[469]Anhang zum Editorischen Bericht
Im folgenden wird Fischers erste Kritik an Weber, Protestantische Ethik I und II, abgedruckt. Zugrunde liegt: Fischer, H. Karl, Kritische Beiträge zu Prof. Μ. Webers Abhandlung: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 25. Band, 1. Heft, 1907, S. 232–242 (= Fischer, Kritische Beiträge). Über die Randsigle ist der Bezug zur Seitenzählung des Erstdrucks hergestellt.
N1
Der Text ist durchgängig und vereinheitlichend in Petit wiedergegeben (im „Archiv“ sind folgende Passagen Petit gesetzt: das Referat Werner Sombarts, S. 473, die Text-„Anm.“, S. 474, das Zitat John Stuart Mills, S. 475, sowie der Schlußabschnitt, S. 477). Sperrungen des Originals werden kursiv, ss wird, wo geboten, mit ß und die Umlaute Ae und Ue werden als Ä und Ü wiedergegeben. Inhaltlich relevante Druck- und Sachfehler sind nachgestellt in eckigen Klammern korrigiert (z. B. S. 473: „Paciola“ in „Paciolo“ – hier nach der Schreibweise bei Sombart; eigentlich: Pacioli). Als Lesehilfe werden Abkürzungen und zum Verständnis notwendige Satzzeichen in eckigen Klammern ergänzt. Mit der am Schluß erwähnten „geschichtsphilosophischen Studie“ (S. 477) meint Fischer seine Dissertation (vgl. oben, S. 463, Anm. 2). In MWG digital als ED + Seitenzahl sigliert.
[ED 232]Kritische Beiträge zu Prof. Μ. Webers Abhandlung:
„Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.
Von H. Karl Fischer.
Sowohl die neue, interessante Fragestellung als auch die Beweisführungen der oben bezeichneten verdienstvollen Arbeit
1)
Prof. M[ax] Webers haben von der Kritik[469][ED 232] Bd. XX 1 und Bd. XXI 2 [lies: XXI 1] dieser Zeitschrift.
2)
reichen Beifall gefunden. Die im folgenden dargebotenen Überlegungen führen im großen und ganzen zu wesentlich anderen Ergebnissen. Das Verdienst der Untersuchungen Prof. Webers soll dadurch keineswegs geleugnet werden: denn wie die nachstehenden kritischen Beiträge einerseits durch jene Arbeit erst veranlaßt worden sind, so haben sie andererseits das Ziel, einen bescheidenen Beitrag zu liefern zur Lösung des aufgeworfenen Problems. Z. B. „Preuß[ische] Jahrbücher“ Bd. 122II.
Im Interesse einer zusammenhängenden Darstellung erscheint es zweckmäßig, zunächst die wesentlichsten Gedankengänge der besprochenen Arbeit in gedrängter Kürze zu rekapitulieren.
[470]1. Die Aufstellung des Problems.
Zur Aufstellung des Problems geben wesentlich folgende Tatsachen Veranlassung: 1) Die Kapitalisten und Unternehmer, die obere gelernte Schicht der Arbeiter, das höhere, technisch oder kaufmännisch vorgebildete Personal der modernen Unternehmungen sind vorwiegend Protestanten. 2) Für Baden, Bayern und Ungarn ist statistisch festgestellt, daß der Prozentsatz derjenigen katholischen Abiturienten, die eine humanistische Vorbildung erhalten haben, bedeutend höher ist, als der Prozentanteil derjenigen, die in Realgymnasien, Realschulen u.s.w. für moderne, speziell technische, gewerbliche und kaufmännische Berufe [ED 233]vorgebildet worden sind. Bei den protestantischen Abiturienten zeigt sich das entgegengesetzte Verhältnis. 3) Unter den Handwerksgesellen zeigen die Katholiken die stärkere Neigung zum Verbleiben im Handwerk; sie werden relativ häufiger Handwerksmeister als ihre protestantischen Kollegen, die in stärkerem Maße in die Fabriken abströmen, um hier die oberen Staffeln der gelernten Arbeiterschaft und des gewerblichen Beamtentums zu füllen. Zur Erklärung dieser Erscheinungen stellt Prof. Weber die These auf, daß der Geist der christlichen Askese in den Geist des Kapitalismus als integrierender Bestandteil übergegangen ist. Seine Einzeluntersuchung führt W[eber] unter einem umfassenden, großen Gesichtspunkte: Seine Studien sollen einen Beitrag bilden zur Veranschaulichung dessen, wie überhaupt „Ideen“ in der Geschichte wirksam werden. Wenn nach der materialistischen Geschichtsdeutung der Geist des Kapitalismus aufzufassen ist als eine Widerspiegelung der materiellen Verhältnisse in dem ideellen Überbau, so ist dies unhaltbar, barer Unsinn. Wenn nun die Wahrheit der idealistischen Geschichtsdeutung an einem Beispiel dargetan werden soll, so sollen nur die Beziehungen aufgedeckt werden, in denen eine Einwirkung religiöser Bewußtseinsinhalte auf das materielle Kulturleben zweifellos ist.
2. Der „Geist“ des Kapitalismus.
Den „Geist“ des Kapitalismus findet Prof. Weber in Aussprüchen Franklins
3)
und Fuggers[470][ED 233] Franklin: „Bedenke, daß Zeit Geld ist“ etc.
4)
. Der „Geist“ Franklins wird – so scheint mir – zunächst als von dem kapitalistischen Geist verschieden aufgefaßt, später aber werden beide identifiziert Fugger: „Er, Fugger, hätte viel einen andern Sinn, er wollte gewinnen, dieweil er könnte.“
5)
. Indessen ist bei gehöriger Verwertung von Parallelstellen und von anderen ausdrücklichen Erklärungen des Verfassers ersichtlich, daß er unter dem „Geist“ des Kapitalismus den Gedanken an die Berufspflicht versteht. Dieser Gedanke der Berufspfiicht und die Tatsache der Hineinbeziehung der geldwirtschaftlichen Arbeit unter den Begriff der Berufspflicht sollen zur Zeit des Entstehens religiös begründet gewesen sein. Vgl. I S. 16, 17; I S. 26.
3. a) Die Berufspfiicht im lutherischen Protestantismus.
b) Der kapitalistische Geist und der Puritanismus.
a) Es wird von Prof. Weber der Nachweis versucht, daß der Gedanke der Berufspflicht hervorgegangen sei aus der religiösen Gedankenwelt des lutherischen Protestantismus: in seinem heutigen Sinne stamme [ED 234]das Wort aus dem Geiste der Bibelübersetzer. Luther [471]gebrauchte es zuerst bei der Übersetzung der Stelle Jesus Sirach XI 20–21. Dazu dürfte kritisch zu sagen sein: Angenommen – wie es vom Verfasser wahrscheinlich gemacht worden ist –, Luther habe hier eine originäre Leistung vollzogen, so ist dies noch kein Beweis für die Notwendigkeit der Annahme, daß die religiösen Vorstellungen Luthers den Berufsgedanken erzeugt haben. Denn wie kam Luther dazu, jene Stelle aus Jesus Sirach mit „Beruf“ zu übersetzen? Es geschah wohl sicher nicht mit der Absicht, bei der Gelegenheit der Bibelübersetzung ein religiöses System zu schaffen, in dem auch die weltliche Berufsarbeit ihren Platz erhielt; sondern Luther glaubte mit diesem im Volke geläufigen Ausdruck die beste, dem Volke verständlichste Bezeichnung gewählt zu haben. Der „Geist“ des Bibelübersetzers dürfte sich in diesem Falle der geläufigen Ausdrucksweise angepaßt haben. Wollte man einwenden, daß im lutherischen Protestantismus neu sei die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhalts, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen kann, so wäre darauf zu erwidern, daß zur Erklärung dieses Tatbestandes auch die entgegengesetzte Hypothese verwertet werden könnte, nach der die religiösen Vorstellungsweisen dem Zustand des wirtschaftlichen Lebens sich angepaßt haben. Aus dem gleichen Grunde kann die Irrigkeit der Überbautheorie wohl nicht durch den Hinweis dargetan werden, daß in der lutherischen Dogmatik die weltliche Berufsarbeit als äußerer Ausdruck der Nächstenliebe gewertet wird. Endlich führt Prof. Weber aber selbst an, daß Luther mit zunehmendem Alter immer mehr den traditionalistisch gebunden gebliebenen Berufsbegriff betont hat, wonach der Beruf das ist, was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen, worin er sich zu schicken habe.
b) Hat sich der lutherische Protestantismus somit als ein wenig geeignetes Gebiet erwiesen, die Wahrheit der idealistischen Geschichtsdeutung in der zur Behandlung stehenden Frage zu erhärten, so erhebt sich um so dringender die Frage: in welcher Abhängigkeitsbeziehung steht der kapitalistische Geist zur bedeutendsten Erscheinungsform des Puritanismus, dem Calvinismus? Dessen charakteristisches und hinsichtlich der kulturgeschichtlichen Wirkung bedeutendstes Dogma ist die Lehre von der Gnadenwahl, wie sie ihren klassischen Ausdruck in der Westminsterkonfession von 1647 gefunden hat. Darnach ist nur ein kleiner Teil der Menschen zur Seligkeit berufen. Maßstäbe irdischer Gerechtigkeit an Gottes souveräne Verfügungen anzulegen, ist sinnlos. Gott ist frei und keinem Gesetz unterworfen. Dem Nichterwählten kann niemand helfen: kein Prediger, kein Sakrament, keine Kirche, kein Christus. Diese Gnadenmittel können nur von den Erwählten verstanden und darum mit Erfolg benutzt werden. So ergaben sich für jeden Gläubigen die wichtigen Fragen: Bin ich erwählt? Wie kann [ED 235]ich dieser Erwählung sicher werden? Dem Menschen, der nach sichtbaren Merkmalen der Erwählung suchte, wurde es zur Pflicht gemacht, sich für erwählt zu halten, jeden Zweifel als Anfechtung des Teufels abzuweisen. Als hervorragendstes Mittel wurde rastlose Berufsarbeit eingeschärft. [„]So durchaus ungeeignet gute Werke und angestrengtes Berufsleben sind, um als Mittel zur Erlangung der Seligkeit zu dienen, so unentbehrlich sind sie als Zeichen der Erwählung.“ Kritisch möchte dazu zu bemerken sein: Gewiß, nach einem Zeichen der Erwählung wird man verlangt haben. Warum wurde aber die angestrengteste Berufstätigkeit als Zeichen der Erwählung betrachtet? Hätten Völker auf einer andern Wirtschaftsstufe auch dieses Zeichen als Zeichen der Erwählung betrachtet? Die Wahl gerade dieses Zeichens scheint mir ein Wahrscheinlichkeitsgrund dafür zu sein, daß die angespannte Berufstätigkeit auch unabhängig von religiösen Erwägungen hochgeschätzt wurde. In wie hohem Maße [472]Momente des wirtschaftlichen, des kapitalistischen Lebens die religiösen Vorstellungsweisen beeinflußt haben, dürften gerade folgende Data lehren: Die Lebensführung des Puritaners war einer ständigen Kontrolle unterworfen. Man legte religiöse Tagebücher an, in welche die Sünden, Anfechtungen und die in der Gnade gemachten Fortschritte fortlaufend oder tabellarisch eingetragen wurden. Das Verhältnis des Sünders zu seinem Gott war ähnlich dem eines Kunden zum shopkeeper: wer einmal in die Kreide geraten ist, der wird mit dem Ertrag seiner Verdienste allenfalls die ablaufenden Zinsen, niemals aber die Hauptsumme abtragen können. So nahm die Heiligung des Lebens fast den Charakter eines Geschäftsbetriebes an.
Außer dem Calvinismus kommt als selbständiger Träger der protestantischen Askese besonders das Täufertum in Betracht, dessen historisch und prinzipiell wichtigster Gedanke ist, daß die Kirche ausschließlich eine Gemeinschaft der persönlich Gläubigen und Wiedergeborenen sein soll. Die Zugehörigkeit wird erworben durch innerliche Aneignung des Erlösungswerkes Christi. Dazu wird jedem durch individuelle Offenbarung der göttliche Geist angeboten. Es genügt, auf diesen Geist zu harren und seinem Kommen nicht durch sündliches Kleben an der Welt zu widerstreben. Der Gläubige hat darum jeden nicht unbedingt nötigen Verkehr mit den Weltleuten aufzugeben. Es ist m. E. nicht einleuchtend, wie diese Form der protestantischen Askese zur Geburtsstätte des kapitalistischen Geistes werden konnte. Das Harren in hysterischen Zuständen, das Schwelgen in prophetischen und eschatologischen Hoffnungen steht im Gegensatz zur nüchternen Berufsarbeit. Nach dem Tode der rücksichtslosen, radikalen Führer der Täuferbewegung lenkte diese allmählich in das normale Berufsleben ein. Es ist versucht worden, diese Umwandlung zu erklären als Wirkung des Gedankens, „daß Gott nur redet, wo die Kreatur schweigt“. Gibt man zu, daß dieser Gedanke immer mächtiger wurde, so ent[ED 236]steht die Frage: wie kam es, daß er allmählich ins Bewußtsein der Täufer trat? Fand eine logische Entwicklung etwa im Sinne Hegels statt? Dann wäre es merkwürdig, daß diese Entwicklung so spät und nach so vielen Opfern eingesetzt hat. Die ungezwungenste Erklärung dürfte die sein, nach der das Einlenken der Täufer in eine ruhige Bewegung aufzufassen ist als eine Anpassung an die rauhe Wirklichkeit, mit der man sich abfinden mußte.
Prof. Weber hat zur Erhärtung seiner These endlich Ausführungen aus solchen theologischen Schriften jener Zeit mitgeteilt, die aus der seelsorgerischen Praxis hervorgegangen sind. Die Benutzung der theologischen Erbauungsliteratur als Beweismaterial dürfte jedoch wenig fruchtbar sein. Denn mit Hilfe jener Schriften kann im günstigsten Falle doch nur bewiesen werden, daß von den Verfassern derselben wirtschaftliche Anschauungen in das dogmatische System hineinverwoben worden sind. Andererseits deuten jene Erbauungsschriften darauf hin, wie stark die Beeinflussung der religiösen Vorstellungsweisen durch wirtschaftliche Faktoren gewesen ist; so z. B. die Wertschätzung der Arbeit und Verwerfung jedes Zeitverlustes durch Geselligkeit, faules Gerede, Luxus und übermäßigen Schlaf, ferner die Wertschätzung der Berufsarbeit gegenüber der Gelegenheitsarbeit, die Wertschätzung der Berufsgliederung und Arbeitsteilung und endlich die providentielle Deutung der privatwirtschaftlichen Profitlichkeit, wonach Gott mit dem Gläubigen eine bestimmte Absicht hat, wenn er ihm eine Gewinnchance zeigt, der gläubige Christ hat diesem Rufe zu folgen; tut er es nicht, so durchkreuzt er einen göttlichen Zweck.
[473]4. Wirtschaftsgeschichtliche Erklärung der Entstehung des kapitalistischen Geistes.
Die Frage, ob die materialistische oder die idealistische Geschichtsdeutung zur Lösung dieses Problems zu verwenden ist, kann nach Sombart
6)
nur mit Hilfe eines empirischen Nachweises konkret-historischer Zusammenhänge beantwortet werden. Dieser Nachweis gestaltet sich bei Sombart in kurzem folgendermaßen: [473][ED 236] Sombart: Der moderne Kapitalismus, Bd. I.
Während des europäischen Mittelalters stieg die Wertung des Geldbesitzes aus mehreren Gründen, z. B. infolge der geldverschlingenden Kreuzzüge und der höheren Lebenshaltung der aus dem Orient heimgekehrten Kreuzfahrer. Die Folge war wachsender Geldbedarf und gesteigertes Streben nach Geldbesitz.
Als Methoden zur Gelderlangung kamen in Anwendung: Kaiser und Könige legten neue Steuern auf, brandschatzten die Städte oder raubten die Jugendgemeinden aus; die Ritter und kleinen Grundbesitzer verwandelten die Reallasten des Bauern in Geldlasten oder legten [lies: verlegten] sich gleichfalls aufs Plündern, was als durchaus anständige [ED 237]Beschäftigung galt; die Päpste verschafften sich infolge ihrer geistlichen Autorität durch Ablaßgewährung etc. Geld. Wo diese Mittel versagten, mußten die Kirchen Darlehen aufnehmen. Aus demselben Grunde entstanden das Goldgräbertum und die Alchemie. Bei den Leuten niederen Standes tauchte dann zuerst der Gedanke auf, Geldvermehrung zu erzielen durch wirtschaftliche Tätigkeit selbst. Wie hat sich dieser neue Zweckgedanke zum vollendeten System kapitalistischer Wirtschaftsbetrachtung ausgewachsen? Zu der auf den Erwerb gerichteten Willensverfassung muß ein ökonomischer Rationalismus hinzutreten. Es gelang dem neuen Zweckgedanken (= Geld zu erwerben durch Wirtschaften) das Mittel zu seiner Realisierung (= das Wirtschaftsleben) vollständig umzugestalten; das Wirtschaftsleben wurde in eine Reihe von Rechenexempeln aufgelöst und zu einem kunstvollen Ganzen ganz neu nach rechnerischen Prinzipien zusammengefügt. Kurz: Das Wirtschaften wurde zum Geschäft gemacht. Daher wurden schon im frühen Mittelalter dementsprechende Arbeitsmethoden ausgebildet: Methoden zur genauen rechnerischen Feststellung jedes einzelnen Geschäftsfalles und zur systematischen Erfassung eines geschäftlichen Gesamtunternehmens. Diese Methoden entwickelten die mathematischen Wissenschaften während des 13. bis 15. Jahrhunderts; und man kann die Schöpfungsperiode der neuen Geschäftstechnik mit den Jahreszahlen 1202–1494, und mit den Namen Leonardo Pisano und Luca Paciola [lies: Paciolo] umgrenzen; ersterer brachte den Abendländern zuerst das indisch-arabische Zahlensystem, letzterer machte durch die wissenschaftliche Darstellung der doppelten Buchführung diese zu einem für jedermann erreichbaren Hilfsmittel der Geschäftsführung. Daß die einfache und doppelte Buchführung schon vor dem Erscheinen des Werkes Paciolas [lies: Paciolos] angewendet wurden, zeigen z. B. die Rechnungsausweise des Papstes Nikolaus III. (1279/80), die Ausgaberegister der Kommunen Florenz (1303), Genua (1340), der Geschäftsbücher der Gebr[üder] Soranzo in Venedig (1406).
So hat Sombart ein Zweifaches zu zeigen versucht: 1) die Entstehung des kapitalistischen Geistes aus wirtschaftlichen Ursachen; 2) hat S[ombart] dargetan, daß lange vor dem Auftreten der protestantischen Reformation die Methoden für kapitalistische Betriebsformen ausgebildet und angewendet wurden. Wollte man dagegen einwenden, daß der kapitalistische Geist bei weitem später entstanden sei, so würde darauf zu ent[474]gegnen sein: wie entstanden denn die kapitalistischen Betriebsformen? Sollten sie nicht etwa als Äußerungen, als Schöpfungen des kapitalistischen Geistes selbst aufzufassen sein?
5. Psychologische Erklärung der Entstehung des kapitalistischen Geistes.
So stehen sich die idealistische Erklärung Prof. Webers und die wirtschaftsgeschichtliche Prof. Sombarts mit ihren Vorzügen und Nachteilen gegenüber. (Denn auch des letzteren Darstellung ist angefochten worden)
7)
. Es soll darum zur psychologischen Erklärung der Entstehung [ED 238]des kapitalistischen Geistes fortgeschritten werden. [474][ED 237] S[iehe] z. B. die Kritik Delbrücks in den „Preuß[ischen] Jahrbüchern“ Bd. 113II.
Der Gegenstand der Untersuchung ist ein komplexes psychisches Phänomen. Gestützt auf den Satz, daß die Funktion der Allgemeinbegriffe unabhängig ist von ihrer Definition
8)
, ist man allerdings berechtigt, die Funktion solcher Allgemeinbegriffe zunächst unabhängig von ihrer Definition zu betrachten, und letztere alsdann nachfolgen zu lassen. In diesem Falle ist dies Verfahren nicht anwendbar, denn indem wir über die Genesis jener Begriffe (psychischen Zustände) Aussagen machen wollen, wird unsere Arbeit zu einer psychologisch-historischen. Darlegungen über die psychologische Entstehung jener Zustände müssen darum den Ausgangspunkt bilden, dürfen aber keinenfalls gänzlich unberücksichtigt bleiben. [ED 238] Störring: Über die Funktionen der Allgemeinbegriffe. Wundts Philos[ophische] Studien Bd. XX.
Anm.: Das Fehlen solcher Erwägungen über die Entstehung und das Wesen jener psychischen Zustände erscheint mir als Mangel der so gründlichen Arbeit Prof. Webers. Der Verfasser sucht sein Verfahren zu rechtfertigen durch den Hinweis darauf, daß die Ergebnisse der modernen Psychologie gering und unsicher seien. Mir scheint, daß ihre Ergebnisse doch nicht gar so gering sind, daß wir gegebenen Falles aber eigene psychologische Erwägungen versuchen müssen, da unser Thema eine psychologisch-historische Arbeit erheischt.
Der kapitalistische Geist ist von Prof. Weber bestimmt worden als „Erwerben von Geld und immermehr Geld, rein als Selbstzweck“ oder als „Gedanke an die Berufspflicht“.
Bringen wir das „Erwerben von Geld und immermehr Geld, rein als Selbstzweck“, auf einen psychologischen Ausdruck, so können wir es auffassen als die Freude des Individuums an seiner kraftvollen Betätigung. (Vgl. Fuggers Ausspruch: „er wolle gewinnen, dieweil er könne“.) Obgleich die Folge dieser Betätigung die Ansammlung von Kapital ist, so ist dies doch nicht in die Zweckvorstellung aufgenommen, also nicht gewollt worden. Die Freude an der kraftvollen Betätigung ist in keiner Weise religiös begründet, sie verbindet sich mit der kraftvollen Betätigung unmittelbar
9)
. Siehe Störring: Moralphilosophische Streitfragen, I. Teil: Die Entstehung des sittlichen Bewußtseins S. 50/2; 78/87 u. a.O.
Der „Geist“ Franklins kann ferner auch so verstanden werden, daß das Erwerben von Kapitalbesitz in der Zielvorstellung aufgenommen wird, sodaß die Freude an der kraftvollen Betätigung psychische Begleiterscheinung ist. Mit welchem psychischen [475]Phänomen haben wir es hier zu tun? Treffliche Ausführungen darüber bietet J[ohn] St[uart] Mill
10)
. [475] J. St. Mill: Gesammelte Werke, Autorisierte Übersetzung von Gomperz. Bd. I, Kp. IV, p. 168/9.
[ED 239]„Was sollen wir z. B. von der Liebe zum Gelde sagen? Ursprünglich ist das Geld um nichts wünschenswerter als irgend ein Haufe glitzernder Kieselsteine; sein Wert ist nur der Wert der Dinge, die man damit erkaufen kann. Gleichwohl ist die Liebe zum Gelde nicht nur eine der stärksten Triebfedern im menschlichen Leben sondern das Geld wird auch in vielen Fällen an und für sich selbst gewünscht; der Wunsch, es zu besitzen, ist oft stärker, als der Wunsch, davon Gebrauch zu machen. Man kann deshalb mit Recht sagen, daß Geld nicht um eines Zweckes willen, sondern als Teil des Zweckes gewünscht wird. Aus einem Mittel zur Glückseligkeit ist es für sich selbst ein hauptsächlicher Bestandteil der eigenen Vorstellung von Glückseligkeit geworden. Ganz dasselbe kann von der Mehrzahl der großen Gegenstände des menschlichen Strebens gesagt werden, – von dem Streben zur Macht, zum Ruhme. Die innige Assoziation, welche auf diese Weise zwischen ihnen und allen Gegenständen unserer Wünsche entsteht, ist es, was dem direkten Wunsche nach ihnen jene Stärke gab, wie er sie oft annimmt, so daß er bei manchen Charakteren alle anderen Wünsche an Stärke übertrifft.“
Beim Streben nach Macht, Ruhm, Geld hat also eine Übertragung von Gefühlszuständen stattgefunden. Das Gefühl der Freude, das ursprünglich mit der Zielvorstellung sich verband (Glückseligkeit), überträgt sich auf die Vorstellung des Mittels (Geld etc.). Da das Geld das Tauschmittel par excellence ist, so ist ersichtlich, daß die Übertragung von Gefühlszuständen gerade bei der Wertschätzung des Geldes stattfindet. Eine Mitwirkung religiöser Faktoren findet nicht statt. Zwar ist die Schätzung des Geldbesitzes auf Grund religiöser Gedankengänge denkmöglich. Aber diese Betrachtungsweise ist eine reflexions-psychologische, die psychische Phänomene komplizierter erscheinen läßt, als sie in Wirklichkeit sind. Die Übertragung von Gefühlszuständen ist ein allgemeines psychisches Geschehen, das selbstverständlich auch vor dem Aufkommen des Puritanismus stattgefunden hat. Auf das Geld konnte diese Gefühlsübertragung eben nur in Zeiten mit Geldwirtschaft stattfinden, u. a. z. B. bei den Römern. Schon Cato censorius zeigt in einer Schrift, wie man als römischer Aristokrat einen Grundbesitz mit möglichst großem Profit bewirtschaften kann; der Profit soll zur Vermögensvermehrung verwendet werden. Derjenige ist ein tüchtiger Mann, der mehr Kapitalvermögen hinterläßt, als er überkommen [lies: übernommen] hat. Im europäischen Mittelalter konnte erst mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft die hohe Schätzung des Geldes Platz greifen; es geschah lange vor der Zeit des Puritanismus.
Als spezifischen Geist des Kapitalismus bezeichnet Prof. Weber den Gedanken an die Berufspflicht. Wir haben darum die Entstehung des auf die Berufstätigkeit sich beziehenden Pflichtgefühls zu untersuchen. Woher stammt es? Welches ist seine Wurzel? Das Pflichtgefühl ist ein abstraktes Gefühl, das auf eine ähnliche Weise entsteht, wie abstrakte Begriffe entstehen
11)
. Zahllos angesammelte Erfahrungen haben [ED 240]in den Menschen die Überzeugung ausgebildet, daß die Leitung durch solche Gefühle, die sich auf entferntere und allgemeinere Folgen beziehen, in der Regel sicherer zum Wohlergehen führt, als die Leitung durch Gefühle, die unmittelbare Befriedigung verlangen. Das gemeinschaftliche Merkmal der Gefühle, die zu Ehrlichkeit, Wohltätigkeit, Fleiß, [476]Vorsicht etc. antreiben, ist dies, daß es lauter komplizierte, an abstrakte Vorstellungen sich anschließende Gefühle sind, die vielmehr auf die Zukunft als auf die Gegenwart hinweisen[.] So erklärt es sich, wie das Merkmal der autoritativen Geltung an diese Gefühle sich anschließt, das Merkmal, worin sie sich von den an niederen Begierden und Reizen sich anschließenden Gefühlen unterscheiden. [ED 239] Vgl. Spencer: System der synthetischen Philosophie, Bd. X, § 47.
Der Entstehung dieses autonomen Pflichtbewußtseins ging die Entstehung des heteronomen voraus. Wenn wir zwar nicht, wie Alex[ander] Bain, das Gefühl der moralischen Verpflichtung ausschließlich auf die Wirkungen von Strafen zurückführen, so erkennen wir an, daß die Furcht vor staatlichen, sozialen und religiösen Strafen die Wurzel des heteronomen Pflichtbewußtseins ist. – Wie entsteht das Gefühl der Pflicht zu beruflicher Tätigkeit? Welche Rolle spielen bei seiner Entstehung religiöse Gedankengänge, die nach W[eber] die alleinige Ursache der Berufspflicht sein sollen? Ist dieses Gefühl ein autonom oder heteronom bedingtes?
Ohne Zweifel haben Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften ein Interesse an der beruflichen Tätigkeit der einzelnen, sie werden daher Gesetze zur Regelung der Berufsarbeit erlassen haben. Ob aber die Berufstätigkeit selbst und das Pflichtgefühl zu derselben aus solchen von jenen drei Autoritäten erlassenen Gesetzen ausschließlich hervorgegangen ist, das ist zweifelhaft, unwahrscheinlich. Ungezwungener ist die Auffassung der Berufspflicht als eines autonom bedingten Gefühles: der emotionelle Drang zu beruflicher Tätigkeit entstand im Menschen, weil die Vorstellung der Berufserfüllung höhere Geltung besaß, als die Vorstellung der Unterlassung der Berufstätigkeit. Die Ausübung des Berufs erwies sich als ein in den Folgen segensreicheres Verhalten als das nur gelegentliche, dem augenblicklichen Bedürfnisse dienende Arbeiten. – Wir sehen: bei der Entstehung des heteronomen Pflichtgefühls können neben staatlichen und sozialen auch religiöse Vorstellungen mitwirkend sein. Höchst unwahrscheinlich ist es aber, daß das Gefühl der Berufspflicht, noch dazu das Pflichtgefühl zu gewerblicher, kapitalistischer Berufstätigkeit ein heteronom bedingtes oder gar ausschließlich religiös bedingtes Pflichtgefühl sei. Das Pflichtgefühl zu gewerblich-kapitalistischer Berufstätigkeit ist autonom bedingt und entspringt, wie aus seinem Wesen sich ergeben haben dürfte, nicht der Befolgung religiöser Vorschriften.
[ED 241]6. Der Zusammenhang zwischen Konfession und kapitalistischer Entwicklung – eine geistreiche Parallele?
Den psychologischen Bedenken gesellen sich bisher unerwähnt gebliebene historische hinzu. Daß im europäischen Mittelalter der kapitalistische Geist auch innerhalb des Katholizismus sich erhalten konnte, beweisen die Genuesischen, Florentinischen und Venetianischen Kapitalisten, ferner das Haus der Fugger und die Verwaltung des päpstlichen Kapitals. Die katholischen Gebiete des Niederrheines sind gleichfalls ein Hauptsitz kapitalistischer Unternehmungen gewesen. Im katholischen Belgien stand und steht der Kapitalismus höher als in Holland. Es scheinen doch physikalische Bedingungen und allgemeine Welthandelsbeziehungen für die Ausbreitung des kapitalistischen Geistes ausschlaggebend gewesen zu sein. Der strikte Calvinismus hat in Holland nur 7 Jahre wirklich geherrscht. Daß die in puritanischer Strenge lebenden Kapitalistenkreise in Holland schnell abgenommen haben, zeigt Huets Darstellung (Bd. II, Kap. III–IV). Der Calvinismus hat tatsächlich das Genießen des Reichtums dort nicht verhindert, wo andere Momente eine Entwicklung der Genußfreudigkeit begünstigt [477]haben. Die englischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts führen die Überlegenheit der holländischen Kapitalisten gegenüber den englischen darauf zurück, daß jene nicht, wie diese, die neuerworbenen Kapitalvermögen benutzten, um durch Aufkaufen von Landgütern und durch den Übergang zu feudalen Lebensgewohnheiten die Nobilitierung zu erwerben. Die holländischen Kapitalisten, obwohl jeglicher puritanischer Lebensweise abhold, behielten große Kapitalien zur freien Verfügung, weil sie ihre Gelder nicht in Ländereien anlegten. Ferner: In Italien zeigen sich große Unterschiede zwischen Ober- und Unteritalien in bezug auf das Vorhandensein des kapitalistischen Geistes, obgleich alle Teile dieses Landes katholisch sind. Auch in der Schweiz würde man durch das Zurückgreifen auf konfessionelle Unterschiede nicht alle Unterschiede in der Ausbreitung des kapitalistischen Geistes erklären können. Der Kanton Bern ist reformiert und zeigt noch keine kapitalistische Entwicklung.
Diesen Erwägungen gegenüber steht freilich die auffallende Tatsache, daß dort, wo in Frankreich die Hugenotten vertrieben wurden, die Industrie zurückging und umgekehrt dort aufblühte, wo die Hugenotten sich niederließen. Waren für diesen Parallelismus rein religiöse Momente bestimmend? Oder stellten die Übergetretenen den von vorn herein lebenskräftigeren, energischeren, für den Fortschritt prädisponierten Teil der Bevölkerung dar, was etwa schon ihr Widerstand gegen die überlieferte Religionsform beweist? Auch das Moment des Stammescharakters spielt in dieser Beziehung vielleicht keine ganz untergeordnete Rolle. Es scheint so, daß einige Volksstämme zur Entwicklung und Aufnahme des kapitalistischen Geistes mehr geeignet sind [ED 242]als andere. –
Unstreitig besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Konfession und der kapitalistischen Entwicklung. Auf diesen Parallelismus hat von neuem und energisch die verdienstvolle Arbeit Prof. Webers hingewiesen. Unsere Ausführungen, namentlich der psychologische Teil derselben, aber suchten zu zeigen, daß der kapitalistische Geist aus dem Puritanismus sich nicht ableiten läßt, daß wir mithin den angedeuteten Parallelismus nur feststellen, nur auf ihn hinweisen können. Eine Erklärung dieser Erscheinung dürfte das Ziel weiterer Forschungen sein.
Es sei gestattet, an dieser Stelle auf eine demnächst vom Verfasser erscheinende geschichtsphilosophische Studie hinzuweisen, in der die theoretischen, insbesondere psychologischen Voraussetzungen der materialistischen und idealistischen Geschichtsdeutungen dargelegt werden.