrobaten und nicht dasjenige des Einfühlenden. Nicht eine „Spaltung“ des einfühlenden Ich tritt also ein, sondern die Verdrängung des eigenen Erlebnisses durch die Besinnung auf ein fremdes als „Objekt“, wenn die Reflexion beginnt. Richtig ist nur, daß auch das „intellektuelle Verständnis“ in der Tat ein „inneres Mitmachen“, also „Einfühlung“, in sich schließt, – aber, sofern es „Erkenntnis“ beabsichtigt und erzielt, ein „Mitmachen“ zweckvoll gewählter Bestandteile. Die Ansicht, daß die Einfühlung [331]„mehr“ sei als bloßes „intellektuelles Verständnis“, kann also nicht ein Plus an „Erkenntniswert“ im Sinne des „Geltens“ behaupten, sondern besagt nur, daß kein objektiviertes „Erkennen“, sondern reines „Erleben“ vorliegt. Im übrigen ist entscheidend, ob die von Lipps dem „Ich“ und nur ihm zugeschriebene reale „Dinghaftigkeit“ Konsequenzen für die Art der wissenschaftlichen Analyse „innerlich nacherlebbarer“ Vorgänge haben soll. Die letztgenannte Frage aber bildet einen Bestandteil des universelleren Problems nach der logischen [A 84]Natur der „Dingbegriffe“, dessen allgemeinste Formulierung wiederum sich dahin zuspitzen läßt: gibt es denn überhaupt Dingbegriffe? Man hat es immer wieder geleugnet, und welche Konsequenzen dieser Standpunkt für die logische Beurteilung speziell der Geschichte haben muß, zeigt neuestens wieder in typischer Weise der geistvolle italienische Widerpart der Ansichten von Lipps und des Psychologismus überhaupt in der Philologie und Ästhetik: Benedetto Croce4)[331][A 84] Ich zitire zur Bequemlichkeit nach der deutschen Übersetzung seiner Ästhetik von K[arl] Federn. Leipzig 1905. .11[331] Croce, Aesthetik, S. 1, beginnt mit folgender Grundunterscheidung: „Es gibt zwei Formen menschlicher Erkenntnis: sie ist entweder intuitive (anschauende) Erkenntnis oder logische Erkenntnis; Erkenntnis, die durch die Phantasie vermittelt wird oder durch den Intellekt; Erkenntnis des Individuellen oder Erkenntnis des Allgemeinen; Erkenntnis der Dinge oder ihrer Beziehungen; sie erzeugt in uns entweder Bilder (Anschauungen) oder Begriffe.“ Diese Formen der Erkenntnis – „die ästhetische und die intellektuelle oder begriffliche“ – sind „sehr verschieden, aber keineswegs getrennt“; zwar ist die ästhetische von der intellektuellen unabhängig, aber diese kann nicht ohne jene bestehen (ebd., S. 22). „Dinge sind Anschauungen“,c[331]A: Anschauungen,“ meint Croce, „Begriffe“ dagegen beziehen sich auf „Beziehungen zwischen Dingen“.12 Ebd., S. 22. Der Begriff, welcher seinem Wesen nach nur genereller und also abstrakter Natur sein kann, ist daher „nicht mehr“ Anschauung, aber er ist es anderseits „doch noch“, da er ja eben schließlich seinem Inhalt nach nur verarbeitete Anschauung ist.13 Ebd. Die Folge seines notwendig abstrakten Charakters ist jedoch, daß „Dinge“, da sie stets individuell sind, nicht in Begriffe eingehen, sondern nur „angeschaut“ werden können: ihre Erkenntnis ist also nur „künstlerisch“ möglich. Ein „Begriff“ von etwas Individu[332]ellem ist contradictio in adjecto,14[332] Ebd., S. 39 f. und die Geschichte, welche das Individuelle erkennen will, ist eben deshalb „Kunst“, d. h. eine Aneinanderreihung von „Intuitionen“.15 Ebd., S. 27. Denn ob eine Tatsache unsres Lebens „wirklich war“ – worauf es ja der Geschichte allein ankommt –, lehrt keine begriffliche Analyse, sondern allein die „Reproduktion der Anschauungen“: – „Geschichte ist Gedächtnis“,16 Ebd., S. 28. und die Urteile, welche ihren Inhalt ausmachen, enthalten, als bloße „Einkleidung des Eindrucks einer Erfahrung“, keinerlei „Setzung von Begriffen“, sondern sind nur „Ausdrücke“ von Anschauungen.17 Ebd., S. 43. Es kann daher die Geschichte Gegenstand „logischer“ Bewertung gar nicht werden, denn die „Logik“ befaßt sich nur mit (Allgemein-)Begriffen und ihrer Definition5)[332] Es ist hier absichtlich B[enedetto] Croces inzwischen erschienene Logica come scienza del concetto puro (Acc[ademia] Pont[oniana], Napoli 1905)21 Croce, Logica. beiseite gelassen, da es nicht auf eine Auseinandersetzung mit Croce, sondern auf ein typisches Beispiel weitverbreiteter Meinungen abgesehen ist, die hier besonders präzis formuliert sind. Auf jene Schrift hoffe ich[,] anderwärts zurückzukommen.22 Nicht belegt. .18 Ebd., S. 42 f.

Solche Aufstellungen sind die Konsequenz folgender naturalistischer Irrtümer: 1. Daß nur Relationsbegriffe, und – da die Relationsbegriffe der unmittelbaren Alltagserfahrung selbstverständlich genau so viel „Anschauung“ enthalten wie irgendein Dingbegriff6) Dem stehen natürlich die zunächst auf „Urteilsaussagen“ bezüglichen [A 85]Bemerkungen von Husserl, Log[ische] Untersuchungen II, S. 607 (vgl. auch S. 333)23 Husserl, Untersuchungen II, S. 606 ff. nicht entgegen, da eben auch der Dingbegriff nicht nur auf der einen Seite „weniger“, sondern auch auf der anderen „mehr“ enthält als die bloße sinnliche Anschauung oder das bloße „Erlebnis“. Darüber siehe das hier im Text folgende. – nur [A 85]Relationsbegriffe von absoluter Bestimmtheit, d. h. aber: in Kausalgleichungen19 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 46 mit Anm. 31. ausdrückbare Relationsbegriffe überhaupt „Begriffe“ seien. Ausschließlich mit solchen Begriffen aber arbeitet nicht einmal die Physik.20 Weber folgt Rickert, für den nur die „Mechanik“ als „letzte Naturwissenschaft“ ausschließlich mit Relationsbegriffen arbeitet. Vgl. Rickert, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 84; Rickert, Grenzen, S. 80, 104. – 2. Die damit zusammenhängende [333]Behauptung, daß „Dingbegriffe“ keine „Begriffe“ seien, sondern „Anschauungen“, ist die Folge des Ineinanderschiebens verschiedener Bedeutungen der Kategorie der „Anschaulichkeit“. Wie die anschauliche Evidenz des mathematischen Lehrsatzes etwas anderes ist als die für die „Erfahrung“ unmittelbar gegebene, „in“ und „außer“ uns erlebte und erlebbare „Anschaulichkeit“ des Mannigfaltigen – „kategoriale“ Anschauung im Gegensatz zur „sinnlichen“ nach Husserls Terminologie7)[333] Husserl a. a. O. II, S. 607, 637 ff.28 Husserl, Untersuchungen II. –, so ist das Crocesche Ding24[333] Vgl. Croce, Aesthetik, S. 1. und insbesondere auch das Lippssche Ding κατ‘ έξοχήν:25 Altgriech.: kat’exochen, schlechthin, im eigentlichen Sinne. das „Ich“,26 Lipps, Ästhetik, S. 194. so, wie es die empirische Wissenschaft anwendet, etwas gänzlich anderes als der „erlebte“, zu einer rein sinnlich oder gefühlsmäßig anschaulichen „Einheit“ zusammengeflossene und als solche durch „Gedächtnis“ oder „Ichgefühl“ psychologisch zusammengehaltene Komplex von Bewußtseinsinhalten. Wo die empirische Wissenschaft eine gegebene Mannigfaltigkeit als „Ding“ und damit als „Einheit“ behandelt, z. B. die „Persönlichkeit“27 Croce, Aesthetik, S. 27. eines konkreten historischen Menschen, da ist dieses Objekt zwar stets ein nur „relativ bestimmtes“, d. h. ein stets und ausnahmlos empirisch „Anschauliches“ in sich enthaltendes gedankliches Gebilde, – aber es ist gleichwohl eben ein durchaus künstliches Gebilde8) In der Verkennung des künstlichen Charakters des Historischen liegen auch die verschiedenen Irrtümer Münsterbergs. Daß z. B. die spezifische Interessenrichtung, also Wertung, die Formung des Historischen bedingt, nimmt auch er an (S. 132, 119),29 Münsterberg, Psychologie, S. 132, 119. aber auf die Frage, welche „Wollungen“ denn in die Geschichte eingehen, antwortet er durch Hinweis auf die „Tragweite“, wonach die „zufälligen (!) Willenszuckungen, die von Gegenbewegungen sofort aufgehoben“ werden (S. 127), nicht hineingehören. Es waltet die unklare Vorstellung ob, die auch Gottl beherrscht, als ob der „erlebte“ Stoff von selbst aus sich die historischen Gebilde gebäre.30 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 70. , dessen „Einheit“ durch Auswahl des mit Bezug auf bestimmte Forschungszwecke „Wesentlichen“ bestimmt ist, ein Denkprodukt also von nur „funktioneller“ Beziehung zum „Gegebenen“ und mithin: ein „Begriff“, wenn anders [A 86]dieser Ausdruck nicht künstlich auf nur einen Teil der durch denkende Umfor[334]mung31[334] Für Rickert impliziert wissenschaftliche Erkenntnis die „Umbildung“ bzw. „Umformung“ der Wirklichkeit. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 224 mit Anm. 60. Gottl, Herrschaft, S. 108, spricht von einer „denkende[n] Umformung von Erlebtem“. des empirisch Gegebenen entstehenden und durch Worte bezeichenbaren Gedankengebilde beschränkt wird. – Schon deshalb ist natürlich auch, drittens, die weitverbreitete und von Croce akzeptierte Laienansicht durchaus irrig, als ob die Geschichte eine „Reproduktion von (empirischen) Anschauungen“ oder ein Abbild von früheren „Erlebungen“ (des Abbildenden selbst oder anderer) sei.32 Croce, Aesthetik, S. 91 f. Schon das eigene Erlebnis kann, sobald es denkend erfaßt werden soll, nicht einfach „abgebildet“ oder „nachgebildet“ werden: das wäre eben kein Denken über das Erlebnis, sondern ein nochmaliges „Erleben“9)[334][A 86] Vgl. auch Husserl a. a. O. II, S. 333, 607.37 Husserl, Untersuchungen II, S. 333, 607. des früheren oder vielmehr, da dies unmöglich ist, ein neues „Erlebnis“, in welches das – für eine denkende Betrachtung sich stets als nur relativ begründet herausstellende – „Gefühl“ mit „eingeht“, „dies“ (d. h. einen unbestimmt bleibenden Bestandteil des als präsentes „Erlebnis“ Gegebenen) schon einmal „erlebt“ zu haben. Ich habe an anderer Stelle33 Möglicherweise Bezug auf Weber, Objektivität, oben, S. 184 f. mit Anm. 35. – ohne übrigens selbstredend damit irgend etwas „Neues“ zu sagen – dargelegt, wie auch das einfachste „Existenzialurteil“ („Peter geht spazieren“, um mit Croce zu exemplifizieren),34 Croce, Aesthetik, S. 43. sobald es eben „Urteil“ sein und sich als solches „Geltung“ sichern will – denn das ist die einzige in Betracht kommende Frage –[,] logische Operationen voraussetzt, welche allerdings nicht die „Setzung“, wohl aber die konstante Verwendung von Allgemeinbegriffen, daher Isolation35 Zur isolierenden Abstraktion vgl. Einleitung, oben, S. 16. und Vergleichung, in sich enthalten.

Es ist eben – und damit kommen wir zu Gottls Ausführungen zurück – der entscheidende Fehler aller jener, leider auch von Fachhistorikern so sehr oft akzeptierten Theorien, welche das spezifisch „Künstlerische“ und „Intuitive“ der historischen Erkenntnis, z. B. der „Deutung“ von „Persönlichkeiten“, als das Privileg der Geschichte ansehen,36 Croce, Aesthetik, S. 26 ff. Vgl. z. B. auch Meyer, Theorie, S. 49 ff. daß die Frage nach dem psychologischen [335]Hergang bei der Entstehung einer Erkenntnis mit der gänzlich andern nach ihrem logischen „Sinn“ und ihrer empirischen „Geltung“ verwechselt wird. Was den psychologischen Hergang des Erkennens anbetrifft, so ist die Rolle, welche der „Intuition“ zufällt, dem Wesen nach – wie schon oben ausgeführt38[335] Oben. S. 331 f. – auf allen Wissensgebieten dieselbe, und nur der Grad, in welchem wir uns alsdann, bei der denkenden Formung, der allseitigen begrifflichen Bestimmtheit nähern können und wollen, ein je nach dem Erkenntnisziel verschiedener. Die logische Struktur einer Erkenntnis aber zeigt sich erst dann, wenn ihre empirische [A 87]Geltung im konkreten Fall, weil problematisch, demonstriert werden muß. Erst die Demonstration erfordert unbedingt die (relative) Bestimmtheit der verwendeten Begriffe und setzt ausnahmslos und immer generalisierende Erkenntnis voraus, – was beides eine gedankliche Bearbeitung des nur „eingefühlten“ Mit- oder Nacherlebens, d. h. seine Verwandlung in „Erfahrung“, bedingt10)[335][A 87] Dies gilt z. B. auch auf solchen Gebieten, wie der psychopathologischen Forschung. Die „einfühlende“ „Psychoanalyse“ einer kranken Psyche bleibt nicht nur inkommunikables Privateigentum des dafür spezifisch begabten Forschers, sondern überdies bleiben auch ihre Ergebnisse gänzlich undemonstrabel und deshalb von absolut problematischer „Geltung“, so lange nicht die Verknüpfung des einfühlend nacherlebten seelischen Zusammenhanges mit den aus der allgemeinen psychiatrischen „Erfahrung“ gewonnenen Begriffen gelingt. Sie sind „Intuitionen“ des dafür begabten Forschers „über“ das Objekt, aber inwieweit sie objektiv gelten, bleibt prinzipiell unkontrollierbar und daher ihr wissenschaftlicher Wert durchaus unsicher. Siehe darüber W[illy] Hellpach, Zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie. Wundtsche Studien, 1906.39 Vgl. Hellpach, Wissenschaftslehre, S. 177 f. Zur Psychoanalyse vgl. ebd., S. 180 ff. Hellpachs Text wurde nicht in der Zeitschrift „Philosophische Studien“ publiziert, die Wilhelm Wundt 1883 gegründet hatte, sondern in deren Nachfolgeorgan „Archiv für die gesamte Psychologie“, das ab 1903 unter der Herausgeberschaft von Ernst Meumann erschien. Obwohl der Beitrag Hellpachs erst im Juni 1906 erschien, dürfte Weber der Text bekannt gewesen sein. Es handelte sich um einen textidentischen Abdruck von Hellpachs Habilitationsschrift, die Weber kritisch begleitet hat, vgl. dazu die Korrespondenzen von Max Weber an Willy Hellpach von August bis Oktober 1905, sowie zu den Hintergründen die Editorische Vorbemerkung zum Brief vom 11. Aug. 1905, MWG II/4, S. 503. . Und die Verwendung von „Erfahrungsregeln“ zum Zweck der Kontrolle der „Deutung“ menschlichen Handelns ist dabei nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei konkreten „Naturvorgängen“ geschieden. Dieser Anschein entsteht dadurch, daß [336]wir, infolge unsrer an der eignen Alltagskenntnis geschulten Phantasie, bei der „Deutung“ menschlichen Handelns die ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehaltes in „Regeln“ in weiterem Umfang als „unökonomisch“40[336] Zur Denkökonomie vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 mit Anm. 98. unterlassen und also die Generalisierungen „implicite“ verwenden. Denn die Frage, wann es für „deutend“ arbeitende Disziplinen irgend welchen wissenschaftlichen Sinn hat, aus ihrem Material, also dem unmittelbar verständlichen menschlichen Sich-Verhalten, im Wege der Abstraktion41 Zur generalisierenden Abstraktion vgl. die Einleitung, oben, S. 16 f. für ihre Zwecke besondere Regeln und sog. „Gesetze“ zu bilden, ist freilich durchaus davon abhängig, ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind. Daß dies der Fall sein müsse, ist schon wegen der geringen Schärfe, außerdem aber wegen der Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze nicht im allergeringsten generell selbstverständlich.42 Vgl. in diesem Sinne Münsterberg, Psychologie, S. 135 f. Wer sich veranschaulichen will, welche Früchte die bedingungslose Durchführung des Grundsatzes der Aufstellung von „Regeln“ zeitigen würde, der lese etwa die Werke von Wilhelm Busch. Seine drolligsten Effekte erzielt dieser große Humorist gerade dadurch, daß er die zahllosen trivialen All[A 88]tagserfahrungen, die wir überall in unzählbaren Verschlingungen „deutend“ verwenden, in das Gewand wissenschaftlicher Sentenzen kleidet. Der schöne Vers aus „Plisch und Plum“: „Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt“ ist,43 Wilhelm Busch-Album. Humoristischer Hausschatz, 13. Aufl. – München: Fr. Bassermann 1904, S. 62. zumal er das Gattungsartige des Vorgangs sehr korrekt nicht als Notwendigkeitsurteil, sondern als Regel „adäquater Verursachung“44 Vgl. Einleitung, oben, S. 23. faßt, ein ganz tadellos formuliertes „historisches Gesetz“. Sein Gehalt an Erfahrungswahrheit ist als geeignetes Hülfsmittel der „Deutung“ z. B. der politischen Spannung zwischen Deutschland und England nach dem Burenkriege45 Bewaffneter Konflikt zwischen Großbritannien und den Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Südafrikanische Republik (1. Burenkrieg 1880–81). Nachdem die Südafrikanische Republik einen Angriff der Briten (sog. Jameson Raid) im Dezember 1895 [337]abgewehrt hatte, bei dem ihr Präsident Paul Krüger gestürzt werden sollte, schickte Kaiser Wilhelm II. am 3. Januar 1896 ein Glückwunschtelegramm (Krüger-Depesche). Bei den Briten wurde dies als Parteinahme gewertet, so daß sich die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien verschlechterten. Zum Burenkrieg vgl. z. B. Doyle, Arthur Conan, The Great Boer War. Second Impression. – London: Smith, Elder & Co. 1900, sowie Schiele, Wolfgang, Mit den Deutschen im Buren-Kriege. – Berlin: Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) 1901. (natürlich neben sehr vielen andern, vielleicht wesentlich wichtige[337]ren Momenten) gänzlich unbezweifelbar. Eine „sozialpsychologische“ Analyse derartiger politischer „Stimmungs“-Entwickelungen könnte nun ja selbstverständlich unter den verschiedensten Gesichtspunkten höchst interessante Ergebnisse zu Tage fördern, die auch für die historische Deutung solcher Vorgänge, wie des erwähnten, den erheblichsten Wert gewinnen können – aber was eben ganz und gar nicht feststeht, ist, daß sie ihn gewinnen müssen, und daß nicht im konkreten Fall die „vulgärpsychologische“ Erfahrung vollkommen genügt und also das auf einer Art naturalistischer Eitelkeit beruhende Bedürfnis, die historische (oder ökonomische) Darstellung möglichst überall mit der Bezugnahme auf psychologische „Gesetze“ schmücken zu können, im konkreten Fall ein Verstoß gegen die Ökonomie der wissenschaftlichen Arbeit wäre. Für eine grundsätzlich das Ziel der „verständlichen Deutung“ festhaltende „psychologische“ Behandlung von „Kulturerscheinungen“ lassen sich Aufgaben der Begriffsbildung von logisch ziemlich heterogenem Charakter denken: darunter ohne allen Zweifel notwendigerweise auch die Bildung von Gattungsbegriffen und von „Gesetzen“ in dem weiteren Sinn von „Regeln adäquater Verursachung“. Diese letzteren werden nur da, aber auch überall da, von Wert sein, wo die „Alltagserfahrung“ nicht ausreicht, denjenigen Grad relativer „Bestimmtheit“ der kausalen Zurechnung46 Zum Begriff der „Zurechnung“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 185 mit Anm. 39. zu gewährleisten, welcher für die Deutung der Kulturerscheinungen im Interesse ihrer „Eindeutigkeit“ erforderlich ist. Der Erkenntniswert ihrer Ergebnisse wird aber eben deshalb regelmäßig um so größer sein, je weniger sie dem Streben nach einer den quantifizierenden Naturwissenschaften verwandten Formulierung und Systematik auf Kosten des Anschlusses an die unmittelbar verständliche „Deutung“ konkreter historischer Gebilde nachgeben, und je weniger sie infolgedessen von den allgemeinen Voraussetzungen in sich aufnehmen, welche naturwissenschaftliche Diszipli[338]nen [A 89]für ihre Zwecke verwerten.47[338] Vgl. Rickert, Grenzen, S. 254 f.: „Die Geschichte kann niemals versuchen, ihr Material in ein System von allgemeinen Begriffen zu bringen, das um so vollkommener ist, je weniger von der empirischen Wirklichkeit es enthält, sondern sie sucht sich einer Darstellung der Wirklichkeit selbst wenigstens anzunähern. Sie kann deshalb im Vergleich zur Naturwissenschaft, die vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Wirklichen zum Geltenden strebt, auch als die eigentliche Wirklichkeitswissenschaft bezeichnet werden.“ Begriffe wie etwa der des „psychophysischen Parallelismus“48 Eine von Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz ausgehende These, derzufolge auf Psychisches nur Psychisches und auf Physisches nur Physisches wirken könne. Was als kausale Beziehung zwischen Psychischem und Physischem erscheine, sei nur eine Entsprechung. Den Begriff „psychophysischer Parallelismus“ hat Wilhelm Wundt populär gemacht. Vgl. Wundt, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), und dazu kritisch Rickert, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31). z. B. haben als jenseits des „Erlebbaren“ liegend für derartige Untersuchungen natürlich unmittelbar nicht die allergeringste Bedeutung, und die besten Leistungen „sozialpsychologischer“ Deutung, die wir besitzen, sind in ihrem Erkenntniswert ebenso unabhängig von der Geltung aller derartigen Prämissen, wie ihre Einordnung in ein lückenloses „System“ von „psychologischen“ Erkenntnissen eine Sinnlosigkeit wäre. Der entscheidende logische Grund ist eben der: daß die Geschichte zwar nicht in dem Sinn „Wirklichkeitswissenschaft“49 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 174 mit Anm. 97. ist, daß sie den gesamten Gehalt irgend einer Wirklichkeit „abbildete“, – das ist prinzipiell unmöglich, – wohl aber in dem anderen, daß sie Bestandteile der gegebenen Wirklichkeit, die, als solche, begrifflich nur relativ bestimmt sein können, als „reale“ Bestandteile einem konkreten kausalen Zusammenhang einfügt.50 Die „historischen Thatsachen“ sind für Rickert, Grenzen, S. 409, „nicht nur insofern nicht vereinzelt und isolirt, als sie stets Theile eines grösseren Ganzen sind, sondern auch insofern, als sie sich gegenseitig beeinflussen oder in einem kausalen Zusammenhange mit anderen Thatsachen stehen. Es giebt keinen Theil der empirischen Wirklichkeit, in dem nicht jedes Ding die Wirkung von anderen Dingen ist und für andere Dinge eine Ursache bildet. Wenn daher die Geschichte Wirklichkeitswissenschaft sein soll, so wird sie sich auch hiermit zu beschäftigen haben“. Jedes einzelne derartige Urteil über die Existenz eines konkreten Kausalzusammenhangs ist an sich der Zerspaltung schlechthin ins Unendliche hinein fähig11)[338][A 89] Darüber s[iehe] meine Ausführungen im Jaffé-Braunschen Archiv a. a. O.52 Weber, Objektivität, oben, S. 184 mit Anm. 34. , und nur eine solche würde – bei absolut idealer Vollendung des nomologischen Wissens51 Zum nomologischen Wissen vgl. Einleitung, oben, S. 19 f. – zur vollständi[339]gen Zurechnung mittelst exakter „Gesetze“ führen. Die historische Erkenntnis führt die Zerlegung nur so weit, als der konkrete Erkenntniszweck es verlangt, und diese notwendig nur relative Vollständigkeit der Zurechnung manifestiert sich in der notwendig nur relativen Bestimmtheit der für ihre Vollziehung verwendeten „Erfahrungsregeln“: darin also, daß die auf Grund methodischer Arbeit gewonnenen und weiter zu gewinnenden „Regeln“ stets nur eine Enklave innerhalb der Flut „vulgär-psychologischer“ Alltagserfahrung darstellen, welche der historischen Zurechnung dient. Aber „Erfahrung“ ist eben, im logischen Sinn, auch diese.

„Erleben“ und „Erfahren“, die Gottl einander so schroff gegenüberstellt12)[339] Die von Gottl behauptete Verschiedenheit: daß die Erschließung des Historischen nicht über sich hinaus auf die „Erfahrung“ weisen könnte, soll ihren Grund darin haben, daß die „logischen Denkgesetze“ sich in der gleichen Lage befinden, und daß auf dem Gebiet des Geschichtlichen „die Logik gleichsam im Geschehen selbst stecke“. Daher seien jene „Denkgesetze“ für das historische Erkennen die „letzte Instanz“, sie bestimmen es „zwingend“, dergestalt, daß eine gültige historische Erkenntnis stets eine „Annäherung an das absolut Gewisse“ bedeute, im Gegensatz zu der von Gottl ihr als „Metahistorik“ entgegengesetzten geologischen und biogenetischen Erkenntnis, welche auch bei idealster [A 90] Erreichung ihrer Aufgabe dennoch, erkenntnistheoretisch betrachtet, lediglich eine durch „Interpolation“ von Geschehen gewonnene zeitliche Anordnung räumlicher „Erscheinungen“ darstelle und daher nie über die durch Analogieschluß gewonnene Aufstellung: daß die in der Erfahrung gegebenen Dinge so liegen, als ob ein kosmisches oder biogenetisches Geschehen bestimmter Art stattgefunden hätte, hinausgelangen könne.53[339] Vgl. Gottl, Grenzen, S. 25 ff., 30 ff., 49 ff., 99. Allein die Erfahrung zeigt, und jeder Historiker wird bestätigen müssen, daß wir bei der kausalen „Deutung“ von „Persönlichkeiten“, „Handlungen“ und „geistigen Kulturentwickelungen“ Tag aus Tag ein uns mit dem Ergebnis bescheiden müssen, daß die unbezweifelt überlieferten „Tatsachen“ so liegen, „als ob“ der gedeutete Zusammenhang bestanden hätte, so daß man daraus sogar auf die spezifische „Unsicherheit“ und – fälschlicherweise – aus dieser wieder auf eine spezifische „Subjektivität“ nicht nur der erreichbaren, sondern auch der überhaupt zu erstrebenden historischen Erkenntnis geschlossen hat.54 Vgl. Meyer, Theorie, S. 45. Speziell Simmel legt das entscheidende Gewicht auf den hypothetischen Charakter der Deutung und belegt ihn mit anschaulichen Beispielen (S. 9 ff. a. a. O.).55 Für Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 15. hat „alle Erklärung des äußeren geschichtlichen Geschehens” einen „hypothetische[n] Charakter“. Ihm gegenüber muß nun aber wieder daran festgehalten werden, daß der Umstand, daß wir erst durch den faktischen Ausschlag des Entschlusses nach einer bestimmten Seite hin darüber belehrt werden, welche „psychische Disposition“ vorhanden gewesen ist, keine Eigentümlichkeit der „psychischen“ Kausalerklärung bildet. Unzählige Male ist es – wie wir sahen56 Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 260, 265 mit Anm. 90. 273; vgl. Weber. Objektivität, oben, S. 191 mit Anm. 61. – bei „Natur“vorgängen [340]genau so, ja, wo es auf die qualitativ-individuelle Seite konkreter „Naturereignisse“ ankommt, belehrt uns im allgemeinen nur der Erfolg über die vorhanden gewesene Konstellation. Die Kausalerklärung läuft – was auch gegen Ed[uard] Meyer57[340] Vgl. Meyer, Theorie, S. 40 f.: „Dieser Schluss von der Wirkung auf die Ursache ist aber bekanntlich immer problematisch und kann daher niemals zu einer absolut sicheren Erkenntniss führen.“ zu betonen ist – bei individuell „aufgefaßten“ Ereignissen regelmäßig rückwärts, von der Wirkung zur Ursache,58 Weber, Objektivität, oben, S. 164 mit Anm. 65, spricht diesbezüglich von einem kausalen Regressus. und gelangt, wie wir früher selbst für rein quantitative Beziehungen zeigten,59 Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 275 ff. ganz normalerweise nur zu einem Urteil, welches die „Vereinbarkeit“ des Hergangs mit unserem Erfahrungswissen besagt und nur für gewisse abstrahierte Einzelbestandteile derselben die „Notwendigkeit“ auch in concreto durch Bezugnahme auf „Gesetze“ zu belegen vermag. , sind in der Tat Gegensätze, aber auf dem Gebiet der [340][A 90]„innern“ in keinem andern Sinn wie auf dem der „äußern“ Hergänge, beim „Handeln“ nicht anders als in der „Natur“. „Verstehen“ – im Sinn des evidenten „Deutens“ – und „Erfahren“ sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes „Verstehen“ setzt (psychologisch) „Erfahrung“ voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf „Erfahrung“ als geltend demonstrierbar. Beide Kategorien sind anderseits insofern nicht identisch, als die Qualität der „Evidenz13) Dieser Ausdruck wird hier statt „innere Anschaulichkeit der Bewußtseinsvorgänge“ gebraucht, um die Vieldeutigkeit des Ausdrucks „anschaulich“ zu vermeiden, welche sich ja auch auf das logisch unbearbeitete „Erlebnis“ bezieht. Ich weiß sehr wohl, daß der Ausdruck sonst von den Logikern nicht in diesem Sinn, sondern im Sinn der Einsicht in die Gründe eines Urteils gebraucht wird. das „Verstandene“ und „Verständliche“ dem bloß (aus Erfahrungsregeln) „Begriffenen“ gegenüber auszeichnet. Das Spiel mensch[A 91]licher „Leidenschaften“ ist sicherlich in einem qualitativ andern Sinn „nacherlebbar“ und „anschaulich“ als „Natur“-Vorgänge es sind. Aber diese „Evidenz“ des „verständlich“ Gedeuteten ist sorgsam von jeder Beziehung zur „Geltung“ zu trennen. Denn sie enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit14)[A 91] Über den Sinn des Begriffes des „objektiv Möglichen“ im Gebiet speziell des Historischen siehe meine Bemerkungen im Jaffé-Braunschen Archiv, Januarheft 1906 (durchaus im Anschluß an die bekannte Theorie von v. Kries).60 Weber, Kritische Studien, unten, S. 447–480. der ,,deutend“ erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich. Für die Analyse der Wirklichkeit aber kommt ihr, lediglich um jener ihrer Evidenz-Qualität willen, nur die Bedeu[341]tung entweder, – wenn es sich um die Erklärung eines konkreten Vorganges handelt, – einer Hypothese, oder, – wenn es sich um die Bildung genereller Begriffe handelt, sei es zum Zweck der Heuristik oder zum Zweck einer eindeutigen Terminologie, – diejenige eines „idealtypischen“ Gedankengebildes zu.61[341] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 203 ff. Der gleiche Dualismus von „Evidenz“ und empirischer „Geltung“ ist aber auf dem Gebiet der an der Mathematik orientierten Disziplinen, ja gerade auf dem Gebiet des mathematischen Erkennens selbst15)[341] Der „pseudosphärische Raum“ ist logisch durchaus widerspruchslos und völlig „evident“ konstruierbar: nach Ansicht mancher Mathematiker, bekanntlich auch von Helmholtz, der dadurch Kant widerlegt glaubte, besäße er sogar kategoriale Anschaulichkeit, – seine zweifellose empirische „Nichtgeltung“ aber steht jedenfalls mit der ersten Auffassung nicht im Widerspruch.63 Ein Raum ist eben, wenn das Krümmungsmaß k = 0 ist; er ist sphärisch, wenn k > 0 ist; und er ist pseudosphärisch, wenn k < 0 ist. Vgl. Helmholtz, Hermann von, Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome: Vortrag gehalten im Docentenverein zu Heidelberg 1870, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5. Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg 1903, S. 1–31, hier S. 18 ff. , ganz ebenso vorhanden, wie auf demjenigen der Deutung menschlichen Handelns. Während aber die „Evidenz“ mathematischer Erkenntnisse und der mathematisch formulierten Erkenntnis quantitativer Beziehungen der Körperwelt „kategorialen“ Charakter hat, gehört die „psychologische“ Evidenz in dem hier behandelten Sinn in das Gebiet des nur Phänomenologischen. Sie ist – denn hier erweist sich die Lippssche Terminologie als recht brauchbar – phänomenologisch bedingt durch die spezielle Färbung, welche die „Einfühlung“ in solche qualitative Hergänge besitzt, deren wir uns als objektiv möglicher Inhalte der eignen inneren Aktualität62Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, S. 282 mit Anm. 38, S. 285 f., 289, Fn. 30, S. 311. bewußt werden können. Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum „einfühlbaren“ Inhalt fremder Aktualität auch jene „Wertungen“ gehören, an denen der Sinn des „historischen Interesses“ verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, „die Verwirklichung [A 92]von Werten“ darstellt16)[A 92] Es sollte eigentlich nicht nötig sein, besonders zu betonen, daß darunter in keinem Sinn irgendein „objektiv“ auf die „Verwirklichung“ eines „Absoluten“ als empirischer Tatsache „hinstrebender“ Weltprozeß oder überhaupt irgend etwas Metaphysi[342]sches gemeint ist, wie die Ausführungen Rickerts a. a. O., letztes Kapitel,65 Gemeint ist das fünfte Kapitel („Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie“) in Rickert, Grenzen, S. 600 ff. trotz aller Unzweideutigkeit gelegentlich aufgefaßt worden sind.66 Gemeint ist möglicherweise Schmeidler, Begriffsbildung, S. 29 f., 32. , [342]die selbst „wertenden“ Individuen stets als die „Träger“ jenes Prozesses behandelt werden17) Alles Erforderliche enthält auch hier schon der Rickertsche Begriff des „historischen Zentrums“.67 Für Rickert, Grenzen, S. 560 f., 571, zerfallen die uns durch Beziehung der Wirklichkeit auf Werte bekannten Objekte in zwei Klassen, nämlich in solche, bei denen „diese Beziehung überhaupt möglich ist“, und in solche, „die nicht nur durch ihr Dasein etwas für den Werth bedeuten, sondern auch selbst zu diesem Werth Stellung nehmen“. Folglich können wir „alle historischen Objekte, welche zu den leitenden Werthen der Darstellung selbst Stellung nehmen, und die immer geistige Wesen sein müssen, auch die historischen Centren nennen“. .

Zwischen jenen beiden Polen –: der kategorialen mathematischen Evidenz räumlicher Beziehungen und der phänomenologisch bedingten Evidenz „einfühlbarer“ Vorgänge des bewußten Seelenlebens, – liegt eine Welt von weder der einen noch der andern Art von „Evidenz“ zugänglichen Erkenntnissen, die aber um dieses phänomenologischen „Mangels“ willen natürlich nicht das Allermindeste an Dignität oder empirischer Geltung einbüßen. Denn, um es zu wiederholen, der Grundirrtum der von Gottl akzeptierten Erkenntnistheorie liegt darin, daß sie das Maximum „anschaulicher“18) Anschaulich hier natürlich im Sinn von kategorial-anschaulich einerseits, „innerlich“ verständlich anderseits. Evidenz mit dem Maximum von (empirischer) Gewißheit verwechselt. Wie das wechselvolle Schicksal der sogenannten „physikalischen Axiome“64[342] Vgl. Wundt, Axiome. immer wieder den Prozeß zeigt19) Über das Hindernis, welches der „evidente“ Satz: „cessante causa cessat effectus“68 Lat.: Wenn die Ursache aufhört, hört die Wirkung auf. der Gewinnung des Energiegesetzes so lange bereitete, bis die „Denknotwendigkeit“ des Satzes: „nil fit ex nihilo, nil fit ad nihilum“69 Lat.: Nichts wird aus nichts, nichts geschieht für nichts. die Einschaltung des Begriffes der „potenziellen Energie“ veranlaßte und wie nun, ungeachtet der „Unanschaulichkeit“ des letzteren, das „Energiegesetz“ seinerseits alsbald den Weg zur „Denknotwendigkeit“ einzuschlagen begann, – darüber ist Wundts Jugendschrift über „Die physikalischen Axiome“ noch heute sehr lesenswert.70 Vgl. Wundt, Axiome, S. 57 ff. (Sechstes Axiom: Jede Wirkung ist äquivalent ihrer Ursache). Zum „Energiegesetz“ vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 255 mit Anm. 54. Zur „potenziellen Energie“ vgl. ebd., oben, S. 264 f. mit Anm. 88 und 89. , daß eine in der Erfahrung sich bewährende Konstruktion [343]die Dignität einer Denknotwendigkeit prätendiert, so hat die Identifikation von „Evidenz“ mit „Gewißheit“ oder gar – wie manche Epigonen C[arl]d[343]A: K. Mengers wollten71 [343]Carl Mengers Schüler waren Friedrich von Wieser und Eugen von Böhm-Bawerk. Weber bezeichnete „Menger, Wieser, Böhm-Bawerk“ als Vertreter der „Neue[n] Theorie: österr[eichische] Schule“. Vgl. Weber, Vorlesungen über „Allgemeine (,theoretische‘) Nationalökonomie“, MWG III/1, S. 566. –: mit „Denknotwendigkeit“ bei „idealtypischen“ Konstruktionen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften ganz entsprechende Irrtümer gezeitigt, und auch Gottl z. B. hat mit manchen Aufstellungen in seiner „Herrschaft des Worts“ den gleichen Weg betreten20) [343]Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die von Gottl (in der „Herrschaft des Worts“) vorgeschlagenen Grundkategorien ökonomischen Denkens auf ihre anschauliche Evidenz einerseits, ihre „Denknotwendigkeit“ und ihre logische Struktur anderseits zu untersuchen. Nur beispielsweise sei gesagt; Als „Grundverhältnis“ Nr. 1: „Not“ gilt (S. 80 f.) ihm der Umstand, „daß sich nie ein [A 93]Streben erfüllen läßt, ohne dem Erfolge anderer Streben in irgend einer Weise Abbruch zu tun“, 2. das Grundverhältnis der „Macht“ wurzelt darin, daß „es uns allzeit freisteht, durch vereintes Streben Erfolge zu erreichen, die dem einzelnen Streben versagt sind“.72 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 82. Zunächst fehlt nun diesen Tatbeständen die Ausnahmslosigkeit, welche für „Grundverhältnisse“ des „Alltagslebens“ schlechthin – die also durchaus alles, nicht etwa nur das daran für bestimmte Wissenschaften Wesentliche, umspannen sollen – zu verlangen wäre. Es ist weder wahr, daß die Kollision und also die Notwendigkeit der Wahl zwischen mehreren Zwecken ein unbedingt gültiger Tatbestand ist, noch, daß für alle denkbaren Zwecke die Vereinigung Mehrerer ein geeignetes Mittel ist, die Chancen der Erreichung zu steigern. Nun betont zwar angesichts der Möglichkeit solcher Einwände Gottl, daß das aus jenem „Grundverhältnis“ Nr. 1 („Not“) hervorgehende „Werten“ nur dahin verstanden werden solle, daß von mehreren kollidierenden Möglichkeiten jeweils nur eine faktisch Wirklichkeit wird,73 Dies entspricht unter der Prämisse des Determinismus der auf Zufallsspielen wie dem Würfeln fußenden Kriesschen Theorie der objektiven Möglichkeit. Vgl. Einleitung, oben, S. 19 ff. nicht aber als ein bewußtes Wählen zwischen „Zwecken“. Allein, so gefaßt, ist dieser „Tatbestand“ in Wahrheit bereits ein unter Verwendung der Kategorie der „Möglichkeit“ hergestelltes naturalistisches Gedankengebilde: den – nach Gottls Voraussetzung nicht seitens des „Handelnden“, sondern nur seitens der denkenden Analyse des „Handelns“ vorgestellten – mehreren „Möglichkeiten“ des Ablaufes des Handelns steht die „Tatsache“ gegenüber, daß eben nur ein konkret bestimmter Ablauf faktisch erfolgt. Genau das Gleiche gilt aber für jedes „Naturgeschehen“ dann, wenn wir dasselbe an der Hand der Kategorie der „Möglichkeit“ analysieren. Wann dies der Fall ist, ist hier nicht zu erörtern, – daß es geschieht, lehrt – unter anderen – jede Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung.74 Zur Geschichte der Wahrscheinlichkeitstheorie vgl. Kries, Principien, S. 266 ff. Und was die „Formel“ für „Haushalten“ anlangt (S. 209 a. a. O.: Ausgleich von Dauerstreben im Handeln derart, daß dadurch für die Andauer dieses Handelns eine Gewähr gegeben ist),75 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 213 ff. so enthält dieselbe offenbar [344]gar nichts, was nicht schon in einem Begriff wie „Anpassung“ steckte. Denn auf ihren Gehalt an Urteilen analysiert, besagt die Formel eben nur: daß es wiederkehrendes (d. h. in bestimmten, als erheblich allein in Betracht gezogenen Hinsichten gleiches) Handeln gibt, dessen Wiederkehr auf seiner „Angepaßtheit“ an zwingende Situationen beruht. Eine kausale „Erklärung“ enthält der „Begriff“ (denn ein solcher, und zwar ein abstrakter, liegt vor) nicht, soll sie auch wohl nicht enthalten, wir „durchschauen“ aber mit seiner Hülfe auch nichts, wie wir es doch nach Gottls Theorie sollten.76 [344]Vgl. ebd., S. 78 f.: „Aber nach dem Vorbilde unseres Handelns durchschauen wir das erlebte Geschehen gleich auch in seinen seitlichen Zusammenhängen.“ Er ist darin den entsprechenden biologischen Begriffen77 Zum Begriff „Anpassung“ vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 265 mit Anm. 91. durchaus gleichartig und gleichwertig. – Im übrigen liegt hier durchaus die Absicht fern, Gottls Fortbildung der rationalen Konstruktion der österreichischen Schule als wertlos hinzustellen. Davon ist gar keine Rede: es ist ein bedeutender Fortschritt, daß hier gänzlich klar von einer in der Wirklichkeit generell gegebenen („objektiven“) Situation: – Begrenztheit des Könnens im Verhältnis zum Wollen – als letzter Grundlage jener Lehrsätze ausgegangen wird, statt von angeblich „psychologischen“ Abstraktionen, und daß damit die „abstrakte“ Theorie von der immer wieder gehörten absolut schiefen – aber freilich durch manche Äußerungen von Bonar,78 Bonar rekonstruiert in seiner Darstellung der österreichischen Schule Mengers Werttheorie als eine Lehre, deren zentrale Eigenschaft die „psychological analysis“ sei. Vgl. Bonar, James, The Austrian Economists and their View of Value, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 3, 1888/89, S. 1–31, hier S. 2 f. John79 Für John zeigen sich Gesetze „im Gebiet der Menschenwelt […] nur in der That des Individuums“. Die Analyse dieses Tuns wird dadurch zur „Analyse einer Willensäusserung“ und erhält damit den Charakter einer „psychologischen Beobachtung“. Vgl. John, Vincenz, Zur Methode der heutigen Social-Wissenschaft, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Jg. 1, 1892, S. 212–226, hier S. 219. und Menger80 Vgl. Menger, Untersuchungen, S. 258, wo er von der „psychologische[n] Begründung der allgemeinsten Wirthschaftsphänomene“ spricht. selbst mitverschuldeten [A 94]– Charakterisierung als einer „psychologischen“ Begründung der Werttheorie befreit wird. Mit irgend welcher „Psychologie“, sei sie „Individual-“ oder „Sozial“-Psychologie, hat die „Grenznutzlehre“81 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 mit Anm. 99. auch nicht das allergeringste zu schaffen. .

[344][A 93]Allem Gesagten zum Trotz wird man nun aber doch daran festhalten wollen, daß jedenfalls auf einem Gebiet die an sich nur [Α 94]erkenntnispsychologische Bedeutung der „nacherlebenden Deutung“ de facto den Sinn des „Geltens“ annehme: da nämlich, wo eben bloße nicht artikulierte „Gefühle“ historisches Erkenntnisobjekt und eben daher die Suggestion von entsprechenden „Gefühlen“ bei uns das einzige mögliche Erkenntnisideal sei. Das „Einleben“ eines Historikers, Archäologen, Philologen in „Persönlichkeiten“, „Kunstepochen“, „Sprachen“ erfolge in Gestalt bestimmter „Gemeingefühle“, „Sprachgefühle“ usw., und man [345]hat21) [345]So Elsenhans in dem früher zitierten Aufsatz S. 23.82 [345]Elsenhans, Deutung, S. 23; zitiert in Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 308, Fn. 46. Die Totalitätsgefühle, mit denen wir die Vorstellung einer bestimmten „historischen Epoche“ begleiten, könnten – meint der Verf[asser] – „trotz aller scheinbaren Unbestimmtheit einen sichern Kanon des Erkennens abgeben“, insbesondere werde „mit instinktiver Sicherheit entschieden“, ob ein Vorstellungskomplex in dieses Gefühlsganze „hineinpasse“, – nach Analogie des „Sprachgefühls“. diese Gefühle geradezu als den sichersten „Canon“ für die historische Bestimmung z. B. der Provenienz einer Urkunde, eines Kunstwerks, oder für die Deutung der Gründe und des Sinnes einer historischen Handlung hingestellt. Da nun der Historiker anderseits bezwecke und bezwecken müsse, uns die „Kulturerscheinungen“ (wozu natürlich z. B. auch einzelne historisch, speziell auch rein politisch bedeutsame „Stimmungen“ gehören) „nacherleben“ zu lassen, sie uns zu „suggerieren“, so sei wenigstens in diesen Fällen diese suggerierende „Deutung“ ein Vorgang, welcher gegenüber der begrifflichen Artikulation auch erkenntnistheoretisch autonom sei.

Versuchen wir, in diesen Ausführungen Zutreffendes von Falschem zu sondern. Was zunächst jene behauptete Bedeutung der „Gemeingefühle“ oder „Totalititätsgefühle“ als „Canon“ der kulturhistorischen Einordnung oder der Deutung von „Persönlichkeiten“ anlangt, so ist die Bedeutung des – wohlgemerkt: durch konstante denkende Beschäftigung mit dem „Stoff“, d. h. aber: durch Übung, also „Erfahrung“ erworbenen22) Also darin dem Wesen nach durchaus gleichartig dem in keiner Weise bewußt artikulierten „Gefühl“, nach welchem etwa ein Schiffskapitän im Moment der Kollisionsgefahr, wo von dem in Bruchteilen einer Sekunde zu fassenden Entschluß alles abhängt, handelt. Kondensierte „Erfahrung“ ist hier wie dort das Ausschlaggebende, die Artikulierbarkeit hier wie dort im Prinzip gleich möglich. – „Gefühls“ für die psychologische Genesis [A 95]einer Hypothese im Geist des Historikers sicherlich von eminenter Bedeutung, ja geradezu unentbehrlich: durch bloßes Hantieren mit „Wahrnehmungen“ und „Begriffen“ ist noch keinerlei wertvolle historische, aber auch keinerlei Erkenntnis irgend welcher andern Art, „geschaffen“ worden. Was dagegen die angebliche „Sicherheit“ im Sinn des wissenschaftlichen „Geltens“ anlangt, so wird jeder gewissenhafte Forscher die Ansicht auf das bestimmteste ablehnen müssen, daß der Berufung auf „Totalitätsgefühle“, z. B. auf den „allgemeinen Charakter“ einer Epoche, eines Künstlers usw. irgend welcher Wert zukomme, [346]sofern sie sich nicht in bestimmt artikulierte und demonstrierbare Urteile, d. h. aber in „begrifflich“ geformte „Erfahrung“ durchaus im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes umsetzen und so kontrollieren läßt. – Damit ist im Grunde auch schon gesagt, was es mit der historischen „Reproduktion“ von gefühlsmäßigen seelischen Inhalten, wo sie historisch (kausal) relevant sind, für eine Bewandtnis hat. Daß „Gefühle“ sich nicht in dem Sinne begrifflich „definieren“ lassen wie etwa ein rechtwinkliges Dreieck oder wie Abstraktionsprodukte der quantifizierenden Wissenschaften, teilen sie durchaus mit allem Qualitativen. Alle Qualia,83 [346]Plural von Quale, lat.: „wie beschaffen“, ein wahrscheinlich auf Charles Sanders Peirce zurückgehender Begriff zur Bezeichnung von Erfahrungen mit empfindungsmäßiger Qualität wie Wahrnehmungen und Gefühle. Weber benutzt den Begriff in einem Brief an Willy Hellpach vom 10. Okt. 1905, MWG II/4, S. 550–553, hier S. 551. Hellpach selbst unterscheidet zwischen der psychischen „Kausalität der Qualia“ und der physischen „Kausalität der Quanta“. Vgl. Hellpach, Wissenschaftslehre, S. 83. Vgl. auch Weber, Stammler, unten, S. 521. mögen wir sie als Qualitäten der „Dinge“ in die Welt außer uns „projizieren“ oder als psychische Erlebungen in uns „introjizieren“, besitzen als solche diesen Charakter des notwendig relativ „Unbestimmten“. Für Lichtfarben, Klangfarben, Geruchsnüancen usw. gilt natürlich genau im gleichen Sinn wie für religiöse, ästhetische, ethische „Wertgefühle“, daß bei ihrer schildernden Darstellung letztlich „ein jeder sieht, was er im Herzen trägt“.84 Zu diesem Goethe-Zitat vgl. Weber, Qbjektivität, oben, S. 227 mit Anm 68. Die Deutung „psychischer“ Vorgänge arbeitet also, soweit nur dieser Umstand in Frage kommt, in durchaus keinem andern Sinn mit prinzipiell nicht absolut eindeutig bestimmbaren Begriffen, wie jede Wissenschaft, welche vom Qualitativen nicht durchweg abstrahiert, überhaupt es tun muß23)[346][A 95] Daran ändert natürlich auch die experimentalpsychologische „Meßbarkeit“ bestimmter Äußerungen psychischer Vorgänge nichts. Denn es ist zwar keineswegs richtig, daß das „Psychische“ als solches überhaupt inkommunikabel sei (Münsterberg),85 Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 268 f. – das ist vielmehr eine Eigenart derjenigen „Erlebungen“, welche wir, eben deshalb, als „mystische“ bezeichnen,86 Zu „Psychologie und Mystik“ vgl. ebd., S. 170 ff. – aber es ist, wie alles Qualitative, nur in relativer Eindeutigkeit kommunikabel, und die „Messung“ erfaßt hier, wie in der Statistik die Zählung, nur das zu einer bestimmten Art von äußerem Ausdruck gelangende Psychische oder vielmehr: nur diese Art seiner Äußerung. Die psychometrische Messung bedeutet nicht Herstellung der Kommunikabilität überhaupt (Münsterberg),87 Zur „scheinbare[n] Messung des Psychischen“ vgl. ebd., S. 270 ff. sondern Steigerung ih[347]rer Be[A 96]stimmtheit durch Quantifikation jeweils einer Äußerungsform eines „psychisch bedingten“ Vorgangs. Aber es stände übel um die Wissenschaft, wenn deshalb eine Klassifikation und eine, je nach dem konkreten Forschungszweck, ausreichende relative Bestimmtheit der begrifflichen Formung „psychischen“ Stoffes nicht möglich wäre. Tatsächlich wird sie von allen nicht quantifizierenden Wissenschaften konstant vorgenommen und verwertet. Man hat oft, und richtig verstanden, mit Recht, es als die ungeheure Bedeutung des Geldes bezeichnet, daß es das Ergebnis subjektiver „Wertungen“ in materieller Form zum Ausdruck zu bringen gestatte, sie „meßbar“ werden lasse.91 Zum „Geld als ,Massstab der Preise‘ und als ökonomischste Form der Tauschvorräthe“ vgl. Menger, Grundsätze (wie oben, S. 16, Anm. 11), S. 271 ff. Zu vergessen ist dabei aber nicht, daß der „Preis“ absolut keine dem psychometrischen Experiment parallele Erscheinung, vor allem kein Maßstab einer „sozialpsychischen“ Wertung, eines „sozialen Gebrauchswertes“ ist,92 Wieser, Friedrich von, Der natürliche Werth. – Wien: Hölder 1889 (hinfort: Wieser, Werth), S. 60 f., spricht vom „gesellschaftlichen Gebrauchswerth“. sondern ein unter sehr konkreten, historisch eigenartigen Bedingungen entstehendes Kompromißprodukt kämpfender Interessen. Aber er teilt allerdings mit dem psychometrischen Experiment den Umstand, daß eben nur die, nach Maßgabe der gegebenen sozialen Konstitution, (als „Kaufkraft“ usw.) zu einer bestimmten Art von „Äußerung“ gelangenden Strebungen „meßbar“ werden. .

[347][A 96]Soweit der Historiker in seiner Darstellung sich mit „suggestiv“ wirkenden Mitteln an unser „Gefühl“ wendet, also m.a. W. ein begrifflich nicht artikulierbares „Erlebnis“ in uns zu provozieren trachtet,88 [347]Vgl. Münsterberg, Psychologie, S. 129: „erst in der Darstellung kann das kritisch bearbeitete Material jene Umformung erfahren, auf welche der Historiker ausgeht; erst in der Darstellung vollendet sich jener Ausleseprozeß, für den der Gegensatz bedeutsam und einflußlos nicht minder entscheidend wird als der Gegensatz überliefert und nicht überliefert. Nur insofern aber berührt sich der Historiker dabei aber mit dem Dichter, als beide mit dem ganzen Register suggerierender Hilfsmittel den Leser zum subjektivierenden Standpunkt hinzwingen müssen. Beschreiben kann der Historiker ja unmittelbar auch nur das Beschreibbare, also das Objekt, auf das es als solches aber garnicht ankommt. Das Objekt muß subjektiv apperzipiert, die Vorstellung von den Selbststellungen durchdrungen, der beschriebene Mensch muß verstanden und nacherlebt werden; in diesen Hilfsmitteln werden sich Dichter und Historiker begegnen, so weit abliegend voneinander auch ihre Ziele sind und so wenig, da doch die Ziele verschieden, der Historiker dadurch zum Künstler wird.“ handelt es sich entweder um eine Stenographie89 Zu „Begriffsstenographie“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 208 mit Anm. 23. für die Darstellung von Teilerscheinungen seines Objekts, deren begriffliche Bestimmtheit für den konkreten Erkenntniszweck ohne Schaden unterlassen werden kann: – dies ist eine Folge des Umstandes, daß die prinzipielle Unausschöpfbarkeit90 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 35. des empirisch gegebenen Mannigfaltigen jede Darstellung nur als einen „relativen“ Abschluß des historischen Erkenntnisprozesses „Geltung“ erlangen läßt. Oder aber: die Provokation eines reinen Gefühlserlebnis[348]ses in uns beansprucht, als spezifisches Erkenntnismittel zu dienen: als „Veranschaulichung“ z. B. des „Charakters“ einer „Kulturepoche“ oder eines „Kunstwerkes“. Alsdann kann sie zwiefachen logischen Charakter haben. Sie kann mit dem Anspruch auftreten, ein „Nacherleben“ des – je nach der Ausdrucksweise – „geistigen“ oder „psychischen“ „Gehaltes“ des „Lebens“ der betreffenden Epoche oder Persönlichkeit oder des konkreten Kunstwerkes darzustellen. In diesem Fall enthält sie beim Darsteller und erzeugt sie beim Leser, der sich mit ihrer Hülfe „einfühlt“, solange sie im Stadium des „Gefühlten“ beharrt,93[348]Vgl. Elsenhans, Deutung, S. 24 f.: „So kann der Historiker eine geschichtliche Periode anschaulich schildern, indem er aus der Stimmung heraus, in welche er sich bei der Vertiefung in dieselbe versetzt fühlt, eine Reihe von Vorstellungen und entsprechenden Wortbildern in sich hervorruft, deren Gefühlswirkung jener Stimmung entspricht und die daher auch den Hörer oder Leser in dieselbe Gefühlslage überführt.“ stets und unvermeidlich unartikulierte eigene Wertgefühle, bezüglich deren an sich nicht die mindeste Gewähr besteht, daß sie den „Gefühlen“ jener historischen Menschen irgendwie entsprechen, in welche er sich „ein[A 97]fühlt“24)[348][A 97] Wer die Eigenart solcher Provokationen von Gefühlsdeutungen im Gegensatz zu begrifflich artikulierter und deshalb empirischer Analyse sich an einem Beispiel vergegenwärtigen will, vergleiche in Carl Neumanns „Rembrandt“ die „Deutung“ der „Nachtwache“ mit derjenigen von „Manoahs Opfer“, – beides gleich ungewöhnlich schöne Leistungen auf dem Gebiet der Interpretation von Kunstwerken, aber nur die erste, nicht die zweite, durchweg empirischen Charakters.96 Vgl. Neumann, Rembrandt, S. 217 ff., über die Nachtwache S. 281 f., und das Opfer von Manoah S. 320 f. . Es fehlt ihr deshalb auch jeder kontrollierbare Maßstab für eine Unterscheidung von kausal „Wesentlichem“ und „Unwesentlichem“. Wie das „Totalitätsgefühl“, welches in uns z. B. durch eine fremde Stadt erzeugt wird, im Stadium des rein „Gefühlsmäßigen“ durch Dinge, wie die Lage der Schornsteine, die Form der Dachgesimse und dergl. absolut „zufällige“, d. h. hier: für den eignen „Lebensstil“94Vgl. Simmel, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Petermann, Theodor (Hg.), Die Großstadt. Vorträge und Reden zur Städteausstellung (Jahrbuch der Gehe-Stiftung, Band 9). – Dresden: Jahn & Jaentsch 1903, S. 185–206, hier S. 193: „Stil des Lebens“. ihrer Bewohner in keinem Sinn kausal „wesentliche“ Elemente bestimmt zu werden pflegt, so steht es auch, nach aller Erfahrung, mit allen unartikulierten historischen „Intuitionen“95 Für Croce, Aesthetik, S. 27, konstruiert die Geschichte keine allgemeinen Begriffe und Abstraktionen, sondern reiht „Intuitionen“ aneinander. ohne alle Ausnahme: ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert [349]sinkt zumeist parallel mit ihrem ästhetischen Reiz; sie können unter Umständen bedeutenden „heuristischen“ Wert gewinnen, unter Umständen aber auch der sachlichen Erkenntnis geradezu im Wege stehen, weil sie das Bewußtsein davon, daß es sich um Gefühlsinhalte des Beschauers, nicht der geschilderten „Epoche“ resp. des schaffenden Künstlers usw. handelt, verdunkeln. Der subjektive Charakter derartiger „Erkenntnis“ ist in diesem Falle identisch mit dem Mangel der „Geltung“, eben weil eine begriffliche Artikulation unterlassen ist, und die „Anempfindung“97 [349]Ein im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verbreiteter Begriff zur Bezeichnung einer spezifischen, bisweilen mit dem Begriff „Dilettantismus“ konnotierten Art, Vergangenes, Fremdes oder auch nur Anderes zu erfassen. Troeltsch spricht z. B. vom Verstehen anderer Religionen als einer „hypothetischen Anempfindung“. Vgl. Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Vortrag gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt zu Mühlacker am 3. Oktober 1901. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902, S. 52 f., 59, 61. dadurch sich der Demonstration und Kontrolle entzieht. Und sie trägt überdies die eminente Gefahr in sich, die kausale Analyse der Zusammenhänge zugunsten des Suchense[349]A: Suchers nach einem dem „Totalgefühl“ entsprechenden „Gesamtcharakter“ zurückzudrängen, welcher nun, – da das Bedürfnis nach einer die „Gefühlssynthese“ wiedergebenden Formel an die Stelle desjenigen nach empirischer Analyse getreten ist, – der „Epoche“ als Etikette aufgeklebt wird.98 Vgl. Elsenhans, Deutung, S. 20 ff. Die subjektive gefühlsmäßige „Deutung“ in dieser Form stellt weder empirische historische Erkenntnis realer Zusammenhänge (kausaler Deutung) dar, noch dasjenige andere, was sie außerdem noch sein könnte: wertbeziehende Interpretation. Denn dies ist derjenige andere Sinn des „Erlebens“ eines historischen Objektes, welcher neben der kausalen Zurechnung in der „Kategorie“, mit welcher wir uns hier befassen, liegen kann. Ich habe über ihr logisches [A 98]Verhältnis zum Geschichtlichen an anderer Stelle gehandelt25)[349][A 98] Jaffé-Braunsches Archiv, Januarheft 1906.99 Weber, Kritische Studien, unten, S. 380–480. Im übrigen ist auch hier durchaus auf die Ausführungen Rickerts zu verweisen.1 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 305 ff. , und es genügt hier, festzustellen, daß in dieser Funktion die „Deutung“ eines ästhetisch, ethisch, intellektuell oder unter Kulturwertgesichtspunkten aller denkbaren Art bewertbaren Obiektes nicht [350]Bestandteil einer (im logischen Sinn) rein empirisch-historischen – d. h. konkrete, „historische Individuen“ zu konkreten Ursachen zurechnenden – Darstellung, sondern vielmehr – vom Standpunkt der Geschichte aus betrachtet – Formung des „historischen Individuums“ ist. Die „Deutung“ des „Faust“, oder etwa des „Puritanismus“ oder etwa bestimmter Inhalte der „Griechischen Kultur“ in diesem Sinn ist Ermittlung der „Werte“, welche „wir“ in jenen Objekten „verwirklicht“ finden können und derjenigen stets und ausnahmslos individuellen „Form“, in welcher „wir“ sie darin „verwirklicht“ finden, und um derentwillen jene „Individuen“ Objekte der historischen „Erklärung“ werden: – mithin eine geschichtsphilosophische Leistung.2 [350]Vgl. Rickert, Grenzen, S. 600 ff. Vgl. auch Rickert, Heinrich, Geschichtsphilosophie, in: Windelband, Wilhelm (Hg.), Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, Band 2. – Heidelberg: Carl Winter 1905, S. 51–135 (hinfort: Rickert, Geschichtsphilosophie). Sie ist in der Tat „subjektivierend“,3 Zum „erkenntnisstheoretische[n] Subjektivismus“ vgl. Rickert, Grenzen, S. 660 ff. Vgl. auch Münsterberg, Psychologie, S. 41. wenn nämlich darunter verstanden wird, daß die „Geltung“ jener Werte selbstverständlich von uns niemals im Sinn einer Geltung als empirischer „Tatsachen“ gemeint sein kann. Denn in dem hier jetzt in Rede stehenden Sinn verstanden, interpretiert sie nicht, was die historisch an der Schaffung des „bewerteten“ Objekts Beteiligten ihrerseits subjektiv „empfanden“ – das ist ihr, soweit sie Selbstzweck ist, nur eventuell Hülfsmittel für unser eigenes, besseres „Verständnis“ des Wertes26)[350] In dieser Hinsicht ist B[enedetto] Croce vollkommen beizutreten.6 Vgl. Croce, Aesthetik, S. 46 ff. [,] sondern was „wir“ in dem Objekt an Werten finden „können“ – oder etwa auch: „sollen“. Im letzteren Fall setzt sie sich die Ziele einer normativen Disziplin – etwa der Ästhetik – und „wertet“ selbst, im ersteren ruht sie, logisch betrachtet, auf der Grundlage „dialektischer“ Wertanalyse4 Diesen Begriff verwendet Rickert nicht. Vgl. aber sinngemäß Rickert, Grenzen, S. 378. und ermittelt ausschließlich „mögliche“ Wertbeziehungen des Objekts. Diese „Beziehung“ auf „Werte“5 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 153 mit Anm. 43, S. 166 mit Anm. 71, und S. 189 mit Anm. 53. ist es nun aber, – und das ist ihre in unserm Zusammenhang entscheidend wichtige Funktion, – welche zugleich den einzigen Weg darstellt, aus der völligen Unbe[351]stimmtheit des „Eingefühlten“ herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist. Denn im Gegensatz zum bloßen „Gefühlsinhalt“ bezeichnen wir als „Wert“ ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer [A 99]Stellungnahme: eines artikuliert-bewußten positiven und negativen „Urteils“ zu werden, etwas, was „Geltung heischend“ an uns herantritt, und dessen „Geltung“ als „Wert“ „für“ uns demgemäß nun „von“ uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen „wertend beurteilt“ wird. Die „Zumutung“ eines ethischen oder ästhetischen „Wertes“ enthält ausnahmslos die Fällung eines „Werturteils“. Ohne nun auf das Wesen der „Werturteile“ hier noch näher eingehen zu können27)[351][A 99] Es ist der psychologische Einschlag in den antipsychologistischen Ausführungen Croces, daß er die Existenz von „Werturteilen“ in diesem Sinne leugnet, obwohl seine eigene Konstruktion mit ihnen steht und fällt.8 Zur Kritik der praktischen oder Werturteile vgl. Croce, Aesthetik, S. 48 f. , so ist für unsere Betrachtungen das eine jedenfalls festzustellen: daß die Bestimmtheit des Inhaltes es ist, welches das Objekt, auf welches sie sich beziehen, aus der Sphäre des nur „Gefühlten“ heraushebt. Ob irgend jemand das „Rot“ einer bestimmten Tapete „ebenso“ sieht wie ich, ob es für ihn dieselben „Gefühlstöne“ besitzt, ist durch kein Mittel eindeutig festzustellen, die betreffende „Anschauung“ bleibt in ihrer Kommunikabilität notwendig unbestimmt. Die Zumutung, ein ethisches oder ästhetisches Urteil über einen Tatbestand zu teilen, hätte dagegen gar keinen Sinn, wenn – bei allem Mitspielen inkommunikabler „Gefühls“bestandteile – nicht dennoch der „zugemutete“ Inhalt des Urteils in den Punkten, „auf die es ankommt“, identisch „verstanden“ würde. Beziehung des Individuellen auf mögliche „Werte“ bedeutet stets ein – immer nur relatives! – Maß von Beseitigung des lediglich anschaulich „Gefühlten“. Eben darum – und damit kommen wir noch einmal abschließend auf einige schon früher gemachte Andeutungen zurück7 [351]Möglicherweise Bezug auf Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 319 ff. – tritt diese geschichtsphilosophische „Deutung“, und zwar in ihren beiden möglichen Formen: der direkt wertenden (also metaphysischen) und der lediglich wertanalytischen, offensichtlich fortwährend in den Dienst des „einfühlenden Verständnisses“ des Historikers. Es kann in dieser Hinsicht durchaus [352]auf die, nur in der Formulierung hier und da nicht abschließenden, gelegentlich auch sachlich nicht ganz unbedenklichen Bemerkungen Simmels28)[352] Simmels Formulierungen (S. 52, 54, 56)11 Vgl. Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 51 ff. sind auch hier psychologisch-deskriptiv und deshalb trotz ihrer ungemeinen Feinheit logisch m. E. nicht durchweg einwandsfrei. Richtig ist 1. daß starke „Subjektivität“ des Historikers als „Persönlichkeit“ der kausalen „Deutung“ historischen Handelns und historischer Individualitäten, oft gerade ihm nicht konformer, ungemein zu statten kommen kann, – 2. daß unser historisches Verständnis „scharf umrissener“, hochgradig „subjektiver“ Persönlichkeiten nicht selten besonders „evident“ ist; – beide Er[A 100]scheinungen hängen mit der Rolle zusammen, welche die Beziehung auf Werte in der erkennenden Formung des Individuellen spielt. Die intensiven „Wertungen“ der „reichen“ und „eigenartigen“ Persönlichkeit des Historikers sind ferner heuristisches Mittel ersten Ranges für die Aufdeckung nicht an der Oberfläche liegender Wertbeziehungen historischer Vorgänge und Persönlichkeiten: – aber eben diese Fähigkeit des Historikers zur geistig klar entwickelten Wertung und die dadurch vermittelte zur Erkenntnis von Wertbeziehungen kommen in Betracht, nicht irgend ein Irrationales seiner Individualität. Psychologisch beginnt das „Verstehen“ als ungeschiedene Einheit von Wertung und kausaler Deutung, die logische Bearbeitung aber setzt an Stelle der Wertung die bloß theoretische „Beziehung“ auf Werte bei Formung der „historischen Individuen“. – Es ist auch bedenklich, wenn Simmel (S. 55 unten, 56)12 Ebd., S. 55 f. meint, an den Stoff sei der Historiker gebunden, in der Formung zum Ganzen des historischen Verlaufs sei er „frei“. Die Sache liegt m. E. umgekehrt: in der Auswahl der leitenden Werte, die ihrerseits die Auslese und Formung des zu erklärenden „historischen Individuums“ (auch hier natürlich, wie immer, in den: unpersönlichen rein logischen Sinn des Wortes) bestimmen, ist der Historiker „frei“. Auf seinem weiteren Wege ist er aber an die Prinzipien kausaler Zurechnung schlechthin gebunden und „frei“ in gewissem Sinn nur in der Ausgestaltung des logisch „Zufälligen“: d. h. der Gestaltung des rein ästhetischen „Veranschaulichungsmaterials“. verwiesen und [A 100]mag nur folgendes ergänzend hinzugefügt werden: Weil das „historische Individuum“9[352] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 185 mit Anm. 40. auch in der speziellen Bedeutung der „Persönlichkeit“ im logischen Sinn nur eine durch Wertbeziehung künstlich hergestellte „Einheit“ sein kann, ist „Wertung“ die normale psychologische Durchgangsstufe für das „intellektuelle Verständnis“.10 Vgl. oben, S. 328 mit Anm. 1. Die volle Verdeutlichung der historisch relevanten Bestandteile der „inneren Entwickelung“ einer „historischen Persönlichkeit“ (etwa Goethes oder Bismarcks) oder auch nur ihres konkreten Handelns in einem konkreten historisch relevanten Zusammenhang pflegt in der Tat nur durch Konfrontation möglicherWertungen“ ihres Verhaltens gewonnen zu werden, so unbedingt die Überwindung dieser psychologischen Durchgangsstufe in der Genesis seines Erkennens vom Historiker [353]beansprucht werden muß. Wie in dem früher benutzten Beispiel des Patrouillenführers13[353] Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 312. die kausale Deutung in den Dienst des praktischen „Stellungnehmens“ trat, indem sie das noëtische14 Vgl. ebd., oben, S. 287 mit Anm. 52. „Verstehen“ der aus sich selbst nicht eindeutigen Order ermöglichte, so tritt in diesen Fällen umgekehrt die eigene „Wertung“ als Mittel in den Dienst des „Verstehens“, und das heißt hier: der kausalen Deutung fremden Handelns29)[353] Auch in den Fällen, wo eine „teleologische“ Wertung an der Hand der Kategorie „Zweck“ und „Mittel“ angenommen wird – das übliche Schulbeispiel der Historiker ist die Kriegsgeschichte – ist der logische Sachverhalt genau der[A 101]selbe. Die auf Grund strategischer „Kunstlehren“ gewonnene Erkenntnis, daß eine bestimmte Maßnahme Moltkes ein „Fehler“ war,15 Trotz des Sieges über Österreich in der Schlacht von Königgrätz 1866 kamen bereits Zweifel an der Kriegsführung Helmuth von Moltkes auf. So formulierte der Chef des Generalstabs der Zweiten Armee, Leonhard von Blumenthal, am 2. Juni 1866 Bedenken wegen der fortwährenden Änderungen der Organisation, in der er kein „großes Kunststück“ erkannte. Vgl. Blumenthal, Albrecht Graf von (Hg.), Tagebücher des Generalfeldmarschalls Graf von Blumenthal aus den Jahren 1866 und 1870/71. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. 1902, S. 16 f. Hingegen hat für Meyer, Theorie, S. 44, „der Krieg von 1866 erwiesen“, daß Moltke ein „strategisches Genie“ war. d. h. die geeigneten „Mittel“ zu dem feststehenden „Zwecke“ verfehlte, hat für eine geschichtliche Darstellung lediglich den Sinn, uns zur Erkenntnis der kausalen Bedeutung zu verhelfen, welche jener (teleologisch „fehlerhafte“) Entschluß auf den Verlauf der geschichtlich relevanten Ereignisse gehabt hat. Den Lehren der Strategie entnehmen wir lediglich die Erkenntnis der „objektiven“ Möglichkeiten,16 Vgl. Kries, Möglichkeit: dazu Einleitung, oben, S. 19 ff. welche für den Fall der verschiedenen denkbaren Entschlüsse als realisierbar zu denken sind. (Die Darstellung Bernheims ist auch in diesem Punkt logisch recht unklar.)17 Gemeint sind möglicherweise Bernheims Ausführungen zur teleologischen Begriffsbildung in der Geschichte. Vgl. Bernheim, Lehrbuch, S. 118 f., 704. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 300, Fn. 38, mit Anm. 99. . In diesem Sinn und aus diesem [A 101]Grund ist es richtig, daß gerade eine ausgeprägte „Individualität“ des Historikers, d. h. aber: scharf präzisierte „Wertungen“, die ihm eigen sind, eminent leistungsfähige Geburtshelfer kausaler Erkenntnis sein können, so sehr sie auf der andern Seite durch die Wucht ihres Wirkens die „Geltung“ der Einzelergebnisse als Erfahrungswahrheit auch wieder zu gefährden geeignet sind30) Jakob Burckhardtf[353]A: Burkhardt ist für beide Seiten dieses Vorganges ein hervorragendes Beispiel.18 Weber hat sich intensiv mit Burckhardt befaßt. Anlaß dazu war ein Aufsatz von Carl Neumann, der Burckhardt mit Blick auf den Methodenstreit unter Historikern interpre[354]tierte. Vgl. Neumann, Carl, Griechische Kulturgeschichte in der Auffassung Jakob Burckhardts, in: Historische Zeitschrift, 85. Band (N. F., 49. Band), 1900, S. 385–452. Weber hat daraufhin auch Burckhardts „Cicerone“ studiert, in dem der Begriff „Idealtypus“ auftaucht. Vgl. Burckhardt, Cicerone (wie oben, S. 25, Anm. 78), S. 510. Vgl. dazu den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 25. Jan. 1902, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; sowie die Briefe von Max Weber an Marianne Weber vom 22. Juli 1901, MWG II/3, S. 793, und an Carl Neumann vom 11. Nov. 1901, ebd., S. 796–798. .

[354]Um hiermit diese notgedrungen etwas eintönige Auseinandersetzung mit den mannigfachen, in allerhand Farben und Formen schillernden Theorien, von der angeblichen Eigenart der „subjektivierenden“ Disziplinen und der Bedeutung dieser Eigenart für die Geschichte abzuschließen, so ist das Ergebnis lediglich die eigentlich recht triviale, aber trotz allem immer wieder in Frage gestellte Einsicht, daß weder die „sachlichen“ Qualitäten des „Stoffes“ noch „ontologische“ Unterschiede seines „Seins“, noch endlich die Art des „psychologischen“ Herganges der Erlangung einer bestimmten Erkenntnis über ihren logischen Sinn und über die Voraussetzungen ihrer „Geltung“ entscheiden. Empirische Erkenntnis auf dem Gebiet des „Geistigen“ und auf demjenigen der „äußern“ „Natur“, der Vorgänge „in“ uns und derjenigen „außer“ uns[,] ist stets an die Mittel der „Begriffsbildung“ gebunden, und das Wesen eines „Begriffs“ ist auf beiden sachlichen „Gebieten“ logisch das gleiche. Die logische Eigenart „historischer“ Erkenntnis im Gegensatz zu der im logischen Sinn „naturwissenschaftlichen“ hat mit der Scheidung des „Psychischen“ vom „Physischen“, der „Persönlichkeit“ und des „Handelns“ vom toten „Naturobjekt“ und „mechanischen Naturvorgang“[,] durchaus nichts zu schaffen31)[354] Darüber s[iehe] Rickert a. a. O.19 Rickert, Grenzen, S. 147 ff. Gleichwohl hat natürlich seine Bezeichnung der „Gesetze“ suchenden Arbeit als „naturwissenschaftlicher“ Begriffsbildung in der Polemik der Gegner die stete Vermischung des „ressortmäßigen“ mit dem logischen Begriff der „Naturwissenschaften“ zur Folge gehabt.. Und noch weniger darf die „Evidenz“ der [A 102]„Einfühlung“ in tatsächliche oder potentielle „bewußte“ innere „Erlebungen“g[354]A: „Erlebungen“, – eine lediglich phänomenologische Qualität der „Deutung“ –[,] mit einer spezifischen empirischen „Gewißheit“ „deutbarer“ Vorgänge identifiziert werden. – Weil und soweit es [355]uns etwas „bedeuten“ kann, wird eine, physische oder psychische oder beides umfassende, „Wirklichkeit“ von uns als „historisches Individuum“ geformt; – weil es durch „Wertungen“ und „Bedeutungen“ bestimmbar ist, wird „sinnvoll“ deutbares menschliches Sich-Verhalten („Handeln“) in spezifischer Art von unserm kausalen Interesse bei der „geschichtlichen“ Erklärung eines solchen „Individuums“ erfaßt; – endlich: soweit es an sinnvollen „Wertungen“ orientiert oder mit ihnen konfrontierbar ist, kann menschliches Tun in spezifischer Art „evident“ „verstanden“ werden. Es handelt sich also bei der besonderen Rolle des „deutbar“ Verständlichen in der „Geschichte“ um Unterschiede 1. unseres kausalen Interesses und 2. der Qualität der erstrebten „Evidenz“ individueller Kausalzusammenhänge, nicht aber um Unterschiede der Kausalität oder der Bedeutung und Art der Begriffsbildung. –

Es erübrigt jetzt nur noch, einer bestimmten Art der „deutenden“ Erkenntnis einige Betrachtungen zu widmen: der „rationalen“ Deutung mittelst der Kategorien „Zweck“ und „Mittel“.

Wo immer wir menschliches Handeln als durch klar bewußte und gewollte „Zwecke“ bei klarer Erkenntnis der „Mittel“ bedingt „verstehen“, da erreicht dieses Verständnis unzweifelhaft ein spezifisch hohes Maß von „Evidenz“. Fragen wir nun aber, worauf dies beruhe, so zeigt sich als Grund alsbald der Umstand, daß die Beziehung der „Mittel“ zum „Zweck“ eine rationale, der generalisierenden Kausalbetrachtung im Sinn der „Gesetzlichkeit“ im spezifischen Maße zugängliche ist. Es gibt kein rationales Handeln ohne kausale Rationalisierung des als Objekt und Mittel der Beeinflussung in Betracht gezogenen Ausschnittes aus der Wirklichkeit, d. h. ohne dessen Einordnung in einen Komplex von Erfahrungsregeln, welche aussagen, welcher Erfolg eines bestimmten Sich-Verhaltens zu erwarten steht. Zwar ist es in jedem Sinn grundverkehrt, wenn behauptet wird, die „teleologische“32)[355][A 102] Über das Verhältnis von „Telos“ und „Causa“ in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis herrscht mehrfach, namentlich seit Stammlers geistvollen, aber manche Trugschlüsse enthaltenden Arbeiten20 [355]Vgl. Stammler, Wirtschaft1, S. 349 ff.; Stammler, Wirtschaft2, S. 337 ff. eine erstaunliche Verwirrung. Den Gipfel der Konfusion in dieser Hinsicht möchte zur Zeit [A 103]Dr. Biermann in seinen Aufsätzen; „W. Wundt und die Logik der Sozialwissenschaften“, Conrads Jahrb[ücher], Januar 1903, „Natur und Gesellschaft“, ebda. Juli 1903 und vollends: „Sozialwissenschaft, Geschichte und [356]Naturwissenschaft“ 1904, XXVIII, S. 592 f.h[356]A: 552 f. erklommen haben.22 Vgl. Biermann, Wundt; Biermann, Natur; Biermann, Sozialwissenschaft. Biermann, Natur, S. 685, ordnet der neukantianischen Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften die Begriffe Kausalität und Teleologie zu. Die Sozialwissenschaften schlägt er auf die Seite der Kulturwissenschaften. Während sich naturwissenschaftlicher Materialismus und Sozialpolitik ausschlössen, ließe sich diese durch eine sozialwissenschaftliche Forschungsweise im Sinne eines erkenntnistheoretischen sozialen Idealismus begründen. Sozialpolitische Anschauungen müßten auf dem Fundament einer teleologischen, durch ethische Forderungen beeinflußten ökonomischen Entwicklung aufbauen. Biermann meinte in der Tat, Stammler zu folgen. Dagegen, daß er die „gegensätzliche Formulierung von Theorie und Geschichte“ seinerseits vertrete, „verwahrt“ er sich „ausdrücklich“, da sie ihm „unklar und prinzipiell unberechtigt“ erscheint.23 Vgl. Biermann, Sozialwissenschaft, S. 596. Die Unklarheit ist in der Tat vorhanden, aber wohl nur insofern, als jene Beziehungen eben leider dem Verfasser völlig unklar geblieben sind, da er sich andernfalls nicht auf Forscher wie Windelband und Rickert berufen könnte,24 Vgl. ebd., S. 598 f.; Biermann, Natur, S. 683. welche über diese ihnen zugemutete Eideshelferschaft nicht wenig erstaunen würden. – Indessen, wenn es bei dieser Unklarheit sein Bewenden hätte, so ginge die Sache noch an: – auch sehr viel erheblichere Nationalökonomen äußern über die komplizierten Probleme, welche sich an jenen Gegensatz anschließen, gelegentlich handgreiflich irrtümliche Ansichten. Schlimmer ist, daß das allzu eifrige „Telos“ des Verf[assers] auch den allerelementarsten Gegensatz: den zwischen „Sein“ und „Sollen“, verschluckt. Daß dann „Willensfreiheit“, „Gesamtkausalität“, „Gesetzlichkeit der Entwickelung“ im bunten Durcheinander in die angeblich allein entscheidende Antithese: „Telos“ und „Causa“ hineinverflochten und schließlich die Meinung vertreten wird, man müsse ein bestimmtes „Forschungsprinzip“ vertreten, um den „Individualismus“ überwinden zu können,25 Vgl. Biermann, Sozialwissenschaft, S. 599, 605 ff.; ders., Natur, S. 684 f. – während ja gerade die Verquickung der Frage nach der „Methode“ und derjenigen nach dem „Programm“ das (heute) Veraltete an den früheren Kontroversen ist –, dies Alles läßt den Wunsch entstehen, es möge die heutige Mode, daß jede Anfängerarbeit mit „erkenntnistheoretischen“ Untersuchungen geziert werden muß, recht bald wieder aussterben. Man kann die ziemlich einfachen und keineswegs „neuen“ Gedanken, welche der Verf[asser] in diesen und anderen Arbeiten über die Beziehungen zwischen „Staat und Wirtschaft“ vorträgt, wirklich auch ohne solche darlegen. Es ist zu hoffen, daß uns der sicherlich vom ehrlichsten Eifer für seine Ideale beseelte Verf[asser] künftig mit Arbeiten beschenken möge, bei deren Lektüre man nicht fortwährend über dilettantische logische Schnitzer stolpert und so die Geduld verliert. Dann erst wird eine fruchtbare Auseinandersetzung mit seinen praktischen Idealen überhaupt möglich [357]sein. – Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Stammler selbst – der keineswegs etwa für alle Schiefheiten Biermanns verantwortlich gemacht werden kann – würde diesen Aufsatz abermals um einen Bogen anschwellen lassen und ist hier nicht geboten.26 [357]Vgl. Weber, Stammler, unten, S. 481–571. „Auffassung“ eines Vorgan[356]ges sei aus [A 103]diesem Grunde als eine „Umkehrung“21 [356]Für Rickert, Grenzen, S. 374 f., ist „der Kampf gegen die Teleologie, die auf eine zeitliche Umkehr des Kausalitätsverhältnisses hinauskommt und wirkende Zwecke annimmt, […] in der Geschichtswissenschaft gewiss berechtigt“, denn: „Der Gedanke des Zieles allein, nicht aber das Ziel selbst wirkt, und der Gedanke geht auch der Zeit nach dem beabsichtigten Effekt voran. Ein teleologischer Vorgang dieser Art ordnet sich also durchaus dem für die empirische Wirklichkeit allein gültigen Begriff der Kausalität ein“. der kausalen [357]zu begreifen33) Erstaunlicherweise akzeptiert auch Wundt (Logik I, S. 642) diesen populären Irrtum. – Er sagt: „Lassen wir (a) in der Apperzeption die Vorstellung unserer Bewegung der äußeren Veränderung vorangehen, so erscheint uns die Bewegung als die Ursache der Veränderung. Lassen wir dagegen (b) die Vorstellung der ersteren Veränderung derjenigen der Bewegung vorangehen, durch die jene hervorgebracht werden soll, so erscheint die Veränderung als Zweck, die Bewegung als das Mittel, durch welches der Zweck erreicht wird. – In diesen Anfängen der psychologischen Begriffsentwickelung enthalten demnach Zweck und Kausalität nur verschiedene Bewegungsweisen eines und desselben [A 104](von Wundt gesperrt) Vorgangs.“27 Vgl. Wundt, Logik I, S. 642: „In diesen Anfängen der psychologischen Begriffsentwicklung entspringen demnach Zweck und Causalität aus verschiedenen Betrachtungsweisen eines und desselben Vorgangs.“ – Hierzu ist zu sagen: Es ist klar, daß die oben (von mir) mit a und b bezeichneten Sätze gar nicht „denselben“ Vorgang schildern, sondern jeder von beiden einen anderen Teil eines Vorgangs, welcher sich in Anlehnung an Wundt in grobem Schema so wiedergeben läßt: 1. „Vorstellung“ einer erwünschten Veränderung v in der „Außenwelt“, verbunden mit 2. Vorstellung einer Bewegung (m), als geeignet, diese Veränderung zu bewirken, sodann 3. Bewegung m, und 4. eine Veränderung (ν’) in der Außenwelt, durch m herbeigeführt. Nur die Bestandteile ad 3 und 4: äußere Bewegung und äußere Folge der Bewegung sind offenbar durch den obigen Wundtschen Satz a umfaßt, – 1 und 2: die Vorstellung des Erfolges oder, für den konsequenten Materialisten, wenigstens der entsprechende Gehirnvorgang – fehlen dort, während es für den Wundtschen Satz b dahingestellt bleiben muß, ob er die Elemente ad 1 und 2 allein oder in unklarer Vermischung damit die Elemente ad 3 und 4 umfaßt. In keinem von beiden Fällen aber enthält Satz b eine andere „Auffassung“ desselben Vorganges wie Satz a, und zwar schon aus dem Grunde nicht, weil ja doch vor allem natürlich ganz und gar nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, daß die durch die Bewegung (m) als Ursache hervorgebrachte Veränderung (ν’) mit der durch die Bewegung (m) als Mittel „bezweckten“ Veränderung (v) notwendig identisch sei. Sobald der „bezweckte“ und der faktisch „erreichte“ Erfolg auch nur teilweise auseinanderfallen, paßt ja das ganze Schema Wundts offenbar überhaupt nicht. Gerade ein solches Auseinanderfallen von Gewolltem und Erreichtem – das Nicht-Erreichen des Zwecks – ist aber unzweifelhaft auch für die psychologische Genesis des Zweckbegriffs, deren Erörterung Wundt hier gänzlich mit derjenigen seines logischen Sinnes vermischt, konstitutiv. Es ist gar nicht abzusehen, wie wir des „Zwecks“ als selbständiger Kategorie je inne werden sollten, wenn v und ν’ ein für allemal zusammenfielen. Richtig aber ist, daß es ohne den Glauben an die Verläßlichkeit der [A 104]Erfahrungsregeln kein auf Erwägung der Mittel für einen beabsichtigten Erfolg ruhendes Handeln geben könnte, und daß, im Zusammenhang damit, ferner bei eindeutigem gegebenen Zweck die Wahl der Mittel zwar nicht notwendig ebenfalls eindeutig, aber doch wenigstens nicht in gänzlich unbestimmter Vieldeutigkeit, sondern in einer Disjunktion von je nach den [358]Umständen verschieden vielen Gliedern „determiniert“ ist. Die rationale Deutung kann so die Form eines bedingten Notwendigkeitsurteils annehmen (Schema: bei gegebener Absicht x „mußte“ nach bekannten Regeln des Geschehens der Handelnde zu ihrer Erreichung das Mittel y bezw. eines der Mittel y, y’, y’’ wählen) und daher zugleich mit einer teleologischen „Wertung“ des empirisch konstatierbaren Handelns in Eins zusammenfließen (Schema: die Wahl des Mittels y gewährte nach bekannten Regeln des Geschehens gegenüber y’ oder y’’ die größere Chance28 [358]Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, unten, S. 472 mit Anm. 41. der Erreichung des Zweckes x oder erreichte diesen Zweck mit den geringsten Opfern usw., die eine war daher „zweckmäßiger“ als [A 105]die andere oder auch allein „zweckmäßig“). Da diese Wertung rein „technischen“ Charakters ist, d. h. lediglich an der Hand der Erfahrung die Adäquatheit der „Mittel“ für den vom Handelnden faktisch gewollten Zweck konstatiert, so verläßt sie trotz ihres Charakters als „Wertung“ den Boden der Analyse des empirisch Gegebenen in keiner Weise. Und auf dem Boden der Erkenntnis des wirklich Geschehenden tritt diese rationale „Wertung“ auch lediglich als Hypothese oder idealtypische Begriffsbildung auf: Wir konfrontieren das faktische Handeln mit dem, „teleologisch“ angesehen, nach allgemeinen kausalen Erfahrungsregeln rationalen, um so entweder ein rationales Motiv, welches den Handelnden geleitet haben kann, und welches wir zu ermitteln beabsichtigen, dadurch festzustellen, daß wir seine faktischen Handlungen als geeignete Mittel zu einem Zweck, den er verfolgt haben „könnte“, aufzeigen, – oder um verständlich zu machen, warum ein uns bekanntes Motiv des Handelnden infolge der Wahl der Mittel einen anderen Erfolg hatte, als der Handelnde subjektiv erwartete. In beiden Fällen aber nehmen wir nicht eine „psychologische“ Analyse der „Persönlichkeit“ mit Hülfe irgendwelcher eigenartiger Erkenntnismittel vor, sondern vielmehr eine Analyse der „objektiv“ gegebenen Situation mit Hülfe unseres nomologischen Wissens. Die „Deutung“ verblaßt also hier zu dem allgemeinen Wissen davon, daß wir „zweckvoll“ handeln können, d. h. aber: handeln können auf Grund der Erwägung der verschiedenen „Möglichkeiten“ eines künftigen Hergangs im Fall der Vollziehung jeder von verschiedenen als möglich gedachten Handlungen (oder Unterlassungen). Infolge der emi[359]nenten faktischen Bedeutung des in diesem Sinn „zweckbewußten“ Handelns in der empirischen Wirklichkeit läßt sich die „teleologische“ Rationalisierung als konstruktives Mittel zur Schaffung von Gedankengebilden verwenden, welche den außerordentlichsten heuristischen Wert für die kausale Analyse historischer Zusammenhänge haben. Und zwar können diese konstruktiven Gedankengebilde zunächst rein individuellen Charakters: Deutungs-Hypothesen für konkrete Einzelzusammenhänge sein, – so etwa in einem schon erwähnten Beispiel29 [359]Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 280, 291. die Konstruktion einer, durch supponierte Zwecke einerseits, durch die Konstellation der „großen Mächte“ anderseits, bedingten Politik Friedrich Wilhelms IV.30 Mit Verweis auf „große Mächte“ vgl. Meinecke, Friedrich Wilhelm IV, S. 20 ff. Sie dient dann als gedankliches Mittel zu dem Zweck, seine reale Politik daran in bezug auf den Grad ihres rationalen Gehaltes zu messen und so einerseits die rationalen Bestandteile, anderseits die (mit Bezug auf jenen Zweck) nicht rationalen Elemente seines wirklichen [A 106]politischen Handelns zu erkennen, wodurch dann die historisch gültige Deutung jenes Handelns, die Abschätzung der kausalen Tragweite beider und so die gültige Einordnung der „Persönlichkeit“ Friedrich Wilhelms IV. als kausalen Faktori[359]A: Faktors in den historischen Zusammenhang ermöglicht wird. Oder aber – und das interessiert uns hier – sie können idealtypische Konstruktionen generellen Charakters sein, wie die „Gesetze“ der abstrakten Nationalökonomie,31 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 197 ff. welche unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter ökonomischer Situationen gedanklich konstruieren. In allen Fällen aber ist das Verhältnis solcher rationalen teleologischen Konstruktionen zu derjenigen Wirklichkeit, welche die Erfahrungswissenschaften bearbeiten, natürlich nicht etwa das von „Naturgesetz“ und „Konstellation“,32 Vgl. ebd., S. 177 mit Anm. 9. sondern lediglich das eines idealtypischen Begriffs, der dazu dient, die empirisch gültige Deutung dadurch zu erleichtern, daß die gegebenen Tatsachen mit einer Deutungsmöglichkeit – einem Deutungsschema – verglichen werden, – sie ist insofern also verwandt der Stelle, welche die teleologische Deutung in der Βiο[360]logie spielt.33 [360]Vgl. Rickert, Grenzen, S. 455 ff. Wir „erschließen“ auch durch die rationale Deutung nicht – wie Gottl meint34 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 108 f. – „wirkliches Handeln“, sondern „objektiv mögliche35 Im Sinne von Kries, Möglichkeit. Zusammenhänge. Die teleologische Evidenz bedeutet auch bei diesen Konstruktionen nicht ein spezifisches Maß von empirischer Gültigkeit, sondern die „evidente“ rationale Konstruktion vermag, „richtig“ gebildet, gerade die teleologisch nichtrationalen Elemente des faktischen ökonomischen Handelns erkennbar und damit das letztere in seinem tatsächlichen Verlaufe verständlich zu machen. Jene Deutungsschemata sind daher auch nicht nur – wie man gesagt hat36 Referenz nicht belegt. – „Hypothesen“ nach Analogien naturwissenschaftlicher hypothetischer „Gesetze“. Sie können als Hypothesen bei der heuristischen Verwendung zur Deutung konkreter Vorgänge fungieren. Aber im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Hypothesen tangiert die Feststellung, daß sie im konkreten Fall eine gültige Deutung nicht enthalten, ihren Erkenntniswert nicht, ebensowenig, wie z. B. die empirische Nichtgeltung des pseudosphärischen Raumes37 Vgl. oben, S. 341, Fn. 15 mit Anm. 63. die „Richtigkeit“ seiner Konstruktion. Die Deutung mit Hülfe des rationalen Schemas war dann eben in diesem Fall nicht möglich – weil die im Schema angenommenen „Zwecke“ im konkreten Fall als Motive nicht existent waren –, was aber die Möglichkeit ihrer Verwertung für keinen anderen Fall ausschließt. Ein hypothetisches „Naturgesetz“, welches in einem Fall definitiv versagt, fällt als Hypothese ein für allemal in sich zusammen. Die idealtypischen Konstruktionen der [A 107]Nationalökonomie dagegen prätendieren – richtig verstanden – keineswegs, generell zu gelten, während ein „Naturgesetz“ diesen Anspruch erheben muß, will es nicht seine Bedeutung verlieren. – Ein sogenanntes „empirisches“ Gesetz38 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 59 mit Anm. 88. endlich ist eine empirisch geltende Regel mit problematischer kausaler Deutung, ein teleologisches Schema rationalen Handelns dagegen eine Deutung mit problematischer empirischer Geltung: beide sind also logisch polare Gegensätze.39 Der polare Gegensatz ist ein Spezialfall des konträren Gegensatzes und liegt vor, wenn seine Momente die Enden einer Vergleichsskala bilden, z. B. „weiß“ und „schwarz“ bzgl. einer Skala von Grautönen. [361]‒ Jene Schemata sind aber „idealtypische Begriffsbildungen“34)[361][A 107] Über diesen Begriff s[iehe] meine Abhandlungen Jaffé-Braunsches Archiv XIX, 1.40 [361]Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 135–234, hier S. 203 ff. Ich hoffe[,] jene skizzenhaften und deshalb vielleicht teilweise mißverständlichen Erörterungen bald eingehender fortzusetzen.41 Eingehendere Erörterungen sind nicht belegt. . Weil die Kategorien „Zweck“ und „Mittel“ bei ihrer Anwendung auf die empirische Wirklichkeit deren Rationalisierung bedingen, deshalb und nur deshalb ist die Konstruktion solcher Schemata möglich35) Es ist deshalb so ziemlich der Gipfel des Mißverständnisses, wenn man in den Konstruktionen der abstrakten Theorie – z. B. im „Grenznutzgesetz“42 Vgl. dazu Weber, Objektivität, oben, S. 202, Anm. 99. – Produkte „psychologischer“ und vollends „individualpsychologischer“ Deutungen oder den Versuch „psychologischer Begründung“ des „ökonomischen Wertes“ sieht.43 Vgl. z. B. Wundt, Logik II,2, S. 519 ff., u. a. mit Bezug auf Menger, Grundsätze (wie oben, S. 16, Anm. 11). Die Eigenart dieser Konstruktionen, ihr heuristischer Wert ebenso wie die Schranken ihrer empirischen Geltung[,] beruhen gerade darauf, daß sie kein Gran von „Psychologie“ in irgend einem Sinn dieses Wortes enthalten. Manche Vertreter der Schule, die mit diesen Schemata operieren, haben freilich jenen Irrtum mitverschuldet, indem sie zuweilen allerhand Analogien von „Reizschwellen“ heranzogen,44 Gemeint ist wohl Friedrich von Wieser und dessen Bezug auf Fechner, Gustav Theodor, Elemente der Psychophysik. Erster Theil. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1860, S. 238 ff. – hier finden sich die Begriffe „Schwelle“ bzw. „Reizschwelle“. Vgl. Wieser, Hauptgesetze (wie oben, S. 202, Anm. 99), S. 126 ff., 146 ff., 180 ff. Vgl. auch Wieser, Werth (wie oben, S. 347, Anm. 92), S. 9 ff. („Sättigungs-Scalen“), S. 11 ff. („Grenznutzen“). mit der diese rein rationalen, nur auf dem Hintergrund geldwirtschaftlichen Denkens möglichen Konstruktionen ganz und gar nichts, außer gewissen äußeren Formen, gemein haben. (Vgl. S. 346 f. Anm. 23.) .

Von hier aus fällt noch einmal, und endgültig, Licht auf die Behauptung von der spezifischen empirischen Irrationalität der „Persönlichkeit“ und des „freien“ Handelns.

Je „freier“, d. h. je mehr auf Grund „eigener“, durch „äußeren“ Zwang oder unwiderstehliche „Affekte“ nicht getrübter „Erwägungen“, der „Entschluß“ des Handelnden einsetzt, desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien „Zweck“ und „Mittel“ ein, desto vollkommener vermag also ihre rationale Analyse und gegebenen Falls ihre Einordnung in ein Schema rationalen Handelns zu gelingen, desto größer aber ist infolgedessen auch die Rolle, welche – beim Handelnden einerseits, beim analysierenden Forscher anderseits – das nomologische Wissen spielt, [362]desto „determinierter“ ist Ersterer in bezug auf die „Mittel“. Und nicht nur das. Sondern je „freier“ in dem hier in Rede stehenden Sinn das „Handeln“ ist, d. h. je weniger es den Charakter des „naturhaften [A 108]Geschehens“ an sich trägt, desto mehr tritt damit endlich auch derjenige Begriff der „Persönlichkeit“ in Kraft, welcher ihr „Wesen“ in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten „Werten“ und Lebens-„Bedeutungen“ findet, die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umsetzen, und desto mehr schwindet also jene romantisch-naturalistische Wendung des „Persönlichkeits“gedankens, die umgekehrt in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen „Untergrund“ des persönlichen Lebens, d. h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psycho-physischer Bedingungen der Temperaments- und Stimmungsentwickelung beruhenden „Irrationalität“, welche die „Person“ ja doch mit dem Tier durchaus teilt, das eigentliche Heiligtum des Persönlichen sucht.45 [362]Gemeint ist möglicherweise der von Weber während des Studiums intensiv gelesene Lotze, Hermann, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, Band 1. – Leipzig: S. Hirzel 1856 (hinfort: Lotze, Mikrokosmus I), S. 284: „Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unser Temperament, die beständige Stimmung unseres Gemüthes, die eigenthümliche Richtung und die Lebhaftigkeit der Phantasie, endlich die hervorragenden Talente, welche zunächst den Bestand unserer individuellsten Persönlichkeit auszumachen schienen, abhängig von der körperlichen Constitution und ihren Veränderungen; selbst als ererbte Anlage ist Vieles davon nur das Ergebnis eines Naturlaufes, der lange vor unserem eignen Dasein schon einzelne Züge unseres späteren Lebens unwiderruflich bestimmte.“ Vgl. ebd., S. 287 f., zum Vergleich mit dem „Tier“. Denn diese Romantik ist es, welche hinter dem „Rätsel der Persönlichkeit“ in dem Sinn steht, in welchem Treitschke46 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 250, Fn. 10 mit Anm. 37. gelegentlich und viele andere sehr häufig davon sprechen, und welche dann womöglich noch die „Willensfreiheit“ in jene naturhaften Regionen hineindichtet.47 Vgl. Lotze, Mikrokosmus I (wie oben, S. 362, Anm. 45), S. 288: „Aller mögliche Inhalt des Wollens dagegen wird überall durch den unwillkürlichen Verlauf der Vorstellungen und Gefühle herbeigeführt, und ohne an sich selbst ein nach außen gerichtetes, gestaltendes und schaffendes Streben zu sein, muß der Wille sich mit der Freiheit unbeschränkter Wahl zwischen dem begnügen, was ihm von dorther geboten wird.“ Die Sinnwidrigkeit dieses letzteren Beginnens ist schon im unmittelbaren Erleben handgreiflich: wir „fühlen“ uns ja gerade durch jene „irrationalen“ Elemente unseres Handelns entweder (zuweilen) geradezu „nezessitiert“ oder doch in einer unse[363]rem „Wollen“ nicht „immanenten“ Weise mitbestimmt.48 [363]In seiner Kritik an Stammler wird Weber von „Mitbestimmungsgründen“ sprechen. Vgl. Weber, Stammler, unten, S. 549. Für die „Deutung“ des Historikers ist die „Persönlichkeit“ nicht ein „Rätsel“, sondern umgekehrt das einzig deutbar „Verständliche“, was es überhaupt gibt, und menschliches HandelnNxMWG: Handelns Druckfehler in MWG-digital korrigiert. und Sich-Verhalten an keiner Stelle, insbesondere auch nicht da, wo die Möglichkeit rationaler Deutung aufhört, in höherem Grade „irrational“ – im Sinn von „unberechenbar“ oder der kausalen Zurechnung spottend –, als jeder individuelle Vorgang als solcher überhaupt es ist, dagegen hoch hinausgehoben über die Irrationalität des rein „Natürlichen“ überall da, wo rationale „Deutung“ möglich ist. Der Eindruck von der ganz spezifischen Irrationalität des „Persönlichen“ entsteht dadurch, daß der Historiker das Handeln seiner Helden und die daraus sich ergebenden Konstellationen an dem Ideal teleologisch-rationalen Handelns mißt, statt es, wie, um Vergleichbares zu vergleichen, geschehen müßte, mit dem Ablauf individueller Vorgänge in der „toten Natur“ zu konfrontieren. Am allerwenigsten aber sollte irgend ein Begriff von „Willensfreiheit“ mit jener Irrationalität je in Beziehung gesetzt werden. Gerade der empirisch „frei“, d. h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner [A 109]Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine „Willensfreiheit“ herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens. Befolgt er sie zu seinem offenkundigen Schaden nicht, so werden wir zur Erklärung – neben anderen möglichen Hypothesen – eventuell gerade auch die in Betracht ziehen, daß ihm die „Willensfreiheit“ mangelte. Gerade die „Gesetze“ der theoretischen Nationalökonomie setzen, ganz ebenso wie natürlich auch jede rein rationale Deutung eines historischen Einzelvorganges, das Bestehen von „Willensfreiheit“ in jedem auf dem Boden des Empirischen überhaupt möglichen Sinn des Wortes notwendig voraus.

In irgendeinem andern als jenem Sinn zweckvoll-rationalen Handelns gefaßt, steht dagegen das „Problem“ der „Willensfreiheit“ in allen Formen, die es überhaupt annehmen kann, durchaus [364]jenseits des Betriebes der Geschichte und ist für sie ohne alle Bedeutung.

Die „deutende“ Motiverforschung des Historikers ist in absolut dem gleichen logischen Sinn kausale Zurechnung wie die kausale Interpretation irgendeines individuellen Naturvorganges, denn ihr Ziel ist die Feststellung eines „zureichenden“ Grundes (mindestens als Hypothese) genau so, wie dies bei komplexen Naturvorgängen, falls es auf deren individuelle Bestandteile ankommt, allein das Ziel der Forschung sein kann.49 [364]Vgl. Schopenhauer, Satz vom Grunde (wie oben, S. 54, Anm. 63), S. 144: „Bei jedem wahrgenommenen Entschluß, sowohl Anderer, als unsrer selbst, halten wir uns berechtigt, zu fragen Warum?, d. h. wir setzen als nothwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist, und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen. Ohne ein solches ist dieselbe uns so undenkbar, wie die Bewegung eines leblosen Körpers ohne Stoß, oder Zug. Demnach gehört das Motiv zu den Ursachen“. Sie kann die Erkenntnis eines So-handeln-müssens (im naturgesetzlichen Sinn), wenn sie nicht entweder dem Hegelschen Emanatismus50 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 62 mit Anm. 96. oder irgendeiner Spielart des modernen anthropologischen Okkultismus51 Als dessen Protagonist gilt Fichte, Immanuel Hermann, Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele. Neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege für Naturforscher, Seelenärzte und wissenschaftliche Gebildete überhaupt. – Leipzig: Brockhaus 1856. zum Opfer fallen will, nicht zum Erkenntnisziel machen, weil das menschliche ganz ebenso wie das außermenschliche („lebende“ oder „tote“) Konkretum, als ein irgendwie begrenzter Ausschnitt des kosmischen Gesamtgeschehens angesehen, nirgends im ganzen Umkreise des Geschehens in ein lediglich „nomologisches“ Wissen „eingeht“, ‒ da es überall (nicht nur auf dem Gebiete des „Persönlichen“) eine intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen ist, von der für einen historischen Kausalzusammenhang, logisch betrachtet, alle denkbaren einzelnen, für die Wissenschaft lediglich als „gegeben“ konstatierbaren Bestandteile als kausal bedeutsam in Betracht kommen können.52 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 184 mit Anm. 34.

Die Form, in welcher die Kategorie der Kausalität von den einzelnen Disziplinen verwendet wird, ist eben eine verschiedene, und in einem bestimmten Sinn – das ist durchaus zuzugeben – wechselt damit auch der Gehalt der Kategorie selbst, dergestalt nämlich, daß [A 110]von ihren Bestandteilen bald der eine, bald der andere grade [365]dann seinen Sinn verliert, wenn mit der Durchführung des Kausalprinzips53 [365]Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 52 mit Anm. 59. bis in die letzten Konsequenzen Ernst gemacht wird36)[365][A 110] Siehe über diese Probleme O[tto] Ritschl, Die Kausalbetrachtung in den Geisteswissenschaften (Bonner Universitätsprogramm von 1901).57 Ritschl, Causalbetrachtung. Es ist R[itschl] jedoch keineswegs beizutreten, wenn er im Anschluß an Münsterbergs Grundzüge der Psychologie die Grenze der wissenschaftlichen Betrachtung und speziell der Anwendbarkeit des Kausalitätsgedankens überall da findet, wo „verständnisvolles Nacherleben“ eines Vorganges erstrebt werde.58 Vgl. ebd., S. 41. Richtig ist nur, daß keine Kausalbetrachtung welcher Art immer dem „Erleben“ äquivalent ist. Welche Bedeutung diesem Umstande etwa für metaphysische Aufstellungen zukommen könnte, kann hier nicht untersucht werden. Allein jene mangelnde Äquivalenz gilt für jedes artikulierte „Verstehen“ von Motivationsverkettungen59 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 254. ebenfalls, und daß die Prinzipien der empirischen Kausalbetrachtung an der Grenze der „verständlichen“ Motivation Halt machen sollten, dafür gibt es keinerlei ersichtlichen Grund. Die Zurechnung „verständlicher“ Vorgänge erfolgt nach logisch ganz denselben Grundsätzen wie die Zurechnung von Naturereignissen. Es gibt innerhalb des Kausalitätsprinzips auf dem Boden des Empirischen nur einen Knick: er liegt da, wo die Kausalgleichung60 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 46 mit Anm. 31. als mögliches oder doch als ideales Ziel der wissenschaftlichen Arbeit endet. . Ihr voller, sozusagen „urwüchsiger“ Sinn enthält zweierlei: den Gedanken des „Wirkens“ als eines, sozusagen, dynamischen Bandes54 Rickert, Grenzen, S. 420, gibt keine Antwort auf die Frage, worin das „Band zwischen Ursache und Effekt“ besteht, sondern betont nur, der „Begriff des Bandes“ müsse dem „Begriff des allgemeinen Kausalprinzips, dem der historischen Kausalität und dem des Kausalgesetzes gemeinsam sein.“ Über „dynamistische Causalbetrachtung“ vgl. Ritschl, Causalbetrachtung, S. 85, 88 f. zwischen unter sich qualitativ verschiedenen Erscheinungen auf der einen, den Gedanken der Gebundenheit an „Regeln“ auf der anderen Seite. Das „Wirken“55 Rickert, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 62, merkt an, daß er hinsichtlich des Begriffs des „Wirkens“ mit Sigwart auf „demselben Boden“ steht. Vgl. Sigwart, Logik I (wie oben, S. 5, Anm. 30), S. 41 ff., 407 f.; Sigwart, Logik II (wie oben, S. 5, Anm. 31), S. 132 ff., 464 ff. als sachlicher Gehalt der Kausalkategorie und damit der Begriff der „Ursache“ verliert seinen Sinn und verschwindet überall da, wo im Wege der quantifizierenden Abstraktion die mathematische Gleichung als Ausdruck der rein räumlichen Kausalbeziehungen gewonnen ist.56 Gemeint ist eine Kausalgleichung. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 46 mit Anm. 31. Soll ein Sinn der Kausalitätskategorie hier noch festgehalten werden, so kann es nur der einer Regel zeitlichen Aufeinanderfolgens von Bewegun[366]gen sein, und auch dieses nur in dem Sinn, daß sie als Ausdruck der Metamorphose eines seinem Wesen nach ewig Gleichen gilt.61 [366]Für Rickert, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 82 f., „entsteht“ in der „Welt des reinen Mechanismus“ „niemals etwas Neues. Die Atome sind ewig dieselben, und lediglich die potentielle oder aktuelle Bewegung geht von dem einen ihrer Complexe auf den andern über. Wenn Wirkung Veränderung voraussetzt, so wirken die Dinge selbst hier nicht mehr, sondern alles Wirken ist in die Relationsveränderungen der Dinge verlegt.“ Vgl. auch Rickert, Grenzen, S. 269, 506 f. ‒ Umgekehrt verschwindet der Gedanke der „Regel“ aus der Kausalkategorie, sobald auf die schlechthinnige qualitative Einmaligkeit des durch die Zeit ablaufenden Weltprozesses und die qualitative Einzigartigkeit auch jedes räumlich-zeitlichen Ausschnittes daraus reflektiert wird. Für eine schlechthin einmalige gesamtkosmische oder partialkosmische Entwickelung verliert dann der Begriff der Kausalregel ganz ebenso seinen Sinn, wie für die Kausalgleichung der Begriff des kausalen Wirkens, und will man für jene von keiner Erkenntnis je zu umspannende Unendlichkeit des konkreten Geschehens einen Sinn der [A 111]Kausalkategorie festhalten, so bleibt nur der Gedanke des „Bewirktwerdens“ in dem Sinn, daß das in jedem Zeitdifferential schlechthin „Neue“ eben gerade so und nicht anders aus dem „Vergangenen“ entstehen „mußte“, was aber im Grunde nichts anderes bedeutet als die Angabe der Tatsache, daß es eben schlechthin so und nicht anders in seinem „Jetzt“, in absoluter Einzigartigkeit und doch in einem Continuum des Geschehens, „entstand“.

Diejenigen empirischen, mit der Kategorie der Kausalität arbeitenden Disziplinen, welche die Qualitäten der Wirklichkeit bearbeiten, und zu ihnen gehört die Geschichte und gehören alle „Kulturwissenschaften“62 Vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62). gleichviel welcher Art, verwenden diese Kategorie durchweg in ihrer vollen Entfaltung: sie betrachten Zustände und Veränderungen der Wirklichkeit als „bewirkt“ und „wirkend“ und suchen teils aus den konkreten Zusammenhängen durch Abstraktion „Regeln“ der „Verursachung“ zu ermitteln,63 Zur generalisierenden Abstraktion vgl. Einleitung, oben, S. 16 f. teils konkrete „ursächliche“ Zusammenhänge durch Bezugnahme auf „Regeln“ zu „erklären“. Welche Rolle aber die Formulierung der „Regeln“ dabei spielt, und welche logische Form diese annehmen, ob überhaupt eine Formulierung von Regeln stattfindet, ist Frage des spezifischen Erkenntnisziels. Ihre Formulierung in [367]Gestalt von kausalen Notwendigkeitsurteilen aber ist nicht das ausnahmslosej[367]A: ausnahmlose Ziel, die Unmöglichkeit der apodiktischen Form keineswegs auf die „Geisteswissenschaften“ beschränkt. Für die Geschichte speziell folgt die Form der kausalen Erklärung überdies aus ihrem Postulat verständlicher „Deutung“. Gewiß will und soll auch sie mit Begriffen von hinlänglicher Bestimmtheit arbeiten, und erstrebt sie das nach Lage des Quellenmaterials mögliche Maximum von Eindeutigkeit der kausalen Zurechnung. Die Deutung des Historikers wendet sich aber nicht an unsere Fähigkeit, „Tatsachen“ als Exemplare in allgemeine Gattungsbegriffe und Formeln einzuordnen, sondern an unsere Vertrautheit mit der täglich an uns herantretenden Aufgabe, individuelles menschliches Handeln in seinen Motiven zu „verstehen“. Die hypothetischen „Deutungen“, welche unser einfühlendes „Verstehen“ uns bietet, werden von uns dann allerdings an der Hand der „Erfahrung“ verifiziert. Wir sahen aber an dem Beispiel mit dem Felsabsturz,64 [367]Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 275 ff. daß die Gewinnung von Notwendigkeitsurteilen als ausschließliches Ziel für jede kausale Zurechnung einer individuellen Mannigfaltigkeit des Gegebenen nur an abstrahierten Teilbeständen vollziehbar ist. So auch in der Geschichte: sie kann nur feststellen, daß ein „ursächlicher“ Zusammenhang bestimmter Art bestanden hat und dies durch die Bezugnahme auf [A 112]Regeln des Geschehens „verständlich“ machen.65 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 186 mit Anm. 41. Bleibt so die strikte „Notwendigkeit“ des konkreten historischen Geschehens für die Geschichte nicht nur ein ideales, sondern ein in der Unendlichkeit liegendes Postulat, so ist anderseits aus der Irrationalität auch jedes partialkosmischen individuellen Geschehens natürlich keinerlei für die historische Forschung spezifischer und relevanter Begriff einer indeterministischen „Freiheit“ abzuleiten. Speziell die „Willensfreiheit“ ist für sie etwas durchaus Transzendentes, und als Grundlage ihrer Arbeit gedacht geradezu Sinnloses.66 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 415 f.: „Gegen den Glauben an eine transcendente oder transcendentale Willensfreiheit soll damit nichts gesagt sein, aber es wäre doch sehr bedenklich, ihm auf die empirische Untersuchung der Geschichte einen Einfluss zu gestatten oder gar die Methode der historischen Darstellung von ihm abhängig zu machen.“ Negativ gewendet, ist die Sachlage [368]die, daß für sie beide Gedanken jenseits jeder durch sie zu verifizierenden „Erfahrung“ liegen, und beide ihre praktische Arbeit faktisch nicht beeinflussen dürfen.

Wenn sich also in methodologischen Erörterungen nicht selten der Satz findet, daß „auch“ der Mensch in seinem Handeln (objektiv) einem „immer gleichen“ (also: gesetzlichen) „Kausalnexus“ unterworfen „sei37)[368][A 112] So z. B. auch bei Schmoller in seiner früher zitierten Rezension von Knies.68 Vgl. die in Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 248 f., Fn. 9, zitierte Rezension: Schmoller, Knies2, S. 209: „ich behaupte, daß wir auch auf psychologischem Gebiete einen immer gleichen Kausalnexus annehmen müssen; freilich sind die psychologischen Gesetze der Motivation andere, als die Naturgesetze der äußeren Welt; aber der Satz der Kausalität gilt in seiner unerbittlichen Notwendigkeit für beide Gebiete gleichmäßig, während es bei Knies öfter den Anschein hat, als ob er ihn für das ,personale Element‘ historischer Verursachung leugnen wollte.“ , so ist dies eine das Gebiet der wissenschaftlichen Praxis nicht berührende und nicht unbedenklich formulierte protestatio fidei67 [368]Lat.: Glaubensbekundung. zu gunsten des metaphysischen Determinismus, aus welcher der Historiker keinerlei Konsequenzen für seinen praktischen Betrieb ziehen kann. Vielmehr ist aus dem gleichen Grunde die Ablehnung des metaphysischen Glaubens an den „Determinismus“ – in welchem Sinne immer sie gemeint sein mag ‒ seitens eines Historikers, etwa aus religiösen oder anderen jenseits der Erfahrung liegenden Gründen, prinzipiell und auch erfahrungsgemäß, so lange gänzlich irrelevant, als der Historiker in seiner Praxis an dem Prinzip der Deutung menschlichen Handelns aus verständlichen, prinzipiell und ausnahmslos der Nachprüfung an der Erfahrung unterworfenen „Motiven“ festhält. Aber: der Glaube, deterministische Postulate schlössen für irgendein Wissensgebiet das methodische Postulat der Aufstellung von Gattungsbegriffen und „Gesetzen“ als ausschließlichen Ziels ein, ist kein größerer Irrtum38) Denn wenn das „Material“ eines konkreten historischen Zusammenhanges etwa allein aus hysterisch, hypnotisch oder paranoëtisch bedingten Vorgängen bestände, welche uns, weil undeutbar, als „Natur“ gelten, – so würde das Prinzip der historischen Begriffsbildung dennoch das Gleiche bleiben: auch dann wäre nur die durch Wertbeziehungk[368]A: Wertbezeichnung hergestellte „Bedeutung“, welche einer individuellen Konstellation solcher Vorgänge im Zusammenhang mit der ebenfalls individuellen „Umwelt“ beigelegt würde, Ausgangspunkt, Erkenntnis individueller [A 113]Zusammenhänge Ziel, individuelle kau[369]sale Zurechnung Mittel der wissenschaftlichen Verarbeitung. Auch Taine, der solchen Aufstellungen gelegentlich Konzessionen macht, bleibt dabei durchaus „Historiker“.73 Gemeint ist möglicherweise Taine, Hippolyte, Der Verstand. Autorisierte deutsche Ausgabe, nach der 3. französischen Aufl. übersetzt von L. Seifried, 2 Bände. – Bonn: Emil Strauss 1880. als die ihm im umgekehrten Sinne [A 113]entspre[369]chende Annahme: irgendein metaphysischer Glaube an die „Willensfreiheit“ schlösse die Anwendung von Gattungsbegriffen und „Regeln“ auf menschliches Sich-Verhalten aus, oder die menschliche „Willensfreiheit“ sei mit einer spezifischen „Unberechenbarkeit“ oder überhaupt irgendeiner spezifischen Art von „objektiver“ Irrationalität des menschlichen Handelns verknüpft. Wir sahen,69 [369]Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 249, 274 ff. daß das Gegenteil der Fall ist. ‒

Wir haben nunmehr, nach dieser langen Abschweifung auf das Gebiet moderner Problemstellungen, zu Knies zurückzukehren und uns zunächst klar zu machen, auf welcher prinzipiellen philosophischen Basis sein „Freiheits“begriff ruht, und welche Konsequenzen dies für seine Tragweite in der Logik und Methodik der Wirtschaftswissenschaft hat. – Da zeigt sich nun alsbald, daß – und in welchem Sinne – auch Knies durchaus im Banne jener historisch gewendeten „organischen“ Naturrechtslehre steht, welche, in Deutschland vorwiegend unter dem Einfluß der historischen Juristenschule,70 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 52 f. mit Anm. 57. alle Gebiete der Erforschung menschlicher Kulturarbeit durchdrang. – Am zweckmäßigsten beginnen wir mit der Frage: welcher „Persönlichkeits“begriff denn bei Knies mit seinem „Freiheits“gedanken kombiniert ist. Es zeigt sich dabei, daß jene „Freiheit“ nicht als „Ursachlosigkeit“,71 Windelband, Zufall, S. 6 f., begreift den absoluten Zufall als „Ursachlosigkeit“. sondern als Ausfluß des Handelns aus der notwendig schlechthin individuellen Substanz der Persönlichkeit gedacht ist, und daß die Irrationalität des Handelns infolge dieses der Persönlichkeit zugeschriebenen Substanzcharakters alsbald wieder ins Rationale umgebogen wird.

Das Wesen der „Persönlichkeit“ ist für Knies zunächst: eine „Einheit“ zu sein.72 Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 107: „Alle Triebe, alle Formen, in denen sich das individuelle menschliche Leben wie das Leben ganzer Völker zu manifestieren pflegt, stehen unter dem Einflusse einer gewaltigen Strebekraft“. Diese „Einheit“ aber verwandelt sich in den Händen von Knies alsbald in den Gedanken einer naturalistisch-[370]organisch gedachten „Einheitlichkeit“,74 [370]Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 109: „Die Handlungen und Beschäftigungen des einzelnen Menschen zeigen zwar dem Gegenstande nach, welchem sie sich zuwenden, sowie hinsichtlich des Grades und der Art von Kraft, welche thätig wird, eine große Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit; aber sie lassen sich alle auf einen gemeinsamen Ursprung in einem einheitlichen Geiste des Individuums zurückführen.“ und diese wiederum wird als („objektive“) innere „Widerspruchslosigkeit“, also im letzten Grunde rational, gedeutet39)[370] Theoretisch – aber freilich recht unzulänglich – formuliert Knies seinen Ausgangspunkt dahin: „Personales Leben und Mangel eines einheitlichen Mittelpunktes ist ein kontradiktorischer Widerspruch; wo er bemerkt wird, ist er nur scheinbar.“ (S. 247).l[370]A: 247.). Der Mensch ist ein organisches Wesen und teilt daher mit allen Organismen den „Grundtrieb“ der „Selbsterhaltung“ und „Vervollkommnung“, einen Trieb, welcher – nach [A 114]Knies – als „Selbstliebe“ durchaus „normal“ und deshalb „sittlich“ ist, insbesondere keinen Gegensatz gegen „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“ enthält, sondern nur in seiner „Ausartung“ zur „Selbstsucht“ sowohl eine „Abnormität“ ist als, eben deshalb, im Widerspruch mit jenen sozialen „Trieben“ steht (S. 161).75 Ebd., S. 160 f. Beim normalen Menschen sind hingegen jene beiden Kategorien von „Trieben“ nur verschiedene „Seiten“ eines und desselben einheitlichen Vervollkommnungsstrebens (S. 165), und liegen mit dem von Knies gelegentlich (ebendort) als „dritter wirtschaftlicher“ – soll heißen: „wirtschaftlich relevanter“76 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 162 ff. – „Haupttrieb“ bezeichneten „Billigkeits- und Rechtsinn“ ungeschieden in der Einheit der Persönlichkeit.77 Knies, Oekonomie1, S. 165, unterscheidet zwischen erstens dem „Streben nach dem Eigenwohle“, das den Einzelnen im Verhältnis zu sich selbst zeigt; zweitens dem „Gemeinsinn“, der den Einzelnen im Verhältnis zum Ganzen zeigt; und drittens einem Trieb, der die „Beschränkung des Strebens nach dem Eigenwohle zu Gunsten des Nächsten“ herbeiführt und damit den Einzelnen im Verhältnis zum einzelnen Anderen zeigt: „Auch hier handelt es sich um keine Abstraktion, sondern um eine Wahrheit des wirklichen Lebens, welche aus der sittlichen Natur und Entwicklung des Menschen hervorgeht.“ An die Stelle der konstruktiven Allgemeinheit bestimmter konkreter „Triebe“, insbesondere des „Eigennutzes“, in der älteren Nationalökonomie, und an Stelle des auf dieser Grundlage aufgebauten religiös bedingten ethischen Dualismus der Triebe bei Roscher,78 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 84 f. tritt bei Knies die konstruk[371]tive Einheitlichkeit des konkreten Individuums in sich,79 [371]Vgl. auch Webers Notizen zu Knies, abgedruckt im Anhang, unten, S. 627, 645. welche daher mit „fortschreitender Kulturentwickelung“ die „einseitige Ausbildung“ des „Eigennutzes“ nicht etwa häufiger, sondern – so nach Knies’ Meinung im 19., im Gegensatz gegen das 18. Jahrhundert – immer seltener werden läßt.80 Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 161 ff. Nach einer Erörterung der starken Entwickelung charitativer Arbeit in der Neuzeit fährt er fort: „Und wenn solche Werktätigkeit nur Spenden des Erworbenen erkennen läßt, also dem Eigennutz im Verbrauch widersagt, wäre es nicht schon an sich ein unlösbarer psychologischer Widerspruch, wenn man sich die Massen dagegen im Erwerb, auf den Bahnen der Produktion, nur von Selbstsucht und Eigennutz erfüllt denken sollte, unbekümmert um das Wohl des Nächsten und um das Gemeinwohl, so lange sie Güter zu gewinnen streben?“40)[371][A 114] Ähnlich und hinsichtlich des rationalen Charakters dieser Konstruktion noch deutlicher: „Die Selbstliebe des Menschen enthält in ihrem Begriff (!) keinen Widerspruch gegen die Liebe zur Familie, zum Nächsten, zum Vaterlande. Die Selbstsucht enthält diesen Widerspruch, sie hat ein privatives und rein negatives Element, das unvereinbar ist mit der Liebe zu allem, was nicht mit dem Ich des einzelnen zusammenfällt.“ (S. 160/161).m[371]A: 160/161.)83 Knies, Oekonomie2, S. 160 f. (S. 164/5.)81 Ebd., S. 164 f. Und doch steht die Erfahrung aller derjenigen, welche jenen Unternehmertypus, den das heroische Zeitalter des Kapitalismus gezeitigt hat, entweder aus der Geschichte oder aus eigener Anschauung in den Nachzüglern, die er auch heute noch besitzt, kennen, dem schnurstracks entgegen, und ganze Kulturmächte wie der Puritanismus, tragen jenes nach Knies „psychologisch“ widerspruchsvolle Gepräge. Allein, wie die Anm. 40 zitierte Berufung [A 115]auf den „Begriff“ der „Selbstliebe“ zeigt: das Individuum darf eben kein „Mensch mit seinem Widerspruch“ sein, – es ist ein „ausgeklügelt Buch“,82 Vgl. Meyer, Conrad Ferdinand, Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. – Leipzig: H. Haessel 1872, S. 41: „Neidlose Liebe lehrt das Christentum – Und nur dem Deutschen gönn’ ich Macht und Ruhm. Das heißt: ich bin kein ausgeklügelt Buch, Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ weil es eben sonst nicht dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit genugtun würde.

[372]Aus diesem Begriff der psychologischen „Einheitlichkeit“ des Individuums folgert nun Knies für die Methodik seine wissenschaftliche Unzerlegbarkeit. Der Versuch der „Zerlegung“ des Menschen in einzelne „Triebe“ ist nach ihm der Grundfehler der bisherigen (klassischen) Methode41)[372][A 115] „Der Chemiker mag den ,elementaren‘, ,reinen‘ Körper aus den Verbindungen, in denen derselbe vorkommt, ausscheiden und als für sich ausscheidbaren Körper auf alles weitere hin untersuchen. Dieser elementare Körper ist auch als solcher in der Verbindung real vorhanden und wirksam. Die Seele des Menschen dagegen ist ein Einheitliches, nicht in Teile Zerlegbares, und die Seele des ,von Natur sozialen Menschen‘ mit einem für sich verselbständigt scheidbaren Triebe des reinen Eigennutzes ist eine theoretisch unzulässige Annahme“ usw. (S. 505).85 Knies, Oekonomie2, S. 505. Knies wendet sich mit seiner Ablehnung von „Zerlegung“ gegen den analytischen Aspekt der Methode der abstrakten Nationalökonomie. Vgl. Einleitung, oben, S. 15 ff. . – Man könnte glauben, Knies habe mit dieser letzten Äußerung jener Auffassung den Krieg erklärt, welche – Mandeville und Helvetius wie ihre Gegner – die Lehrsätze der theoretischen Nationalökonomie aus einem konstruierten Triebleben des Menschen ableiten zu müssen glaubte und deshalb, da der für sie entscheidende „Trieb“, der „Eigennutz“, nun einmal ein bestimmtes ethisches Vorzeichen trägt, Theorie und Theodizee, Darstellung und Beurteilung hoffnungslos in eine noch heute nachwirkende Verquickung miteinander brachten[372]A: brachten. In der Tat nähert sich Knies wenigstens an einer Stelle der richtigen Auffassung der Grundlagen der ökonomischen „Gesetze“ in hohem Maß: „Von Anfang an,“ heißt es in einem gegen Roschers Konstruktion der „Triebe“ gerichteten, freilich wenig klar formulierten Satz (S. 246), „wird (scil. bei Rau und Roscher) in dem Hinweis auf die ,Äußerungen des Eigennutzes‘ nicht zwischen dem ,Prinzip der Wirtschaftlichkeit‘ in einer – objektiviertenHaushaltsführung und dem seelischen Trieb des Eigennutzes und der Selbstsucht in dem menschlichen Subjekte unterschieden.“84 [372]Vgl. Knies, Oekonomie2, S. 246, mit Bezug auf Roscher, System I1, und ebd., S. 248, mit Bezug auf Rau, Lehrbuch, sowie Rau, Karl Heinrich, Bemerkungen über die Volkswirthschaftslehre und ihr Verhältnis zur Sittenlehre, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Band 26, 1870, S. 106–121. Man sieht, es liegt hier die Erkenntnis ungemein nahe, daß die ökonomischen „Gesetze“ [373]Schemata rationalen Handelns sind, die nicht durch psychologische Analyse86 [373]Im Sinne von „Zerlegung“. Vgl. oben, S. 372, Fn. 41 mit Anm. 85. der Individuen, sondern durch idealtypische Wiedergabe des Preiskampfs-Mechanismus aus der so in der Theorie hergestellten objektiven Situation deduziert werden, welche da, wo sie „rein“ zum Ausdruck kommt, dem in den Markt verflochtenen Individuum nur die Wahl läßt [A 116]zwischen der Alternative: „teleologische“ Anpassung an den „Markt“ oder ökonomischer Untergang. Indessen hat Knies aus dieser vereinzelt auftauchenden Erkenntnis keine methodologischen Konsequenzen gezogen: wie schon die früher zitierten Stellen zeigen,87 Oben, S. 369 ff. und wir immer wieder sehen werden, bleibt bei ihm in letzter Instanz der Glaube unerschüttert, man bedürfe, um zu begreifen, daß Fabrikanten generell ihre Rohstoffe billig zu kaufen und ihre Produkte teuer zu verkaufen beabsichtigen, eigentlich nicht viel weniger als einero[373]A: eine Analyse des gesamten empirischen menschlichen Handelns und seiner psychologischen Triebfedern überhaupt. – Vielmehr hat die Ablehnung der „Zerlegung“ des „Individuums“ bei ihm einen andern Sinn: „Weil … die Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen wie die eines ganzen Volkes sich aus einem einheitlichen Springquell erschließt, alle Erscheinungskreise der menschlichen Tätigkeit sich auf eine Totalität zurückbeziehen und eben deshalb untereinander in Wechselwirkung stehen, so können weder die Triebfedern der wirtschaftlichen Tätigkeit, noch auch die ökonomischen Tatsachen und Erscheinungen ihren eigentlichen Charakter, ihr ganzes Wesen offenbaren, wenn sie nur isoliert ins Auge gefaßt werden“ (S. 244).88 Knies, Oekonomie1, S. 244. Mit „isoliert“ ist die isolierende Abstraktion gemeint. Vgl. Einleitung, oben, S. 16; vgl. auch Anhang, unten, S. 645 f. Der Satz zeigt zunächst, daß Knies – in diesem Punkt durchaus wie Roscher denkend89 Vgl. Roscher, System I2, S. 19 (§§ [12]); in dieser Auflage wird § 12 fälschlicherweise als § 13 bezeichnet. – seine „organische“ Theorie vom Wesen des Individuums im Prinzip auch auf das „Volk“ anwendet.90 Vgl. dazu auch Knies, Oekonomie1, S. 107, 247. Was unter einem „Volk“ im Sinn seiner Theorie zu verstehen ist, hält er dabei nicht nötig zu bestimmen: er hält es augenscheinlich für ein [374]in der gemeinen Erfahrung eindeutig gegebenes Objekt42)[374][A 116] „Es gibt Gegenstände, für deren begriffliche Feststellung aus der allgemeinen Lebenserfahrung alle nötigen Elemente unwiderlegbar dargeboten werden, so daß sie immer gefunden werden, wenn auf sie verwiesen wird, und andere, deren Feststellung in gewisser Beziehung nur Sache des Übereinkommens ist, so daß sie nur unter bestimmten Voraussetzungen allgemeingültig werden kann. Zu den ersteren gehört der Begriff des Volkes, zu den letzteren der der Wirtschaft.“ (S. 125).p[374]A: 125.)95 Knies, Oekonomie1, S. 125. und identifiziert es gelegentlich ausdrücklich (S. 490) mit der staatlich organisierten Gemeinschaft.91 [374]Vgl. Knies, Oekonomie2, S. 490: „Das Untersuchungs-Object der politischen Oekonomik […] wird, im allgemeinen betrachtet, von dem wirtschaftlichen Bezirk des staatlich organisierten Gemeinschaftslebens der Völker mit ihrem besonderen territorialen Besitztum und ihrer Rechtsordnung erstellt“. Diese Gemeinschaft nun ist ihm nicht nur, selbstverständlich, etwas anderes als die „Summe der Individuen“, sondern dieser letztere Umstand ist ihm nur eine Folge des viel allgemeineren Prinzips, daß überall und notwendig ‒ wie er (S. 109) es ausdrückt – „ein ähnlicher Zusammenklang“ (nämlich wie zwischen den Lebensäußerungen einer „Persönlichkeit“) „auch aus den Lebensäußerungen eines ganzen Volkes [A 117]heraustönt“.92 Vgl. dazu die Erläuterung des Begriffs „Diapason“ in: Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 77, Fn. 63 mit Anm. 61. Denn: „Wie von einem einheitlichen Kern aus umfaßt das geschichtliche Dasein eines Volkes die verschiedenen Lebenskreise.“93 Knies, Oekonomie1, S. 109. Daß unter dieser „Einheitlichkeit“ mehr als die nur rechtliche oder die durch gemeinsame historische Schicksale, Traditionen und Kulturgüter bedingte historisch erwachsene gegenseitige Beeinflussung aller Lebensgebiete zu verstehen ist, daß vielmehr für Knies umgekehrt die „Einheitlichkeit“ das prius ist, aus welchem die Kultur des Volkes emaniert, ergibt sich nicht nur aus der oben zitierten,94 Oben, S. 373. mehrfach wiederkehrenden Parallele zwischen der „Totalität“ beim Individuum und beim Volk, sondern auch aus zahlreichen anderen Äußerungen. Jene „Totalität“ bedeutet insbesondere auch beim Volk eine einheitliche psychologische Bedingtheit aller seiner Kulturäußerungen: die „Völker“ sind auch für Knies Träger einheitlicher „Triebkräfte“. Nicht die einzelnen geschichtlich werdenden und empirisch konstatierbaren Kulturer[375]scheinungen sind Komponenten des „Gesamtcharakters“, sondern der „Gesamtcharakter“ ist Realgrund96 [375]Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 53 mit Anm. 63. der einzelnen Kulturerscheinungen: er ist nicht etwas Zusammengesetztes, sondern das Einheitliche, welches sich in allem einzelnen auswirkt; – zusammengesetzt ist – im Gegensatz zu den natürlichen Organismen ‒ nur der „Körper“ des Volksorganismus43)[375][A 117] Darüber vgl. S. 164:98 Knies, Oekonomie2, S. 164. „Wir sind nicht etwa nur berechtigt, sondern in der Tat dazu gedrängt, die Volkswirtschaft mit ihrer gesellschaftlichen Gliederung und ihrer staatlichen Rechtsordnung als ein organisches Gebilde aufzufassen. Nur handelt es sich hier um einen Organismus einer höheren Ordnung, dessen besonderes Wesen dadurch bedingt ist, daß er nicht ein naturaler Individualorganismus ist, wie die pflanzlichen und die tierischen Organismen, sondern ein ,zusammengesetzter Körper‘, ein als Kulturprodukt erwachsener Kollektivorganismus, dessen zu gleichzeitigem Einzelleben ausgerüsteten und berufenen Elemente Individualorganismen mit ihrer für die Erhaltung der Gattung erforderlichen Geschlechtsverbindung sind.“. Die einzelnen „Seiten“ der Kultur eines Volkes sind daher in keiner Weise gesondert und für sich, sondern lediglich aus dem einheitlichen Gesamtcharakter des Volkes heraus wissenschaftlich zu begreifen. Denn ihr Zusammenschluß zu einer „Einheit“ ist nicht etwa bedingt durch gegenseitige „Angleichungs“- und „Anpassungs“-Prozesse, oder wie immer sonst man die durch den Allzusammenhang97 Vgl. ebd., oben, S. 58, Fn. 25 mit Anm. 84. des Geschehens bedingten gegenseitigen Beeinflussungen alles „Einzelnen“ unter sich bezeichnen will, sondern umgekehrt: der notwendig in sich einheitliche und widerspruchslose „Volkscharakter“ „strebt“ seinerseits stets und unvermeidlich dahin, unter allen Umständen einen Zustand der Homogenität auf und [A 118]zwischen allen Gebieten des Volkslebens herzustellen44)[A 118] Folgende Stellen werden das hinlänglich illustrieren: „Möge auch im Fortgange der Zeit die Triebkraft der Entwickelung sich in einzelnen Gebieten zuerst weiteren Raum verschaffen …. es wird immer die Fortbewegung über das Ganze sich erstrecken und alle Teile in Homogenität zu erhalten streben.“ (S. 114).q[375]A: 114.)99 Knies, Oekonomie1, S. 114. Ganz entsprechend weiterhin S. 118:1 Ebd., S. 115. „Wie man die Einsicht in die volkswirtschaftlichen Zustände einer Zeit im allgemeinen erst dann erlangt haben wird, wenn man dieselben in ihrer Verbindung mit den Gesamterscheinungen des geschichtlichen Volkslebens erfaßt hat, so wird man auch innerhalb des ökonomischen Ringkreises insbesondere die geschichtliche Bedeutsamkeit einer einzelnen Entwickelungsform nur durch die Erfassung des Paralle[376]lismus, der aus der analogen Gestaltung aller übrigen hervorblickt, zu erkennen vermögen.“ „Nicht bloß, daß alle speziellen Parteien der Volkswirtschaft untereinander in einem auf die Haltung und den Charakter der Gesamtwirtschaft, als auf ihre Erklärung hinweisenden Zusammenhang stehen, sondern eben dieses Ganze steht auch seinerseits in unlöslicher Verbindung mit dem Gesamtleben des Volkes. Auf diese Verbindung wird man immer wieder hingewiesen, so oft man sich die Frage nach den Ursachen vorlegt, aus denen wirtschaftliche Zustände hervorgewachsen sind, und umgekehrt wird man, wenn man die Wirkungen der letzteren nachzuweisen sucht, auch auf die Erscheinungen der übrigen Lebenskreise eintreten müssen.“ (S. 111).sA: 111.)5 Knies, Oekonomie1, S. 111. „Daher bleibt immer die Gemeinsamkeit des allgemeinen Charakters erhalten, der in den verschiedenen Erscheinungsgebieten hervortritt; alle Formen des äußeren Lebens stellen sich als Gebilde einheitlicher Triebkräfte dar, die sich überall zur Geltung zu bringen suchen und deren Entwickelungen die Wandlungen dieser Formen vermitteln, dieselben nach einer Richtung hin zu bewegen suchen.“ (Ebendort.) Und endlich: „Es können sich wohl Neugestaltungen als die Ergebnisse einer vorgeschrittenen Entwickelung im allgemeinen Volksleben auf einem einzelnen Gebiete zuerst in deutlicherer Gestaltung, mit scharf ausgeprägtem Charakter herausbilden, aber dieses partielle Dasein ist nur die Erscheinung des allmählichen Werdens, das sich in einer das Gesamtleben umfassenden Reihe nicht bloß gleichzeitiger, sondern auch aufeinander folgender Umbildungen vollzieht.“ (S. 110).tA: 110.). Die Natur dieser dunklen, der vita[376]listischen „Lebenskraft“2 [376]Vgl. Driesch, Hans, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. – Leipzig: J. A. Barth 1905, S. 82 ff. Vgl. bereits Weber, Objektivität, oben, S. 180 mit Anm. 22. gleichartig gedachten Macht wird nicht zu analysieren versucht: sie ist, wie der Roschersche „Hintergrund“,3 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 68 f., 90. eben das schlechthin letzte Agens, auf welches man bei der Analyse historischer Erscheinungen stößt. Denn wie in den Individuen dasr[376]A: Das, was ihre „Persönlichkeit“, ihren „Charakter“ ausmacht, den Charakter einer „Substanz“ hat – dies ist ja doch der Sinn der Kniesschen Persönlichkeitstheorie –, so ist eben hier dieser Substanzcharakter ganz im Geist der Romantik auch auf die „Volksseele“ übertragen, – eine metaphysische Abblassung von Roschers frommem Glauben daran, daß die „Seelen“ der einzelnen wie der Völker direkt aus Gottes Hand stammen.4 Vgl. Roscher, Gedanken, S. 127: „Alle einzelnen Völker, die neben und nach einander gelebt haben, werden zusammengefaßt als Menschheit. Wer möchte das Vorhandensein eines Standpunktes leugnen, für welchen die Menschheit nur Ein großes Ganzes bildet, alle bunte Mannichfaltigkeit ihres Lebens nur einen großen Plan, Einen ,wunderbaren, herrlich hinausgeführten‘ Rathschluß Gottes? (Jes. 28,29).“

Und über den „Organismen“ der einzelnen Völker steht endlich [A 119]der höchste organische Zusammenhang: derjenige der [377]Menschheit.6 [377]Vgl. Roscher, System I2, S. 541 (§ 266). Die Menschheitsentwickelung kann aber, da sie eben ein „organischer“ Zusammenhang ist, nicht ein Nach- und Miteinander von Völkern darstellen, deren Entwickelung in den historisch relevanten Beziehungen je einen Kreislauf bildete, – das wäre ja ein „unorganisches“ Hinter- und Nebeneinander von Gattungswesen, – sondern sie ist als eine Gesamtentwickelung aufzufassen, in der jedes Volk seine geschichtlich ihm zugewiesene, daher individuelle, Rolle spielt.7 Vgl. Knies, Oekonomie1, S. 120. In dieser, dem Kniesschen Buch überall stillschweigend zugrunde liegenden geschichtsphilosophischen Auffassung liegt der entscheidende Bruch mit Roschers Gedankenwelt.8 Für Knies, ebd., S. 122, hat sich Roscher „zu sehr […] der Ansicht von dem Kreislaufe der menschlichen Dinge auch auf dem ökonomischen Gebiete hingegeben“. Denn aus ihr folgt, daß für die Wissenschaft die Einzelnen ebenso wie die Völker nicht in letzter Instanz als „Gattungswesen“ in ihren generell gleichen Qualitäten, sondern eben als „Individuen“ in ihrer – vom Standpunkt der „organischen“ Auffassung aus gesprochen: – „funktionellen“ Bedeutung in Betracht kommen müssen, und wir werden sehen,9 Der unten, S. 379, in Aussicht gestellte weitere Artikel folgte nicht. daß diese Auffassung in der Tat in der Kniesschen Methodologie äußerst kräftig zum Ausdruck gelangt.

Allein: der metaphysische oder, logisch ausgedrückt: der emanatistische Charakter der Kniesschen Voraussetzungen: die Auffassung der „Einheit“ des Individuums als einer real, sozusagen biologisch wirkenden „Kraft“, führte auf der andern Seite, sobald sie nicht gänzlich in anthropologische verkleidete Mystik umschlagen wollte, mit Notwendigkeit doch auch jene rationalistischen Konsequenzen wieder in die Erörterung hinein, welche dem Epigonentum des Hegelschen Panlogismus10 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 70 mit Anm. 24. als Erbe von dessen großartigen Konstruktionen anhaften blieben. Dahin gehört vor allem die der emanatistischen Logik11 Vgl. ebd., oben, S. 62 mit Anm. 96. in ihrem Decadence-Stadium so charakteristische Ineinanderschiebung von realem Kollektivum und Gattungsbegriff. Es ist, sagt Knies (S. 345)12 Knies, Oekonomie1, S. 345. „festzustellen, daß in allem menschlichen Leben und Wirken etwas Ewiges und Gleiches [378]ist, weil kein einzelner Mensch zur Gattung gehören könnte, wenn er nicht gerade so mit allen Individuen zum gemeinsamen Ganzen verbunden wäre, und daß dieses Ewige und Gleiche auch in den Gemeinwesen zur Erscheinung gelangt, weil diese die Eigentümlichkeit der Einzelnen doch immer zur Basis haben.“ Man sieht: „allgemeiner“ Zusammenhang und „allgemeiner“ Begriff, reale Zugehörigkeit zur Gattung und Subsumtion unter den Gattungsbegriff gehen hier ineinander über. Wie von Knies die „Einheitlichkeit“ der realen Totalität als begriffliche „Widerspruchslosigkeit“ gefaßt wurde, so wird hier der reale Zusammenhang der Menschheit und ihrer Entwickelung [A 120]doch wieder zu einer begrifflichen „Gleichheit“ der in sie eingefügten Individuen. Dazu tritt nun ein weiteres: die Identifikation von „Kausalität“ und „Gesetzlichkeit“, welche gleichfalls ein legitimes Kind der panlogistischen Entwickelungsdialektik und nur auf ihrem Boden konsequent durchführbar ist: „Wer die Volkswirtschaftslehre als eine Wissenschaft ansieht, der wird es keinem Zweifel unterwerfen, daß es sich in derselben um Gesetze der Erscheinung handelt. Die Wissenschaft unterscheidet sich eben so von dem bloßen Wissen, daß dieses in der Kenntnis von Tatsachen und Erscheinungen besteht, die Wissenschaft aber die Erkenntnis des Kausalitätszusammenhanges zwischen diesen Erscheinungen und den sie hervorbringenden Ursachen vermittelt und die Feststellung der auf dem Gebiete ihrer Untersuchungen hervortretenden Gesetze der Erscheinung erstrebt“ – sagt Knies (S. 235).u[378]A: 235.)13 [378]Ebd., S. 235. Schon nach allem was wir im Eingang dieses Abschnittes über die „Freiheit“ des Handelns, den Zusammenhang zwischen „Persönlichkeit“ und Irrationalität bei Knies hörten, muß diese Bemerkung auf das äußerste erstaunen, – und wir werden alsbald bei Betrachtung seiner Geschichtstheorie sehen,14 Wie oben, S. 377, Anm. 9. Vgl. aber die „Nervi“-Notizen im Anhang, unten, S. 648 ff. daß mit jener Irrationalität strenger Ernst gemacht wird. Zur Erklärung dient eben der Umstand, daß hier unter „Gesetzlichkeit“ nur das durchgängige Beherrschtsein der realen Entwickelung der Menschheitsgeschichte durch jene einheitliche, hinter ihr stehende „Triebkraft“ zu verstehen ist, aus welcher alles einzelne als ihre Äuße[379]rungsform emaniert. Der Bruch in der erkenntnistheoretischen Grundlage ist bei Knies wie bei Roscher durch jene verkümmerten und nach der anthropologisch-biologischen Seite abgebogenen Reste der großen Hegelschen Gedanken zu erklären, welche für die Geschichts-, Sprach- und Kulturphilosophie verschiedener noch in den mittleren Jahrzehnten des abgelaufenen Jahrhunderts einflußreicher Richtungen so charakteristisch warenv[379]A: war. Bei Knies ist zwar der Begriff des „Individuums“, wie nach der vorstehenden Darstellung sich vermuten läßt und wie sich bald näher zeigen wird,15 [379]Wie oben, S. 377, Anm. 9. wieder zu seinem Rechte gelangt an Stelle des Naturalismus der Roscherschen Kreislauftheorie. Aber die in ihren Grundlagen emanatistischen Vorstellungen über seinen realen substanziellen Charakter sind mit daran schuld, daß die Kniessche Theorie den Versuch, das Verhältnis zwischen Begriff und Realität zu ermitteln, gar nicht unternahm und daher, wie wir ebenfalls sehen werden,16 Wie oben, S. 377, Anm. 9. nur wesentlich negative und geradezu destruktive Resultate zeitigen konnte.wIn A folgt: (Ein weiterer Artikel folgt.)