MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Bemerkungen zu der vorstehenden „Replik“
(in: MWG I/9, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube)
Bände

[494]Anhang zum Editorischen Bericht

Im folgenden wird Fischers zweite Kritik an Weber, Protestantische Ethik I und II, abgedruckt. Sie ist zugleich seine Erwiderung auf Weber, Kritische Bemerkungen. Dem Abdruck liegt zugrunde: Fischer, K. H., Protestantische Ethik und „Geist des Kapitalismus“: Replik auf Herrn Prof. Max Webers Gegenkritik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 26. Band, 1. Heft, 1908, S. 270–274 (= Fischer, Replik). Die Originalpaginierung läuft als Randsigle mit.N1In MWG digital als ED + Seitenzahl sigliert. Der Beitrag, der im „Archiv“ in Normaldruck erschienen ist, wird hier in Petit abgedruckt. Hervorhebungen werden einheitlich im Kursivdruck wiedergegeben, doppelte Anführungszeichen im Zitat in einfache überführt, Ae und Ue als Ä und Ü wiedergegeben.

[ED 270]Protestantische Ethik und „Geist des Kapitalismus“.
Replik auf Herrn Prof. Max Webers Gegenkritik.
Von K. H. Fischer.

Zu der von Herrn Prof. Weber im 1. Heft des XXV. Bd. gelieferten Gegenkritik wünsche ich einiges zu erwidern, weil meinem Herrn Gegenkritiker trotz seiner, ich will sagen – temperamentvollen Ausführungen – das Mißgeschick widerfahren ist, den Kernpunkt der Streitfrage außer acht zu lassen. Diesen Kernpunkt noch schärfer herauszuarbeiten, als es in meinem ersten Aufsatz geschehen war, ist der Zweck der nachstehenden Ausführungen.

Ich sehe also davon ab, auf die einzelnen Punkte der Gegenkritik einzugehen, teils wegen beschränkten Raumes, teils um mich nicht zu wiederholen. Ob die von meinem Herrn Gegenkritiker vorgebrachten Einwände zu recht bestehen, überlasse ich dem Urteil des nachdenklichen Lesers. Nur will ich kurz erwähnen, daß ich nirgends in meiner Kritik Prof. Weber die Ansicht „imputiert“ habe, er wolle mit seinen Darlegungen die noch heute bestehenden Zusammenhänge zwischen den Konfessionen und den ökonomischen und sozialen Schichtungen erklären oder gar die Wirtschaftsformen des kapitalistischen Betriebes aus religiösen Motiven ableiten.

Es sei hier die für mich ungünstigste Position gesetzt und daher angenommen, meine Kritik basierte tatsächlich auf einer unglückseligen Verkettung von Mißverständnissen. Ich halte mich darum an die in der Gegenkritik von Prof. Weber ausdrücklich abgegebene Erklärung, „daß es der Geist ,methodischer‘ Lebensführung ist, welcher aus der ,Askese‘ in ihrer protestantischen Umbildung ,abgeleitet‘ werden sollte.“ Ich erinnere daran, daß von dem Autor (Bd. XXI. S. 110) ferner erklärt worden ist, daß „mit Bedacht nur die Beziehungen aufgenommen worden sind, in welchen eine Einwirkung religiöser Be[ED 271]wußtseinsinhalte auf das ,materielle‘ Kulturleben wirklich zweifellos ist“.

Wenn man an die fast verwirrende Fülle von Gründen und Gegengründen denkt, mit denen in der Literatur gefochten wird, um die treibenden Faktoren, oder gar den trei[495]benden Faktor des geschichtlichen Geschehens zu ermitteln, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, aus der Mannigfaltigkeit des wirklichen Geschehens, seinen verschlungenen Kausalzusammenhängen eine einwandfreie Rekonstruktion des wirklichen Geschehens zu finden, dann ist man erfreut, hier – wie verheißen wird – für einen begrenzten Bezirk des geschichtlichen Geschehens die wahrhaft treibenden Kräfte aufgewiesen zu sehen. Umsomehr wird man sich zu einer Nachprüfung des Verfahrens veranlaßt fühlen, mit dessen Hilfe der Autor zu seinem Ergebnis gekommen ist. Zwar wird uns ausdrücklich versichert: „es soll keineswegs eine so töricht-doktrinäre These verfochten werden, wie etwa die, daß der ,kapitalistische Geist‘ (…) oder wohl gar der ,Kapitalismus‘ überhaupt, nur als Ausfluß bestimmter Einflüsse der Reformation habe entstehen können“. „Es soll durchaus nicht an Stelle einer einseitig ,materialistischen‘ eine ebenso einseitige spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung gesetzt werden.“ Aber für den Nachprüfenden handelt es sich nicht darum, was der Autor will oder nicht will, sondern darum, welches Verfahren er tatsächlich in seiner Untersuchung anwendet, ganz abgesehen von seinen sonstigen Versicherungen. Darum habe ich in meiner Kritik aus der Fülle des dargebotenen Stoffes nur die Partien herausgehoben, die für den methodischen Fortschritt in jener Arbeit in Betracht kamen.

„Der ,Geist methodischer Lebensführung‘ ist also aus der ,Askese‘ in ihrer protestantischen Umbildung abzuleiten.“ Der „Geist methodischer Lebensführung“ ist natürlich auch schon vor dem Auftreten des Puritanismus im Menschengeschlecht aufgetreten und wirksam gewesen. Wollte man für das jedesmalige Entstehen dieses Geistes von vornherein auf religiöse Motive als Hauptursache zurückgreifen, so würde man eben, bewußt oder unbewußt, Reflexionspsychologie treiben; ich verweise dafür noch einmal auf meine Ausführungen in den „Kritischen Beiträgen“. Aber es kann wohl sein, daß in diesem speziellen Fall der Geist methodischer Lebensführung tatsächlich religiös begründet gewesen war. Warum sollte man sich dagegen sträuben, wenn dieser Kausalzusammenhang als der wahrscheinliche erwiesen wird? Es ist nur die Frage, ob dieser Beweis erbracht worden ist. Freilich ist es unbestritten, daß, nachdem die religiös-wirtschaftliche Gemütsstimmung des Puritanismus erst einmal entstanden war, sie ihrerseits nun auch verstärkend wirkte auf den Geist methodischer Lebensführung dort, wo dieser Geist noch schwach entwickelt war. Doch es handelt sich nicht um die Frage der von niemand ge[ED 272]leugneten Wechselwirkung beider Größen, sondern um die Frage der Entstehung des Geistes methodischer Lebensführung in jener Zeit. Daß im lutherischen Protestantismus die Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als höchster Inhalt der sittlichen Betätigung geschätzt wird, daß in der lutherischen Dogmatik die weltliche Berufsarbeit als Ausdruck äußerer Nächstenliebe gewertet wird, diese Tatsachen lassen sich gleicherweise auch deuten als eine Anpassung der religiösen Vorstellungswelt an den vorhandenen wirtschaftlichen Zustand. Daß im Calvinismus gerade die angestrengteste Berufsarbeit als äußeres Zeichen der Erwählung betrachtet wurde, läßt die „wirtschaftliche“ Ausdeutung gleichfalls zu, läßt sogar die Vermutung aufkommen, daß der wirtschaftliche Zustand die religiösen Anschauungen beeinflußt hat. Daß endlich mit Hilfe theologischer Erbauungsschriften im günstigsten Falle nur bewiesen wird, daß von den Verfassern derselben wirtschaftliche Anschauungen in das dogmatische System hineinverwoben wurden, darauf hatte ich bereits früher hingewiesen. Mit Hilfe der beigebrachten religiösen Literatur ist nur bewiesen worden das gleichzeitige Vorhandensein und die enge Verknüpfung beider Faktoren miteinander in jenen Schriften. Nicht mehr. Über diesen objektiv gegebenen Befund geht der Autor hinaus [496]mit der Behauptung, daß also der Geist methodischer Lebensführung aus religiösen Motiven abgeleitet worden ist. Gerade hier, am entscheidenden Punkt tritt ein Schluß auf, dem keine Beweiskraft innewohnt. Denn um diesen Schluß zu einem zwingenden zu gestalten, hätte nachgewiesen werden müssen, daß in jedem einzelnen Falle die erwähnten anderen Deutungsmöglichkeiten ausgeschlossen sind. Es hätte gezeigt werden müssen, daß vor dem Auftauchen der herangezogenen religiösen Literatur der Geist methodischer Lebensführung nicht vorhanden gewesen ist, und zwar nicht nur nicht in religiösen, sondern auch nicht in weltlichen literarischen Denkmälern. Der Autor hätte endlich dartun müssen, daß die übrigen möglichen Erklärungen der Entstehung des Geistes methodischer Lebensführung, wie sie von Mill, Spencer gegeben werden und von mir versucht wurden, hier tatsächlich ausgeschlossen sind, sodaß einzig und allein nur die vom Autor angenommene Erklärung übrig bliebe. Dergleichen methodische Überlegungen bietet der Autor nirgends; er sieht diese Schwierigkeiten gar nicht.

Der allgemeine Hinweis, daß wir modernen Menschen uns gar nicht genügend in die durch und durch religiöse Gemütsstimmung der [ED 273]Menschen jener Zeit zu versetzen vermögen, beweist natürlich nichts; er beweist ebensowenig, wie der auf entgegengesetzter Seite übliche Hinweis, daß wir in unseren Geschichtsbetrachtungen bisher nur gar zu sehr geneigt waren, religiöse Motive als die in der Vergangenheit ausschlaggebenden zu werten. –

Der Versuch einer nachzeichnenden Rekonstruktion der Vergangenheit, insbesondere unser Bemühen, die in der Geschichte wirksam gewesenen Motive zu erkennen, begegnet der großen Schwierigkeit, daß wir in und mit der Geschichte keine Experimente treiben können. Wir können nicht diese oder jene Ursachen-Komponente variieren oder gänzlich ausschalten, um dadurch in der Wirkung das Vorhandensein oder die Größe des Anteils jener Ursachen-Komponente in dem Ursachen-Komplex zu erkennen. Wo das uns vorliegende geschichtliche Material nicht zu einer ganz bestimmten Schlußfolgerung drängt, – und das ist zumeist und auch bei unserem Material nicht der Fall, – da sehen wir uns zu psychologischen Deutungen gezwungen, falls wir überhaupt zu Urteilen über einst wirksam gewesene Motive gelangen wollen. Z. B. bei Urteilen über unsere Umgebung nehmen wir irgend einen erkenntnistheoretischen Standpunkt ein, ohne uns desselben fortwährend bewußt zu sein, weil praktisch ohne Bedeutung. Aber irgend einen erkenntnistheoretischen Standpunkt nehmen wir ein, und bei erkenntnistheoretischen Untersuchungen kommt es sehr darauf an, sich desselben bewußt zu sein. Ähnlich steht es bei Untersuchungen nach den in der Geschichte wirkenden Motiven. Falls nicht das dargebotene Material selbst zu einem bestimmten Schlusse drängt, kommen wir aus der psychologischen Ausdeutung gar nicht heraus. Es kommt nur darauf an, sich bewußt zu werden, welche psychologischen Voraussetzungen man macht, damit man nicht, ehe man sichs versieht, einer reflexionspsychologischen Deutung verfällt. Schließlich gibt Prof. Weber denn auch zu, daß er für die Erscheinungen des Täufertums Aufklärungen erwartet von den heutigen exakten Forschungen auf dem Gebiet der Hysterie. Aber diese Forschungen sollen doch wohl nicht auch Hilfsmittel bieten zur Erklärung der Entstehung des „Geistes methodischer Lebensführung“? Warum wird hier plötzlich die Mithilfe der exakten normalen Psychologie verschmäht?

Indem ich im Anschluß an andere Autoren zu zeigen suchte, welches die Psychogenesis der „Berufspflicht“, des „kapitalistischen Geistes“, besser also: „des Geistes methodischer Lebensführung“ ist, habe ich keinerlei „psychologische Schemata“ ver[497]wendet, auch nicht „Abstraktionen irgend einer Psychologie“ dargeboten. „Die Theorie hat sich nach den Tatsachen zu richten, nicht umgekehrt“, sagt mein Herr Gegenkritiker. Dieser Satz ist so unbestritten, wie z. B. der, daß die Zukunft später ist als die Vergangenheit. Durchaus richtig; aber [ED 274]beide Sätze gehören nicht hierher. „Eine sachlich fruchtbare Kritik“, hält mir mein Herr Gegenkritiker vor, „auf diesem Gebiet unendlich verschlungener Kausalzusammenhänge ist nur bei Beherrschung des Quellenstoffes möglich“. Nun, ich stelle an eine sachlich fruchtbare Kritik höhere Ansprüche: sie hat besonders auch auf eine methodisch einwandfreie Verwertung des Quellenmaterials zu achten; sie hatte in diesem speziellen Falle auch zu prüfen, ob der Autor dessen eingedenk war, daß das Erkennen und Verwerten historischer Objekte selbst gar nicht möglich ist ohne gewisse – es tut mir leid – psychologische Voraussetzungen.