MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Politische Gemeinschaften
(in: MWG I/22-1, hg. von Wolfgang J. Mommsen, in Zusammenarbeit mit Michael Meyer)
Bände

[200]Editorischer Bericht

Zur Entstehung

Der Text ist offensichtlich unvollendet, da die Ausführungen relativ abrupt mit der Beschreibung des Verhältnisses eines politischen Verbandes zum Markt enden. Ohne Zusammenhang hiermit folgt ein Abschnitt über arabische Stammesstrukturen.

Eine genaue Datierung des Textes „Politische Gemeinschaften“ ist nicht möglich. Er bildet jedoch den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Beziehungen von Staaten untereinander, die Weber in dem um 1910 geschriebenen Text „Machtprestige und Nationalgefühl“ behandelt hat.1[200] Vgl. den Editorischen Bericht zu „Machtprestige und Nationalgefühl“, unten, S. 218 f. Der enge inhaltliche Zusammenhang dieser beiden Texte deutet auf eine zeitliche Nähe ihrer Entstehung hin. Sie dürften ursprünglich für den Abschnitt „Staat“ des Kapitels „Wirtschaft und soziale Gruppen“ bestimmt gewesen sein, der im Stoffverteilungsplan von 1910 erwähnt wird.2 Abgedruckt als Anhang in: MWG II/6, S. 766–774, und mit handschriftlichen Zusätzen in: Winckelmann, Webers hinterlassenes Hauptwerk (wie oben, S. 15, Anm. 1).

Allerdings weist der Text Spuren einer späteren Bearbeitung auf, die aber nicht konsequent durchgeführt worden ist. An einer Stelle des Textes3 Vgl. unten, S. 205. ist, wie sich aus der grammatikalischen Konstruktion der nachfolgenden Sätze erschließen läßt, nachträglich der Begriff der „politischen Gemeinschaft“ durch den Begriff „politischer Verband“ ersetzt worden. Beide Begriffe werden im Text ansonsten ohne erkennbare Unterscheidung verwendet. Außerdem wird als Zielpunkt der Entwicklung die Entstehung „einer kontinuierlichen anstaltsmäßigen Vergesellschaftung“ angesprochen, d. h. eines „politischen Verbandes“. Im übrigen taucht hier erstmals der Begriff des „Einverständnishandelns“ auf, der im Kategorienaufsatz als ein neuer Typ des Gemeinschaftshandelns eingeführt wird,4 Weber, Kategorienaufsatz, S. 275–286. ja mehr noch, Einverständnishandeln wird mit dem Begriff der „Legitimität“ einer politischen Ordnung in Verbindung gebracht.5 Vgl. unten, S. 209 f. Dies darf als partielle Antizipation der Theorie der „drei [201]reinen Typen legitimer Herrschaft“ gelten. Schließlich weist Weber darauf hin, daß der „Prozeß der ‚Verstaatlichung‘ aller ‚Rechtsnormen‘“ an anderer Stelle erörtert worden sei,6[201] Vgl. unten, S. 208. was die „Rechtssoziologie“ voraussetzt, die, wie wir wissen, 1912/13 ihre uns überlieferte Form erhalten hat.7 Vgl. die Einleitung, oben, S. 29, 33. Dies spricht dafür, daß Weber zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht 1912 oder 1913, einen Anlauf zu einer Überarbeitung des ohnehin nur fragmentarischen Textes unternommen hat, die aber dann nicht weit gediehen ist. Insgesamt steht der Text „Politische Gemeinschaften“ der Herrschaftssoziologie näher als alle anderen Texte der „Gemeinschaften“, aber Weber dürfte der Neuformulierung des Textes dann doch einen grundlegenden Neuansatz vorgezogen haben, wie er in den hauptsächlich 1912–1914 entstandenen Texten zur Herrschaftssoziologie vorliegt.

Wie die Disposition von 1914 im übrigen zeigt, ist es unübersehbar, daß Weber ohnehin eine Neugestaltung dieses Textes ins Auge gefaßt hatte, die aber nicht zur Ausführung gekommen ist. Dort wird der Unterabschnitt „Entwicklung des modernen Staates“, dessen Titel dem vorliegenden Text „Politische Gemeinschaften“ inhaltlich am nächsten kommt, dem neu vorgesehenen Kapitel 8 „Die Herrschaft“ subsumiert, während der Abschnitt „Die Nation“ dem 7. Kapitel über den „politischen Verband“ zugeordnet ist.8 GdS, Abt. I, S. X–XI (MWG I/22-6). Demnach hat Weber offenbar beabsichtigt, den engen Zusammenhang von „politischen Gemeinschaften“ und der „Nation“ aufzulösen, sowie den Text umzuschreiben und den inhaltlichen Schwerpunkt von der „politischen Gemeinschaft“ auf den „politischen Verband“ zu verlagern, wie das dann in der Disposition von 1914 generell vorgesehen war.

Ungeachtet dieser innovativen Ansätze schließt sich der Text in seiner Argumentation gleichwohl ganz den anderen Texten über „Gemeinschaften“ an. Die Darstellung der Entstehung von Staaten aus politischen Gemeinschaften setzt die vorhergehende Erörterung von Hausgemeinschaft, nachbarschaftlichen Verbänden, Sippe und Marktgemeinschaft, die ursprünglich zahlreiche der verschiedenen staatlichen Aufgaben wahrnahmen, voraus. Insofern muß der Text über die „Politischen Gemeinschaften“ den Abschnitten „Hausgemeinschaften“, „Ethnische Gemeinschaften“ und „Marktgemeinschaft“ nachgeordnet gewesen sein; auf letztere bezieht sich im vorliegenden Text ein Rückverweis.9 Vgl. unten, S. 215, Anm. 21.

Unklar ist der Status der Ausführungen über arabische Stammesstrukturen in der vorislamischen Epoche am Ende des nachstehenden Textes; sie werden hier den Erstherausgebern folgend als Anhang zu diesem Text mitgeteilt, da wir weder ein Manuskript besitzen noch über Informationen be[202]züglich ihres ursprünglichen Status verfügen.10[202] Vgl. unten, S. 216 f. Es handelt sich um ein eigenständiges Textfragment, das eventuell Teil einer längeren Abhandlung über den „Stamm“ war, die Weber ursprünglich im Zusammenhang mit den „Hausgemeinschaften“ vorgesehen hatte.11 Vgl. das Stichwortmanuskript „Hausverband, Sippe und Nachbarschaft“, unten, S. 295 f. Auf die Sonderstellung dieser Passage weist auch hin, daß von den Erstherausgebern eine andersartige Drucktype verwendet worden ist. Weber führt die Stammesstrukturen als Beispiel für eine politische Gemeinschaft an, deren Gemeinschaftshandeln hauptsächlich in der Abwehr einer äußeren Bedrohung besteht; die Ausführungen stehen insoweit in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem vorhergehenden Text. Andererseits sind sie formal in keiner Weise an die vorausgehenden Ausführungen angebunden.

Zur Überlieferung und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Dem Druck wird die von Marianne Weber und Melchior Palyi veröffentlichte Fassung zugrunde gelegt, die in dem Handbuch: Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung III: Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Lieferung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 613–618, erschienen ist (A).

Allem Anschein nach handelt es sich bei dem vorliegenden Text um ein Fragment. Darauf deutet neben dem plötzlichen Abbrechen der Darstellung eine Stelle im Text hin, wo von der Tendenz des „politischen Verbandes“ die Rede ist, „alle überhaupt möglichen Inhalte eines Verbandshandelns für sich zu konfiszieren“.12 Vgl. den Text, unten, S. 205. Aufgrund der grammatischen Konstruktion der nachfolgenden Sätze ergibt sich jedoch, daß an dieser Stelle ursprünglich das Wort „politische Gemeinschaft“ gestanden haben muß. Die Änderung in „politischer Verband“ dürfte im Zuge einer Überarbeitung des Textes vorgenommen worden sein. Obwohl die grammatische Angleichung der nachfolgenden Sätze den größeren Eingriff in den Text bedeutet, werden diese emendiert, da dies Webers Intention letzter Hand entspricht.

Der Titel „Politische Gemeinschaften“ ist bei Weber nicht verbürgt, ist jedoch in Anlehnung an die Überschrift „Ethnische Gemeinschaften“13 Vgl. den Editorischen Bericht zu „Ethnische Gemeinschaften“, oben, S. 166. naheliegend. In der Disposition von 1914 findet sich nur die Abschnittsüberschrift „Die Entwicklung des modernen Staates“; der vorliegende Text könnte inhaltlich diesem Titel zugeordnet werden, deckt aber nur einen geringen Teil dieser Thematik ab. Er stellt nur die Entwicklung bis zur Entstehung des [203]modernen Staates dar, nicht aber die Entwicklung des modernen Staates selbst, da die Darlegungen in der frühen Neuzeit abbrechen. Angesichts des fragmentarischen Charakters dieses Textes ist es sachgerecht, den Titel „Politische Gemeinschaften“ beizubehalten, zumal dieser Begriff innerhalb des Textes eine Schlüsselstellung einnimmt.

Die Paragraphentitel dieses Textes können angesichts der weitreichenden Einwirkung der Erstherausgeber auf die Gestaltung der Titel innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht als authentisch gelten. Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den Erstherausgebern eingefügt worden.14[203] Vgl. die Einleitung, oben, S. 60–65. In dem hier mitgeteilten Text, der in der ersten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ in zwei Paragraphen gegliedert war, stammt der Titel „§ 1. Wesen und ‚Rechtmäßigkeit‘ politischer Verbände“ mit Sicherheit nicht von Weber, zumal statt „Wesen“ die an anderer Stelle nachweisbare Formulierung „Begriff“ politischer Verbände zu erwarten wäre.15 Vgl. Weber, Vorlesungs-Grundriß, S. 29. Dort spricht Weber im Zusammenhang mit einer Definition von Wirtschaft von dem „Begriff der Wirtschaft“.

Es ist davon auszugehen, daß es in den nachgelassenen Manuskripten über die „Gemeinschaften“ überhaupt keine Paragraphentitel gegeben hat.16 Vgl. die Einleitung, oben, S. 63 f. Dies ergibt sich auch aus der fragwürdigen Formulierung der Mehrzahl der in der Erstausgabe befindlichen Überschriften. Daher wird hier auf die Wiedergabe der Paragraphentitel verzichtet. Die Zwischenüberschriften der ersten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ werden jedoch im textkritischen Apparat mitgeteilt. Die Gliederung als solche wird durch Leerzeilen optisch kenntlich gemacht. Eine Zählung erfolgt nicht.

Die Darstellung der arabischen Stammesstrukturen ist von den Erstherausgebern ohne Anbindung an die vorhergehenden Ausführungen an das Ende des vorliegenden Textes gestellt worden. Da die Position dieses Textfragments nicht eindeutig bestimmt werden kann, wird es in einem Anhang zu diesem Text mitgeteilt.

Die Anmerkungen der Erstherausgeber werden im fortlaufenden Text nicht berücksichtigt, hingegen im textkritischen Apparat wiedergegeben. Die Emendationen stützen sich teilweise auf Änderungen, die bereits Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1985, vorgenommen hat.