MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

„Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika . Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze. 1906
(in: MWG I/9, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube)
Bände

[435][B [558]][A 1] „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika
Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze
a[435]A: „Kirchen“ und „Sekten“. / Von Prof. Max Weber (Heidelberg).

1bFehlt in A.

Die starke Entwicklung des kirchlichen Gemeinschaftslebens in den Vereinigten StaatencA: Vereinigten Staaten ist eine Erscheinung, die jedem nicht ganz oberflächlichen Besucher des Landes in die Augen fällt. Allerdings, die rapide Europäisierung drängt heute die kirchliche Durchdringung des ganzen Lebens, die dem genuinen „Amerikanismus“1[435] Möglicherweise Anspielung auf Roosevelts Rede „Der wahre Amerikanismus“ von April 1894, in: Amerikanismus. Schriften und Reden von Theodore Roosevelt, ins Deutsche übertragen und mit einem Vorwort versehen von Paul Raché. – Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger 1903, S. 11–25. spezifisch war, überall zurück. Man kann die wunderlichen Kompromisse, in denen sich dies äußert, z. B. aus folgender statutarischendA: anfolgender statutarischen Bestimmung an einer der beiden Chicagoer Universitäten2 Es handelt sich um die Statuten der 1851 von Methodisten gegründeten Northwestern University in Evanston bei Chicago. Die zweite Universität ist die 1890 gegründete University of Chicago. kennen lernen: Der, bei Strafe der [B 559] Relegation,eKommata fehlen in A. obligatorische Besuch der chapelfA: „chapel“ seitens der Studenten kann 1. durch Belegen bestimmter Vorlesungen über die vorgeschriebene Mindestzahl hinaus „abgelöst“ werden, 2. aber werden Jedem, der den vorgeschriebenen chapel recordgA: „chapel record“ (sic!), in natura oder durch Ablösung,h Kommata fehlen in A. in einer Studienperiode nachweislich überschritten hat, die so aufgespeicherten opera supererogationisiA: „opera supererogationis“3 „Überpflichtige Werke“; vgl. auch das Glossar, unten, S. 834 f. auf die folgenden Perioden gutgeschrieben!jIn A folgt anstelle eines Absatzes ein Gedankenstrich.4 Die Bestimmungen über „Religious Worship“ für das College of Liberal Arts der Northwestern University lauteten: „1. When a student’s record shows an attendance of less than three-fifths of the chapel exercises of any semester, one semester-hour is added to the requirements for graduation of that student for every three credits need[436]ed […]. 2. when at the close of a semester the chapel record of a student shows a surplus of chapel credits, the surplus credits are applied to cancel any semester-hours which may have been added to the requirements […]; and the surplus chapel credits not needed to remove such semester-hours are transferred to the chapel record of the following semester. […]“. Bei unzureichendem Besuch des „chapel service“, der täglich außer am Samstag stattfand, drohte der Verlust der „registration“ für alle Semesterveranstaltungen. Zitiert nach: Bulletin of Northwestern University, Annual Catalogue 1903–1904. – Evanston, Chicago: Published by the University 1904, p. 168. Der Zweck der Bestimmungen war „the formation of a manly Christian character“ (dass., General Catalogue 1904–1905, p. 174). – Über die Bestimmungen äußert sich Max Weber auch im Brief an Helene Weber vom 20. September 1904 (in: Brief vom 19. und 20. Sept. 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 26–35; MWG II/4).

[436]Der „moderne“ oder modern sein wollende Amerikaner beginnt allmählich im Gespräch mit Europäern verlegen zu werden, wenn auf die kirchliche Eigenart des Landes die Rede kommt. Aber für das genuine Yankeetum ist das eine junge Erscheinung, und in die Tiefe ist diese „Säkularisation“k[436]A: Säkularisation des Lebens noch immer nicht gedrungen, soweit es sichlIn A folgt: eben um anglo-amerikanischemA: anglo-amerikanische Kreise handelt. Ihre Exklusivität einerseits und – wie hier gezeigt werden soll – ein Teil ihrer Überlegenheit im Kampf ums Dasein beruht auf diesen „Rückständen“. Und in Wahrheit ist es fast eine Hyperbel, von „Rückständen“ zu sprechen, wo es sich um einenA: einen der noch immer kräftigsten Komponenten der ganzen Lebensführung handelt, die in einer, für unser Empfinden grotesken, oft abstoßenden Weise in das Leben eingreiftoTextpassage fehlt in A..pIn A folgt Absatz. Deutsch-amerikanische Familien, die seit mehr als einem Menschenalter in dem qGedankenstrich fehlt in A. im Gegensatz zu „New-York proper“rB: ‘New-York proper’ – als fromm geltenden Brooklyn5 Brooklyn gehörte seit 1898 zu Greater New York; mit „New York proper“ dürfte Weber Manhattan meinen, das damals, im Bewußtsein der Zeitgenossen, zusammen mit The Bronx „die eigentliche Stadt New York“ bildete (vgl. Baedeker, K[arl], Nordamerika. Die Vereinigten Staaten nebst einem Ausflug nach Mexiko. Handbuch für Reisende, 2. Aufl. – Leipzig: Karl Baedeker, 1904, S. 23). Nach Brooklyn strömten Einwanderer aus den verschiedensten europäischen Ländern. Wegen seiner 490 kirchlichen Gebäude trug es laut „Baedeker“ den Beinamen „City of Churches“ (S. 60). ansässig sind, führen unter den HemmnissensA: Schwierigkeiten der Anknüpfung von intimeren Beziehungen zu den alteingeborenen Kreisen noch heute die SchwierigkeittA: Notwendigkeit an, auf die unumgängliche Frage: To what church do you belong?uA: „to […] belong“ eine befriedigende, und zwar nicht bloß „formale“ [437]Antwort zu geben.6[437] Weber bezieht sich auf ein Gespräch mit der deutsch-amerikanischen Familie Lichtenstein, bei der Max und Marianne Weber am 11. und 17. November 1904 zu Gast waren. Weber notiert in seinem Brief an Helene Weber vom 19. November 1904 (in: Brief vom 19. und 26. Nov. 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 104–113; MWG II/4): „Das heutige amerikanische Leben steckt voll solcher säcularisierter Sprößlinge des alten puritanischen Kirchentums.“ Und weiter: „Auch Lichtenstein’s sagten, die erste Frage der Amerikaner – mit denen sie deshalb nicht verkehrten – sei stets: ,which church do you belong to?‘ Alle gesellschaftlichen Bekanntschaften[,] wenigstens in dem im Gegensatz zu New York sehr frommen Brooklyn und die Verkehrs-, Diner- etc. Beziehungen in den eigentlichen Yankee-Kreisen knüpfen an die Kirche an –, noch jetzt! Trotz allen Verfalls.“ Noch heute ist es etwas durchaus Normales, daß ein Grundstücks-Spekulant, welcher seine Baustellen besetzt zu sehen wünscht, vor allem inmitten derselben eine „Kirche“,a[437] Komma fehlt in A. d. h. eine Holzscheuer mit TurmbA: Türe, nach Art der entsprechenden Gebilde in unseren Spielzeugschachteln, erbaut und alsdann einen eben dem Seminar entsprungenen Kandidaten irgend einer DenominationcA: „Denomination“ für 500 Dollars engagiert, mit der, sei es ausdrücklichen, sei es stillschweigendendA: stillschweigenden, Zusage, daß diese Position sich zu einer Lebensstellung auswachsen werde, falls es dem Betreffenden nur gelinge, die BaustelleneA: Baustelle recht schnell „voll“ zu predigen. Und es gelingt zumeist.fKein Absatz in A.

Die privaten statistischen Erhebungen, welche uns zur Verfügung stehen, zeigen noch jetzt im Durchschnitt weit unter ein Zehntel (etwa 13) der Bevölkerung als formell „konfessionslos“,7 Vgl. Carroll, Religious Forces (wie oben, S. 434, Anm. 27), p. xxxvi: Demnach gehörten nach der Zählung im Jahr 1890 5 630 000 der 62 622 250 US-Amerikaner keiner christlichen Religion an. Zieht man „Jews and other religious bodies“ ab, so dürften 5 Millionen zu „non-religious and anti-religious classes, including free-thinkers, secularists, and infidels“ gehört haben. Dies entspricht etwa 13 der Bevölkerung. in einem Lande, welches das verfassungsmäßige Verbot der offiziellen Anerkennung irgend einer Kirche so weit auslegt, daß wir ebengFehlt in A. aus diesem Grunde keine offizielle Konfessionsstatistik haben, weil schon die, amtliche, Frage nach der KonfessionhA: weil eben schon die amtliche Frage nach der Konfession, die bei uns jeder als Zeuge Vorgeladene beantworten muß, als [438]verfassungswidrig gilt.8[438] Die religiöse Neutralität der USA wird mit Artikel VI der Bundesverfassung von 1789 und dem ersten Verfassungszusatz (Amendment) von 1791 begründet: „Art. VI. No religious test shall ever be required as a qualification to any office or public trust under the United States.“ Und: „Amendment I. Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibiting the free exercise thereof“ (zitiert nach Bryce, American Commonwealth II, p. 570). Bei einem Census wird deshalb nicht nach der Religionszugehörigkeit gefragt. Die genannten Zahlen stammen von den Kirchen und Denominationen, so Carroll, Religious Forces (wie oben, S. 434, Anm. 27), p. xii f. Und dies ferner unter Verhältnissen, wo der Begriff der „Zugehörigkeit“ zu einer kirchlichen Gemeinschaft etwas ganz Anderes als bei uns, schon in rein materieller Hinsicht, bedeutet: ungelernte Holz- und Hafenarbeiter einer evangelischen Gemeinde in der Gegend von Buffalo z. B. lassen sich ihre Kirche jährlich über 80 Mk. an festen Abgaben pro Mitglied kosten, ungerechnet die äußerst zahlreichen und für den Unterhalt des Pfarrers und der Kirche selbst unentbehrlichen collections.9 Die Information verdankt Weber Hans Haupt, Pfarrer der „German Evangelical Church“ (und Schwiegersohn des Halleschen Nationalökonomen Johannes Conrad) in dem Städtchen North Tonawanda bei Buffalo. Weber berichtet Helene Weber am 8. September 1904 (in: Brief vom 8.–11. Sept. 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 16–24; MWG II/4): „Die Gemeinde besteht aus 125 Familien, […] die Unterhaltung der Kirche und des Pfarrers bringt die Gemeinde – fast alles ungelernte Handarbeiter aus den Holzmühlen und Packhöfen pp. [–] natürlich selbst auf: den einzelnen Arbeiter kostet das an Umlage ca 20–30 $ (80120 Mark) jährlich, daneben Collekten“. Das Gehalt des Pfarrers in Tonawanda betrage jährlich „gegen 1000 $ (4200 Μ)“, das eines Arbeiters ebensoviel. Wiei[438]A: „collections“. Und wie sehr jene amtlich verpönte, privatim aber noch immer sokA: aber, wie gesagt, noch immer bedeutungsvolle Frage nach der KirchenzugehörigkeitlA: Kirchenzugehörigkeit, der homerischen Erkundigung nach Heimatsort und Eltern entspricht, erfuhr ein deutscher Nasenspezialist, der sich in Cincinnati niedergelassen hatte,10 In Webers Reisekorrespondenz nicht erwähnt. zu seinem nicht geringen Erstaunen, als er von Seiten seines ersten Patienten,mKomma fehlt in A. auf die Frage nach der Natur seiner Beschwerden,nA: Beschwerde vor allem Weiteren als erste Angabe die Mitteilung gemacht erhielt: I am from the 2d Baptist Church in the X-Street.oA: „I am […] X-Street.“ Aetiologisch stand dieser Umstand, wie sich für den verblüfften Arzt weiterhin ergab, natürlich mit dem Nasenleiden nicht in Verbindung, dagegen [439]sollte er etwas Anderes, für ihn nicht Gleichgültiges besagen, nämlich: Sei wegen deines Honorars unbesorgt!p[439]A: „Sei […] unbesorgt!“

Die Zugehörigkeit zu einer nach amerikanischen VorstellungenqFehlt in A. „reputierlichen“ Kirchengemeinschaft garantiert die Reputierlichkeit des Individuums, die gesellschaftliche nicht nur, sondern auch und vor allem die geschäftliche. „Herr“, – sagte mir ein schon älterer Gentleman, der in Undertakers Hard[B 560]warerA: „Undertakers Hardware“ (eisernen Leichenstein-Aufschriften) reiste und mit dem ich in Oklahoma einige Zeit zusammen war – „meinethalben mag Jedermann glauben,sKomma fehlt in A. was ihm beliebt, – aber wenn ich von einem Kunden in Erfahrung bringe, daß er seine Kirche nicht besucht, dann ist er mir nicht für 50 Cts. gut: why pay me, if he doesn’ttA, B: does n’t believe in anything?“11[439] In Webers Reisekorrespondenz nicht erwähnt. In einem so ungeheuer ausgedehnten Lande mit dünner Besiedelung und unstäter Bevölkerung, wo überdies das Gerichtsverfahren zur ZeitaA: z. Zt. noch in anglo-normannischem Formalismus12 Im Unterschied zum „statute law“ des europäischen Kontinents, das auf das römische und das kanonische Recht zurückgeht, ist das angelsächsische Recht normannischen Ursprungs und als „case law“ verfaßt. Bei der Rechtsfindung spielten die Klageschemata („writs“) eine zentrale Rolle, unter Umständen ergänzt durch das Equity-Verfahren (zum Ausgleich von Härten nach richterlichem Ermessen). Während man sich in England bereits um Vereinfachung des Common law (1850, 1852) und um die Verschmelzung mit dem Equity-Recht (1875) bemühte, praktizierte man an den Gerichten der nordamerikanischen Bundesstaaten noch auf die herkömmliche Art. Zu Webers Feststellung auch Bryce: „[…] and in Chicago, a place which living men remember as a lonely swamp, special demurrers, replications de injuria, and various elaborate formalities of pleading which were swept away by the English Common Law Procedure Acts of 1850 and 1852, flourish and abound to this day“ (Bryce, American Commonwealth II, p. 504 f., im Exemplar der UB Heidelberg mit Randmarkierungen Max Webers im Kontext; vgl. auch ebd., p. 453 f.: das bestehende Recht sei unpraktisch in dünnbesiedelten Gegenden). Die formalistische Handhabung des Rechts ironisiert auch Münsterberg, Die Amerikaner I (wie oben, S. 433, Anm. 26), S. 180. steckt, das Exekutionsrecht lax und zu Gunsten der Masse der Farmer des Westens durch die Homestead-PrivilegienbA: homestead-Privilegien so gut wie ausgeschaltet ist,13 Das homestead law (Bundes-Heimstättengesetz) von 1862, modifiziert 1891, ermöglichte es einem Siedler, 80 bis 160 Acres unbebautes, öffentliches Land gegen eine geringe Gebühr als Wohn- und Wirtschaftsstätte zu übertragen (sog. „home[440]stead“). Während der ersten fünf Jahre (seit 1891: 14 Monate) haftete er bei Schulden nicht mit diesem Land. Nach Ablauf der Frist wurde er Eigentümer des Landes. Danach griff die homestead exemtion law der Bundesstaaten oder Territorien. Bei Schulden schützte es eine bestimmte Fläche (40–200 Acres) der „homestead“ oder eine entsprechende Geldsumme vor gerichtlicher Zwangsvollstreckung. – Das Exemtionsgesetz bot allerdings keinen Schutz für den Fall, daß, etwa zur Anschaffung von Maschinen, ein Kredit aufgenommen werden mußte. Dazu bedurfte es realer Sicherheiten, die unter Umständen nur unter Preisgabe des Heimstättenprivilegs gestellt werden konnten. Vgl. Sering, M[ax], Art. Heimstättenrecht, in: HdStW2, 4. Band, 1900, S. 1175–1184, über Nordamerika S. 1175–1178, Zitate S. 1176. – Auch Bryce, American Commonwealth II, p. 424, äußert sich kritisch zu den Homestead-Privilegien: „Efforts to protect individuals […] are so frequent and indulgent that their [the States] policy is beginning to be seriously questioned.“ konnte der Personalkredit eben zunächst nur auf den [440]Krücken einer solchen kirchlichen Garantie der Kreditwürdigkeit fußen. So waren im Mittelalter bekanntlich die Bischöfe die ersten voll kreditwürdigen Schuldner, weil die päpstliche Exkommunikation im Fall leichtfertiger Nichtzahlung über ihnen schwebte.14 Dieses System ist „wohl schon um 1200“ ausgebildet. Vgl. Schulte, Aloys, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluß von Venedig, 1. Band. – Leipzig: Duncker & Humblot 1900, S. 230–272, bes. S. 263 ff., Zitat S. 264. Und das ungeheure Pumpsystem, welches zu meiner Studentenzeit für die Existenz eines Heidelberger Kouleurstudenten15 Max Weber war in seinem zweiten Heidelberger Semester am 1. November 1882 in die Studentenverbindung „Allemannia“ eingetreten, deren Mitglied er formell bis 1918 war. Näheres im Editorischen Bericht „Zu einer Erklärung der Heidelberger Couleurstudenten“, MWG I/16, S. 191–193, und Reinbach, Wolf-Diedrich, Max Weber und seine Beziehungen zur Burschenschaft Allemannia zu Heidelberg. – Heidelberg: o.V. 1999 (hinfort: Reinbach, Allemannia). nahezu die Notwendigkeit eines eigenen „Barvorrats“ ausschaltete,16 Für die Heidelberger Allemannia vgl. den Bericht Theodor Pflocks über das Sommersemester 1882: „Man half sich notgedrungen durch Schuldenmachen, zumal dem Couleurpump die Heidelberger Geschäftsleute bereitwilligst entgegenkamen – ebenso wie dem persönlichen Pump der einzelnen Mitglieder […]“ (Reinbach, Allemannia (wie oben, Anm. 15), Zitat S. 59). Nicht eingelöste Geldkredite galten als unehrenhaft und konnten zum Ausschluß aus der Verbindung führen. – sobald der Fuchs „das Band erhielt“,17 Nach einer in der Regel zweisemestrigen Probezeit wurden die „Füchse“ (Anwärter) Vollmitglieder („Burschen“) und erhielten das meist dreifarbige Couleurband der Verbindung. zogen damals die Kreditoren die (nach damaligem Recht zulässige) Pfändung seiner Matrikel zurück, – oder jener so bedenkliche Kredit, den der deutsche Leutnant genießt, weil eventuell sein Oberst gegen ihn einschreitet:c[440]A: einschreitet, –18 Schulden von Offizieren galten als Ehrenschulden. Wer seine Schulden auf Ehren[441]wort gemacht hatte und nicht tilgte, konnte vor ein Ehrengericht gezogen werden, das Sanktionen bis zur Dienstentlassung verhängen konnte (§ 30 Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872). [441]sie beruhen ebenfalls auf jener (wirklichen oder vermeintlichen) Bedeutung „sozialer Bürgschaften“dA: [441]sozialer Bürgschaften: die ganze gesellschaftliche Existenz des Kreditnehmers ruht auf der Zugehörigkeit zu jener Gemeinschaft, die deshalb seine Kreditwürdigkeit garantiert.19 Weber schreibt 1904 über Verbindungen: Sie seien „keineswegs in erster Linie Pflegestätten studentischer Ehre und Sitte, sondern einfach Avancement-Versicherungs-Anstalten“; Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 183, Fn. 67. So steht es nuneFehlt in A. auch mit dem amerikanischen Kirchengemeindemitglied, und zwar in der höchsten Potenz: entsprechend der noch geringen Differenzierung der sozialen Zweckverbände umschließt in den Vereinigten Staaten, da, wo die alten Verhältnisse noch in Kraft stehen, die ursprünglichste und universellste Gemeinschaft,fA: Gemeinschaft: die religiöse Gemeinde, noch fast alle „sozialen“ Interessen, welche das Individuum über die Schwelle des eigenen Heims überhaupt hinausführen. Nicht nur belehrende Vorträge, Tee-Abende, Sonntagsschule, alle denkbaren charitativengFehlt in A. Veranstaltungen, sondern auch die verschiedensten athleticshA: „athletics“, Football-Training und dergl. bietet die Kirchengemeinde und läßt die Zeiten dafür unter UmständeniFehlt in A. am Schluß des Gottesdienstes abkündigenkA: ankündigen:20 Weber erwähnt dies auch im Brief an Helene Weber vom 20. September 1904 (in: Brief vom 19.–30. Sept. 1904, wie oben, S. 436, Anm. 4). ein Mann, der wegen dishonourable conductlA: conduct, von ihr – wie dies früher geschah – öffentlich exkludiert oder – wiemIn A folgt: auch jetzt – stillschweigend aus ihren Listen gestrichen wird, verfällt damit einer Art von sozialem Boykott;nA: eo ipso dem sozialen Boykott, wer außerhalb ihrer steht,oKomma fehlt in A. hat keinerlei gesellschaftlichen „Anschluß“. Trotz der Abschwächung, welche, ganz abgesehen von der modernen Entwickelung, schon diepA: die, im Gefolge der scharfen Konkurrenz der Denominationen unter einander grassierende Seelenfängerei naturgemäß mit sich bringt, und trotz der allgemeinen Zersetzung dieser Machtstellung des Kirchlichen,qFehlt in A. ist die Garantie, welche für die geschäftlichen Qualitäten in der Kirchenmitgliedschaft liegt, dennoch eine bedeutende.

[442]Massenhafte „Orden“ und Klubs der allerverschiedenstenr[442]A: allerentschiedensten Art haben nunsFehlt in A. heute begonnen, der religiösen Gemeinschaft diese Funktion teilweise abzunehmen: Fast jeder kleine Geschäftsmann, der Etwas auf sich hält, trägt irgend eine badgetA: „badge“ im Knopfloch.21[442] Dieselbe Beobachtung hält Weber in seinem Brief an Helene Weber vom 19. Oktober 1904 (in: Brief vom 14.–21. Okt. 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 60–73; MWG II/4) fest. Er berichtet anläßlich eines Verwandtenbesuchs auf den Farmen der Familien Jefferson (Jeff) und James Miller bei Mount Airy, North Carolina: „Auch die alte soziale Funktion dieser Sekten ist abgeschwächt. Zwar wird ein jeder, auch der Pfarrer, als ,brother‘ X vorgestellt, aber James gehört einem ,Orden‘ an, in den man auf Vorschlag von 5 Mitgliedern cooptiert und aus dem man bei schlechtem Wandel ausgestoßen wird […].“ Weber annotiert dazu: „Darauf beruht zum guten Teil die Creditwürdigkeit, Jeder trägt daher im Knopfloch die ,badge‘ seines Ordens.“ Ähnlich im Brief an dies, vom 19. November 1904 (in: Brief vom 19. und 26. Nov. 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 104–113; MWG II/4): Eine „badge“, d. h. ein „Abzeichen“ oder eine am Revers befestigte Plakette, trügen Farmer und Geschäftsleute gern, um damit ihre „Legitimation“ als „gentleman“ nach vorausgegangenen Recherchen über Charakter und Wandel zu bekunden, sie übernehme damit die Funktion, die bei den „alten Sekten“ der von der Gemeinde ausgestellte „,letter of recommendation‘“ für auswärtige „,Brüder‘“ hatte. Aber das Urbild dieser Gebilde, welche alleuA: alle dazu dienen, die „Honorigkeit“ des Individuums zu gewährleisten, ist eben die kirchliche Gemeinschaft. Am vollkommensten aber ist – und auf diesen Punkt sollte hier mit einigen Worten hingewiesen werden – diese Funktion entwickelt bei denjenigen Gemeinschaften, welche „Sekten“ in dem gleich zu erörternden22 Siehe unten, S. 446–460. spezifischen Sinn des Wortes sind. Mir persönlich wurde dies besonders deutlich, als ich, an einem kalten Oktobersonntag, im Vorlande der Blue Ridge Mountains in Nord Carolina einer Baptistentaufe beiwohnte:23 Die Schilderung der Baptistentaufe findet sich fast wörtlich im Brief an Helene Weber vom 19. Oktober 1904 (wie oben, Anm. 21). etwa zehnaA: 10 Personen beiderlei Geschlechts, in full dressbA: „full dress“, stiegen nach einander in das eisige Wasser des Gebirgsbaches, in welchem während der ganzen Prozedur der schwarz bekleidete Reverend bis zur Hälfte des Körpers stand, lehnten sich nach umfangreichen Verpflichtungsformeln in seinem Arm, in den Knien einknickend, rückwärts bis zum Verschwinden des Gesichtes unter Wasser, stiegen prustendcA: pustend und schlotternd her[B 561]aus und wurden von den massenhaft zu Pferd und zu Wagen gekommenen Farmern congratula[443]tedd[443]A: „congratulated“ und schleunigst – aber zum Teil stundenweit – nach Hause gefahren. Faith schütze sie vor Erkältung, hieß es.eA: („Faith“ schützt sie vor Erkältung, hieß es). Einer meiner Vettern, der mich von seiner Farm aus hinbegleitet hatte, und – er bewahrt als Zeichen seiner deutschen Abkunft die Unkirchlichkeit!fA: Unkirchlichkeit24[443] Jefferson (Jeff) Miller. Weber erwähnt dessen Unkirchlichkeit – sein Bruder James sei Methodist – im Brief an Helene Weber vom 19. Oktober 1904 (wie oben, S. 442, Anm. 21). – den Vorgang unter despektierlichem Ausspucken über die Achsel hin ansah, zeigte ein gewisses Interesse, als ein intelligent aussehender junger Mann sich der Prozedur unterzog: Oh see: Mr. X! – I told you so!gA: „Oh […] so!“ Zur Rede gestellt, erwiderte er zunächst nur: Mr. X. beabsichtigtehA: beabsichtige, in Mt. Airy eine Bank aufzumachen und brauche bedeutenden Kredit. Die weitere Erörterung ergab, daß hierfür die Aufnahme in die Baptistengemeinde nicht in erster Linie wegen der Baptisten-KundschaftiB: Baptisten Kundschaft, sondern vielmehr gerade auch für die nicht baptistischen Kunden deshalb von entscheidendem Werte sein mußtekA: müßte, weil die eingehenden RecherchenlA: eingehenden Recherchen, über sittliche und geschäftliche Lebensführung, welche ihr vorangingen – ich gedachte unwillkürlich unserer Recherchen bei Reserve-Offiziers-Aspiranten25 Dieselbe Assoziation in Webers Brief an Helene Weber vom 19. November 1904 (mit Zitat ebd.). – für die weitaus strengsten und verläßlichsten galtenmA: gelten: jede Unpünktlichkeit in Zahlung einer Schuld, leichtfertige Ausgaben, Wirtshausbesuch, kurz Alles, was auf die geschäftliche Qualifikation des Betreffenden ein irgend zweifelhaftes Licht fallen ließ, bedeutete – bei der dortigen Gemeinde – Abweisung. Ist er hineinballotiert, so begleitet den Einzelnen die Sekte sein Leben lang bei allen seinen Schritten: verzieht er an einen anderen Ort, so stellt sie ihm das Attest aus, ohne welches er in die dortige Gemeinde seiner „Denomination“ nicht auf genommen wird.26 Vgl. ebd.: „letter of recommendation“. Kommt er ohne Schuld in Zahlungsschwierigkeiten, dann – dieser Punkt ist heute bei den Sekten im Verfall, findet sich aber bei zahlreichen „Orden“nA: „Orden“, – sucht sie ihn zu „sanieren“, damit der Ruf der Sekte nicht Schaden nehmeoFehlt in A..

[444]Wir können die rücksichtslose Schärfe der Kontrolle, welche alle auf der Grundlage des Täufertumsp[444]A: „Büßertums“ erwachsenen Sekten, besonders auch die QuäkerqA: Quäker, über die Lebensführung, vor allem über die geschäftliche Rechtlichkeit ihrer Zugehörigen ausübten, durch den ganzen Verlauf ihrer Geschichte hindurch verfolgen: die puritanische „innerweltliche Askese“rA: innerweltliche Askese gipfelte bei ihnen ja geradezu in der Wendung ihrer „Kirchenzucht“ speziell nach dieser Seite. UnbedingtesA: dieser Seite: unbedingte Rechtlichkeit, daher z. B. System der festen Preise im Detailhandel,27[444] Vgl. unten, S. 445 mit Anm. 35. streng solide Kreditgebarung, Vermeidung alles „weltlichen“ Aufwands und jeder Art von debaucherytA: „debauchery“, kurz, nüchterne Arbeitsamkeit im „Beruf“ das ganze Leben hindurch, erscheint als die spezifische, ja im Grunde geradezu als die einzige Form, in der man seine Qualifikation als Christ und damit seine moralische Legitimation für die Zugehörigkeit zur Sekte erweisen konnte.28 Vgl. dazu Webers Ausführungen über die Quäker: Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 362 f., 383 und S. 409 f. mit Fn. 68. Wenn in Amerika die Berührung dogmatischer Dinge, speziell der sogenannten „Unterscheidungslehren“uA: sog. „Unterscheidungslehre“29 Lehrhafte Formulierungen der dogmatischen Unterschiede zwischen Konfessionen oder Denominationen. in den Predigten durchaus verpönt, der pulpit exchangeaA: oder „pulpit exchange“ (zeitweiliger Austausch von beliebten Predigern zwischen den Sekten)30 Weber erwähnt diese Praxis auch in seinem Brief an Helene Weber vom 20. September 1904 (in: Brief vom 19. und 20. Sept. 1904, wie oben, S. 436, Anm. 4). Auch Bryce geht darauf ein: „Such exchanges of pulpit are common among Presbyterians, Congregationalists, and other orthodox Protestant bodies“ (Bryce, American Commonwealth II, p. 579, auch p. 584; im Exemplar der UB Heidelberg unterstrich Weber den Satz auf p. 579 und das Stichwort auf p. 584). häufig und die Neigung, interdenominationellebA: internominationelle Kartelle zur Abstellung des „unlauteren Wettbewerbs“ in der Acquisition von Mitgliedern zu schließen, zur Zeit ziemlich fühlbar ist,31 Auch Bryce, American Commonwealth II, p. 584. so ist dies heutecA: heute zwar zum Teil Symptom des mit der Europäisierung zunehmenden Indifferentismus. Aber auch in der Vergangenheit finden sich solche spezifisch „undogmatische“ Epochen,dA: undogmatischen Epochen und die (relative) Indifferenz gegenüber dem Dogma ist jaeFehlt in A. geradezu Merkmal des [445](im weitesten Sinn des Wortes) „pietistischen“ Christentums.32[445] Vgl. dazu Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 311. Die Grundthese aller Spielarten des „asketischen“ Protestantismus (radikaler Calvinismus, Baptismus,f[445]A: Protestantismus: – radikaler Baptismus, Mennonitentum, Quäkertum, Methodismus und die asketischen Zweige des kontinentalen Pietismus):gA: Pietismus –: daß nur die Bewährung im Leben, speziell aber in der Berufsarbeit, die Versicherung der Wiedergeburt und Rechtfertigung enthalte,33 Vgl. ebd., oben, S. 242–425. drängte immer wieder in die Bahn: derhA: Der „bewährte“ Christ ist der bewährte „Berufsmensch“, insonderheit der, vom kapitalistischen Standpunkt aus,iA: speziell der vom kapitalistischen Standpunkt aus tüchtige Geschäftsmann.34 Vgl. ebd., oben, bes. S. 366–425. Das Christentum dieses Gepräges war einer der Haupterzieher des „kapitalistischen“ Menschen, und schon im 17. Jahrhundert jubeln die Quäker-Schriftsteller über den sichtlichen Segen Gottes, der auch die „Kinder der Welt“ in ihre (der Quäker) Geschäfte als Kunden bringe, weil sie hier die [B 562] zuverlässigste Bedienung, feste Preise usw.jA: u.s.w. zu finden sicher seien.35 „This trait [of punctuality to Words and Engagements, Ed.] was remarked to be true of them in their concerns in trade. […] a strict execution of all commercial appointments and agreements between them and others, and because they never asked two prices for the commodities which they sold.“ Clarkson, Thomas, A Portraiture of the Christian Profession and Practice of the Society of Friends, 3. ed. – Glasgow: Robert Smeal, London: Blackie and Son1869, p. 276. – Weber verdankt, wie er später schreibt, das Wissen über das System der festen Preise bei den Quäkern Eduard Bernstein; vgl. Weber, Protestantische Sekten, GARS I, S. 219, Fn. 1 (MWG I/18). Bernstein, Kommunistische Strömungen, S. 682 mit Anm., erwähnt das Preissystem der Quäker. Weber fragt ihn in einem Brief vom 10. Dezember 1904 (IISG Amsterdam, Nl. Bernstein; MWG II/4) nach einer Quelle dafür. – Das System der „feste[n] Preise“ soll bereits der Quäker-Gründer George Fox entwickelt haben; vgl. Fox, George, An Aurobiography, ed. with an introduction and notes by Rufus Μ. Jones, vol. I. – Philadelphia: Ferris & Leach 1903, p. 36. Und bei dieser „pädagogischen“ Leistung wirkte nun und wirkt, wie gesagt, in gewissem Maß noch heute eben die Konstitution dieser religiösen Gemeinschaften als „Sekten“kA: „Sekten“ im spezifischen Sinne des Wortes mitlFehlt in A. .

Welches ist denn nun dieser Sinn? und was ist also, auf dem Boden des abendländischen Christentums, eine „Sekte“ im Gegensatz zu einer „Kirche“?mIn B folgt: Max Weber

[446][B [577]]2oIn B geht voraus: „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika / Eine kirchen- und sozialpolitische Skizzen1[446]Fehlt in A

Was ist also, auf dem Boden des abendländischen Christentums, eine „Sekte“ im Gegensatz zu einer „Kirche“?pB: „Kirche?“n2[446]Fehlt in A; in A folgt ohne Absatz „Weder […]“

Weder die bloße Beschränktheit der Bekennerzahl – die Baptisten sind eine derqA: Methodisten und Baptisten sind mit die stärksten aller protestantischen Denominationen36[446] Nach Carroll, Religious Forces (wie oben, S. 434, Anm. 61), p. 445, waren die Baptisten nach den Katholiken (über 8 Mio., davon ca. 7,9 Mio. römisch-katholisch, vgl. p. 445) und den Methodisten (knapp 5,5 Mio.) im Jahr 1895 mit knapp über 4 Millionen die drittgrößte religiöse Gemeinschaft und zweitgrößte protestantische Denomination in den USA (1900: Baptisten 4,4 Mio., Methodisten 5,8 Mio., Katholiken 8,4 Mio., so Scharff, Philipp/Brendel, L. u. a., Art. Nordamerika, Vereinigte Staaten von, in: RE3, 14. Band, 1904, S. 165–213, hier S. 174. – noch das staatskirchenrechtliche Merkmal der fehlenden „Anerkennung“, d. h. Privilegierung,rKomma fehlt in A. durch den Staat – die in Amerika ja allen Denominationen gemeinsam ist37 Vgl. dazu oben, S. 438, Anm. 8. – können schon an sichsA: an sich entscheidend sein. AllerdingstIn A folgt: aber wissen wir, daß der Umfang einer sozialen Gruppe auf ihre innere Struktur den einschneidendsten Einfluß zu haben pflegt. Und die Beschränkung der Größe der kirchenrechtlichen Einheit, der GemeindeuA: Einheit: der Gemeinde, auf einen solchen Umfang, daß alle Mitglieder einander persönlich kennen, und also ihre „Bewährung“ gegenseitig beurteilen und kontrollieren können, gehörtevA: gehört von jeher zu den FundamentalprinzipienaA: Fundamentalprinzipen des Täufertums und, in Form der Bildung der sogenannten class meetingsbA: sog. „class meetings“, in denen die Mitglieder, ursprünglich wöchentlich, eine Art gegenseitiger Beicht-Kontrolle ausübten, auch des genuinencA: der genuine Methodismus,38 Die Einteilung der methodistischen „societies“ in Klassen, die anfangs 12, später bis zu 20 Glieder umfaßten und deren dass leader mit der sittlichen Aufsicht beauftragt war, wurde 1742 von John Wesley in Bristol begründet. Vgl. Loofs, Art. Methodismus, S. 770, für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert in England ebd., S. 796 f. Wöchentliche class meetings dienten auch in den USA der Pflege des geistigen Le[447]bens und der Kirchenzucht. Vgl. Nuelsen, J[ohn] L[ouis], Art. Methodismus in Amerika, in: RE3, 13. Band, 1903, S. 1–25 (hinfort: Nuelsen, Art. Methodismus in Amerika), hier S. 17. Über den Charakter der Versammlungen vgl. auch Jacoby, Handbuch des Methodismus, S. 355–366 (mit Markierungen Max Webers im Exemplar der UB Heidelberg). – Als „Surrogat des katholischen Beichtinstituts in collegialischer Form“ beurteilt die class meetings auch Schneckenburger, Kirchenparteien, S. 133. ebenso aber der ecclesio[447]lae39 Vgl. dazu Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 315 mit Anm. 40. Gemeint sind die pietistischen Konventikel, in denen sich die Gläubigen zur Erbauung außerhalb des Gemeindegottesdienstes trafen. desdA: der Pietismus. Man braucht den Berliner Dom nur anzusehen, um zu wissen, daß jedenfalls nicht in diesem cäsaro[B 578]papistischene[447]A: cäsaropagistischen Prunksaal,40 Der Berliner Dom wurde am 27. Februar 1905 eingeweiht. Formwahl und ikonographisches Programm des barockisierenden, auf triumphale Repräsentanz zielenden Monumentalbaus zeigen den Anspruch des Bauherrn Kaiser Wilhelm II., ein Sinnbild der Synthese von Thron und Altar zu schaffen. sondern weit eher in den kleinen, jeden mystischen Schmuckes entbehrendenfA: entbehrenden, Betsälen der Quäker und Baptisten der „Geist“ desgA: der Protestantismus in seiner konsequentesten GestaltunghA: Ausprägung lebendig ist. Die starke Ausdehnung der Anhängerschaft des Methodismus, der, in seinen verschiedenen Ausprägungen, eine eigenartige Mischung „kirchen“- und „sekten“hafter Prinzipien darstellt, hat andererseits das heute zweifellose Überwiegen der ersteren sichtlich begünstigt.41 Allein in den USA werden von Carroll, Religious Forces (wie oben, S. 434, Anm. 61), p. 225, 17 methodistische Zweige gezählt (ebenso Nuelsen, Art. Methodismus in Amerika; wie oben, Anm. 38). Die meisten Mitglieder (2,6 Mio.) hatte laut Carroll die Methodist Episcopal Church (ebd., p. 450 f., p. 456). Allein die bloße Tatsache der kleinen Zahl an sich steht zwar in engem Zusammenhang mit dem inneren „Wesen“ des Sektentums, ist aber dieses selbst noch nicht. Was ferneriA: aber das Verhältnis zum Staat anlangt, so kann die „Kirche“ natürlich das faktische Fehlen der staatlichen „Anerkennung“ mit der „Sekte“ teilen:kA: teilen, – der wirkliche Unterschied beider liegt auch hier darin, daß, was für die „Kirche“, die lutherische und reformierte ebenso wie die katholische, „Zufall“ und ihrer ganzenlIn A folgt: rechtlichen Struktur nach Prinzipwidrigkeit, für die „Sekten“ umgekehrt Ausfluß eines religiösen Gedankens ist. Für alle aus der großartigen volkstümlichen Bewegung des Täufertums hervorgegangenen Sekten ist die „Trennung von Staat und Kirche“ dogmatischer [448]Grundsatz,42[448] Für Mennoniten, Quäker, General und Particular Baptists; dazu Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 349 f. mit Fn. 126, auch S. 359 f. für diemA: [448]bei den radikal pietistischen Gemeinschaften (calvinistische Independenten und radikale Methodisten) wenigstens Strukturprinzip.nIn A folgt: (Schluß folgt.)

[A 1]EineoIn A geht voraus: „Kirchen“ und „Sekten“. / Von Prof. Max Weber (Heidelberg). / (Schluß.) „Kirche“pA: „Kirche“ will eine „Anstalt“ sein, eine Art göttlicher Fideikommißstiftung zur Seelenrettung derqA: des Einzelnen, die in sie hineingeboren werden und für sie prinzipiell Objekt ihrer an das „Amt“ gebundenen Leistung sind.43 Skizziert bereits von Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 349. Eine „Sekte“rA: „Sekte“ – nach der hier ad hoc geschaffenen Terminologie, die selbstredend von den „Sekten“ selbst nicht verwendet werden würde44 Vgl. ebd., oben, S. 349, Fn. 126: Weil sie sich als „die Kirche“ nach Epheser 5,27 definieren. Vgl. auch die von Weber gebrauchte Bezeichnung „believers’ church“, ebd., oben, S. 348 f. – ist dagegen eine freie Gemeinschaft lediglichsA: lediglich religiös qualifizierter Individuen, in welche der Einzelne kraft beiderseits freier Entschließung aufgenommen wird. Die geschichtlich gegebenen Ausprägungen des religiösen Gemeinschaftslebens fügen sich – wie immer, so auch hier – dem begrifflichen Gegensatz durchaus nicht einfach als Exemplare ein. Man kann immer nur fragen, in welchen Hinsichten eine konkrete Denomination dem einen odertIn A folgt: dem anderen „Typus“ entspricht oder nahesteht. Aber der prinzipielle Gegensatz des Grundgedankens macht sich immer wieder fühlbar. Während die Taufe ausschließlich auf Grund eines freien Entschlusses erwachsener Bekenner das adäquate Symbol des spezifischen „Sekten“-Charakters des Täufertums war, zeigtaA: zeugt z. B. die innere Unwahrheit der „Konfirmation“,45 Als bedenklich diskutierte man im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, daß man den 14- oder 15-jährigen Konfirmanden die Mündigkeit in Glaubenssachen zuspreche, ohne daß sie doch bereits reife Erwachsene wären: „Sollten sie nun kirchlich mündig sein, und sollte das etwas so Großes sein, daß sie nun selbst mit eigenem Mund, eigener freier Entschließung sich zu ihrem Heiland bekennen, dann ist es kein Wunder, wenn sie nun angesehen werden und sich selber ansehen als solche […], die in allem Wesentlichen jetzt den Erwachsenen gleich sind. Man ist zu hoch einhergefahren und muß nun von rechts wie von links den Vorwurf hören von der Unwahrheit der K[onfirmation].“ Simons, Ed[uard], Art. Konfirmation I., in: RGG, 3. Band, 1912, Sp. 1642–1652, Zitat Sp. 1646. [449]deren Verlegung aus dembA: [449]in das Kindheitsalter bekanntlich auch StoeckercA: Stöcker befürwortet,46[449] Adolf Stoecker hatte zur Änderung der Konfirmationspraxis ein dreistufiges Verfahren vorgeschlagen: 1. Am Ende der Volksschulzeit (d. h. für die 14- oder 15-Jährigen) solle nach vorausgehendem Unterricht eine gottesdienstliche Feier stattfinden, aber ohne Abendmahlsrecht. 2. Nur auf Bitten des Konfirmierten solle die Gemeinde das Recht zur Teilnahme am Abendmahl verleihen. 3. Die Gemeinderechte (Patenrecht, kirchliches Wahlrecht) dagegen sollen erst nach weiterem Unterricht und nach Bekenntnis und Gelübde verliehen werden. Vgl. Stöcker, Ad[olf], Die Änderung der bisherigen Konfirmationspraxis. Aus den Verhandlungen der 5. Hauptversammlung der freien kirchlich-sozialen Konferenz zu Erfurt am 18.–20. April 1900. Referat […]. – Berlin: Verlag der Buchhandlung der Berliner Stadtmission 1900, S. 10–24 (dass, in: ders., Reden und Aufsätze, hg. von Reinhold Seeberg. – Leipzig: A. Deichertsche Verlagsbuchhandlung 1913, S. 250–264). den inneren Widerspruch dieses nur formal „spontanen“ Bekenntnisses gegen die Struktur unserer „Kirchen“, die, eben als solche, nie prinzipiell über die keineswegs so sehr „naive“ bäuerliche Vorstellung hinausgelangen können, wonach der Pfarrer, alsdA: der Verwalter jenes göttlichen Fideikommisses, mehr glauben müsse als die Gemeinde und, kraft besonderer Gnadengaben, dazu aucheFehlt in A. imstande sei. Der „Universalismus" der „Kirchen“ läßt ihr Licht über Gerechte und Ungerechte [B 579]scheinen:47 Nach Mt 5,45 [1892]: „Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Weber ersetzt „Vater im Himmel“ durch die „Kirchen“. nur die offene Auflehnung gegen ihre Autorität, wie sie auch in notorischer und hartnäckiger UnbußfertigkeitfA: Sündhaftigkeit sich äußert, führt zur „Bannung“. Die Gemeinschaft der „Wenigen, die auserwählt sind“gA: „wenigen, die auserwählt“ sind,48 Zitat nach Mt 22,14. bleibt, als die „unsichtbare Kirche“,hKomma fehlt in B. in ihrem Bestände nuriA: und Gott bekannt.49 Zur Unterscheidung von „sichtbarer“ und „unsichtbarer“ Kirche nach dem Sprachgebrauch der Reformationskirchen vgl. auch Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 349 mit Fn. 125, sowie das Glossar, unten, S. 838. Für die genuine „Sekte“ ist dagegen die „Reinheit“ ihres Personalbestandes Lebensfrage:50 Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 298 und 357. in der Periode der Bildung der pietistischen Sekten war das treibende Motiv stets das tiefe Grauen davor, mit einem „Verworfenen“ das Abendmahl zu teilen51 Vgl. ebd., oben, S. 298, auch S. 273, S. 309, Fn. 76, und S. 312, Fn. 78. oder gar es aus der Hand eines Verworfenen, eines beamteten [450]„Mietlings“,52[450] Nach Joh 10,12 f.; d. h. ein von der Kirche angestellter und bezahlter Geistlicher im Gegensatz zu dem sich durch religiöse Qualifizierung ausweisenden Geistlichen einer Freikirche, „Sekte“ oder Denomination, der durch freiwillige Gaben der Mitglieder unterhalten wird. dessen Wandelk[450]A: „Wandel“ nicht die Zeichen der ErwählunglA: „Erwählung“ an sich trug, zu empfangen. Die „Sekte“ will religiöse „Elite“ sein, die „unsichtbare Kirche“ sichtbar in der Gemeinschaft der „bewährten“ Mitglieder dargestellt sehen.53 Vgl. dazu auch Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 349. Unerträglich muß ihr die Einmischung nicht religiös Qualifizierter in ihr inneres Leben, vor Allem deshalb jedemA: überhaupt jede Beziehung zu irdischen Gewalthabern sein: – der Satz „MannA: Satz: „man muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen“,54 Apg 5,29 („[…] denn den Menschen“ [1892]). dessen verschiedene AuslegungenoA: Ausprägungen und Ausdeutungen, in gewissem Sinn, die ganze Kulturmission des westeuropäischen Christentums in sich schließen, gewinnt hierpIn A folgt: überhaupt seine spezifisch anti-autoritäreqA: anti-autoritative Note.rKein Absatz in A.

Die ausschließliche Schätzung des Menschen lediglichaA: lediglich nach den religiösen Qualitäten, die er in seiner LebensführungbIn A folgt: sittlich bewährt, schneidet notwendig jeder feudalen undcFehlt in A. dynastischen Romantik die Wurzel ab. Der Abscheu vor jeder Art von „Kreaturvergötterung“ war zwar weder auf die „Sekten“ in unserem technischen Sinn beschränkt, noch ist er allen sektenartig konstituiertendB: konstruierten Gemeinschaften ohne WeitereseA: ohneweiters eigen.55 Dazu die Ausführungen: Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 266–268, Fn. 21. Er ist vielmehr Attribut jeder dem Wesen nach asketischen Religiosität undfA: Religiosität, bei den calvinistischen PuritanerngIn A folgt: aber direkte Konsequenz des Prädestinationsgedankens, vor dessen fürchterlichem Ernst alles „Gottesgnadentum“ irdischer Instanzen als blasphemischer Schwindel in Nichts zerfallen mußte.56 Ähnlich bereits ebd., oben, S. 297. Aber allerdings gewann jene StimmunghA: er auf dem seiner Natur nach anti-autoritären Boden des Sektentums erst seine vollste Ausprägung. Wenn der Quäker um der strikten Versagung aller höfischen oder dem Hofleben entstammenden Ehrfurchtsfor[451]men willen nicht nur die Märtyrerkrone,57[451] In England sollen von 1656 bis 1658 über 3000 Quäker inhaftiert gewesen sein, 1662 über 4000; vgl. Weingarten, Revolutionskirchen Englands, S. 272 mit Anm. 3; Skeats, Free Churches, p. 70 und 77. Besonders scharf ging man in den Puritanerkolonien in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts gegen die Quäker vor. Sie wurden ins Gefängnis geworfen, gefoltert oder verbannt. Ihre „Märtyrerfreudigkeit“, ausgehend von der Ablehnung der Ehrfurchtsformen, schildert Weingarten, ebd., S. 405–408. sondern die so viel schwererei[451]A: schwierigere Last der alltäglichen Verspottung auf sich nahm, so geschah dies aus der Überzeugung, daß jene Ehrfurchtsbezeugungen Gott allein gebührten und es eine Beleidigung seiner Majestät sei, sie einem Menschen zu gewähren.58 Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 352 f. mit Fn. 130; die Begründung bei Barclay, Apology, p. 515, 519 ff.; Weingarten, Revolutionskirchen Englands, S. 399 f. Die unbedingte Ablehnung aller solcher Anforderungen des Staats, welche „gegen das Gewissen“ gehen, und die Forderung der „Gewissensfreiheit“ als absolut gültigen RechtsjA: gültiges Recht des Einzelnen gegen den Staat war nur auf dem Boden des Sektentums konsequent als eine positiv religiöse Forderung denkbar.59 Vgl. dazu Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 312–314, Fn. 78, sowie Jellinek, der in diesem Kontext oft von „Gewissensfreiheit“ (oder Äquivalenten) spricht; Jellinek, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte2, S. 35 ff. Weber hebt die Bedeutung dieses Gedankens auch im Brief an Adolf Harnack vom 12. Januar 1905 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. Adolf von Harnack, K. 44, Bl. 1–2; MWG II/4) hervor: „Ich bin über die amerikanische Freiheit sehr andrer Meinung. […] Wir dürfen doch nicht vergessen, daß wir den Sekten Dinge verdanken, die Niemand von uns heute missen könnte: Gewissensfreiheit u. die elementarsten ,Menschenrechte‘, die uns heut selbstverständlicher Besitz sind. Nur radikaler Idealismus konnte das schaffen.“ Sie war am folgerichtigsten in der Quäker-Ethik fundamentiert, zu deren LeitsätzenkA: Fundamentalsätzen es gehörte, daß, was für den Einen Pflicht, für den AndernlA: die einen […] die andern verboten sein kann, wenn bei jenem das Tun, bei diesem aber das Unterlassen der Stimme seines eigenenmFehlt in A. sorgsam erforschten GewissensnA: Geistes entspricht.oIn A folgt Absatz. 60 Vgl. Weber, Protestantischen Ethik II, oben, S. 356, Fn. 134, mit Zitat aus Barclay, Apology, p. 487. Die Autonomie des Individuums erhielt so einen nicht im Indifferentismus, sondern in religiösen Positionen ruhenden Ankergrund, und der Kampf gegen alle Arten „autoritärer“ Willkür wuchs zur Höhe einer religiösen Pflicht empor. Und zugleich gewann so der Individualismus in der Zeit seiner heroischen Jugend eine eminente [452]gemeinschaftsbildende Macht.61[452] Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 261–265. Dem leicht mit ethischer Genügsamkeit sich verkoppelnden Universalismus der „Kirche“ tratp[452]A: tritt bei der Sekte einqIn A folgt: ganz anders gearteter, mit ethischem Rigorismus gepaarter PropagandismusrA: Universalismus gegenüber: am folgerichtigsten wiederum in der Ethik der Quäker entwickelt in dem Gedanken, daß Gott sein „inneres Licht“ auch denen mitteilen könne, zu welchen das Evangelium nie gedrungen seisA: die Evangelien nie gedrungen seien: nicht objektivierte Urkunden und TraditionentA: Individuen, sondern das religiös qualifizierte Individuum gilt eben als Träger der ewig sich fortsetzenden, nie vollendeten Offenbarung.62 Vgl. ebd., oben, S. 354 f. mit Fn. 133. Grundlage ist Barclay, Apology, Proposition II. „Of Immediate Revelation“, p. 18–67: Der wahre Glaube gründe auf der inneren, unmittelbaren Offenbarung Gottes, nicht auf der (heiligen) Schrift (die Relativierung der Schriftautorität ebd. in Proposition III, p. 67–94). Die „unsichtbare“ Kirche ist also hier größer als die „sichtbare“ Sekte,63 Vgl. Weber, Exzerpt, Bl. 35r. Dieser Gedanke kommt Weber zu Barclay, Apology, p. 271–275, vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 354, Anm. 37. Die universale, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannende Kirche („Universal“ oder „Catholick Church“) umfaßt nach Barclay auch die vom „inneren Licht“ affizierten „Heathens, Turks, Jews“ (p. 273). und es gilt, ihre Angehörigen zu sammeln: die protestantische Mission ist dem Schwerpunkt nach nicht aus den Kreisen der korrekten, an die parochiale Fixierung ihres „Amts“ gebundenen „Kirchen“, sondern von seiten des Pietismus und der Sekten aufgenommen worden.64 Das „persönliche Christentum“ und das „Drängen auf Bethätigung des Glaubens, auf Aktivität“ waren nach Gustav Warneck die Werte, die den Pietismus zur Weltmission animierten (vgl. Warneck, Art. Mission unter den Heiden, protestantische, in: RE3, 13. Band, 1903, S. 125–171, Zitate S. 134): Nach früheren Massentaufen und Indianermissionen wurden im 18. Jahrhundert erstmals in den Franckeschen Stiftungen ca. 60 Missionare für die Dänisch-Hallesche Mission methodisch ausgebildet. Auch die Brüdergemeine Ludwig Reichsgraf von Zinzendorfs betrieb Mission. Später, am Ende des 18. und während des 19. Jahrhunderts, ging von der Erweckungsbewegung die Gründung von Missionsgesellschaften aus. Welche mächtige ökonomische Interessen dabei die sektenmäßige Form der Gemeinschaftsbildung in ihren Dienst nahmuZu erwarten wäre: nahmen, [B 580] zeigten wohl die Beispiele, welche eingangs dieser Zeilen angeführt wurden.65 Siehe oben, S. 435–445. Die Sekte selbst ist ein ihrer Natur nach „partikularistisches“ Gebilde, – aber die Sekten-Religiosität [453]ist eine der spezifischsten Formen lebendiger, nicht nur traditioneller,a[453] Komma fehlt in A. „Volks“-Religiosität. Die Sekten allein haben es fertig gebracht, positive Religiosität und politischen Radikalismus zu verknüpfen, sie allein haben vermocht, auf dem Boden protestantischer Religiosität breite Massen und namentlich: moderne Arbeiter, mit einer Intensität kirchlichen Interesses zu erfüllen, wie sie außerhalb ihrer nur in Form eines bigotten Fanatismus rückständiger Bauern gefunden wird. Und darin ragt ihre Bedeutung über das religiöse Gebiet hinaus. Nur sie gaben z. B. der amerikanischen DemokratiebA: amerikanischen Demokratie die ihr eigene elastische Gliederung und ihr individualistisches Gepräge. Einerseits stellte der Gedanke, daß lediglichcFehlt in A. die von Gott dem Individuum verliehenen religiösen Qualifikationen alleindIn A folgt: lediglich über sein Seelenheil entscheiden, daß keinerlei sakramentale Magie ihm darin nützen könne,66[453] Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 260. daß nur sein praktisches Verhalten, seine „Bewährung“[,] ihm ein Symptom dafür sein könne, daß er auf dem Wege des Heils sei,67 Vgl. ebd., oben, S. 279–285 und 296. den Einzelnen in der ihm wichtigsten Angelegenheit absolut auf sich selbst allein;68 Vgl. ebd., oben, S. 259–265 und 272–276. andererseits wurde ausschließlich diese sich „bewährende“ Qualifikation des Individuums Grundlage des sozialen Zusammenschlusses der Gemeinde.69 Vgl. ebd., oben, S. 296–298, für den Pietismus S. 321 f., für die Methodisten S. 341 und die täuferischen Gemeinschaften und Quäker S. 357. Und nach dem Schema der „Sekte“ ist nuneFehlt in A. die ungeheure Flut sozialer Gebilde konstituiert, welche alle Winkel des amerikanischen Lebens durchdringen.

Wer sich unter „Demokratie“, wie unsere Romantiker es lieben, eine zu Atomen zerriebene Menschenmasse vorstellt, der irrt sich, soweit wenigstens die amerikanische Demokratie in Betracht kommt, gründlich: nicht die Demokratie, sondern der bureaukratische Rationalismus pflegt diese Konsequenz des „Atomisierens“ zu haben, die alsdann durch die beliebte Oktroyierung von „Gliederungen“ von oben herab nicht beseitigt wird. Die genuine amerikanische Gesellschaft – und es ist hier gerade auch von den „mittleren“ und „unteren“ Schichten der Bevölkerung die Rede – war [454]niemals ein solcher Sandhaufen, niemals auch ein Gebäude, wo Jeder, der da kommt, unterschiedslos offene Türen findet: sie war und ist durchsetzt mit „Exklusivitäten“ aller Art.1)[454]Hiergg–g (S. 455: […] fernzuhalten sein.) Fehlt in A. liegen einige jener Differenzpunkte, über welche ich, wäre ich nicht durch andre Arbeiten erschöpfend in Anspruch genommen,70[454] Im Frühsommer 1906 war dies vor allem die Abfassung und Drucklegung von: Weber, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, MWG I/10, S. 280–684, vgl. zur Datierung den dortigen Editorischen Bericht, S. 282 ff. mich gern bei dieser Gelegenheit mit dem Vortrag meines Freundes und Kollegen Troeltsch auf dem Breslauer Evangelisch-Sozialen Kongreß auseinandersetzen würde.71 Gemeint ist Ernst Troeltschs Referat „Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft“ (Troeltsch, Christliche Ethik), das er auf dem Evangelisch-Sozialen Kongreß im Mai 1904 in Breslau gehalten hatte. An dieser Stelle sei nur angedeutet, daß die ständige Identifizierung von „konservativ“ und „aristokratisch“ bei ihm72 Als „Konservatismus“ gilt Troeltsch ein „ethisch-politisches Prinzip“, das im Unterschied zum demokratischen Prinzip nicht die prinzipielle Gleichheit, sondern die „nie auszutilgende Ungleichheit“ der Menschen postuliert. Dabei gehe es nicht um ein „absolutes Konservieren gegebener Autoritäten, sondern um das Autoritätsprinzip überhaupt“. Es sei „deshalb im Grunde das aristokratische Prinzip, die Aristokratie nur im politisch-sozialen Sinne verstanden, wo sie die aus der Verschiedenheit und aus dem Kampf erwachsende, Herrschaft und Herrschaftsfähigkeit forterbende, Macht Einzelner und einzelner Schichten bedeutet.“ Zitate: Troeltsch, Christliche Ethik, S. 22 f. Dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 430 f. (wie bei so vielen Andren) zu manchen anfechtbaren Thesen führt. Daß beide Begriffe aber durchaus nicht identisch sind, und nur in Folge der heutigen historischen Konstellation bei uns in Deutschland so oft identifiziert zu werden pflegen, ist meines Erachtens nicht bestreitbar. Eine „volle“ Demokratie – nach dem üblichen Sinn dieses Wortes – ist in mehr als einem Sinne geradezu das „konservativste“ Gebilde, das es gibt, und die soziale, ökonomische, politische Differenzierung stellt ihr gegenüber einen revolutionierenden Entwicklungsprozeß dar. Des Weiteren ist auch der Sprachgebrauch bezüglich der Worte „Aristokratie“ und „Demokratie“ meines Erachtens bei Troeltsch73 Bei Troeltsch wurzelt die Aristokratie „vorzugsweise in dem Grundbesitze“; Troeltsch, Christliche Ethik, S. 24. (und bei vielen Andren) zu undifferenziert: setzt man Aristokratie einfach = soziale Exklusivität einer Menschengruppe, dann ist zunächst zu unterscheiden, ob sich die Zugehörigkeit zu jener Gruppe an persönliche Qualitäten oder Leistungen des Einzelnen anknüpft (Prädestination, „Bewährung“ in religiöser, geschäftlicher, sportlicher, „menschlicher“ etc. Hinsicht), oder ob durch die erblich überkommene soziale Schichtung ihm zugekommene Qualifikationsmerkmale oder die ihm zugerechnete soziale Position seiner Vorfahren etc. etc., kurz ob – nicht die Qualität der Person, son[455]dern – ihre Position die exklusive Gruppe konstituieren. An das letztere Merkmal pflegen wir zu denken, wenn wir von „Aristokratie“ reden, – bei Licht besehen: merkwürdig genug! denn von einer Gemeinschaft persönlicher ἄριστοι75 Griech., Tl. áristoi (Pl., Sgl. áristos), die „Besten“, „Edelsten“, „Vornehmsten“. ist dabei ja keineswegs in der Art die Rede, wie bei jener andren, den übernommenen Exklusivitäten der amerikanischen „Demokratie“ eignen Form. Selbst die Millionärsklubs drüben machen noch nicht unbedingt eine Ausnahme: man kann leicht bemerken, daß, während bei uns erst dem Enkel des „Parvenu“ die Weihe des Bluts zuerkannt wird, das genuine Amerikanertum umgekehrt nicht sowohl die Million und den Mann in Millionärsposition, sondern den Mann, der die Million zu erwerben verstand, schätzt.76 Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 408, Fn. 65. Will man also, wie auch Troeltsch es tut, die Stellung des Christentums zur „Demokratie“ oder „Aristokratie“ erörtern, so wird neben den sehr verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Demokratie“ auf dem Boden des ihr üblicherweise entgegengesetzten Begriffs „Aristokratie“ doch wohl die „Positions“- und die „Qualitäts“-Aristokratie [B 581]scharf zu scheiden, der Begriff des „Konservativen“ aber zunächst sorgsam davon fernzuhalten sein.g[455] g(S. 454: Hier liegen […])g Fehlt in A.f[454] Index und Fußnote fehlen in A. Nirgends bekommt – wo die alten Verhältnisse noch [B 581] bestehen – der Ein[455]zelne endgiltighA: endgültig Boden unter die Füße, weder auf der Universität noch im Geschäftsleben, wenn es ihm nicht gelingt, in einen sozialen Verband, früher fast stets kirchlicher, heute irgendwelcher andereniA: anderer Art, hineinballotiert zu werden und sich darin zu behauptenkA: behaupten. Und in der inneren Eigenart dieser Verbände waltet der alte „Sektengeist“ mit schonungsloser Konsequenz. Stets sind sie „Artefakte“, in der Terminologie von Ferdinand TönnieslA: F. Tönnies gesprochen: „Gesellschaften“ und nicht „Gemeinschaften“.74[455] Vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft; Weber äußert sich später kritisch dazu im Brief an Ferdinand Tönnies vom 29. August 1909, MWG II/6, S. 237–239. Das heißt: sie ruhen weder auf „Gemüts“-Bedürfnissen noch erstreben sie „Gemütswerte“; der Einzelne sucht sich selbst zu behaupten, indem er sich der sozialen Gruppe eingliedert; es fehlt jene undifferenziertemA: indifferenzierte bäurisch-vegetative „Gemütlichkeit“, ohne die der Deutsche keine Gemeinschaft pflegen zu können glaubt. Die kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung fördert die präzise Einordnung des Individuums in die Zwecktätigkeit der Gruppe – sei diese Football-Club oder politische Partei –, aber sie bedeutet keinerlei Abschwächung der Notwendigkeit für den Einzelnen, für seine Selbstbehauptung konstant besorgt zu sein: im Gegenteil, gerade [456]innerhalb der Gruppe, im Kreise der Genossen, tritt diese Aufgabe, sich zu „bewähren“, erst recht an ihn heran. Und nie ist daher der soziale Verband, dem der Einzelne zugehört, für ihn etwas „Organisches“, ein mystisch über ihm schwebendes und ihn umschließendes Gesamtwesen, stets vielmehr ganz bewußt ein Mechanismus für seine eigenen,n[456] Komma fehlt in A. materiellen oder ideellen Zwecke. So auch die höchsten sozialen Körper, im Verhältnis zu denen sich die typische „Respektlosigkeit“77[456] Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 353, Fn. 130 mit Anm. 32. des modernen Amerikaners so energisch manifestiert: Wechsel diskontieren78 Bei Ankauf noch nicht fälliger Wechsel (Wertpapiere) werden die Zinsen im Zeitraum des Ankaufstags bis zum Fälligkeitstag sowie eine Diskontprovision abgezogen (diskontiert). ist ein businessoA: „business“, und Verfügungen in staatliche Akten schreiben ist auch ein businesspA: „business“, und das letztere ist durch keinerlei „Weihe“ von dem ersterenqA: ersten unterschieden. Und: „es geht auch so“! – wie unbefangene deutsche Beamte, wenn sie die ausgezeichnete Arbeit, die von amerikanischen Officers geleistet wird und für unser Auge unter der dicken Kruste von großstädtischer Korruption, Parteigetriebe und bluffrA: „bluff“ verborgen sich vollzieht,79 Zur Kritik am amerikanischen, korruptionsanfälligen Regierungssystem, dem ein fachqualifiziertes Berufsbeamtentum fehlte, vgl. auch Bryce: „The offices are well paid, the patronage is large, the opportunities for jobs, commissions on contracts, pickings, and even stealings, are enormous“ (Bryce, American Commonwealth II, p. 96), und Münsterberg, Die Amerikaner I (wie oben, S. 433, Anm. 26), S. 86 f. – Das amerikanische Regierungssystem beruhte auf allen Ebenen (Bund, Staaten, Kommunen) auf dem spoils system, d. h. der Stellenbesetzung nach einem Wahlsieg mit eigenen Gefolgsleuten. Zwar bemühte man sich seit den 1870er Jahren um eine civil service reform, und mit der Pendleton Act 1883 hatte man auch eine Eignungsprüfung für Regierungsbeamte durchgesetzt. kennen lernen, sehr regelmäßig mit großem Erstaunen zuzugestehen pflegen.sKein Absatz in A. 80 Nicht nachgewiesen.

Gewiß: der demokratische Charakter Nordamerikas ist durch den kolonialen Charakter seiner Kultur bedingt und zeigt daher die Neigung, gemeinsam mit diesem sich abzuschwächen. Und ferner: auch von jenen speziellen amerikanischen Eigentümlichkeiten, die hier besprochen wurden, ist ein Teil durch die nüchterneaA: „nüchterne“ pessimi[457]stische Beurteilung der Menschen und alles Menschenwerks, die allen, auch den „kirchlichen“ Ausprägungen des Puritanismus eignet, bestimmt. Aber jene Verbindung der innerlichen Isolierung des Individuums, die ein Maximum von Entfaltung seiner Tatkraft nach außen bedeutet, mit seiner Befähigung zur Bildung von sozialen Gruppen von festestem Zusammenhalt und einem Maximum von Stoßkraft – sie istb[457]A: Stoßkraft ist, in ihrer höchsten Potenz, zuerstcFehlt in A. auf dem Boden der SektenbildungdA: Sektenbildung gewachsen.

Wir modernen, religiös „unmusikalischen“eIn A folgt ein Komma. Menschen81[457] Musik und Religion verbindende Redewendung, wie sie z. B. bei Friedrich Schleiermacher begegnet; vgl. ders., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1899], in 2. Aufl. mit neuer Einleitung versehen von Rudolf Otto. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1906. Dazu auch die Einleitung, oben, S. 23 f., Anm. 89. sind schwer imstande, uns vorzustellen oder auch nur einfach zu glauben, welche gewaltige Rolle in jenen Epochen, wo die Charaktere der modernen Kulturnationen geprägt wurden, diesen religiösen Momenten zufiel, die damals, als die Sorge für das „Jenseits“ den Menschen das Realste von Allem war, was es gab, Alles überschattete.82 Ähnlich Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 245 und 424. Es ist und bleibt unser Schicksal, daß, aus zahlreichen historischen Ursachen, die religiöse Revolution damals für uns Deutsche eine Entwicklung bedeutete, die nicht der Tatkraft der Individuen, sondern dem Nimbus des „Amts“ zu gute kam, und daß Hand in Hand damit jene Situation entstand, welche, weil die religiöse Gemeinschaft nach wie vor nur als „Kirche“, als Anstalt, bestand, alles Streben nach Emanzipation des Einzelnen von der „Autorität“, allen „Liberalismus“ im weitesten Sinne des Wortes, in die Bahn der Feindschaft gegen die religiösen Gemeinschaften treiben mußte und zugleich ihm selbst die Entwicklung jenerfA: und ihm selbst zugleich jene Schulung der gemeinschaftsbildenden Kraft vorenthielt, welche – neben anderen historischen Faktoren! – auch die Schule des „Sektentums“ der in all diesen Beziehungen so ganz andersartigen angelsächsischen Welt gewährt hat.83 Vgl. dazu Webers Brief an Adolf Harnack vom 5. Febr. 1906, MWG II/5, S. 32 f., mit Zitat im Editorischen Bericht, oben, S. 427, Anm. 5. Diese Ent[B 582]wicklung ist heutegA: heute auf dem Gebiet des [458]religiösen Gemeinschaftslebens selbstverständlich nicht „nachzuholen“, auch wenn Jemand es wollte. Heutige „Freikirchen“84[458] In Deutschland eine auf dem Freiwilligkeitsprinzip basierende, von Staat und Landeskirche unabhängige, selbständige Kirche. In Preußen war dies z. B. die sich der landeskirchlichen Union von Lutheranern und Reformierten widersetzende „Evangelisch-lutherische Kirche“ (sog. „Altlutheraner“), die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden war; ähnliche Freikirchen entstanden in Nassau, Baden, Hessen und Hannover. würden keine „Sekten“ werden wollen und können. Eine an Goetheh[458]A: Goethe sich orientierende „Bildungsreligion“ vollends ist dem genuinen Sektentum ebenso absolut entgegengesetzt, wie jede, und gerade eine liberale, TheologieiA: Theologie. Gewiß, auch die Sekten sind der Entwicklung einer eigenen Theologie nicht entgangen. Aber gegen NichtsjA: nichts protestiert die genuine und konsequente „Sekte“ leidenschaftlicher als gegen die Schätzung der gelehrten AnalysekA: gelehrte Analyse des Religiösen. Die religiöse Qualifikation der Persönlichkeit, und nicht irgendwelches gelehrte Wissen, legitimiert zur Leitung der Gemeinde, – für diesen Grundsatz haben alle Spielarten des spezifischen protestantischen Sektentums gestritten; deshalb spitzte sich z. B. der Kampf der „Heiligen“ Cromwells zuletzt direkt zu einem KriegelA: Kampf gegen die Theologie, gegen das „Amt“, gegen den „Zehnten“, der das „Amt“ trägt, und damit gegen die ökonomischen und ideellen Grundlagen der politisch und geistig gebildeten leisuremA: leisured classes85 Vermutlich übernommen von Veblen, Theory of the leisure dass (wie oben, S. 338, Anm. 48). und speziell der Universitäten zu.86 Das mehrheitlich aus religiös und politisch radikaleren Independenten bestehende sog. „Parlament der Heiligen“ (ab Frühjahr 1653) beriet vom 2. bis 12. Dezember 1653 über die Abschaffung des in erster Linie zur Besoldung der Geistlichen und der Universitäten bestimmten Zehnten. Man wollte auf diese Weise unliebsame Geistliche ihres Amtes entheben. Mit 56 zu 54 Stimmen wurde am 10. Dezember entschieden, die „untauglichen und Anstoß erregenden Mitglieder“ unter den Geistlichen zu ersetzen, den Zehnten aber beizubehalten. Um die Beschlüsse nicht wirksam werden zu lassen, sorgte die unterlegene Minderheit für die Auflösung des Parlaments. Die Gewalt fiel damit am 12. Dezember zurück in die Hände Cromwells, der am 16. Dezember 1653 zum Lord Protector proklamiert wurde. Nach: Ranke, Englische Geschichte III, S. 422-431, Zitat S. 423. Es war der tragische innere Bruch in Cromwells Lebensarbeit, daß er an diesem Punkte sich, als „Realpolitiker“, von den Seinen trennen mußte. Denn es [459]bedeutete, daß er die religiösen Postulate an außerreligiösen politischen und geistigen Kulturwerten maß. Daher der Ausspruch auf seinem Totenbett: daß er einst „in der Gnade gestanden“ habe.87[459] Hoenig, Cromwell III/4, berichtet von folgendem Gespräch Cromwells auf dem Totenbett mit seinem Geistlichen: „,Sagen Sie mir, ist es möglich, aus dem Zustande der Gnade zu fallen?‘ ,Es ist nicht möglich,‘ antwortete der Priester. ,ln diesem Falle bin ich ruhig, denn ich weiß, daß ich einmal darin war‘“ (S. 366). Aber über Eins ist keine Täuschung zulässig: auch alle heutigen Argumentationen gegen die „Enge“ und „Abstrusität“ des Sektentums, die wir von den besten und „modernsten“, dogmatisch ungebundenstenn[459]A: ungebundenen Vertretern des Ideals der universalistischen evangelischen „Kirche“ hören, bedeuten ganz das Nämliche: KulturwerteoA: Kulturwerte und nicht genuine religiöse Bedürfnisse sind für sie das Ausschlaggebende.

Ein „Werturteil“ über die „Sekten“-Religiosität als solche liegt mirpA: liegt nun hier fern. Die eingangs gebrauchtenqA: gebrachten Beispiele sind, wie Jeder zugeben wird, keineswegs so gewählt, daß sie an und für sich ihr Sympathie erwecken müßtenrA: mußten. Sie würden den in Deutschland dem „Puritanismus“sA: Puritanismus gegenüber landesüblichen Glauben, daß er im Grunde eitel „Heuchelei“ gewesen sei und noch sei, eher verstärken können. NuntA: Nun, – diese törichte VorstellunguA, B: Verstellung bei dieser Gelegenheit zu bekämpfen war eben nicht meine Absicht;aA: Absicht, – meine persönliche Ansicht aber ist, daß überall, wo und wie immer intensive religiöse Bewußtseinsinhalte äußere soziale Gestaltung gefunden haben und finden und sich nun – mit oder ohne ihr Wissen und Wollen – mit den politischen, ökonomischen und „gesellschaftlichen“ Interessen verquickenbA: verquickt haben, in jener Hinsicht in ganz dem gleichen Maße „mit Wasser gekocht“ worden ist und wird:cA: wird, – nur eben, was heute gern vergessen wird, nicht nur mit Wasser. Käme es auf „Bewertung“ an, dann wäre doch sehr die Frage, ob für den, der „religiöse“ Inhalte nicht mit der formalen psychologischen QualitätdA: mit dem formalen solcher ästhetischer Dämmer-StimmungeneA: Dämmer-Stimmung verwechselt, wie sie heute wieder so gernfFehlt in A. durch musikalische und optische Mystifizierung erzielt werdengIn A folgt: kann, nicht z. B. das „nüchterne“ Meeting der [460]Quäker, welches das „Gemachte“ und „Gewollte“ des religiösen Miteinander immerhin auf ein Minimum reduziert und ofth[460]A: reduziert, oft nur in tiefem Schweigen und Sinnen besteht,88[460] Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 358; vgl. auch Barclay, Apology, Proposition XI. „Concerning Worship“: „As there can be nothing more opposite to the natural Will and Wisdom of Man, than this silent waiting upon God“ (p. 353), und „Our Work then and Worship is, when we meet together, for every one to watch and wait upon God in themselves“ (p. 358). die adäquateste Form des „Gottesdienstes“ sein müßte. Müßte! – denn im allgemeinen gilt doch, daß, auch wo der „moderne“ Mensch im konkreten Fall wirklich (oder, zuweilen,iKomma fehlt in A. nur vermeintlich) religiöses „Gehör“ besitzt, er doch jedenfalls absolut kein „religiöses Gemeinschaftswesen“ istjA: Gemeinschaftswesen“ und deshalb für die „Kirche“ – von der er Nichts merktkA: bemerkt, wenn er nicht will –, nicht aber für irgend welche Art von „Sekte“ prädestiniert zu sein pflegt. Aber einer Täuschung darüber, daß es eben dies Moment,lKomma fehlt in A. in Verbindung mit dem absoluten, nur nach dem für den „korrekten“ Staatsbürger Üblichen und Rätlichen fragendenmFehlt in A. Indifferentismus, also die Schwäche der religiösennA: religiösen Motive, ist, was die „Landeskirche“89 Hier gemeint: Die Landeskirchen, denen bis 1918 der Landesherr als Summus episcopus (oberster Bischof) vorstand und die öffentlich-rechtlich privilegiert waren (sog. „landesherrliches Kirchenregiment“). und nicht nur sie, sondern die „Kirche“ überhaupt,oKomma fehlt in A. für alle absehbare Zukunft begünstigt, sollten wir unspA: sollte er sich nicht hingeben.

Dabeiqq–q(S. 462: […] Hand liegen.) Fehlt in A. möchte ich, möglicher Mißverständnisse halber, hinzufügen, daß es mir keineswegs unbekannt ist, daß auch eine höchst ideologische Theorie des Landeskirchentums unter genuin [B 583]religiösen Gesichtspunkten, ausgehend grade von der absoluten Irrationalität des religiösen Individuums und seiner Erlebnisse, und fortschreitend zu der Konsequenz, daß ein auf bestimmte Merkmale des Glaubens oder Handelns hin als „Verein“ (Sekte) paktierter Zusammenschluß daher dem eigenen Wesen des Religiösen zuwiderlaufe, sehr wohl durchführbar ist. Die tiefe innere Unaufrichtigkeit jenes Landeskirchentums, wie wir es selbst bei solchen, von subjektiv unzweifelhaft ernstgemeintem Reformeifer erfüllten, [461]Neuerern wie seiner Zeit Friedrich Wilhelm IV.90[461] Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 1840–1861, befürwortete auf protestantischer Seite Reformdiskussionen, lehnte aber demokratische Gedanken ab. An Pfingsten 1846 konnte erstmals eine Generalsynode sämtlicher Provinzen der Evangelischen Landeskirche Preußens stattfinden, welche die Konsistorialgewalt zugunsten einer presbyterial-synodalen Ordnung einzuschränken suchte. Der König dagegen ließ ein Oberkonsistorium einrichten. Die weitere Entwicklung führte dazu, daß die evangelische Abteilung des Ministeriums der geistlichen Angelegenheiten in eine selbständige leitende Kirchenbehörde („Evangelischer Oberkirchenrat“, EOK) umgewandelt wurde, die unmittelbar dem Landesherrn unterstand. und jetzt etwa Stoecker91 Die zahlreichen kirchlichen und kirchenpolitischen Aktivitäten des zum sozialkonservativen Protestantismus zählenden Adolf Stoecker zielten auf die „Rechristianisierung“ der Gesellschaft durch Stärkung der Volkskirchlichkeit. Dabei setzte er sich für eine dem Staat gegenüber selbständige, presbyterial-synodal verfaßte Kirche ein. Dazu widmete er sich dem Ausbau der Inneren Mission, war 1890 an der Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongresses und – nach Konflikten mit dem sozialliberalen Protestantismus – 1897 an der Gründung der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz beteiligt. vertreten finden, liegt sicher nicht schon an sich im „Begriff“ des Landeskirchentums als solchenr[461]A: solchem, sondern sie liegt in der ganz naiven und massiven „Schlangenklugheit“, welche für die postulierte, exklusive, „gläubige“ Kirche nun doch auch das Monopol auf die Kultusbudgets und – was wichtiger ist, denn diese materiellen Potenzen entscheiden gerade hier keineswegs – die weltliche Privilegierung im staatlichen und gesellschaftlichen Leben „mit in den Kauf nimmt“ und dann doch, eben weil sie, trotz ihrer „Exklusivität“, ja „Kirche“ ist und sein will, in ihren religiösen Ansprüchen an die in der „Welt“ privilegierten Schichten jene erastianische92 Nach dem Heidelberger Medizinprofessor und kurpfälzisch-reformierten Kirchenrat Thomas Erastus (1524–1583) wird so die Unterordnung der kirchlichen Verhältnisse unter die staatliche Obrigkeit bezeichnet; als „Erastianism“ v.a. in England rezipiert. „Genügsamkeit“ pflegt, die z. B. Stoecker in seinen Äußerungen über Moltke seiner Zeit so klassisch zum Ausdruck brachte.93 Auf der Berlin-Cöllner Kreissynode 1877 wurde über das apostolische Glaubensbekenntnis gestritten. Stoecker kämpfte gegen dessen Abschaffung. Im Rückblick sagte er: „Als auf jener Synode der Ansturm gegen das apostolische Glaubensbekenntnis geschah […], nannte ich den großen Feldherrn einen positiven Christen und sagte in voller Überzeugung: Moltke glaubt.“ Tief enttäuscht zeigte sich Stoecker später, als Moltke eine rein moralische oder deistische Auffassung erkennen ließ. Vgl. den anonym erschienenen Beitrag: (Stöcker zu Moltkes Trostgedanken), in: Die Christliche Welt, 6. Jg., Nr. 18 vom 28. April 1892, Sp. 410 f., Zitat Sp. 410.

[462]Das oben Gesagte gilt meines Erachtens aber trotzdem nicht nur für solche Karrikaturen objektiv „echten“ christlichen Reformeifers, sondern für die heutige Stellung der „Gebildeten“ zu dem empirisch gegebenen Landeskirchentum überhaupt. Damit möchte ich aber – und auf die Beseitigung dieses möglichen Mißverständnisses kam es mir an – nicht etwa so verstanden werden, als glaubte ich, daß etwa alle Diejenigen, welche ihre Lebensarbeit in den Dienst eines – idealen – Landeskirchentums gestellt haben, diese Position nur von außerreligiösen Kulturwerten aus gewinnen könnten: das entspräche den Tatsachen, wie ich sehr wohl weiß, nicht. Aber für jene von der Irrationalität der religiösen Persönlichkeit ausgehende Anschauung muß dann Rothes „Maximum von Religion bei einem Minimum von Kirche“94[462] Nach Richard Rothe, Theologische Ethik III (wie oben, S. 431, Anm. 21), S. 183 f., kein wörtliches Zitat. Formulierung vermutlich nach Troeltsch, Gedächtnisrede Rothe (ebd., Anm. 22), darin Zitation von Rothes „Minimum an Kirche“ auf S. 39 (KGA 1, S. 745): „Wie die Sozialisten auf Grund der gleichen Hegel’schen Methode die Monopole und Ringe als den Uebergang der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft ansehen, so sah Rothe die Landeskirchen als Uebergangsformen an, die zum innerlich religiös beseelten Volksleben führen sollten, zur religiös sittlichen Gestaltung des Staates als der vollkommenen Gemeinschaft, wobei nur nicht zu vergessen ist, dass er bis zur völligen Moralisierung der Menschheit – und das heisst bis zur Wiederkunft Christi – ein ,Minimum von Kirche‘ für unentbehrlich hielt.“ doch wohl die unentrinnbare Konsequenz sein, – und das hat, neben den Gedanken des Sektentums gehalten, für die religiöse Durchdringung des sozialen Lebens „von unten herauf“ Folgen, die, wie mir scheint, auf der Hand liegen.q[462] q(S. 460: Dabei möchte […])q Fehlt in A.sIn B folgt: Max Weber