MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Geleitwort [zum „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“]. 1904. [zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart]
(in: MWG I/7, hg. von Gerhard Wagner in Zusammenarbeit mit Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn)
Bände

[125][A I]Geleitwort.

Als das „Archiv“ vor nunmehr einem halben Menschenalter ins Leben trat,1[125] Vgl. Braun, Heinrich, Abschiedswort, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 18, 1903, S. V f. (hinfort: Braun, Abschiedswort), hier S. V: „Als ich vor mehr als einem halben Menschenalter das Archiv ins Leben rief […]“. Das erste Heft war 1888 publiziert worden. übte es, besonders auf uns Jüngere,2 Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 3, hatte 1897 das „Archiv“ als Organ „der ‚jüngeren‘ Socialpolitiker bürgerlicher wie proletarischer Observanz“ charakterisiert; es dürfe sich „mit Stolz als der Sammelpunkt der ‚Jungen‘ bezeichnen und erscheint damit auf der Höhe der Zeit. Wer in seinen Spalten den Ton angibt, sind die Leute mit der Devise: ‚Ja, also!‘, die damit entschieden einen Schritt über die ältere Generation der ‚kathedersocialistischen‘ Socialpolitiker, die Männer des ‚Ja, aber!‘, hinausgethan haben.“ eine außerordentliche Anziehungskraft aus. Daß diese Empfindung tatsächlich in weiten Kreisen geteilt wurde, zeigte der Erfolg des „Archivs“, das sich – obwohl von einem „Außenseiter“3 Nachdem seine Versuche, sich zunächst in Halle, dann in Jena zu habilitieren, aus religiösen und politischen Gründen gescheitert waren, verzichtete Heinrich Braun auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Das „Archiv“ gab er ohne universitäre Anbindung heraus. Zu Brauns Leben und Werk vgl. Braun-Vogelstein, Julie, Ein Menschenleben. Heinrich Braun und sein Schicksal. – Tübingen: Rainer Wunderlich 1932; Braun-Vogelstein, Julie, Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus. – Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1967. herausgegeben und neben alte und bewährte Zeitschriften unseres Faches tretend,4 1888 wurden der 50. und 51. Band (N. F. Band 16 und 17) der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ und der 12. Band von Gustav Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ publiziert. – doch binnen kurzem eine angesehene wissenschaftliche Stellung und einen immerhin beachtenswerten Einfluß auf das praktische sozialpolitische Streben zu erobern vermochte. Wie kam das? Wenn wir diese Frage mit dem Hinweis auf das Herausgebertalent des Begründers der Zeitschrift beantworten wollten, so wäre damit eine befriedigende Erklärung noch nicht gegeben. Denn so zweifellos dieses Talent war,5 Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 2, schildert Braun als „Redactionsgenie“. so konnte es sich doch nur darin äußern, daß es die Eigenart des „Archivs“ bestimmte. Und es drängt sich uns die andere Frage auf: worin diese Eigenart bestand?

Will man ihr gerecht werden, so wird man vor allem feststellen müssen, daß es in gewisser Hinsicht einen neuen Typus in der sozi[126]alwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur geschaffen hat oder zu schaffen wenigstens beabsichtigte. Das „Archiv“ wurde als eine „Spezialzeitschrift“6[126] Für Braun, Einführung (wie oben, S. 123, Anm. 24), S. 2, folgt das Braunsche „Archiv“ dem „Prinzip der Spezialisierung, das wie es auf jedem anderen Felde sich bewährt, auch auf dem Gebiet der staatswissenschaftlichen Zeitschriften-Litteratur seine Berechtigung besitzt“. Vgl. auch Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 1. Weber spricht in seinem „Entwurf“ von „zwingenden Gründen wissensch[aftlicher] Arbeitsteilung“. Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S. 108, Zeilen 2–3, sowie Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 117, Zeile 2. gegründet: Die „Spezialität“, die es pflegen sollte, war die „Arbeiterfrage“7 Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 2, spricht im Kontext der „socialen Frage“ von der „Lohnarbeiterfrage“ als dem „Specialarbeitsfeld“ des „Archivs“. im weitesten Verstande.

Die „Arbeiterfrage“ hatten nun auch vorher schon zahlreiche Zeitschriften in Deutschland und im Auslande gepflegt, aber der Schritt, den das „Archiv“ über seine Vorgänger hinaustat, war der, daß es die mit dem Namen der „Arbeiterfrage“ bezeichneten Probleme in einen allgemeinsten Zusammenhang stellte, daß es die „Arbeiterfrage“ in ihrer Kulturbedeutung8 Dieser Begriff findet sich in Windelband, Philosophie (wie oben, S. 117, Anm. 25), S. 19, Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62), S. 45 f., 55, und häufig in Weber, Objektivität, unten, S. 152, 162, 164, 166, 169, 181 ff., 189, 191, 201, 205 ff., 213, 219, 233. erfaßte, als den [A II]äußerlich am deutlichsten wahrnehmbaren Ausdruck eines viel größeren Erscheinungskomplexes:9 Dieser Begriff findet sich in: Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S. 14, Anm. 94), S. XXV, XXXIII und 135. des grundstürzenden Umgestaltungsprozesses, den unser Wirtschaftsleben und damit unser Kulturdasein10 Dieser Begriff findet sich in Sombart, Ideale (wie oben, S. 106, Anm. 9), S. 37. überhaupt durch das Vordringen des Kapitalismus erlebten. Den aus dieser weltgeschichtlichen Tatsache sich ergebenden praktischen Problemen die Dienste der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, sollte die Aufgabe der neuen Zeitschrift bilden. Damit aber war im wesentlichen die Eigenart des „Archivs“ bestimmt.

Die neue Zeitschrift wurde eine „Spezialzeitschrift“ nicht dem Stoffe nach (wie etwa das „Finanzarchiv“),11 Das seit 1884 erscheinende „Finanz-Archiv“ war als „Zeitschrift für das Gesamte Finanzwesen“ eine „ausschliesslich dem Finanzwesen gewidmete Zeitschrift“. Vgl. Schanz, Georg, Vorwort des Herausgebers, in: Finanz-Archiv, Jg. 1, 1884, S. III–VI, hier S. III. sondern dem Gesichts[127]punkte nach. Als ihr Arbeitsgebiet ergab sich die Behandlung aller Phänomene des wirtschaftlichen und gesamt-gesellschaftlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt der Revolutionierung durch den Kapitalismus, wobei naturgemäß die Wirkungen der sich vollziehenden Neugestaltungen auf die Lage der arbeitenden Klassen und die Rückwirkungen, die von diesen selbst oder von der Gesetzgebung ausgingen, in erster Linie Berücksichtigung finden mußten.

Wenn die neue Zeitschrift das vieldeutige und oft mißbrauchte Wort „sozial“ im Wappen führte, so geschah dies angesichts der eigenartigen Problemstellung ganz zu recht, vorausgesetzt, daß man das Wort „sozial“ in dem scharf umgrenzten Sinne gebraucht, der allein die Gewähr der Eindeutigkeit und Präzision enthält. In diesem Sinne bedeutet auch dies Wort nicht sowohl die Abgrenzung eines bestimmten Kreises von Phänomenen, als vielmehr den Gesichtspunkt, unter dem die Erscheinungen des wirtschaftlichen, wie die des übrigen gesellschaftlichen Lebens betrachtet werden: das ist die Ausrichtung aller ökonomischen Einzelphänomene auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem, also ihre Betrachtung unter dem Gesichtspunkte der historischen Bedingtheit; das ist die Aufdeckung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und allen übrigen gesellschaftlichen Erscheinungen: beides unter bewußter Beschränkung auf die Gegenwart, das heißt die durch das Vordringen des Kapitalismus gekennzeichnete Geschichtsepoche.

Die eigenartige Problemstellung des „Archivs“ brachte andere Eigenarten von selbst mit sich. Offenbar mußte die Zeitschrift, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen wollte, ohne alle Rücksicht auf nationale Schranken den Kapitalismus überall dort aufsuchen, wo er sich fand. Von Anfang an wurden deshalb sämtliche Länder [A III]mit kapitalistischer Entwicklung in die Beobachtung einbezogen. Diese systematische Ausdehnung auf ein räumlich möglichst weites Gebiet verlieh dem „Archiv“, in stärkerem Maße als anderen Organen dieses Faches, einen „internationalen“ Charakter. Die sachliche Internationalität wurde aus praktischen Gründen von selbst zu einer persönlichen Internationalität.12[127] Der Untertitel des Braunschen „Archivs“ lautete „Vierteljahresschrift“ bzw. ab 1897 „Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“. Der Untertitel wurde ergänzt durch: „In Verbindung mit einer Reihe namhafter Fachmänner des [128]In- und Auslandes“. Vgl. auch Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 2: „Die Internationalität der ‚socialen Frage‘ hat keine andere Zeitschrift so glücklich zum Ausdruck gebracht, wie das ‚Archiv‘“. Der Mitarbeiter[128]kreis umfaßte von den ersten Heften an die gesamte Kulturwelt, teilweise sogar unter auffälliger Bevorzugung des Auslandes.

Weil aber der wissenschaftliche Charakter der Zeitschrift von vornherein betont wurde13 Braun, Einführung (wie oben, S. 123, Anm. 24), S. 5, wollte „unabhängiger Forschung“ einen Ort geben, „die voraussetzungslos an ihr Objekt herantritt und nur einen einzigen Zweck verfolgt: die wissenschaftliche Wahrheit“. In Braun, Abschiedswort (wie oben, S. 125, Anm. 2), S. V f., wiederholte er, daß es ihm darum ging, „eine streng wissenschaftliche Haltung gleichermaßen gegen die Einflüsse der Regierungen, der politischen Parteien und akademischen Richtungen zu sichern.“ Dem entspricht die Haltung der neuen Herausgeber, sich jeder Schul- und Parteimeinung zu enthalten. So auch formuliert in Webers „Entwurf“ sowie in Sombarts, Webers und Jaffés „Prospekt“. Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S. 105, Zeile 14, S. 106, Zeilen 1–3, und Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 115, Zeilen 17–18. (mag sein, daß daneben die Person des Begründers von starkem Einfluß war), so rekrutierten sich die Mitarbeiter von Anfang an nicht nur aus aller Herren Länder, sondern auch aus aller Parteien Lager. Das „Archiv“ war nicht nur international, sondern auch die erste wirklich „interfraktionelle“14 Die Formulierung „interfraktionell“ findet sich in Sombart, Werner, Dennoch! Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. – Jena: Gustav Fischer 1900, S. 114. Zeitschrift unseres Faches. –

Das „Archiv“ hatte nun als eines seiner vornehmsten Arbeitsgebiete von Anfang an, neben der rein wissenschaftlichen Erkenntnis der Tatsachen, sich die kritische Verfolgung des Ganges der Gesetzgebung zur Aufgabe gemacht.15 Die Rubrik „Gesetzgebung“ nahm in den 18 Bänden unter Brauns Herausgeberschaft etwas mehr als ein Fünftel des Umfangs ein. In diese praktisch-kritische Arbeit aber spielen unvermeidlich Werturteile16 Vgl. Weber, Entwurf zur Übernahme des Archivs, oben, S. 106 mit Anm. 8. hinein, es wird neben der Sozialwissenschaft wenigstens dem Ergebnis nach auch Sozialpolitik getrieben, und es entsteht die Frage: Hatte das „Archiv“ bei dieser „praktischen“ Kritik auch eine bestimmte „Tendenz“,17 Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 2. d. h. vertraten die maßgebenden Mitarbeiter einen bestimmten „sozialpolitischen“ Standpunkt? vereinigte sie, abgesehen von ihren gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen, auch ein gewisses Maß übereinstimmender Ideale oder doch grundsätzlicher Gesichtspunkte, aus denen praktische Maximen ableitbar waren?

[129]Das war in der Tat der Fall, und in gewissem Sinn beruhte gerade auf diesem einheitlichen Charakter der Erfolg der Zeitschrift.18[129] Vgl. ebd., S. 2 f. Deshalb nämlich, weil diese praktische „Tendenz“ in den entscheidenden Punkten nichts anderes als das Resultat bestimmter Einsichten in die historische sozialpolitische Situation war, mit der gerechnet werden mußte. Sie war, mit anderen Worten, begründet in gemeinsamen theoretischen Anschauungen über die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen bei jedem Versuch praktischer sozialpolitischer Arbeit, bei der nun einmal unabänderlich gegebenen historischen Lage, ausgegangen werden müsse. Sie beruhte also auf Überzeugungen, die von persönlichen Wünschen ganz und gar unabhängig waren. Diese Einsichten, aus denen [A IV]sich die „Tendenz“ der Zeitschrift ergab, betrafen vornehmlich folgende Punkte:

1. daß der Kapitalismus ein nicht mehr aus der Welt zu schaffendes, also schlechthin hinzunehmendes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung sei, hinter das zurück, zu den patriarchalen Grundlagen der alten Gesellschaft, heute kein Weg mehr führt.

2. daß daher die alten Formen der gesellschaftlichen Ordnungen, die jenen patriarchalen Grundlagen entsprochen hatten, ob wir es nun wünschen oder nicht, neuen Platz machen werden, die den veränderten Bedingungen des Wirtschaftslebens sich anzupassen vermögen. Daraus ergab sich insbesondere, daß die Eingliederung des Proletariats, nachdem dies als Klasse durch den Kapitalismus einmal geschaffen und zum Bewußtsein seiner historischen Eigenart gelangt war, in die Kulturgemeinschaft der modernen Staaten als neues selbständiges Element, ein unabweisliches Problem aller staatlichen Politik geworden sei;

3. daß die gesellschaftliche Neugestaltung, soweit sie die Form gesetzgeberischer Eingriffe annehmen will, nur das Ergebnis einer schrittweisen, „organischen“ Umbildung historisch überkommener Zustände und Einrichtungen sein könne, bei der die Mithilfe der wissenschaftlichen Erkenntnis der historisch gegebenen Lage nicht zu entbehren sei.

Diese Grundanschauungen sind auch den neuen Herausgebern des „Archivs“ gemeinsam. Wenn dies hier ausdrücklich ausgesprochen wird, so bedeutet das natürlich nicht etwa, daß diese Ansichten in den Spalten unserer Zeitschrift außerhalb oder oberhalb der [130]Kritik stehen werden. Sondern es besagt lediglich, daß wir bei der praktischen Kritik, welche in der Zeitschrift neben der wissenschaftlichen Arbeit zur Aussprache gelangt, durch jene Einsichten geleitet sind, und daß wir uns mit den bisherigen Mitarbeitern des „Archivs“ darin einig wissen. Soweit im „Archiv“ überhaupt Sozialpolitik getrieben wird, wird dies auch künftig „Realpolitik“19[130] Der Begriff geht zurück auf Rochau, August Ludwig von, Grundsätze der Realpolitik angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. – Stuttgart: Karl Göpel 1853. Realpolitik galt als Devise Otto von Bismarcks. auf dem Boden des nun einmal unabänderlich Gegebenen sein.

Die neuen Herausgeber sind nun aber der Überzeugung, daß die heutige Lage, gegenüber der Art[,] wie das „Archiv“ in den ersten Jahren seines Bestehens seiner Aufgabe gerecht zu werden suchte, eine Änderung in doppelter Hinsicht erfordert, und beabsichtigen, dieser veränderten Situation bei der Gestaltung der Zeitschrift Rechnung zu tragen.20 Sombart, Zeitschriften (wie oben, S. 106, Anm. 8), S. 3, hatte 1897 darauf hingewiesen, daß das Braunsche „Archiv“ nach „zwei Richtungen“ hin „einer Reform bedürftig“ sei: „Zunächst muß es dafür sorgen, noch mehr als bisher ‚Vollständigkeit‘ zu erreichen; wirklich ein ‚Archiv‘ für die ‚sociale Frage‘ zu werden, in der alles gesetzliche und thatsächliche Material zur Beurtheilung der socialen Probleme der Gegenwart sich aufgestapelt findet. Sodann müssen die Zielpunkte socialer Politik mit mehr Eifer als bisher auch theoretisch klar gestellt werden: die ,principiellen‘ Erörterungen müssen mehr, als es geschehen ist, gepflegt werden.“ Auf die Behandlung „prinzipieller“ Grundlagen und Fragen kommen auch Sombart, Weber und Jaffé in ihrem „Prospekt“ zu sprechen. Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 117, Zeilen 8–13.

[A V]Zunächst muß heute das Arbeitsgebiet des „Archivs“, was bisher nur tastend und von Fall zu Fall geschah, grundsätzlich erweitert werden. Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theoretische Erkenntnis21 Sombart will den „Gegensatz“ von „Empirie und Theorie“, der seit dem Methodenstreit in der Nationalökonomie diskutiert wurde, mit „historisch-theoretischen Betrachtungen“ überwinden. Vgl. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S. 14, Anm. 94), S. Χ, ΧΧΙΧ, XXXII. Auch für Weber ist die „theoretische und historische Betrachtungsform noch immer durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt“; das Wort „Sozialwissenschaft“ soll „die geschichtliche und theoretische Beschäftigung mit den gleichen Problemen umfassen, deren praktische Lösung Gegenstand der ,Sozialpolitik‘ im weitesten Sinne dieses Wortes ist“. Vgl. Weber, Objektivität, unten, S. 161 und 166. der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung22 Zum Begriff „Kulturbedeutung“ vgl. oben, S. 126 mit Anm. 8. als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in dessen Dienst sie steht. Und gerade weil [131]sie selbst von einem durchaus spezifischen Gesichtspunkt ausgeht und ausgehen muß: dem der ökonomischen Bedingtheit der Kulturerscheinungen, kann sie nicht umhin, sich in engem Kontakt mit den Nachbardisziplinen[,] der allgemeinen Staatslehre, der Rechtsphilosophie, der Sozialethik, mit den sozial-psychologischen und den gewöhnlich unter dem Namen Soziologie zusammengefaßten Untersuchungen zu halten.23[131] Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 116 f. Wir werden die wissenschaftliche Bewegung auf diesen Gebieten namentlich in unseren systematischen Literaturübersichten eingehend verfolgen. Wir werden besondere Aufmerksamkeit denjenigen Problemen zuwenden müssen, die gewöhnlich als sozialanthropologische bezeichnet werden, den Fragen also nach der Rückwirkung der ökonomischen Verhältnisse auf die Gestaltung der Rassenauslese einerseits,24 Vgl. ebd., oben, S. 118 mit Anm. 28. nach der Beeinflussung des ökonomischen Daseinskampfes und der ökonomischen Institutionen durch ererbte physische und psychische Qualitäten andererseits.25 Vgl. Weber, Objektivität, unten, S. 163. Dazu, daß der dilettantische Charakter, den die Behandlung dieser Grenzfragen zwischen Biologie und Sozialwissenschaft bisher an sich trug,26 Von Dilettantismus sprechen Sombart und Weber. Vgl. Sombart, Ideale (wie oben, S. 106, Anm. 9), S. 24, und Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S. 14, Anm. 94), S. 166, 380. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 77, und Weber, Objektivität, unten, S. 168 und 170 mit Bezug auf die „Rassenbiologie“. in Zukunft überwunden werde, möchten auch wir unseren Teil beitragen.

Die zweite Änderung betrifft eine Verschiebung in der Form der Behandlung.

Als das „Archiv“ begründet wurde, schwebte dem Herausgeber als wichtigste Aufgabe, die es zu erfüllen haben sollte, die Materialsammlung vor.27 Für Braun, Einführung (wie oben, S. 123, Anm. 24), S. 4, lassen die „teilweise rohe Gestalt“ des Datenmaterials, die „Verschiedenheit der methodischen Gesichtspunkte, nach denen eine Bearbeitung stattfand“, die „vielfach tendenziöse Färbung, die ihm beigemischt wurde“, sowie „der in den meisten Fällen augenblicklichen Verwaltungszwecken angepasste Charakter der Erhebungen“ eine „unter einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkten unternommene Bearbeitung dieses Materials ebenso wünschenswert erscheinen, wie die gleichzeitige Sammlung desselben in einem zentralen Organ, da die Zerstreutheit desselben über alle Länder und in zahllosen Publikationen eine Uebersicht fast zur Unmöglichkeit macht.“ Und dem lag zweifellos ein für jene Zeit durch[132]aus richtiger Gedanke zugrunde: es müsse ein Organ geschaffen werden, das die zerstreuten sozialstatistischen Daten, ebenso wie die sich immer mehr häufenden sozialen Gesetze sammelte und in übersichtlicher Anordnung veröffentlichte. Das war für Wissenschaft und Praxis damals das erste und dringendste Bedürfnis, denn ein derartiges Sammelorgan fehlte. Aber unsere Zeit schreitet rasch weiter. Seit der Begründung des „Archivs“ im Jahre 1888 sind fast ein Dutzend Zeitschriften ins Leben getreten, deren ausschließliche Funktion jene Materialsammlung ist. Vor allem haben die Regierungen fast aller Kulturländer amtliche Organe zur Veröffentlichung [A VI]sozialstatistischer Tatsachen geschaffen: England die Labour Gazette (seit 1893), Frankreich das Bulletin de l’office du Travail (seit 1894), Belgien die Revue du Travail (seit 1896), Österreich die Soziale Rundschau (seit 1900), Deutschland das Reichsarbeitsblatt (seit 1903). Daneben besitzen die meisten Länder private Sammlungen: Deutschland die Soziale Praxis (seit 1892),28[132] Seit 1892 erschien ein „Sozialpolitisches Centralblatt“, das 1895 bei fortlaufender Zählung der Jahrgänge umbenannt wurde in „Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik. Organ des Verbandes Deutscher Gewerbegerichte“. den Arbeitsmarkt (seit 1897), Frankreich die „Questions pratiques de legislation ouvrière“ (seit 1900) usw. Und für eine fast lückenlose Veröffentlichung des gesetzgeberischen Materials sorgen das Bulletin der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (seit 1902),29 Die „Schriften der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz“ erschienen seit 1901. das Annuaire de la Legislation du Travail (publié par l’Office du Travail de Belgique, seit 1897) und wiederum andere.

Damit ist die Situation vollständig verändert. Auf der einen Seite entfällt das Bedürfnis, neben jenen mit reichen Mitteln ausgestatteten und vorzüglich arbeitenden Blättern, eine wissenschaftliche Zeitschrift wie das „Archiv“ in den Dienst der reinen Stoffsammlung zu stellen. Wir werden – was übrigens schon bisher in zunehmendem Maße geschehen ist – die sozialstatistischen Berichte einschränken und den wörtlichen Abdruck der Gesetzestexte, die bisher einen breiten Raum einnahmen, zugunsten eingehender kritischer Referate über Sinn und Bedeutung der Gesetze und ganz besonders der Gesetzes-Entwürfe, vielfach verkürzen können. Auf [133]der anderen Seite ist eine wichtige Aufgabe neu erwachsen: den ins Grenzenlose anwachsenden und in den genannten Sammelorganen aufgespeicherten Stoff durch wissenschaftliche Synthese gleichsam zu beseelen.30[133] Vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 117, Zeilen 5–6. Dem Hunger nach sozialen Tatsachen, der noch vor einem halben Menschenalter die Besten erfüllte, ist, mit dem Wiedererwachen des philosophischen Interesses überhaupt, auch ein Hunger nach sozialen Theorien gefolgt, den nach Kräften zu befriedigen eine der künftigen Hauptaufgaben des „Archivs“ bilden wird. Wir werden sowohl die Erörterung sozialer Probleme unter philosophischen Gesichtspunkten im wesentlich verstärkten Maße zu berücksichtigen haben, wie die im engeren Sinn „Theorie“ genannte Form der Forschung auf unserem Spezialgebiet: die Bildung klarer Begriffe.31 Zur Bildung „klarer Begriffe“ vgl. Weber, Objektivität, unten, S. 181 und 206 f. Denn soweit wir von der Meinung entfernt sind, daß es gelte, den Reichtum des historischen Lebens in Formeln zu zwängen, so entschieden sind wir davon überzeugt, daß nur klare eindeutige Begriffe, einer Forschung, welche die spezifische Bedeutung sozialer Kulturerscheinungen ergründen will, die Wege ebnen.

[A VII]Kein Organ aber würde heute die soziale Theorie in einer den Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit entsprechenden Weise pflegen können, das sich nicht durch erkenntniskritisch-methodologische32 In Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 117, Zeilen 8, 20, wird die Befassung mit „Erkenntniskritik“ und „methodologischen“ Grundlagen und Fragen in Aussicht gestellt. Erörterungen über das Verhältnis zwischen den theoretischen Begriffsgebilden und der Wirklichkeit auch grundsätzliche Klarheit schafft.33 Das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit ist Kernthema in Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 37–101, und in Weber, Objektivität, unten, S. 135–234. Wir werden daher die wissenschaftliche Arbeit der Erkenntniskritik34 Zur Erkenntniskritik vgl. Jaffé, Sombart, Weber, Werbetext, oben, S. 117 mit Anm. 25. Als Jaffé vom Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) ein Rezensionsexemplar von „Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage“ erhielt, antwortete er: „Da wir in Zukunft besonders auch die Erkenntnistheorie berücksichtigen werden, so sind philosophische Schriften, wie die von Rickert von grösster Bedeutung für uns.“ Vgl. Brief von Edgar Jaffé an J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) vom 20. Febr. 1904, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), [134]K. 183, und das vorangegangene Schreiben von R. Wille und R. Pflug an Edgar Jaffé vom 19. Febr. 1904, ebd. und Methodenlehre ständig verfol[134]gen. Und indem wir die Neue Folge des „Archivs“ mit einem Aufsatz eines der Herausgeber eröffnen, der in ausführlicher Weise diese Probleme behandelt,35 Vgl. Weber, Objektivität, unten, S. 135–234. An dieser Stelle wurde im identischen Prospekt von 1906 die Referenz auf diesen Text eingefügt. Vgl. oben, S. 124. wollen wir unsere Absicht bekunden, uns an diesen prinzipiellen Erörterungen auch unsererseits dauernd zu beteiligen.

Die Herausgeber.