MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[Machtprestige und Nationalgefühl]
(in: MWG I/22-1, hg. von Wolfgang J. Mommsen, in Zusammenarbeit mit Michael Meyer)
Bände

[218]Editorischer Bericht

Zur Entstehung

In dem vorliegenden Text finden sich drei konkrete Datierungshinweise. Weber schreibt, daß „den Chinesen […] noch vor 15 Jahren gute Kenner des Ostens die Qualität der ‚Nation‘“ abgesprochen haben und daß „heute […] das Urteil nicht nur der führenden chinesischen Politiker, sondern auch ganz derselben Beobachter anders lauten“ würde,1[218] Vgl. unten, S. 244. und bezieht sich damit auf eine Entwicklung, die nach dem chinesisch-japanischen Krieg 1894– 1895 in China einsetzte. Wegen des von chinesischer Seite unerwartet verlorenen Krieges bildete sich eine Reformbewegung, die westliche Staatsvorstellungen mit chinesischen Traditionen zu verbinden suchte. Eine Voraussetzung dafür war die Abkehr von der Vorstellung eines chinesischen Universalstaates und die Anerkennung der internationalen Ordnung als eines Systems gleichberechtigter Nationalstaaten. Im Zuge dieser Veränderungen entstand innerhalb bestimmter chinesischer Kreise erstmals eine Art von Nationalgefühl, was vor dem Krieg nicht greifbar gewesen war. Europäische Beobachter nahmen daher an, daß China mit dem Anwachsen der Reformbewegung im Begriff gewesen sei, eine Nation zu werden.2 Vgl. Franke, Otto, Ostasiatische Neubildungen. Beiträge zum Verständnis der politischen und kulturellen Entwicklungs-Vorgänge im Fernen Osten. – Hamburg: C. Boysen 1911, S. 7, 14 ff., 41 (hinfort: Franke, Ostasiatische Neubildungen). In diesem Sammelband sind verschiedene ältere Aufsätze Frankes neu herausgegeben worden.

Im Text ist weiterhin die Rede davon, daß die „,Kreuzzeitung‘ […] vor 60 Jahren […] die Intervention des Kaisers von Rußland in innerdeutsche Fragen“ gewünscht habe.3 Vgl. unten, S. 245. Ein Artikel in der „Neuen Preußischen Zeitung“ (Kreuzzeitung) vom 30. April 1850 weist im Zusammenhang einer Erörterung einer eventuellen Unterdrückung der Revolution von 1848/49 durch eine russische Intervention tatsächlich darauf hin, daß es „wahrhaft deutsch [sei], lieber vom Kaiser Nicolaus befreit, als von Hecker und Struve, von Waldeck und Held, von Voigt und Ruge geknechtet zu werden.“4 Neue Preußische Zeitung, Nr. 97 vom 30. April 1850, S. 1.

[219]Für sich genommen könnten diese beiden Zahlenangaben durchaus gewisse Ungenauigkeiten beinhalten, was vor allem für die Angabe „60 Jahre“ in bezug auf den Artikel in der „Kreuzzeitung“ gilt. In ihrer Kombination ergeben sie jedoch einen zuverlässigen Anhaltspunkt für eine Datierung der Entstehung des Textes um das Jahr 1910. Außerdem geht Weber auf „die Geschichte des letzten Jahrzehnts, speziell der Beziehungen Deutschlands zu Frankreich“ ein,5[219] Vgl. unten, S. 224. ohne die 2. Marokkokrise vom Sommer 1911 zu erwähnen, was mit Sicherheit der Fall gewesen wäre, wenn der Text nach dem Juni 1911 niedergeschrieben worden wäre.

Die interne Verweisstruktur läßt den Schluß zu, daß der gesamte Text in einem Arbeitsgang verfaßt wurde. Zu Beginn findet sich ein Vorverweis auf den „Nationalstolz“, der sich eindeutig am Ende des Textes bei der Behandlung der Prestigeinteressen auflösen läßt.6 Ebd., Anm. 4. In diesem Zusammenhang bezieht sich Weber auf die „schon erörterten“ wirtschaftlichen Motive imperialistischer Politik, die tatsächlich weiter vorne behandelt werden.7 Vgl. unten, S. 240, Anm. 32. Eindeutige Verweise auf andere Abschnitte von „Wirtschaft und Gesellschaft“ finden sich nicht, mit Ausnahme eines Verweises auf die „Ethnischen Gemeinschaften“, der die Entstehung eines ethnischen Gemeinsamkeitsgefühls aus einer Sprach- und Abstammungsgemeinschaft heraus betrifft.8 Vgl. unten, S. 243, Anm. 39. In den dortigen Passagen über die „Nation“ hat Weber die Entwicklung ethnischer Gemeinschaften hin zur Nation eingehend dargestellt. Es bestehen weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen mit dem vorliegenden Text.9 Vgl. den Text „Ethnische Gemeinschaften“, oben, S. 185–190.

In der Disposition von 1914 hatte Weber im 7. Kapitel hinter den Abschnitten „Stände“, „Klassen“ und „Parteien“ einen gesonderten Abschnitt „Die Nation“ vorgesehen, doch ist diese Absicht nicht zur Ausführung gelangt.10 Vgl. den Editorischen Bericht zu „Ethnische Gemeinschaften“, oben, S. 165. Sowohl die Ausführungen über die „Nation“ in den „Ethnischen Gemeinschaften“11 Ebd. als auch der hier mitgeteilte Text müssen als Vorfassungen für diesen offenbar geplanten eigenständigen Abschnitt „Die Nation“ angesehen werden. Der nachfolgende Text ist demnach einer früheren Bearbeitungsphase von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zuzurechnen. Seine inhaltliche Nähe zu dem Abschnitt „Politische Gemeinschaften“ hatte schon Marianne Weber zu der Überlegung veranlaßt, beide Texte in einem Abschnitt [220]zusammenzufassen.12 [220] Vgl. die Beilage zu dem Brief Marianne Webers an Oskar Siebeck vom 25. März 1921, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446. Spätestens seit 1914 hätte der Text durch eine Neufassung ersetzt werden sollen.

Zur Überlieferung und Edition

Der nachstehende Text weist eindeutig fragmentarischen Charakter auf, da er mitten im Satz abbricht.13 Vgl. unten, S. 247. Ein Manuskript ist nicht überliefert. Dem Druck wird die von Marianne Weber und Melchior Palyi veröffentlichte Fassung zugrunde gelegt, die in dem Handbuch: Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung III: Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Lieferung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 619–630, erschienen ist (A).

Der dort verwendete Titel „Machtgebilde. ,Nation‘“, für den sich bei Weber selbst keine Entsprechung findet, ist aller Wahrscheinlichkeit nach von den Erstherausgebern gewählt worden. In dem nachfolgenden Text wird jedoch vor allem das Verhältnis von „Machtprestige und Nationalgefühl“ behandelt; daher sahen die Herausgeber Anlaß zu einer entsprechenden Modifikation des Titels. Die in der Disposition von 1914 aufgeführte Bezeichnung „Die Nation“ wird hier nicht übernommen, da es sich bei dem vorliegenden Text allenfalls um eine frühe Vorfassung des dort ins Auge gefaßten Abschnittes über „Nation“ handelt. Die Überschrift „Machtprestige und Nationalgefühl“ wird als Herausgeberrede in eckige Klammern gesetzt und der Titel des Erstdrucks im textkritischen Apparat mitgeteilt.

Die Paragraphentitel des Textes können angesichts der weitreichenden Einwirkung der Erstherausgeber auf die Gestaltung der Titel innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ nicht als authentisch gelten. Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls von den Erstherausgebern eingefügt worden.14 Vgl. die Einleitung, oben, S. 60–65. In der ersten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ war der hier mitgeteilte Text in drei Paragraphen gegliedert. Der Titel „§ 1. Machtprestige und ,Großmächte‘“ bringt den Inhalt der entsprechenden Passagen nur unzureichend zum Ausdruck und engt die Allgemeinheit von Webers Darstellung unangemessen ein. Regelrecht irreführend ist der Titel „§ 2. Die wirtschaftlichen Grundlagen des ,Imperialismus‘“. In diesem Text wird gerade nachgewiesen, daß imperialistische Expansion keineswegs ausschließlich ökonomisch motiviert war. Vielmehr wird in dem Abschnitt gezeigt, daß imperialistische Expansion in aller Regel durch eine [221]Vielzahl von sozialen und sozialpsychologischen Faktoren ausgelöst wird. Die Beschränkung auf den ökonomischen Aspekt im Titel läuft den Intentionen des Textes zuwider. Der Titel „§ 3. Die ‚Nation‘“ ist für den entsprechenden Abschnitt viel zu allgemein. Hier wird das Nationalgefühl als eine besondere Form emotionaler Befindlichkeiten eingeführt, die als Motivation expansiver Machtpolitik aufzutreten pflegt. Dabei wird die Nationsidee als eine spezifische Variante des Macht-Prestiges politischer Gemeinschaften beschrieben, insbesondere in der Form eines vornehmlich von den Intellektuellen getragenen und von ihnen propagierten, national definierten, Kultur-Prestiges. Überdies unterbricht der Paragraphentitel den Gang der Darlegung in syntaktisch störender Weise. In dem letzten Satz vor der Unterbrechung durch einen neuen Paragraphen ist von einer „emotionalen Beeinflussung“ der „Massen“ die Rede. Der erste Satz nach dem eingeschobenen Paragraphentitel schließt hier unmittelbar an. Dort heißt es: „Das Pathos dieser emotionalen Beeinflussung aber ist dem Schwerpunkt nach nicht ökonomischen Ursprungs […].“15 [221] Vgl. unten, S. 240.

Es ist davon auszugehen, daß es in den nachgelassenen Manuskripten zu den Texten über die „Gemeinschaften“ überhaupt keine Paragraphentitel gegeben hat.16 Vgl. die Einleitung, oben, S. 63 f. Daher wird hier auf die Wiedergabe der Paragraphentitel verzichtet. Die Überschriften der ersten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ werden jedoch im textkritischen Apparat mitgeteilt. Die Paragraphengliederung als solche wird durch Leerzeilen optisch kenntlich gemacht. Eine Zählung erfolgt nicht.

Die Anmerkungen der Erstherausgeber werden im fortlaufenden Text nicht berücksichtigt, hingegen im textkritischen Apparat mitgeteilt. Die Emendationen stützen sich teilweise auf Änderungen, die bereits Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1985, vorgenommen hat.