MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

„Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika . Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze. 1906
(in: MWG I/9, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube)
Bände

[426]Editorischer Bericht

I. Zur Entstehung

Zwischen der Veröffentlichung des ersten und des zweiten Aufsatzes seiner Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“1[426] Oben, S. 97–215 und 222–425. bereiste Max Weber, zusammen mit seiner Frau Marianne Weber, etwa drei Monate lang die Vereinigten Staaten. Anlaß für diese Reise war ein wissenschaftlicher Kongreß während der Weltausstellung in St. Louis, an dem Weber sich mit einem Vortrag beteiligte.2 Weber, Max, The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, in: MWG I/8, S. 212–243, dazu den Editorischen Bericht, ebd., S. 200–211. Er nutzte diesen USA-Aufenthalt, um Verwandte zu besuchen, Quellen für seine religionshistorischen Studien zu identifizieren und sich vor allem ein Bild von dem amerikanischen Kapitalismus und dem amerikanischen religiösen Leben zu machen.3 Vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 222 mit Anm. 5. Die USA erschienen ihm als ein Land, in dem der Kapitalismus blühte, zugleich aber auch das religiöse Leben. Dabei beeindruckte ihn insbesondere das dortige „Sektenwesen“, das, teilweise durch die zunehmende „Europäisierung“ der USA und des mit ihr einhergehendem Indifferentismus bereits säkularisiert, im Vereinswesen fortlebte und, bei strikter Trennung von „Staat“ und „Kirche“, eine Stütze des demokratischen politischen Prozesses war.4 Das zeigt Max Webers Brief an Helene Weber vom 20. September 1904 (in: Brief vom 19. und 20. Sept. 1904, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 26–35; MWG II/4). „Chicago ist – infolge der Völkermischung – weniger kirchlich als selbst New York – trotzdem ist grade in den Arbeitervierteln die Zahl der (von den Arbeitern selbst bezahlten) Kirchen sehr groß. Hier liegen die charakteristischen Züge amerikanischen Lebens, zugleich auch die schicksalsvollsten Momente tiefer innerer Umgestaltung. Orthodoxe Sekten waren es bisher, die dem ganzen Leben hier ihr Gepräge gaben. Alle Geselligkeit, aller soziale Zusammenhalt, alle Agitation zu Gunsten philanthropischer oder ethischer, auch – bei Campagnen gegen die Corruption – politischer Zwecke fanden an ihnen Halt. […] Aber die Macht der kirchlichen Gemeinschaften ist noch immer gewaltig im Vergleich zu unsrem Protestantismus.“ Sowohl der entfesselte Kapitalismus als auch das Sektenwesen, aber auch die strikte Trennung von Staat und Kirche standen in schärfstem Kontrast zu der Situation in Preußen-Deutschland. Webers Amerikaerfahrung verstärkte offensichtlich seine Skepsis ge[427]genüber der Erziehungswirkung des deutschen landeskirchlichen Luthertums.5[427] Dazu auch der Brief Max Webers an Adolf Harnack vom 5. Febr. 1906, MWG II/5, S. 32: „So turmhoch Luther über allen Anderen steht, – das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte.“

Über seine Eindrücke und Erfahrungen aus der USA-Reise hatte Weber schon zuvor, beim „Amerika-Abend“ des Heidelberger Nationalsozialen Vereins im Januar 1905, in einem längeren Diskussionsbeitrag berichtet.6 Weber, Max, Das politische Leben in Amerika. Diskussionsbeitrag auf der Versammlung des Nationalsozialen Vereins am 20. Januar 1905 in Heidelberg, in: MWG I/8, S. 381–385. Max Weber hatte in der Diskussion spontan einen einstündigen Redebeitrag zu verschiedenen Einzelthemen beigesteuert, darunter auch zur Demokratie und den verschiedenen Sekten in den USA. Die verschiedenen Themen, die im Werk Max Webers immer wieder ihren Niederschlag finden sollten, sind ebd., S. 384, Anm. 15, zusammengestellt. Jetzt faßte er diese, zugespitzt auf ein Thema, in einem Artikel für ein gebildetes Publikum zusammen. Diesen Artikel schrieb er nach der Publikation des zweiten Aufsatzes seiner Protestantismusstudie. Bereits in diesem Aufsatz hatte er seine Unterscheidung zwischen „Kirche“ und „Sekte“ eingeführt.7 Vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 349 f. Weber beanspruchte, diese Unterscheidung (man kann sagen: als Idealtypen und damit als wissenschaftliche Begriffe im Unterschied zu ihrer alltäglichen Verwendung) selbst eingeführt zu haben, auch gegenüber Ernst Troeltsch. Vgl. dazu auch Weber, Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus, unten, S. 575. – Den etwa zeitgleich 1906 erschienenen Artikel von Gustav Kawerau über das „Sektenwesen in Deutschland“, in: RE3, 18. Band, 1906, S. 157–166, kannte Weber nicht. Dabei betonte er die unterschiedlichen Erziehungswirkungen dieser religiösen Verbände. Doch wollte er dem Einfluß der „Kirchenverfassung“ auf die religiöse Lebensführung hier noch nicht weiter nachgehen, sondern dies späteren Erörterungen vorbehalten.8 Vgl. dazu die Einleitung, oben, S. 66 f. und 69. Nun griff er außerhalb seiner Protestantismusstudie auf die Unterscheidung „Kirche“ und „Sekte“ zurück und wandte sie auf USA und Deutschland an.

Der Artikel erschien zunächst in der „Frankfurter Zeitung“, der erste Teil am 13. April 1906, einem Karfreitag, der zweite am 15. April 1906, einem Ostersonntag. Zeitpunkt und Inhalt sorgten offensichtlich insbesondere unter der protestantischen Leserschaft für große Aufmerksamkeit. Ob Weber von sich aus den Artikel der Redaktion anbot oder ob diese ihn für ihre Feiertagsausgaben einwarb, ließ sich nicht mehr ermitteln, da die Korrespondenz mit der „Frankfurter Zeitung“ aus dieser Zeit nicht überliefert ist.9 Das Archiv der „Frankfurter Zeitung“ wurde im 2. Weltkrieg weitestgehend zerstört.

[428]Gut zwei Monate später, am 14. bzw. 21. Juni, erschienen die beiden Teile abermals, nun in der „Christlichen Welt“, durchgesehen und leicht erweitert sowie mit verändertem Titel: statt „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘“ jetzt „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘ in Nordamerika“ mit dem Untertitel „Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze“. Max Weber und Martin Rade (1857–1940), der Herausgeber der „Christlichen Welt“, die sich seit der gemeinsamen Arbeit im „Evangelisch-sozialen Kongreß“ kannten, müssen sich bereits vor der Veröffentlichung des Artikels in der „Frankfurter Zeitung“ über seine abermalige Publikation verständigt haben. Denn Weber schreibt am 15. April 1906, also am Tag nach Veröffentlichung des ersten Teils und noch vor Veröffentlichung des zweiten an Rade: „Ich schicke gleichzeitig hiermit die erste Hälfte des Art[ikels] durchgesehen, – die zweite geht mir erst morgen früh zu u. schicke ich sie dann.“ Er verbindet dies mit dem Hinweis, es müsse wohl das Einverständnis der „Frankfurter Zeitung“ für den Wiederabdruck eingeholt werden, und stellt die Frage: „Vielleicht hatten Sie schon an die Redaktion geschrieben?“ Seinen Artikel selbstkritisch charakterisierend, fügt Weber hinzu: „Ich meinerseits bin angesichts der ganz notgedrungen etwas zur Pointierung der Gegensätze, die in Wahrheit überall in einander übergehen (trotz des Contrastes der Grundprinzipien) neigenden kurzen Fassung des Artikels doch recht im Zweifel, ob er nicht lebhaften Widerspruch finden wird. Aber dann um so besser!“10[428] Karte Max Webers an Martin Rade vom 15. April 1906, MWG II/5, S. 77.

Martin Rade verfolgte mit der abermaligen Publikation des dann revidierten Artikels offensichtlich eine kulturpolitische Absicht. Dies ist seinen „Kleine[n] Mitteilungen“ in der Rubrik „Verschiedenes“ zu entnehmen, die er der Ausgabe der „Christlichen Welt“ beifügte, in der die erste Hälfte von Max Webers Artikel veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „Der Aufsatz über Kirchen und Sekten in Nordamerika von dem Heidelberger Nationalökonom[en] Max Weber ist, wie er in dieser und der nächstfolgenden Nummer erscheint, ein durchgesehener und mit starken Zusätzen erweiterter Abdruck aus der Frankfurter Zeitung. Wir haben ihn uns ausgebeten einmal rein um seines Inhalts selbst willen. Sodann aber auch, um unseren amerikanischen Freunden zu zeigen, was uns eigentlich an ihnen interessiert. Es ist nämlich eine wunderliche Erfahrung, die man als Vertreter einer deutschen kirchlichen Zeitschrift macht, daß man auf die Bitte nach Amerika hinüber, doch auch von drüben her unsrer Wißbegier entgegenzukommen, immer wieder die ratlose Antwort erhält: Ja was interessiert euch Deutsche, euch Europäer eigentlich an unserm religiösen und kirchlichen Wesen? Es ist uns trotz wiederholter Korrespondenzen noch nicht gelungen, auf diese Frage einen Bescheid zu geben, der die gewünschte Wirkung erzielt hätte. Vielleicht kommen uns da die Beobachtungen und Urteile des Herrn Professor Weber zu Hilfe. […] Die Wichtigkeit [429]ihrer Entwickelung und ihrer innern Zustände auch für uns haben wir längst angefangen zu begreifen.“11[429] Rade, Martin, Kleine Mitteilungen, in: Die Christliche Welt, 20. Jg., Nr. 24 vom 14. Juni 1906, Sp. 573 f. In seine Zeitschrift hatte Rade kurz zuvor auch eine Reihe „Streiflichter auf das amerikanische Kirchenleben“ (Verfasser: Lohans) aufgenommen; vgl. Die Christliche Welt, 20. Jg., 1906, Nr. 14, Sp. 324–327; Nr. 16, Sp. 369–371; Nr. 19, Sp. 446–448; Nr. 23, Sp. 545–547. In den „Kleine[n] Mitteilungen“ der Ausgabe, welche die zweite Hälfte des Artikels enthielt, erklärt Rade zur Erweiterung der Überschrift: „Der Aufsatz Max Webers war in der Frankfurter Zeitung nur ‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘ betitelt. Die Zufügung in Nordamerika rechtfertigt sich selbst; immerhin sei dieser Tatbestand mitgeteilt, weil der frühere Titel die ursprüngliche allgemeinere Tendenz des Aufsatzes kennzeichnet, der jetzige die falsche Annahme erweckt, als ginge der Verfasser auf ein allseitiges Verständnis amerikanischen Kirchenlebens aus. Amerika ist ihm nur Beispiel!“12 Die Christliche Welt, 20. Jg., Nr. 25 vom 21. Juni 1906, Sp. 598. Ob Weber ihn zu dieser Erläuterung aufforderte, wissen wir nicht.

Die „Christliche Welt“, in der Max Weber schon vor der Jahrhundertwende publiziert hatte,13 Besonders Weber, Max, Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands (1893), MWG I/4, S. 208–219. Die weiteren selbständigen Artikel Webers vgl. ebd. gilt als „die erfolgreichste religiös-theologische Kulturzeitschrift im deutschen Protestantismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“.14 Graf, Friedrich Wilhelm, Art. Rade, Paul Martin, in: BBKL, Band VII, 1994, Sp. 1195-1223, Zitat Sp. 1200. Zur „Christlichen Welt“ vgl. auch Schmidt-Rost, Reinhard, Die Christliche Welt. Eine publizistische Gestalt des Kulturprotestantismus, in: Müller, Hans Martin, Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums. – Gütersloh: Gerd Mohn 1992, S. 245–257; Dunkel, Daniela, Art. Christliche Welt/Freunde der christlichen Welt, in: RGG4, Band 2, 1999, S. 268 f. Sie wurde 1886 von Martin Rade gemeinsam mit drei Theologenfreunden unter dem Einfluß Adolf Harnacks gegründet und firmierte seit 1888 unter dem genannten Titel, nun unter Rades alleiniger Herausgeberschaft. Er verstand dieses Organ als ein überregionales „evangelisches Gemeindeblatt“, so der Untertitel, das sich an „Gebildete aller Stände“ richte.15 Von 1897 bis 1920 lautete der (im Lauf der Zeit wechselnde) Untertitel: „Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände“. Zur Ausrichtung der Zeitschrift (bis 1909) vgl. Rade, Art. Christliche Welt und Freunde der Christlichen Welt, in: RGG, Band 1, 1909, Sp. 1703–1708 (hinfort: Rade, Art. Christliche Welt). Es sollte die bildungsbürgerliche Leserschaft zu einem kritischen Urteil aus der Sicht des evangelischen Glaubens befähigen, wozu unter anderem die „Besprechung der gesamten Erscheinungen unserer Gegenwart“ dienen sollte, „sofern sie eine religiös-sittliche Beurteilung fordern oder vertragen“.16 Zitiert nach Rade, Art. Christliche Welt (wie oben, Anm. 15), Sp. 1704.

Die „starken Zusätze“, von denen Rade spricht, die Weber gegenüber der „Frankfurter Zeitung“ vorgenommen habe, sind vermutlich dem neuen Publikationskontext geschuldet. Sie betreffen eine Fußnote (S. 454 f.) und die [430]Schlußpassage (S. 460–462). In der Fußnote setzt sich Max Weber mit Ernst Troeltschs Rede „Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft“ auseinander, die dieser auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß im Mai 1904 gehalten hatte.17[430] Troeltschs Rede war im Juli 1904 sowohl in den Kongreßprotokollen (vgl. das Literaturverzeichnis, unten, S. 863; hinfort: Troeltsch, Christliche Ethik) als auch erweitert unter dem Titel: Troeltsch, Ernst, Politische Ethik und Christentum. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1904, erschienen (KGA 6). Schon seit Ende Juli 1904 plante Weber hierüber eine Besprechung in der „Christlichen Welt“.18 Vgl. Max Webers Brief an Alfred Weber vom 29. Juli 1904 (GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 4, Bl. 56–58; MWG II/4): „Wir fahren [nach Amerika] mit meinem Freund Tröltsch, auf dessen Rede ich übrigens, wenn ich Zeit habe, wohl noch in der Christl. Welt antworten werde.“ Aus Zeitgründen kam sie nicht zustande, jetzt bot sich aber die Gelegenheit, wenigstens einige Zeilen darauf zu verwenden. Es ging Weber darum, die in Deutschland verbreitete Identifikation von konservativ mit aristokratisch sowie den behaupteten Gegensatz von aristokratisch und demokratisch infrage zu stellen. Auch Troeltsch habe sich dieser für Deutschland typischen Begriffsverwirrung schuldig gemacht. Dieser hatte in seiner Rede behauptet, das Christentum besitze keine genuine politische Ethik. Es verbinde sich vielmehr mit den politisch-ethischen Prinzipien der Demokratie einerseits, des Konservatismus andererseits. Mit dem demokratischen Prinzip betone man das Recht der Persönlichkeit und die Gleichheit der Menschen, mit dem konservativen die höhere Autorität und die ungleiche Menschennatur. Beide Prinzipien stünden in einer fruchtbaren Spannung miteinander. Deshalb gelte: „Das Christentum ist demokratisch und konservativ zugleich. Es ist demokratisch, indem es in immer weiterem Umfang Versittlichung, Verselbständigung und geistigen Gehalt der Persönlichkeit fordert und diese Persönlichkeit in der Bildung der Staatsgewalt zur Wirkung kommen läßt. Es ist konservativ, indem es die Autorität in ihrer Begründung durch sittliche Überlegenheit und durch politische Machtverhältnisse anerkennt und die Beugung unter die Autorität als Quelle sittlicher Kräfte versteht. Wie beide Tendenzen jedesmal auszugleichen sind, das ist abhängig von der jeweiligen Lage und ihren Umständen.“19 Troeltsch, Christliche Ethik, S. 37. Von dieser Argumentation war Weber offensichtlich nicht überzeugt. Weder könne man konservativ mit aristokratisch gleichsetzen, noch aristokratisch und demokratisch als sich ausschließende Gegensätze behandeln. Gerade an den USA lasse sich studieren, wie Demokratie und Aristokratie zusammenspielen könnten. Freilich müsse man dafür zwischen einer „Positions“- und einer „Qualitäts“-Aristokratie unterscheiden, zwischen einer, die auf „Erbe“, und einer, die auf persönlicher Leistung beruhe. Diese zweite Art von Aristokratie aber sei nicht zuletzt das Resultat des Sektenwesens. Die mit der Demokratie unverträg[431]liche Positionsaristokratie herrsche in Deutschland vor, die mit der Demokratie verträgliche Qualitätsaristokratie aber in den Vereinigten Staaten.20[431] Vgl. Weber, „Kirchen“ und „Sekten“, unten, S. 453 f.: „Die genuine amerikanische Gesellschaft […] war niemals ein solcher Sandhaufen, niemals auch ein Gebäude, wo Jeder, der da kommt, unterschiedslos offene Türen findet: sie war und ist durchsetzt mit ‚Exklusivitäten‘ aller Art.“ Eine ähnliche Formulierung findet sich später in: Weber, Antikritisches Schlußwort, unten, S. 721, und Weber, Staat und Hierokratie, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, MWG I/22-4, S. 674.

In der Schlußpassage präzisiert Weber noch einmal seine Sicht der Erziehungswirkung des Landeskirchentums, indem er auf die Stellung der Gebildeten zum „empirisch gegebenen Landeskirchentum“ eingeht (S. 462). Dafür wählt er eine Formel, die er Richard Rothe zuschreibt: „Maximum von Religion bei Minimum von Kirche“ (ebd.). Sie ziele auf das genaue Gegenteil zum genuinen Sektentum mit seiner Exklusivität auf der Grundlage persönlicher Qualifikation. Man kann es auch so sagen: Der absoluten Irrationalität des religiösen Individuums sollte möglichst viel, der äußeren religiösen Organisationsform möglichst wenig gegeben werden. Darin sieht Weber wohl ein kulturprotestantisches Ideal. Rothe war in seiner „Theologischen Ethik“ von einer eschatologisch gedachten Aufhebung der kirchlichen Religion im sittlich-religiösen Kulturstaat ausgegangen. Je vollständiger sich die Kirche entwickle, desto mehr christianisiere und entsäkularisiere sie den Staat. Solange dieser Prozeß noch nicht vollendet sei, kämen freilich „die christlich-religiöse Gemeinschaft und die christlich-sittliche oder christlich-staatliche noch nicht schlechthin“ zur Deckung. So lange fielen „also auch schon in dem einzelnen christlichen Volke Kirche und Staat noch irgendwie auseinander“, und es dauere folglich „in ihm noch irgend ein Minimum wenigstens von christlicher Kirche fort“.21 Rothe, Richard, Theologische Ethik, 3. Band, 2. Aufl. – Wittenberg: Hermann Koelling 1870 (hinfort: Rothe, Theologische Ethik III), S. 183 f. Ernst Troeltsch hatte in seiner „Gedächtnisrede“ zum 100. Geburtstag Rothes diesen Gedanken mitsamt der Formel vom „Minimum von Kirche“ in folgende Worte gekleidet: „[…] Rothe [sah] die Landeskirchen als Uebergangsformen an, die zum innerlich religiös beseelten Volksleben führen sollten, zur religiös sittlichen Gestaltung des Staates als der vollkommenen Gemeinschaft, wobei nur nicht zu vergessen ist, dass er bis zur völligen Moralisierung der Menschheit – und das heisst bis zur Wiederkunft Christi – ein ‚Minimum von Kirche‘ für unentbehrlich hielt.“22 Troeltsch, Ernst, Richard Rothe. Gedächtnisrede […]. – Freiburg i. B., Leipzig und Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1899 [ediert in: KGA 1, S. 713–752] (hinfort: Troeltsch, Gedächtnisrede Rothe), Zitat dort S. 37 [KGA 1, S. 745]. Weber zeigte sich gegenüber solchen Gedanken, die unter der Leserschaft der „Christlichen Welt“ wohl weit verbreitet waren, zurückhaltend. Eine „religiöse Durchdringung des sozialen Lebens ‚von unten herauf'“ (S. 462) erwartete er jedenfalls nicht.

[432]Weber hatte zum Zeitpunkt der Doppelpublikation noch die Absicht, seine Aufsatzfolge zur „Protestantischen Ethik“ fortzusetzen. Den Zeitungsartikel sah er allerdings nicht als diese Fortsetzung an. Er wollte dabei zwar die „Kirchenverfassung“ behandeln,23[432] Das zeigt insbesondere der Vorverweis, vgl. Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 298, Fn. 64. doch sah er in diesem Artikel allenfalls nützliches Material dafür. Er sagt denn auch, er wolle ihn, umgearbeitet, als Auftakt für eine solche Fortsetzung verwenden.24 Vgl. Max Webers Briefe an Paul Siebeck vom 2. und 13. April 1907, MWG II/6, S. 276 und 280. Dazu auch der Editorische Bericht zu Weber, Kritische Bemerkungen, unten, S. 464 f., die Einleitung, oben, S. 66 f. und 69, und der Anhang zur Einleitung, oben, S. 90–66. Aber auf dieselbe Stufe mit den beiden Protestantismus-Aufsätzen stellt er ihn ausdrücklich nicht.

II. Zur Überlieferung und Edition

Max Webers Manuskripte für die „Frankfurter Zeitung“ und für die „Christliche Welt“ oder Druckfahnen25 Das Archiv der „Frankfurter Zeitung“ wurde im Zweiten Weltkrieg weitestgehend zerstört. – Im Nachlaß Martin Rades finden sich nur wenige Materialien zur „Christlichen Welt“, Druckfahnen lediglich als Beilagen zu Briefen (E-Mail-Auskunft von Dr. Bernd Reifenberg, UB Marburg, an Ursula Bube vom 25.09.2012). Überliefert ist nur eine Karte Max Webers an Martin Rade vom 15. April 1906 (zitiert oben, S. 428 mit Anm. 10). sind nicht überliefert. Beim Erstdruck in der „Frankfurter Zeitung“ handelt es sich um: Weber, Max, „Kirchen“ und „Sekten“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. 102 vom 13. April 1906, 4. Morgenblatt, S. [1], und dass., (Schluß.), in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. 104 vom 15. April 1906, 6. Morgenblatt, S. [1] (A). Bei dem leicht veränderten und erweiterten Nachdruck handelt es sich um: Weber, Max, „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze 1, in: Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, 20. Jg., Nr. 24 vom 14. Juni 1906, Sp. 558–562, und dass. 2, in: Die Christliche Welt […], 20. Jg., Nr. 25 vom 21. Juni 1906, Sp. 577–583 (B). Die Edition folgt dieser durchgesehenen und erweiterten Fassung als dem Text letzter Hand. Deshalb werden auch Überschrift und Untertitel sowie Unterteilung des Artikels aus der „Christlichen Welt“ übernommen. Für die „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ überarbeitete Max Weber den Artikel so stark, daß man von einer Neufassung sprechen kann. Sie erschien unter dem Titel „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“, in: GARS I. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 207–236, und wird in MWG I/18 ediert.

[433]Die Texte in der „Frankfurter Zeitung“ und der „Christlichen Welt“ sind in Frakturschrift gesetzt, darin vorkommende lateinische und englische Begriffe in Antiqua. Dieser Wechsel der Schrifttype bleibt in der Edition unberücksichtigt. Einfache Anführungszeichen werden einheitlich als doppelte wiedergegeben sowie zweifache Trenn- oder Bindestriche durch einfache ersetzt. Das in Webers Fußnote gebrauchte Frakturzeichen für „et cetera“ wird mit „etc.“ wiedergegeben.

A weicht in Überschrift und Zweiteilung von B ab. Diese und weitere Abweichungen werden im textkritischen Apparat dokumentiert. Nachgewiesen werden ferner textliche Änderungen, abweichende Hervorhebungen, sei es durch Sperrdruck (im Editionstext kursiv wiedergegeben), sei es durch die Verwendung von Anführungszeichen. Nicht nachgewiesen werden: (1.) die in A bevorzugte Kleinschreibung z. B. von „jeder“, „etwas“, „alles“, „der einzelne“, „der wenigen“, „jemand“, „nichts“ und „eins“; (2.) das in A bevorzugte „c“ anstelle von „k“ (z. B. von „Couleurstudenten“, „excludiert“); (3.) Ausführungszeichen in A, die nach einem Komma stehen. Offensichtlich wurden in A enthaltene Grammatik-, Druck- und Interpunktionsfehler sowie sachliche Fehler in B verbessert (z. B. „aus dem Kindheitsalter“ statt „in das Kindheitsalter“, S. 449, oder „[…] nur Gott bekannt“ statt „und Gott bekannt“, ebd.).

Den Editionsrichtlinien entsprechend werden Druckfehler wie z. B. „dogmatichen Epochen“ (S. 444) oder „J told you so“ (S. 443) stillschweigend verbessert. Die Fußnote ist in der „Christlichen Welt“ mit *, hier mit 1) markiert. Die Edition übernimmt auch die älteren Schreibweisen („charitativ“, S. 441; „endgiltig“, S. 445; „Karrikaturen“, S. 462; „unstät“, S. 439; auch: „Nord Carolina“, S. 442). Dasselbe gilt für die Groß- und Kleinschreibung sowie die Zusammen- und Getrenntschreibung.

Für die Sachanmerkungen wurden Max Webers Briefe herangezogen, die er, teilweise im Wechsel mit Marianne Weber, während der USA-Reise an seine Mutter Helene Weber und Familie schrieb. Diese sind in MWG II/4 ediert. Sofern sich Max Webers Beobachtungen mit Beschreibungen von Bryce, Amercian Commonwealth, oder Münsterberg, Die Amerikaner, decken, wird dies mitgeteilt.26[433] Beide Werke hatte Max Weber noch vor seiner Reise in die USA 1904 gelesen. Das zeigt der Brief Max Webers an Hugo Münsterberg vom 17. Juli 1904 (Boston Public Library, Münsterberg Papers, Ms. Acc. 2229; MWG II/4). Bryce, American Commonwealth I, II, zitiert Weber, Protestantische Ethik II, oben, S. 291 mit Anm. 40, vollständig bibliographiert im Literaturverzeichnis, unten, S. 846. Ferner handelt es sich um Münsterberg, Hugo, Die Amerikaner, Band 1: Das politische und wirtschaftliche Leben; Band 2: Das geistige und soziale Leben. – Berlin: Mittler 1904 (hinfort: Münsterberg, Die Amerikaner I, II).

Ebenso wurde auf Max Webers Aufsätze zur „Protestantischen Ethik“ zurückverwiesen. Denn manches, was hier lediglich skizziert wird, ist dort ausführlich erläutert, wie etwa Webers Verständnis von asketischem Prote[434]stantismus; vgl. S. 242–366. Wenn möglich und sinnvoll, wurde auch auf die dort von Max Weber zitierte Literatur zurückgegriffen.

Bei den von Weber benutzten „privaten statistischen Erhebungen“ über die amerikanischen Konfessionsverhältnisse (S. 437) dürfte er auf den ersten Band der „American Church History Series“ zurückgegriffen haben, die er bei der Überarbeitung seines Artikels nennt.27[434] Vgl. Weber, Protestantische Sekten, GARS I, S. 207, Fn. 3 (MWG I/18). Gemeint ist: The Religious Forces of the United States. Enumerated, classified, and described on the basis of the government census of 1890 […], ed. by H. K. Carroll (American Church History, vol. 1). – New York: The Christian Literature Co. 1893, rev. 1896 (hinfort: Carroll, Religious Forces). Auf Vorverweise auf die überarbeitete Fassung wurde verzichtet und dort nachgetragene Literatur in die Sachkommentare mit Ausnahme des eben genannten Bandes nicht einbezogen.