MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus
(in: MWG I/9, hg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube)
Bände

[521]Anhang zum Editorischen Bericht

Im folgenden wird Rachfahls erste Kritik an Weber, Protestantische Ethik I und II, abgedruckt. Zugrunde liegt: Rachfahl, Felix, Kalvinismus und Kapitalismus, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, begr. von Friedrich Althoff, hg. von Paul Hinneberg, 3. Jg., Nr. 39 vom 25. Sept. 1909, Sp. 1217–1238, dass. (Fortsetzung), Nr. 40 vom 2. Okt. 1909, Sp. 1249–1268; dass. (Fortsetzung), Nr. 41 vom 9. Okt. 1909, Sp. 1287–1300; dass. (Fortsetzung), Nr. 42 vom 16. Okt. 1909, Sp. 1319–1334; dass. (Schluß), Nr. 43 vom 23. Okt. 1909, Sp. 1347–1367 (= Rachfahl, Kalvinismus). Über die Randsigle ist der Bezug zur Spaltenzählung des Erstdrucks hergestellt.N1 In MWG digital als ED + Spaltenzahl sigliert. Der Titel, dem stets „Von Felix Rachfahl, Professor an der Universität Kiel“ folgt, wird nur zu Textbeginn abgedruckt; ebenso entfallen stillschweigend redaktionelle Hinweise auf „Fortsetzung“ oder „Schluß“. Der Text ist durchgängig und vereinheitlichend in Petit wiedergegeben (in der „Internationalen Wochenschrift“ sind die am Anfang zitierten Verse (S. 521 f.) in Petit gesetzt; sie entstammen Voltaire, La Guerre Civile de Genève, Paris 1767). Druckfehler werden stillschweigend korrigiert, Ue wird als Ü wiedergegeben, „ss“ wird, wo geboten, in „ß“ umgewandelt, nicht übliche Abkürzungen werden in eckigen Klammern ergänzt, Hervorhebungen kursiv wiedergegeben. Rachfahls mit Sonderzeichen indizierte Fußnoten werden durchgezählt. Die letzte Fußnote, in der „Internationalen Wochenschrift“ in Sp. 1366 f., enthält eine Übersicht mit nachträglichen Korrekturen Rachfahls. Diese sind in den folgenden Abdruck eingearbeitet. Nur in Ausnahmefällen werden inhaltlich relevante Druckfehler, wie z. B. „unzulänglich“ statt richtig „unzugänglich“ (S. 528), nachgestellt in eckigen Klammern korrigiert; in eckigen Klammern wurden ferner Auslassungen ergänzt, z. B. „von sich selbst [aus] ohnmächtig“ (S. 527). Bei der Namensnennung „Lund“ (S. 561) handelt es sich um eine Verschreibung von (William) „Laud“ (1573–1645), seit 1633 Erzbischof von Canterbury. Statt „W.“ lies „Μ.“ Schulze (S. 555, Anm. 37) und statt „Kreuzer“ „Kreutzer“ (S. 563, Anm. 44). An drei Stellen fanden sich eckige Klammern in der Druckvorlage (S. 539: „[Die kalvinische Ethik]“; S. 551 : 2x „[!]“), sie gehen also nicht auf die Editoren zurück.

[ED 1217]Kalvinismus und Kapitalismus.
Von Felix Rachfahl, Professor an der Universität Kiel.

„Noble cité, riche, fière et sournoise.
On y calcule et jamais on n’y rit;
L’art de Barême1)[521][ED 1217] Der französische „Adam Riese“. est le seul qui fleurit.
On hait le bal, on hait la comédie,
Pour tout plaisir Genève psalmodie

[522]Du bon David les antiques concerts,
Croyant que Dieu se plaît aux mauvais vers.
Des prédicants la morne et dure espèce
Sur tous les fronts a gravé la tristesse.“

Mit diesen Versen hat der Spötter Voltaire die charakteristischen Züge des von der vénérable compagnie des pasteurs beherrschten Genf, der vom kalvinischen Geiste durchtränkten Genfer Bevölkerung gezeichnet. Abkehr von den Freuden der Welt, den Gütern der Kultur, „asketischer“ Ernst, gepaart mit hochgesteigerter Erwerbssucht, mit stetigem Rechnen für den Gewinn: das war die Signatur Genfs auch schon zur Zeit Calvins, das war das Erbteil, das der düstere Reformator der Stadt hinterließ, in der er es unternahm, das Gottesreich, die Herrschaft des Wortes, wie sie ihm als höchstes Ideal vorschwebten, auf Erden zu verwirklichen. Nicht nur ihr allein hat er es mitgeteilt; Verzicht auf Lebensgenuß und unermüdliche Tätigkeit im Berufe, also auch im geschäftlichen Leben, sind unverkennbar integrierende Bestandteile der ganzen kalvinischen Religiosität überhaupt; wo immer diese fest und dauernd Wurzel geschlagen hat, da muß sie an diesen ihren Früchten erkennbar sein. Und erwägt man, daß gerade in den kalvinistischen Ländern der Kapitalismus zur höchsten Entfaltung seiner Blüte gelangt ist, was liegt da näher als die Annahme, daß darauf gerade der speziell kalvinische Geist von größtem Einflusse gewesen, daß der Kalvinismus als Vorfrucht des Kapitalismus zu betrachten, daß aus der spezifisch kalvinischen Berufsethik der Geist des modernen Kapitalismus hervorgegangen ist?

In der Tat hat ein Nationalökonom von großem Ruf, Max Weber in Heidelberg, diese These von der Herkunft des kapitalistischen Geistes aus der kalvinistischen Berufsethik aufgestellt und vertreten2)[522] Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Archiv für Sozialwissenschaft XX 1 ff. und II ebd. XXI 1 ff. (fortan zitiert Weber I u. II). , und reicher Beifall, [ED 1218]ungeteilte Zustimmung ist ihm aus den Reihen seiner eigenen und anderer Wissenschaften zuteil geworden. Zunächst schloß sich ihm sein Kollege, der ausgezeichnete Heidelberger Theologe Ernst Troeltsch, an, sowohl in seinem Werk über die Geschichte des Protestantismus in der Neuzeit3)[ED 1218] Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. In Hinnebergs „Kultur der Gegenwart“ I, 5: Die christliche Religion. 1906, S. 356 ff., 2. Aufl. 1909. , als auch in einem Vortrage, den er auf der Stuttgarter Historiker-Versammlung im Jahre 1906 hielt.4) Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, gedr. Historische Zeitschrift 97, 42 ff. Nach dem 1907 erschienenen Berichte über die Versammlung (S. 36) hat der Vortrag weder im allgemeinen noch im einzelnen irgendwelchen Widerspruch gefunden. Ein Gelehrter, der auf den beiden Gebieten der Historie und der Nationalökonomie gleich bewährt ist, Eberhard Gothein, erklärt die Verwerfung des kanonischen Zinsverbotes durch Calvin als „das erste Zeichen, daß aus dem Geist des Kalvinismus der Geist des Kapitalismus hervorgehen werde“.5) Staat und Gesellschaft des Zeitalters der Gegenreformation. Hinnebergs „Kultur der Gegenwart“, II, 5,1, S. 226. Und erst neuerdings hat der Kirchenhistoriker v. Schubert betont: „Mit Recht habe man den ,Geist des Kapitalismus‘, den Kern moderner Wirtschaftsgeschichte abgeleitet aus dem entschlossenen Individualismus der Puritaner mit ihrer ,inneren Askese‘, die sich ökono[523]misch darstellt als Sparzwang bei vollster Ausnützung der Arbeitskraft.“6)[523] Calvin, Rede bei der akademischen Calvin-Gedächtnisfeier in der Aula der Universität Heidelberg am 11. Juli 1909. Tübingen 1909, S. 32. Nur ganz vereinzelt, soviel mir bekannt ist, ist von philosophischer Seite ein Einspruch gegen Webers Theorie versucht worden.

Wenn wir es hier unternehmen wollen, sie vom Standpunkte des Historikers aus auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen, so werden wir nicht umhin können, zunächst, um den Leser in das Problem einzuführen, eine kurz zusammengedrängte Übersicht ihres Inhaltes zu geben. Wir werden uns dabei möglichst an den Gedankengang des Autors anschließen; so werden die Punkte am ehesten erkennbar werden, bei denen die Kritik einzusetzen hat.

[ED 1219]I.

Nicht als ob Weber den Kapitalismus schlechthin aus dem Kalvinismus ableiten wollte. Er verwahrt sich dagegen, „eine so töricht-doktrinäre These“ verfechten zu wollen, „wie etwa, daß der ,kapitalistische Geist‘ … oder wohl gar der Kapitalismus überhaupt, nur als Ausfluß bestimmter Einflüsse der Reformation hätte entstehen können“; er fügt hinzu: „Schon daß gewisse wichtige Formen kapitalistischen Geschäftsbetriebes erheblich älter sind, als die Reformation, stünde einer solchen These im Wege. Sondern es soll nur festgestellt werden“, so bestimmt er sein Thema, „ob und inwieweit hier tatsächlich religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ,Geistes‘ über die Welt mitbeteiligt gewesen sind, und welche konkreten Seiten der kapitalistischen Kultur auf sie zurückgehen.“

Nicht die Entstehung des Kapitalismus überhaupt ist somit das Problem, das Weber lösen will, sondern nur die des „kapitalistischen Geistes“, und zwar in einem ganz bestimmten Sinne. Welches nun ist der Sinn, den Weber mit diesem Worte verbindet? Wenn er vom „Geiste des Kapitalismus“ spricht, dann eben in dem „spezifischen Sinne“, daß er ihm „den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung“ beilegt. Das „summum bonum“ dieser „Ethik“ aber ist der Erwerb von Geld, und immer mehr Geld, und das unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem „Glück“ oder dem „Nutzen“ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint. Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen. Diese für das unbefangene Empfinden schlechthin sinnlose Umkehrung des, wie wir sagen würden, „natürlichen“ Sachverhaltes ist nun ganz offenbar ebenso unbedingt ein Leitmotiv des Kapitalismus, wie sie dem von seinem Hauche nicht berührten Menschen fremd ist. Das ethische Moment, das die Grundlage des kapitalistischen Geistes in diesem Sinne bildet, findet Weber in der Anschauung, daß der [ED 1220]Gelderwerb innerhalb der modernen Wirtschaftsordnung das Resultat und der Ausdruck der Tüchtigkeit im Berufe ist, und eben dieses Postulat der Tüchtigkeit im Berufe stammt nach Weber, um das hier vorauf zu nehmen, aus der Ethik des Kalvinismus. Durch nichts kann das Wesen dieses kapitalistischen [524]Geistes besser gekennzeichnet werden, als daß man sich vor Augen führt, welche Tendenz dem geborenen Gegner des kapitalistischen Geistes zugrunde liegt, nämlich dem Geiste des „Traditionalismus“; sein Wesen besteht darin, daß der Mensch „von Natur“ nicht Geld und immer mehr Geld verdienen will, sondern einfach leben, so leben, wie er zu leben gewohnt ist, und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.

Mit dieser seiner Lehre vom Gegensatz zwischen dem Geist des Traditionalismus und dem des Kapitalismus berührt sich Weber mit der Sombartschen Theorie7)[524][ED 1220] Vergl. zu ihrer Kritik B. Harms in Schmollers Jahrbuch 1905, S. 179 ff. vom Unterschiede zwischen den Systemen der „Bedarfsdeckungs-“ und der „Erwerbs-Wirtschaft“ – je nachdem nämlich das Ausmaß des persönlichen Bedarfs oder das von den Schranken des letzteren unabhängige Streben nach Gewinn und die Möglichkeit der Gewinnerzielung für die Art und Richtung der wirtschaftlichen Tätigkeit maßgebend sind. Und sie berühren sich nicht nur, sie sind sogar miteinander identisch, wie Weber selber erklärt, und zwar unter einer bestimmten Voraussetzung, wenn man nämlich den Begriff „Bedarf“ gleichsetzt mit „traditionellem Bedarf“. Tut man das nicht, so fallen freilich große Massen von Wirtschaften, die nach der Form ihrer Organisation Sombarts Ansicht zufolge als „kapitalistisch“ zu bezeichnen sind, aus dem Bereiche der „Erwerbswirtschaften“ heraus; sie sind bloße „Bedarfsdeckungs-Wirtschaften“. Denn auch „kapitalistische“ Unternehmungen können nicht nur einen traditionalistischen Charakter tragen, sondern sie tragen ihn auch in der Regel. Oft genug sind nicht die gerade vorhandenen Kapitalisten die Träger des „kapitalistischen Geistes“, sondern die aufstrebenden Schichten des Mittelstandes, die dann ihre älteren Konkurrenten überflügeln, – wie die oft aus recht kleinen Verhältnissen emporsteigenden Parvenus von Manchester und Rheinland-West[ED 1221]falen gegenüber den vornehmen Gentlemen von Liverpool und Hamburg mit ihren altererbten großen Kaufmannsvermögen. Eine Bank, ein Export-Großhandelsgeschäft, auch ein großes Detailgeschäft, ein großer Verlag hausindustriell hergestellter Waren können nur in der Form der kapitalistischen Unternehmung betrieben werden; sie brauchen aber nicht auch mit kapitalistischem Geiste erfüllt zu sein.

An einem Beispiele erläutert Weber dieses Verhältnis: Betrachten wir die Zustände, wie sie für irgend eine Produktionsstätte der Textilbranche um die Mitte des 19. Jahrhunderts charakteristisch sind. Wir finden da verschiedene Verleger, die in den herkömmlichen Bahnen des Betriebes, mäßigem Geschäftsumfange und leidlicher Harmonie, mit mäßigem Einkommen und Wohlstand eine sorgenfreie und gemächliche Existenz genießen. Es ist der Form nach eine unzweifelhaft kapitalistische Wirtschaftsführung, aber sie entbehrt des „kapitalistischen Geistes“; sie ist rein traditionalistisch. „Die traditionelle Lebenshaltung, die traditionelle Höhe des Profits, das traditionelle Maß von Arbeit, die traditionelle Art der Geschäftsführung und der Beziehungen zu den Arbeitern und zu dem wesentlich traditionellen Kundenkreise, die Art der Kundengewinnung und des Absatzes beherrschten den Geschäftsbetrieb, lagen – so kann man geradezu sagen – der ,Ethik‘ dieses Kreises von Unternehmern zu Grunde.“ Plötzlich wird diese Idylle gestört. Einer der Verleger führt neue Geschäftsgrundsätze ein; es braucht dabei nicht einmal eine prinzipielle Änderung der Organisationsform im Spiel zu sein; es genügt, daß er die Arbeiter besser kontrolliert und ausnützt, daß er in persönliche Beziehungen mit den Kunden tritt, ihren Wünschen und Bedürfnissen seine Produktion anpaßt, den Grundsatz durchführt: „Billiger Preis, großer Absatz!“ Er will [525]nicht verbrauchen, sondern nur erwerben. Das Gewicht seiner Konkurrenz macht sich bald für seine Berufsgenossen unangenehm fühlbar; er steigt, während sie sinken: es vollzieht sich also ein „Rationalisierungsprozeß“, und eben deshalb, weil hier ein neuer Geist, der „Geist des Kapitalismus“, seinen Einzug hält. „Die Frage nach den Triebkräften der Entwicklung des Kapitalismus ist nicht in erster Linie eine Frage nach der Herkunft der kapitalistisch verwertbaren Geldvorräte, son[ED 1222]dern nach der Entwicklung des kapitalistischen Geistes. Wo er auflebt und sich auszuwirken vermag, da schafft er sich die Geldvorräte als Mittel seines Wirkens, nicht aber umgekehrt.“ Freilich sein Einzug pflegt nicht friedlich zu sein, und der „Unternehmer neuen Stils“ muß bestimmt und scharf ausgeprägte „ethische Qualitäten“ haben, – Spannkraft behufs Überwindung der Widerstände, intensivste Arbeitsleistung, Verzicht auf bequemen Lebensgenuß, Fähigkeit, das Vertrauen von Kunden und Arbeitern zu gewinnen usw. Das eben ist im Gegensatz zum „Traditionalisten“ das Kennzeichen des Unternehmers „neuen Stils“: abgelöst von allen anderen Motiven betreibt er das Geschäft nur um des Geschäftes willen, weil ihm das Geschäft zum Leben unentbehrlich erscheint. Der Mensch ist da um des Geschäftes willen, nicht das Geschäft um des Menschen willen. Der Unternehmer „neuen Stils“ scheut Ostentation und Aufwand; nichts liegt ihm an bewußtem Genusse der Macht und gesellschaftlichem Ansehen; seine Lebenshaltung trägt einen „asketischen“ Charakter. Denn er hat von seinem Reichtum nichts für seine Person; es bleibt ihm von seiner Tätigkeit nichts als die „irrationale Empfindung der Berufserfüllung“. Gerade dieser Gedanke ist es, welcher seiner Lebensführung den ethischen Unterbau und Halt verleiht: die Einordnung einer äußerlich rein auf Gewinn gerichteten Tätigkeit unter die Kategorie des „Berufes“, dem gegenüber sich der einzelne verpflichtet fühlt.

Welches nun ist die Herkunft dieses irrationalen Elementes, das in jedem „Berufs“-Begriffe liegt, also auch in dem des ausschließlichen Erwerbes? Lief nicht die Auffassung des Gelderwerbes als eines den Menschen sich verpflichtenden Selbstzweckes, als eines „Berufes“, dem sittlichen Empfinden ganzer Epochen zuwider? Sie kann nicht dem Ideenkreise des katholischen Mittelalters entstammen. Denn den Kaufleuten selbst galt damals ihre Lebensarbeit im günstigsten Falle als etwas sittlich Indifferentes, höchstens Toleriertes, ja sogar schon wegen der steten Gefahr, mit dem kirchlichen Wuchergebote zu kollidieren, als ein für die Seligkeit bedenkliches, als ein pudendum, das nur die einmal vorhandenen Ordnungen des Lebens zu dulden zwingen. Also kann die Auffassung des Erwerbes als Berufsarbeit im [ED 1223]Sinne einer ethischen Maxime nur aus dem Protestantismus stammen, und zwar scheidet das Luthertum aus Gründen aus, die wir alsbald kennen lernen werden, und es bleibt somit nur der Kalvinismus übrig. Troeltsch gibt diesen Gedankengang Webers sehr anschaulich mit den Worten wieder: „Sombart hatte gezeigt, wie der Geist des Kapitalismus eine dem natürlichen Trieb zu Genuß und Ruhe, zu Erwerbung der bloßen Existenzmittel ganz entgegengesetzte Rastlosigkeit und Grenzenlosigkeit zeigt, wie er Arbeit und Erwerb zum Selbstzweck und den Menschen zum Sklaven der Arbeit um ihrer selbst willlen macht, wie er das ganze Leben und Handeln unter eine absolut rationalistisch-systemische Berechnung bringt, die alle Mittel kombiniert, jede Minute ausnützt, jede Kraft verwertet, wie er im Bunde mit der wissenschaftlichen Technik und dem alles verknüpfenden Kalkül dem Leben eine durchsichtige Rechenhaftigkeit und abstrakte Genauigkeit verleiht. Dieser Geist aber, sagte sich Weber, kam nicht von selbst mit den industriellen Erfindungen, den Entdeckungen und dem Handelsgewinne; er hat sich auch in der spätmittelalterli[526]chen Geldwirtschaft, in dem Kapitalismus der Renaissance und in der spanischen Kolonisation nicht stark entwickelt. Er ist zu sehr gegen die Natur des Menschen, als daß er ohne eine die Natur gewaltsam und systematisch unterdrückende ungeheure Geistesmacht sich hätte bilden können. So kam Weber auf die Vermutung, aus der Tatsache der Blüte des Kapitalismus gerade auf kalvinistischem Boden den Schluß auf eine besondere Bedeutung des kalvinistischen religiös-ethischen Geistes für die Entstehung dieses kapitalistischen Geistes zu ziehen.“ Und eben die das Wesen der kalvinistischen Berufsethik kennzeichnende „innerweltliche Askese“ ist es, auf deren Boden der kapitalistische Geist erwachsen ist.

Die große Kirchentrennung des 16. Jahrhunderts bildet eine Epoche nicht nur für die Geschichte des christlichen Glaubens, sondern auch der christlichen Ethik. Damals fiel die katholische Unterscheidung der christlichen Sittengebote in die für alle Menschen verbindlichen praecepta und in die consilia, die sogenannten evangelischen Räte, der Keuschheit, der freiwilligen Armut und des unbedingten Gehorsams, deren Befolgung naturgemäß immer nur die Sache Weniger sein konnte. Damit wurde die Überbietung der innerweltlichen [ED 1224]Sittlichkeit durch mönchische Aszese unmöglich; einziges Mittel, Gott wohlgefällig zu leben, war fortan die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten, wie sie sich aus der Lebensstellung des Einzelnen ergaben, die fortan sein „Beruf“ wurde. Die Pflichtterfüllung innerhalb des Berufes wird fortan geschätzt als der höchste Inhalt, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen kann. Luther hat zuerst diesen neuen protestantischen Berufsbegriff entwickelt; aber noch blieb dieser bei ihm traditionalistisch gebunden: ihm ist der Beruf das, was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen, worin er sich zu „schicken“ hat; diese Färbung übertönt den auch vorhandenen Gedanken, daß die Berufsarbeit eine oder vielmehr die von Gott gestellte Aufgabe sei: Wegfall der Überbietung der innerweltlichen durch aszetische Pflichten, verbunden aber mit der Predigt des Gehorsams gegen die Obrigkeit und Schickung in die gegebene Lebenslage. Auf ökonomischem Gebiete mußte diese Lehre zur Folge haben dieselbe traditionalistische Lebenshaltung, wie der Katholizismus; es fehlte ihr jeder Stachel zu wirtschaftlichem Aufschwung; in Übereinstimmung damit war Luthers ökonomisches Ideal „vom agrarischen und handwerklichen Standpunkt aus orientiert“, und er setzte das kanonische Zinsverbot fort.

Ganz verschieden von der lutherischen ist die kalvinistische Berufsethik, und zwar gemäß der Differenz, die zwischen lutherischer und kalvinistischer Religiosität überhaupt obwaltet. Das Ziel der ersteren ist die unio mystica mit Gott, die Empfindung des realen Eingehens des Göttlichen in die gläubige Seele; es ist gekennzeichnet durch seinen passiven, auf die Erfüllung der Sehnsucht nach Ruhe in Gott ausgerichteten Charakter und seine rein stimmungsmäßige Innerlichkeit. Dazu kommt das tiefe Gefühl erbsündlicher Unwürdigkeit und daraus fließender Demut und Reue, wie sie für die Sündenvergebung unentbehrlich sind, und eben deshalb, weil die Sündenvergebung mit der durch sie hervorgerufenen Ruhe und Seligkeit der Erlösung im Mittelpunkte des religiösen Interesses steht, wird Gott aufgefaßt als ein Gott der Liebe und des Erbarmens. Anders der Kalvinismus. Hier liegt der Nachdruck nicht auf dem Akte der Sündenvergebung, sondern auf der Erwählung durch den Willen der [ED 1225]Allmacht Gottes; zu seiner Ehre beruft er die Einen und verwirft er die Andern. Wegen der zentralen Bedeutung, die der Prädestinationslehre im Kalvinismus zukommt, rückt daher in den Vordergrund bei der Betrachtung Gottes sein freier und unumschränkter Machtwille, seine Ehre, seine Herrlichkeit und Furchtbarkeit. Das Gefühl bußfertiger Reue [527]ist dem Kalvinismus zwar nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis fremd. Denn es ist für ihn ethisch wertlos; es nutzt dem Verworfenen nichts, und dem, der seiner Erwählung sicher ist, ist die eigene Sünde, deren er sich bewußt ist, ein Symptom rückständiger Entwicklung und unvollkommener Heiligung; er beweint sie nicht; sondern er haßt sie und trachtet darnach, sie zu Gottes Ruhme durch die Tat zu überwinden. Durch die Elektionsgnade, die ihm zuteil geworden ist, wird er erhoben in die Gemeinschaft des Gotteswillens, erhält er das Bewußtsein der Bestimmung zu einem positiven Weltzwecke, der Berufung zur Betätigung der göttlichen Herrlichkeit im Dienste Gottes. Das Moment der Ehre Gottes ist es, worauf alles ankommt: die ganze Welt ist bestimmt zu seiner Verherrlichung; das gleiche ist die Aufgabe des Christen. Gott will die Tätigkeit des Christen in Welt und Gesellschaft; denn diese sollen so eingerichtet sein, daß sie zur Verherrlichung seiner Ehre dienen; die soziale Arbeit, d. h. die Arbeit in Welt und Gesellschaft, ist dem Kalvinisten auferlegt als Pflicht in majorem gloriam Dei, und eben diesen Charakter trägt auch die Berufsarbeit, die im Dienste des diesseitigen Lebens der Gesamtheit steht. Entsprechend dem Unterschiede der Religiosität überhaupt trägt daher die Ethik des Kalvinismus und auch seine Berufsethik im allgemeinen im Gegensatze zu der des Luthertums einen ausgeprägt aktiven Charakter.

Aus dem Wesen der kalvinistischen Religiosität fließt noch ein spezielles Moment in der reformierten Berufsethik, das allerdings erst durch die Epigonen Calvins zur Ausbildung gelangt ist. Zwar soll man nach Calvin darauf vertrauen, daß man zu den Erwählten gehört; aber es gibt seiner Ansicht zufolge schlechterdings keinen äußerlichen Unterschied zwischen Erwählten und Verworfenen, keine certitudo salutis. Anders seine Nachfolger, schon Beza. Sie verlangten ein sicheres Kennzeichen des eigenen Gnaden[ED 1226]standes, der Zugehörigkeit zu den electi. Um diesem Bedürfnisse zu genügen, muß man sich für erwählt halten und jeden Zweifel als Anfechtung des Satans abwehren, da ja mangelnde Selbstgewißheit Folge unzulänglichen Glaubens, also unzulänglicher Wirkung der Gnade ist; und andererseits: um diese Selbstgewißheit zu erlangen, bedarf es vor allem rastloser Berufsarbeit; denn sie allein verscheucht den religiösen Zweifel und gibt die Sicherheit des Gnadenstandes. Die Gemeinschaft des Erwählten mit Gott ist im Kalvinismus nicht, wie im Luthertum, ein reales Eingehen des Göttlichen in die Menschenseele; denn das ist durch die absolute Transzendenz Gottes gegenüber allem Kreatürlichen ausgeschlossen. Sie kann vielmehr nur so stattfinden und zum Bewußtsein kommen, daß Gott in den Erwählten wirkt, und daß sich diese dessen bewußt werden. Sola fide will auch der Reformierte selig werden; aber der Glaube muß sich in seinen objektiven Wirkungen bewähren, um der certitudo salutis als Unterlage dienen zu können; er muß eine fides efficax sein, und zwar muß sich, damit Glauben und Gnadenstand erkennbar werden, die Wirkung des Glaubens in einer Lebensführung äußern, die zur Mehrung von Gottes Ruhme dient. Nur der Erwählte hat die fides efficax; nur er ist fähig, Gottes Ruhm durch wirklich, nicht nur scheinbar gute Werke zu mehren, und indem er sich dessen bewußt ist, daß sein Wandel, wenigstens dem Grundcharakter und konstanten Vorsatze nach, auf einer in ihm lebenden Kraft zur Mehrung von Gottes Ruhme ruht, also gottgewollt oder vor allem gottgewirkt ist, erlangt er jenes höchste Gut, nach welchem die Religiosität strebt, die Gnadengewißheit. So absolut ungeeignet also gute Werke auch sind, als Mittel zur Erlangung der Seligkeit zu dienen (denn auch der Erwählte ist Kreatur und von sich selbst [aus] ohnmächtig), so unentbehrlich sind sie als Zeichen der Erwählung. Das bedeutet aber praktisch, daß Gott dem hilft, der sich selbst hilft, daß also der Kalvinist seine [528]Seligkeit – oder korrekter: die Gewißheit seiner Seligkeit – selbst schafft, daß aber dieses Schaffen nicht, wie im Katholizismus, in einem allmählichen Aufspeichern verdienstlicher Einzelleistungen bestehen kann, sondern in einer beständigen systematischen [ED 1227]Selbstkontrolle, die jeden Augenblick vor der Alternative steht: erwählt oder verworfen? Logisch wäre der Fatalismus als Konsequenz der Prädestination deduzierbar; die psychologische Wirkung aber war infolge der Einschaltung des „Bewährungs“gedankens die gerade umgekehrte. Die electi sind eben kraft ihrer Erwählung dem Fatalismus unzulänglich [lies: unzugänglich]; gerade in ihrer Abweisung der fatalistischen Konsequenzen bewähren sie sich, und durch ihre Erwählung werden sie eifrig und besorgt in ihrem Berufe.

Das also ist es, was der kalvinischen Ethik auf der Grundlage des Bewährungsprinzipes ihre charakteristische Eigentümlichkeit gibt – eine Lebensführung, die jederzeit so geregelt wird, daß sich der Christ bei jeder einzelnen seiner Handlungen darüber Rechenschaft gibt, ob sie ein Zeichen seiner Erwählung oder Verwerfung sei. Es werden somit im Unterschiede vom Katholizismus nicht nur einzelne „gute Werke“, d. h. nicht systematisch miteinander zusammenhängende einzelne Handlungen, verlangt, sondern ein „heiliges Leben“, d. h. eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit, eine konsequent ausgebildete Methode der ganzen Lebensführung. Denn nur in einer fundamentalen Umwandlung des Sinnes des ganzen Lebens in der Sünde und bei jeder Handlung kann sich das Wirken der Gnade als einer Transferierung des Menschen aus dem Status naturae in den Status gratiae bewähren. Das Leben des Heiligen ist ausschließlich auf ein transzendentes Ziel, die Seligkeit im Jenseits ausgerichtet, und eben deshalb, weil es darauf in jedem Momente bezogen wird, ist es in seinem diesseitigen Verlaufe rationalisiert, nämlich stets beherrscht vom Grundsatze: „omnia ad majorem gloriam Dei“. Nur ein durch konstante Reflexion geleitetes Leben kann als Überwindung des Status naturalis gelten: diese Rationalisierung nun gibt der reformierten Frömmigkeit ihren spezifisch aszetischen Zug. Das Wesen der protestantischen Aszese besteht demnach darin, daß das ganze Leben heiligmäßig eingerichtet wird, daß jede einzelne Handlung, gleichgültig, welcher Natur sie auch immer sei, auf das transzendente Leben bezogen wird, nämlich ob sie zur Ehre Gottes gereicht, und das will sagen, ob sie zwar nicht ein Realgrund, aber doch ein Erkenntnisgrund des Gnaden[ED 1228]standes ist; das bedeutet in Wirklichkeit, daß das transzendente Ziel bei jeder Handlung im Christen als ausschlaggebendes Motiv gesetzt wird. Eine rationalistische, nämlich eine methodisch gepflegte und kontrollierte Lebensführung, das eben ist die dem Protestantismus eigentümliche Aszese. Sie arbeitet daran, den Menschen zu befähigen, seine konstanten Motive (insbesondere diejenigen, die sie ihm selbst „einübt“) gegenüber den Affekten zu behaupten und zur Geltung zu bringen; sie will ihn in den Stand setzen, den Status naturae zu überwinden, ihn der Macht der irrationellen Triebe und der Abhängigkeit von Welt und Natur entziehen, der Suprematie des planvollen Willens unterwerfen, seine Handlungen beständiger Selbstkontrolle und der Erwägung ihrer ethischen Tragweite unterstellen: so soll er – objektiv – zu einem Arbeiter im Dienste des Reiches Gottes erzogen, zugleich aber auch dadurch – subjektiv – seines Seelenheiles versichert werden. Der Kalvinismus ist die bedeutendste, aber nicht die einzige Richtung des Protestantismus, die eine solche methodisch-gepflegte und kontrollierte, d. h. aszetische Lebensführung vorschreibt; sie ist auch, wenngleich in verschiedenartiger Begründung und Abstufung (auf das Nähere können wir hier nicht eingehen) im Pietismus, im Methodismus und Baptismus zu finden. Allen ist gemeinsam die Auffas[529]sung des Gnadenstandes als eines Standes, der die Menschen von der Verworfenheit des Kreatürlichen abscheidet, dessen Besitz aber nur durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten, von dem Lebensstil des „natürlichen“ Menschen unzweideutig verschiedenen Wandel garantiert werden kann. Daraus folgt für den Einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren aszetischer Durchdringung. Dieser „aszetische Lebensstil“ aber bedeutet eine am Gotteswillen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Daseins.

Auch der Protestantismus hat somit seine Aszese, und daraus ergibt sich von selbst die Frage: wie verhält sie sich zur Aszese des Katholizismus? Beide sind, so meint Weber, miteinander verwandt, und zwar beruht diese Verwandtschaft auf dem rationalen Zuge, der ihnen beiden zu eigen ist, und der, was die katholische Aszese anbetrifft, am schärfsten bei den Jesuiten zur Ausbildung [ED 1229]gelangt ist – nämlich emanzipiert von planloser Weltflucht und virtuosenhafter Selbstquälerei. Die unbedingte Herrschaft über das eigene Selbst – sie ist das Ziel der Exercitien des hl. Ignatius und der höchsten Formen rationaler mönchischer Tugenden überhaupt, ganz ebenso aber auch das höchste praktische Lebensideal des Puritanismus. Protestantische und katholische Aszese aber unterscheiden sich auch voneinander. Denn jener fehlen die evangelischen Räte; weit davon entfernt, der Welt zu entsagen, die Welt zu fliehen, betätigt sie sich vielmehr in der Welt: sie ist eine „innerweltliche“. Nachdem das weltflüchtige Mönchstum, der Kulminationspunkt der katholischen Aszese, einmal von Luther abgeschafft worden war, ließ sich die Aszese innerhalb des Protestantismus nicht mehr vom weltlichen Alltagsleben absondern; man sah sich darauf angewiesen, den aszetischen Idealen innerhalb des weltlichen Berufslebens nachzugehen. Ihre feste Norm behufs stetiger Orientierung empfing diese neue aszetische Lebensführung durch die Bibel, zumal durch das Alte Testament, das ja, als gleichfalls inspiriert, dem Neuen Testamente völlig gleichgestellt ward. Indem nun freilich der Unterschied zwischen der Alltagssittlichkeit als einer ethischen Ordnung gleichsam niederen Grades und der Aszese als einer höheren Sittlichkeit aufhört, ist die Aszese des Protestantismus nicht mehr ein opus supererogationis, sondern eine Leistung, die jedem zugemutet wird, der seiner Seligkeit gewiß sein will, und sie gipfelt in der Berufsidee. „Auf den Markt des Lebens hinaustretend, die Türe des Klosters hinter sich zuschlagend“, unternahm es diese neue Aszese, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methode zu durchtränkten, es zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.

Um zu zeigen, wie sich diese Durchdringung des Alltagslebens durch die protestantische Aszese vollzog, analysiert Weber zunächst eine Reihe von Schriften, die, aus der seelsorgerischen Praxis herausgewachsen, das ökonomische Leben in den Kreis ihrer Betrachtung zogen und, wie er meint, entscheidend beeinflußten: „denn in einer Zeit, in welcher das Jenseits alles war, an der Zulassung zum Abendmahl die soziale Position des Christen hing, die Einwirkung [ED 1230]des Geistlichen in Seelsorge, Kirchenzucht und Predigt einen Einfluß ausübte, von dem … wir modernen Menschen uns einfach keine Vorstellung mehr zu machen vermögen, sind die in dieser Praxis sich geltend machenden religiösen Mächte die entscheidenden Bildner des Volkscharakters.“ Das Schwergewicht fällt auf die Schilderung der puritanischen Berufsethik an der Hand von Baxters Christian Directory; sie erklärt zwar den Reichtum für gefährlich, aber nur unter der Voraussetzung, daß man auf dem Besitze ausruht und sich dem Genusse hingibt. Denn nicht Muße und Genuß sind unsere Bestimmung, sondern Arbeit zur Ehre Gottes. Zeitvergeudung durch Faulheit, Geselligkeit, Luxus, übermäßigen Schlaf und untä[530]tige Kontemplation auf Kosten der Berufsarbeit ist die erste und prinzipiell schwerste Sünde. Aktives Tun seines Willens im Berufe ist Gott am meisten wohlgefällig. Harte körperliche und geistige Arbeit ist die Pflicht des Menschen, zunächst als das von altersher in der abendländischen Kirche erprobte aszetische Mittel gegen alle unlauteren Anfechtungen, aber auch darüber hinaus als Selbstzweck des Lebens: Arbeitsunlust ist ein Symptom mangelnden Gnadenstandes. Auch der Reiche darf nicht essen, ohne zu arbeiten. Bei Baxter spielt allerdings bereits die Ansicht hinein, daß man arbeiten muß zur Ehre Gottes und zur öffentlichen Wohlfahrt – also ein utilitaristischer Gesichtspunkt, der den späteren Umschlag zur utilitaristisch-liberalen Theorie vorbereitet. Er schreibt direkt die „Profitlichkeit“ von Arbeit und Beruf vor: wenn Gott den Seinigen eine Gewinnchance zeigt, so haben sie (vorausgesetzt ihre moralische Zulässigkeit) diesem Rufe (calling) zu folgen: „nicht freilich zum Zwecke der Fleischeslust und Sünde, wohl aber für Gott dürft Ihr arbeiten, um reich zu sein!“

So war der „kapitalistische Lebensstil“ direkt ein Postulat der dem Kalvinismus eigentümlichen Berufsethik und als solches in der kalvinistischen Literatur ausdrücklich anerkannt; seine tatsächliche Entwicklung und Verbreitung wurde weiterhin gefördert durch das ganze System der reformierten Ethik mit ihrem Gebote „aszetischer Lebensführung“: gerade hierin springt die Übereinstimmung mit der Eigenart des „kapitalistischen Geistes“ der Jetztzeit deutlich ins Auge, wie er typisch [ED 1231]ist für den „Unternehmer neuen Stils“, dessen Porträt uns ja Weber so plastisch vorgeführt hat. Denn die rationale Aszese des Kalvinismus und des Puritanismus als seiner vollkommensten Erscheinungsform wendet sich gegen den unbefangenen Genuß des Daseins und der Daseinsfreuden, wie Sport, Geselligkeit, Tanzbelustigungen, Kneipenbesuch, kurz gegen allen triebhaften Lebensgenuß, der von der Berufsarbeit und von der Frömmigkeit abzieht; sie nimmt allen nicht direkt religiös zu wertenden Kulturgütern gegenüber eine mißtrauische Stellung ein, so gegenüber der schönen Literatur, aller Sinnenkunst, Musik, Theater. Sie bekämpft alles, was nicht Gottes Ruhme, sondern der menschlichen Eitelkeit dient. Daher schreibt sie Einfachheit der Kleidung, nüchterne, von ästhetischen Rücksichten entblößte äußere Lebenshaltung vor, Vermeidung aller überflüssigen Ausgaben und Kosten, da ja der Mensch nur Verwalter der Güter ist, die ihm Gott verliehen hat, und da er dafür Rechenschaft abzulegen hat. Hier fand der für die Entwicklung des Kapitalismus so bedeutsame Gedanke seine Heimstätte, daß der Mensch seinem Besitze verpflichtet ist, daß er ihm als dienender Verwalter, als Erwerbsmaschine untergeordnet ist. Indem sie also den unbefangenen Genuß des Besitzes verwirft, schränkt sie die Konsumtion ein; zugleich entlastet sie den Erwerbstrieb von allem Drucke traditionalistischer Ethik: hatte schon Calvin das Zinsnehmen für erlaubt erklärt, so galt seinem ethischen Systeme der Erwerb, wie jeder Beruf überhaupt, nicht nur als gestattet, sondern sogar als direkt durch Gott geboten, wenngleich alle Unredlichkeit und rein triebhafte Habgier, aller Mammonismus bekämpft wurde. Allerdings, so gibt Weber zu, zeigte sich schließlich die kalvinistische Ethik als eine Kraft, die zwar das Gute wollte, aber das Böse schuf, nämlich das Böse in ihrem eigenen Sinne, den Reichtum lediglich zum Endzwecke, reich zu sein, den Reichtum mit allen seinen Versuchungen. Und das Resultat ihrer doppelten Wirkung, nämlich der Entfesselung des Erwerbstriebes und der Einschnürung der Konsumtion, mußte sein: Kapitalbildung durch aszetischen Sparzwang, indem das durch Sparsamkeit gesammelte Kapital immer wieder produktiv als Anlagekapital verwandt wurde.

[531]Wie nun vollzog sich – das ist das letzte Glied in der Beweiskette Webers – der [ED 1232]Übergang von protestantischer Berufsethik zum modernen „kapitalistischen Lebensstil“? Von vornherein ist ja eines klar: „Die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten aszetischen Mittels und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen und seiner Glaubensechtheit mußte ja der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung sein, die wir hier als den ,Geist‘ des Kapitalismus bezeichnet haben.“ Aber noch mehr: der „kapitalistische Geist“ der Jetztzeit ist direkt aus der reformierten Berufsethik hervorgegangen, und zwar durch einen Prozeß der Säkularisation. Es waren ja von Anfang an in ihr Elemente enthalten, die diesen Prozeß vorbereiteten und anbahnten. Dazu gehörte es, wenn Baxter das Streben nach Reichtum sowohl zum Ruhme Gottes als auch zur allgemeinen Wohlfahrt forderte. Darin steckte, wie schon erwähnt wurde, ein utilitaristisches Moment, das den späteren Umschlag zur utilitaristisch-liberalen Theorie einzuleiten geeignet war. Aber das wichtigste ist: der religiöse Sinn, der bisher die Grundlage des Erwerbslebens war, schwindet. Der Kapitalist arbeitet nicht mehr aus Motiven der Aszese zur Ehre Gottes. Es erfolgt, wie Troeltsch sich ausdrückt, eine Wendung zum Erwerbe um des Erwerbes willen, mit seinem harten und brutalen Konkurrenzkampfe, seinem agonalen Siegesbedürfnis und seiner weltlich triumphierenden Freude an des Kaufmanns Herrschgewalt; damit löst sich die kapitalistische Tätigkeit völlig von ihrem ursprünglichen Boden und wird zu einer dem echten Kalvinismus und Protestantismus entgegengesetzten Macht; diesem wachsen seine eigenen Schöpfungen über den Kopf; er wird die Geister nicht mehr los, die er gerufen hat.

Aber trotzdem: wenngleich durch Verleugnung und Verkehrung des Geistes, aus dem sie erwachsen waren, in sein Gegenteil – Geist und Voraussetzungen des Kapitalismus waren nun einmal geschaffen. Oder, wie Weber sagt: „Soweit die Macht puritanischer Lebensauffassung reichte, kam sie unter allen Umständen – und das ist natürlich wichtiger als die bloße Begünstigung der Kapitalsbildung – der Tendenz bürgerlicher, ökonomisch-rationaler Lebensführung zugute; sie war ihr wesentlichster und einzig [ED 1233]konsequenter Träger. Sie stand an der Wiege des ,modernen Wirtschaftsmenschen‘. Freilich, sobald die von ihr getragenen Elemente erst in die Höhe gelangt waren, da suchten sie bald, wie gesagt, nicht mehr den Reichtum zur Ehre Gottes, sondern um seiner selbst willen; da waren sie recht oft zur Verleugnung der alten Ideale bereit. Aber die kalvinische Aszese wurde überdauert durch ihr Werk, den durch sie entfesselten Geist des Kapitalismus. Ihre vollen ökonomischen Wirkungen entfalteten jene mächtigen religiösen Bewegungen, deren Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung ja in erster Linie in ihren aszetischen Erziehungsmitteln lag, regelmäßig erst, nachdem die Akme des rein religiösen Enthusiasmus bereits überstiegen war, der Krampf des Suchens nach dem Gottesreiche sich allmählich in nüchterne Berufstugend aufzulösen begann, die religiöse Wurzel langsam abstarb und utilitaristischer Diesseitigkeit Platz machte.“ Was jene religiös lebendige Epoche des 17. Jahrhunderts ihrer utilitaristischen Erbin vermachte, das war vor allem ein ungeheuer gutes – wie Weber wörtlich sagt – pharisäisch gutes Gewissen beim Gelderwerb, wenn anders es sich nur in legalen Formen vollzog. Eine spezifisch bürgerliche Berufsethik ist entstanden. Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermag der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich in den Schranken formaler Korrektheit hält, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem [532]Reichtum macht, kein anstößiger ist, seinen Erwerbsinteressen zu folgen, und er soll das tun. Die Macht der religiösen Aszese stellt ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszwecke klebende Arbeiter zur Verfügung. Die protestantische Aszese suggerierte ihnen ja als mächtigen Antrieb zur Arbeit die Auffassung der Arbeit als Beruf, als einziges Mittel, des Gnadenstandes sicher zu werden, und sie legalisierte auf der anderen Seite die Ausbeutung dieser Arbeitswilligkeit, indem sie auch den Gelderwerb des Unternehmers als „Beruf“ deutete: so wurde durch sie in zweifacher Hinsicht die „Produktivität“ der Arbeit im kapitalistischen Sinne des Wortes gefördert.

So weit die Theorie Webers von der Her[ED 1234]kunft des „kapitalistischen Geistes“ aus der innerweltlichen Aszese des Kalvinismus. Wir haben sie bei dem komplizierten Charakter ihrer Gedankengänge möglichst eingehend und zur Vermeidung von Irrtümern möglichst in Anlehnung an den Wortlaut ihrer Ausführung wiedergegeben. Wir gehen jetzt an ihre Prüfung, wenigstens was ihre wesentlichen Bestandteile anbelangt. Es sind ihrer drei: zunächst die Erörterung dessen, was unter „kapitalistischem Geiste“ zu verstehen ist; alsdann die Berufsethik Calvins und des Kalvinismus und ihre Stellung zum Wirtschaftsleben, endlich der faktische Einfluß des Kalvinismus auf die Entwicklung des „kapitalistischen Geistes“ und des Kapitalismus.

II.

Was ist nach Weber „kapitalistischer Geist“? Eine ethisch gefärbte Maxime der Lebensführung, und zwar gipfelt diese Ethik im Streben nach Gelderwerb; dieser ist Selbstzweck, abgelöst von allem Streben nach Genuß, so daß daneben die Rücksicht auf das „Glück“ oder auf den „Nutzen“ des Individuums vollkommen zurücktritt: das ist das Leitmotiv des Kapitalismus. Er ist gekennzeichnet durch seinen Gegensatz zum „Traditionalismus“, der für den „traditionellen Bedarf“ arbeitet; denn so ist ja die menschliche Natur angelegt, man will nicht schlechthin verdienen, sondern eben nur so viel, wie man zur Lebenshaltung braucht und zu brauchen gewöhnt ist. Dagegen arbeitet der kapitalistische Geist für den über den traditionellen Bedarf hinausgehenden Erwerb, und zwar nur des Erwerbes halber, unter bewußtem Verzicht auf alle anderen Motive. Der reine Gelderwerb wird als Beruf aufgefaßt, und gerade darin liegt das ethische Moment des „kapitalistischen Geistes“, daß man sich diesem seinem Berufe gegenüber verpflichtet fühlt, daß man durchdrungen ist vom Postulate der Tüchtigkeit auch in diesem Berufe: das ist ein irrationales Element, das der menschlichen Natur an sich widerstrebt.

Diese Auffassung vom „kapitalistischen Geiste“ ist auf der einen Seite zu eng, auf der anderen zu weit; es werden in sein [lies: seinen] Bereich Dinge gezogen, die sicherlich nicht von ihm getragen sind, und solche ausgeschlossen, die nicht minder unzweifelhaft seinen Stempel tragen. Bedenken erregt bereits der Aus[ED 1235]gangspunkt: sind traditionalistisches Bedarfswirtschaftssystem und kapitalistisch gerichtetes Erwerbswirtschaftssystem wirklich so scharf gesondert, wie Weber annimmt? Streben nach „Bedarfsdeckung“ und nach „Erwerb“ sind nur relative Gegensätze. Es gilt nicht die Alternative: Arbeiten entweder um des Bedarfes willen oder um des Erwerbes halber; man arbeitet vielmehr entweder nur für seinen Bedarf oder auch darüber hinaus, um mehr zu erwerben, als man braucht, und dieses letztere Motiv geht doch nicht so gegen [533]die menschliche Natur, wie Weber und Troeltsch behaupten. Wenn es gleich viele gibt, die zufrieden sind, wenn sie erworben haben, was sie brauchen, so fehlt es doch auch keineswegs an solchen, die vom Bestreben erfüllt sind, falls sich ihnen nur Gelegenheit und Mittel bieten, mehr zu erwerben, als sie brauchen, Schätze nicht nur aufzuspeichern, sondern immer wieder produktiv zu verwerten, d. h. Kapital umzuschlagen: es gibt und gab von jeher Menschen beider Kategorien, und es braucht nicht erst eine übergewaltige religiöse Geistesmacht, wie der Kalvinismus mit seiner „Aszese“ in die Geschichte einzutreten, um solche der zweiten Art zu schaffen, d. h. den mit der Natur des Menschen an sich unvereinbaren und bis dahin auch tatsächlich mangelnden „kapitalistischen Geist“ zu erwecken oder auch etwa nur zur Reife zu bringen.

Weber setzt traditionalistisches Bedarfswirtschaftssystem und von „kapitalistischem Geiste“ getragenes Erwerbswirtschaftssystem als absolute Gegensätze. Ist denn aber, was davon die logische Konsequenz wäre, jeder Versuch, über das durch die Tradition überlieferte Wirtschafts- und Bedarfsniveau hinauszugelangen, bereits als eine Emanation „kapitalistischen Geistes“ zu betrachten? Daß Weber tatsächlich dieser Ansicht ist, erhellt schon daraus, daß er an mehreren Stellen ausdrücklich „die aufstrebenden Schichten des Mittelstandes“ als die Träger „derjenigen Gesinnung“ erklärt, die er unter kapitalistischem Geiste versteht. In solchen Fällen aber kann es sich wenigstens oft nur um ein Streben nach besserer Lebenshaltung, nach Erhebung in ein höheres gesellschaftliches Milieu, nach größerem Anteil an den mannigfaltigen Genüssen des Lebens und den Gütern der Kultur, vor allem aber um Förderung der Nachkommenschaft handeln. Es läge [ED 1236]dann vor ein Streben nach Deckung eines Bedarfes, der über das „Traditionalistische“ hinausgeht, aber keineswegs ein Streben nach Sammlung und Umschlag von Kapitalien. Was aber ist das für ein „kapitalistischer Geist“, der darauf nicht nur nicht ausgeht, sondern auch eventuell darauf anderer Zwecke halber von vornherein bewußt verzichtet?

Kann somit vieles von dem, was Weber als Emanation „kapitalistischen Geistes“ ansehen müßte und auch in der Tat ansieht, keineswegs mit diesem Worte im üblichen Sinne bezeichnet werden, so müßte er dieses Prädikat andererseits zahlreichen wirtschaftlichen Erscheinungen versagen, denen es nach dem allgemeinen Sprachgebrauch gebühren würde. Dabei entbehrt seine Auffassung nicht des inneren Widerspruchs. Nach ihr ist es möglich, daß ein bestimmtes wirtschaftliches Handeln als getragen vom kapitalistischen Geiste erklärt werden muß, weil es aus dem Rahmen des traditionellen Bedarfsdeckungssystems herausfällt; trotzdem muß in diesem Falle aber das Walten des „kapitalistischen Geistes“ geleugnet werden, weil das betreffende Handeln nicht rein abzulösen ist von den Motiven des Genusses, der Rücksicht auf „Glück“ und „Nutzen“. Wohl gibt es genug Kapitalisten ohne besonders entwickelten „kapitalistischen Geist“; es ist wohl sogar Kapital möglich, bei dessen Bildung „kapitalistischer Geist“ nicht im Spiele war, indem z. B. glückliche Konjunkturen bisher wertlosem Grundbesitz aus Zufall und jedenfalls ohne Zutun des Besitzers eine riesenhafte Preissteigerung brachten; oder infolge plötzlichen Steigens bisher relativ wertloser Aktien, die man im Erbgange erhalten hat, u. a.m. Aber setzen wir einen Fall, für dessen tatsächliches Vorkommen Geschichte und Gegenwart uns unzählige Belege zu bieten vermögen: ein Unternehmer ist erfüllt von einem über das Maß jeglicher (nicht nur traditioneller) Bedarfsdeckung weit hinausgehenden Erwerbstrieb, der ihn zum Gewinn und Umschlag immer neuer und größerer Kapitalien anreizt und instand setzt; es tritt aber in ihm der Erwerbstrieb nicht isoliert auf, sondern es mischen sich bei ihm mit dem [534]Streben nach Gewinn noch andere Motive, Rücksicht auf das „Glück“ und den „Nutzen“, sei es der eigenen Person oder auch anderer, zumal der Familie, Streben nach Genüssen, Ehren, Macht, glänzender [ED 1237]Zukunft der Nachkommen usw.: werden wir diesem Kapitalisten deshalb die Triebfeder des „kapitalistischen Geistes“ absprechen, bei [ED 1238]dem von ihm gesammelten Kapital die Provenienz aus dem „kapitalistischen Geiste“ leugnen wollen und dürfen?

[[ED 1249]]Ganz anders sieht, wie wir wissen, das Bild des Unternehmers „neuen Stils“ aus, wie Weber es entworfen hat; es ist ein „Idealtypus“, wie er vorkommen mag, aber keineswegs die Regel ist. Ich habe in meiner Jugend in meiner Heimat, dem schlesischen Gebirge, so manche Textilfabrikanten gekannt, auf die die Webersche Schilderung der geschäftlichen Qualitäten dieses Idealtypus sehr wohl zutrifft, die ihre Konkurrenten weit überflügelten und Vermögen sammelten; aber was ich an ihnen nicht entdecken kann, das ist die von Weber behauptete Isoliertheit des Motivs. Ihr Erwerbstrieb, wie kräftig auch entwickelt, ward getragen und sekundiert von einer Fülle anderer Motive, für die der Gelderwerb nur Mittel zum Zwecke war. Dem reichen Geschäftsmanne, von dem Weber erzählt, daß er nur mit Mühe zu dem ärztlich verordneten Austerngenusse zu bewegen war, kann wohl jedermann aus persönlicher Kenntnis mehr als einen anderen Kapitalisten entgegenstellen, an dessen „kapitalistischem Geiste“, im üblichen Sinne des Wortes gesprochen, nicht zu zweifeln ist, der sich aber in den Tagen vollster Gesundheit, und gerade dann mit dem größten Genusse, die köstlichen Schalentierchen sehr wohl munden läßt. Sollten nicht solche Artikel in diesen Kreisen jetzt, wie früher, immer noch am meisten konsumiert werden, jedenfalls mehr, als in den übrigen Schichten der sogenannten „besseren Gesellschaft“? Fast möchte ich glauben, daß die Delikatessenhändler, falls in der Sphäre des „kapitalistischen Geistes“ plötzlich „aszetische“ Lebensgewohnheiten einzögen, aus Mangel an Kundschaft ihre Läden schließen könnten. Für den Anfänger mit geringen Mitteln, der erst noch emporkommen muß, sind gewisse Eigenschaften sehr förder[ED 1250]lich und selbst sogar unentbehrlich: Fähigkeit, das Vertrauen von Arbeitern und insbesondere Kunden zu gewinnen, Spannkraft und Arbeitskraft, Mäßigung im Genusse. Inwieweit es sich dabei um „ethische“ Qualitäten handelt, kommt auf den einzelnen Fall an: am nützlichsten zum Zwecke des Reichwerdens werden ihm wohl die spezifisch „geschäftlichen Tugenden“ sein, und mancher, in dem sich der kapitalistische Geist recht kräftig, ungehindert und erfolgreich auswirkte, hat sich nicht immer solcher Mittel bedient, die „ethisch“ ganz einwandfrei waren. Die Hingabe an den Beruf, das Pflichtbewußtsein, das die Tüchtigkeit, die Bewährung im Berufe zur inneren Forderung erhebt, – das ist wohl ein ethisches Moment, welches, wie alle Berufe, so auch den des Geschäftsmannes adeln soll; aber für Existenz und Wirksamkeit des kapitalistischen Geistes ist es ganz gleichgültig, welche Zwecke dem Kapitalisten als Leitmotiv vorschweben, ob der des Gelderwerbens in reiner Isoliertheit, oder auch andere, und gerade diese anderen können unter Umständen der Tätigkeit des Unternehmers eine besonders ausgeprägte ethische Nuance verleihen. Es kann andererseits recht zweifelhaft sein, ob eine Wirksamkeit, die den Gelderwerb als reinen Selbstzweck statuiert, überhaupt noch das Prädikat „ethisch“ verdienen würde. Denn aus einer also gerichteten „Berufsethik“ könnten Handlungen entspringen, die sich nicht mit den allgemeinen ethischen Grundsätzen vertragen. Mit andern Worten: jede spezielle Berufsethik empfängt ihre Normen aus dem Schatze der allgemeinen Ethik, und wer möchte leugnen, daß gerade eine auf den Gelderwerb gerichtete Berufsethik solcher Normierung und Abhängigkeit von den Grundsätzen [535]allgemeiner Sittlichkeit am [ED 1251]dringendsten bedarf? Aber selbst wenn sie sich dessen entschlagen würde, würde man ihren Äußerungen das Kriterium des „kapitalistischen Geistes“ nicht versagen dürfen, wenn sonst die dafür erforderlichen Voraussetzungen vorhanden sind.

Wie wahr es auch immer ist, daß der vom „kapitalistischen Geiste“ ergriffene Mensch zur bloßen Erwerbsmaschine herabsinken kann, so braucht doch bei ihm das Motiv keineswegs so isoliert zu sein, daß Webers Auffassung vom Wesen des „kapitalistischen Geistes“ als erschöpfend und richtig anerkannt werden könnte; wenn sie richtig wäre, so würde es selbst heutzutage wenig genug vom „kapitalistischen Geiste“ geben, und aus ihm heraus wäre dann nur sehr wenig von dem tatsächlich existierenden Kapital abzuleiten. Die Einengung des Begriffes, wie sie Weber vornimmt, widerspricht sowohl dem Sprachgebrauch als auch dem Sachverhalte. Nicht einmal Troeltsch teilt vollkommen Webers Standpunkt. Dieser kennzeichnet den Träger des „kapitalistischen Geistes“ dahin, daß er Ostentation und Aufwand scheue, daß er gesellschaftliches Ansehen und bewußten Genuß der Macht verschmähe, daß er nichts von seinem Reichtum habe, als die „irrationelle Empfindung der Berufserfüllung“, was, wenn faktisch in reiner Isoliertheit wirksam, in der Praxis, wie ich fürchte, auf einen ungezügelten Erwerbstrieb hinauslaufen würde, der sich kaum noch von dem unterscheidet, was man sonst Geldgier, Habsucht oder Geiz zu nennen pflegt, also eine „Berufsethik“ begründen würde, die der Sittlichkeit ins Gesicht schlüge. Steht es über Webers Charakteristik des „Unternehmers neuen Stils“ in Einklang, wenn Troeltsch dem modernen Kapitalismus neben „hartem und brutalem Konkurrenzkampfe“ auch „agonales Siegesbedürfnis und weltlich triumphierende Freude an des Kaufmanns Herrschgewalt, Arbeit für den Machtgewinn zur Ehre der Menschen“ vorwirft? Wenn es nun nach Weber „Zweck der idealtypischen Begriffsbildung“, wozu ja auch sein Begriff des „kapitalistischen Geistes“ gehört, „überall ist, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zu bringen“8)[535][ED 1251] Vergl. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für Sozialwissenschaft 19, S. 76., so darf man wohl doch die Frage [ED 1252]stellen: Gehört denn der Verzicht auf Macht und auf alle anderen Motive überhaupt so sehr zur „Eigenart“ des „kapitalistischen Geistes“, daß man unter diesem Gesichtspunkte auch nur seinen „Idealbegriff“ formen darf?

Wird man den „kapitalistischen Geist“ bestimmen wollen, wie er im Laufe der Geschichte gewirkt hat, wie er noch heute wirkt und stets wirken wird, so wird man sagen müssen: er ist eine Betätigung des Erwerbstriebes, die über die (zwar nicht traditionelle, aber) vom Erwerbenden selbst als notwendig und erstrebenswert erachtete Bedarfsdeckung hinausgreift, die Ansammlung von Kapitalien und nach Möglichkeit ihr [lies: ihre] weitere gewinnbringende Anlegung verfolgt. Sie kann sich kombinieren (und das ist die Regel) mit anderweitigen Motiven der verschiedensten Art, wie Lebensgenuß, Sorge für die Familie, Streben nach Ehren, Macht, nach Wirksamkeit im Dienste des Nächsten und der Gesamtheit, der Nation und der nationalen Wohlfahrt. Sie kann getragen sein von einer speziellen Berufsethik, kann aber auch im Gegensatze stehen zu allgemeinen ethischen Grundsätzen der Zeit und des Volkes. Die eigentümliche Bewährung im Berufe aber hat bei ihr nicht ihr Kriterium im Verhältnisse zur Konsumtion – jedenfalls nicht in höherem Grade, als das bei anderen Berufen der Fall ist; es ist nur, wie bei diesen, darauf zu achten, daß nicht ein Mißverhältnis zwischen Ein[536]nahme und Ausgabe eintritt, und es muß hier speziell der Bedarf eine Grenze an der Bereitstellung der für die Erhaltung und Erweiterung des Betriebes im Rahmen der Rentabilität erforderlichen Mittel finden. Insoweit nicht gegen dieses Postulat verstoßen wird, liegt die Bewährung im kapitalistischen Berufe nicht, um das noch einmal zu betonen, auf dem Gebiete der Konsumtion durch möglichste Einschränkung der Ausgabe, womit die Nützlichkeit des Sparens für Kapitalisten, zumal für den Anfänger, keineswegs geleugnet werden soll –, sondern im spekulativen Kalkül, in der schnellen und sicheren Erfassung der jeweiligen geschäftlichen Konjunktur unter rechenmäßiger Schätzung des Verhältnisses, in welchem die anzuwendenden Mittel zum voraussichtlichen Erfolge stehen. „Kapitalistischer Geist“ ist ein Erwerbstrieb, der auf dem Grunde einer spekulativen Veranlagung dieser Art die An[ED 1253]sammlung von Kapital erstrebt. Die theoretischen Disziplinen sind nicht meine Domäne, und ich erhebe keinen Anspruch darauf, daß dieser Definition absolute Geltung zukommt; aber sie kommt gewißlich der Wahrheit näher als der „idealtypische Begriff“ Webers, und durch ihre Anwendung wird eine richtigere Erkenntnis des historischen Verlaufes bewirkt.

III.

Welches war die Stellung Calvins und des Kalvinismus zum Wirtschaftsleben und insbesondere zum Kapitalismus? Wir erörtern zuerst die des Stifters der Genfer Kirche.

Unzweifelhaft hat Calvin für eine freiere Betrachtung der ökonomischen Verhältnisse vom religiösen Standpunkte aus gewirkt. Noch Luther verharrt bekanntlich bei dem kanonischen Zinsverbote; erst Zwingli billigte ein Zinsnehmen innerhalb mäßiger Grenzen, nämlich bis 5 Prozent. Seinem Vorgange schloß sich Calvin an9)[536][ED 1253] Vergl. Elster, Johann Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom, Jahrb[ücher] für Nat[ional]-Ökon[omie] und Statistik XXXI, 196 ff. ; ausführlich legte er die Rechtmäßigkeit des Kapitalzinses dar durch den Hinweis auf die Produktivität des Geldes und auf das Opfer, das der Darleiher bringe, indem er zugleich die Ableitung des Zinsverbotes aus der Bibel bekämpfte. Selbst den Geistlichen gestattete er, ihr Vermögen zinstragend anzulegen, nur unter Vermeidung von Ärgernis; er erblickte im Reichtum kein Hindernis für ihre Amtsführung, vielmehr eine sehr erwünschte Steigerung ihres Ansehens.10) Weber II 76. Abweichend von Luther betonte er nicht einseitig die Produktivität des Ackerbaus, sondern auch die von Gewerbe und Handel; er verteidigte den Gewinn des Großhandels. Insofern darf man sagen, daß er einer freieren Berufsethik auch für die kapitalistische Unternehmung die Bahn geebnet hat; aber diese sollte doch immer ihre Norm und Grenze an den allgemeinen Vorschriften seiner Ethik finden: die christliche Liebe sollte nicht verletzt und aus dem Zinsnehmen kein Geschäft gemacht werden.11) Kampschulte, Johann Calvin 1869, I 429. Daher umgab er das Zinsnehmen mit zahlreichen Restriktionen, von denen manche der ungehemmten Auswirkung kapitalistischen Geistes nicht gerade günstig waren, z. B. daß der Reiche den [ED 1254]Armen nicht deshalb, weil sie ihm zu geringe Sicherheit böten, Darlehen verweigern dürfe, daß der Schuldner mit dem Darlehen ebensoviel gewinnen solle, wie der Gläubiger, daß neben dem privaten Nutzen auch auf das Beste des Staatswesens Rücksicht genommen werden müßte. Man [537]sieht, daß der Spielraum, der durch ihn dem kapitalistischen Geiste vergönnt wurde, doch ziemlich beschränkt war.

Man darf die praktische Wirkung der Wirtschaftslehre Calvins im Gegensatze zu der des Katholizismus und Luthers nicht etwa insofern überschätzen, als man daran erst die Entwicklung des kapitalistischen Geistes zu knüpfen versucht. Der Drang der Umstände selbst hatte schon längst die faktische Ausschaltung des Zinsverbotes bewirkt, und Calvin sanktionierte lediglich für seine Anhänger das förmlich, was praktisch längst geübt wurde. Mit Recht ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß in Genf selbst schon vor Calvin das Zinsnehmen erlaubt und ein Maximum fixiert war, und daß wohl gerade durch diese Praxis Calvin bei der Ausbildung seiner Lehre beeinflußt wurde. Auch war er gegen die Ansammlung großer Reichtümer; er wollte das Volk in Armut erhalten wissen, damit es im Gehorsam bleibe; keineswegs war der wohlhabende Industriestaat sein Ideal: „Das ungünstige, zürnende Urteil, welches er wiederholt über die großen Industrie- und Handelsstädte seiner Zeit, über Venedig und Antwerpen, fällt, beweist zur Genüge, wie wenig er selbst jenes Verdienst für sich in Anspruch nahm, das seine Verehrer im 16. und 19. Jahrhundert ihm zugesprochen haben.“12)[537][ED 1254]Kampschulte I 430. Treffend hat Elster Calvins Bedeutung für die volkswirtschaftliche Entwicklung dahin formuliert: „Vor allem hat er ein Moment im Handel und Gewerbe segensreich zur Geltung gebracht: die Arbeit des sittlichen Menschen. Calvin hat deutlich darauf hingewiesen, daß nicht allein die physischen und die geistigen, sondern vor allem auch die moralischen Kräfte des Menschen bei der Produktion in hohem Maße mitwirken müssen; immer und immer wieder hat er betont, daß die sittlichen Eigenschaften, daß Fleiß und Ausdauer, Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit, wie in allen Handlungen des Menschen, so auch auf [ED 1255]wirtschaftlichem Gebiet tätig sein müssen“: die Durchdringung der Arbeit mit dem Geiste christlicher Sittlichkeit – darin liegt das, was in Calvins Lehre eine Entwicklung des kapitalistischen Geistes und der volkswirtschaftlichen Verhältnisse in kapitalistischem Sinne fördern konnte, aber ihnen auch, im ganzen Zusammenhange seiner Lehre und seines Wirkens, hin und wieder hemmend in den Weg treten mußte. Jedenfalls kann es ganz schiefe Vorstellungen im Leser erwecken, wenn Troeltsch bei der Erwähnung der kalvinischen Lehre vom Zins bemerkt: „Bei aller Strenge gegen den Wucher ist ein mäßiger Zins, über dessen Höhe die Obrigkeit wacht, ein unentbehrliches Mittel des Gedeihens. So verwendet sich die Genfer vénérable compagnie selbst für Errichtung einer Darleihungsbank, so entstehen die großen Handelskompagnien, die großen Banken und die großen Unternehmer.“ Der kausale Zusammenhang, der durch diese Ausdrucksweise zwischen Calvins Zinslehre und der Entstehung der großen Kompagnien, Banken und Unternehmungen angedeutet wird, ist tatsächlich nicht vorhanden.

Noch fruchtbarer für die ökonomische Entwicklung unter der Ägide des „kapitalistischen Geistes“ als Calvins spezielle Wirtschaftslehre aber war, wie wir hören, die kalvinische Berufsethik wegen des ihr innewohnenden Prinzips der „innerweltlichen Aszese“. Wir kommen damit zum Problem der kalvinistischen und überhaupt der altprotestantischen Aszese. Schon früher hat man davon gesprochen, daß Calvin in Genf die Herrschaft der Aszese eingeführt, daß das daselbst von ihm gehandhabte Regiment einen aszetischen Zug getragen habe. Man dachte dabei vornehmlich an die von ihm geübte strenge Sittenzucht, an seinen Kampf gegen den altgenfischen Hang zu Luxus [538]und Vergnügen. Es ist klar, welcher Sinn dem Worte in diesem Zusammenhange beizumessen ist, – der einer gewissen Abwendung von der Welt und ihren Genüssen, einer auf rigoroser Moralität beruhenden Feindschaft gegen Lebensfreude und Genuß der Kulturgüter. Nun ist allerdings zu beachten, daß dieser, wenn man so will, „aszetische Zug“ in Calvins praktischer Wirksamkeit in Genf besonders scharf hervortritt, weil es hier den Kampf gegen eine fest eingewurzelte arge Sittenverderbnis galt. An und für sich [ED 1256]hielt der Reformator die Freude selbst an materiellen Genüssen keineswegs für unstatthaft, sondern sogar in Ansehung, daß es sich um Geschenke Gottes handle, für geboten, insofern sie nur das Übermaß vermeide.13)[538][ED 1256] Doumergue, Jean Calvin, 1905, III 535. Gewiß haften Calvins Religiosität mit Einschluß seiner Ethik und Berufslehre gewisse pessimistisch-weltflüchtige Züge an, entspringend aus seinem eschatologischen Gedankenkreise14) Μ. Schulze, Meditatio futurae vitae. Ihr Begriff und ihre herrschende Stellung im System Calvins, 1901. Calvins Jenseits-Christentum in seinem Verhältnisse zu Erasmus, 1902. W. Lüttge, Die Rechtfertigungslehre Calvins, 1909, S. 104 ff. Lang, Johannes Calvin, 1909, S. 76 f.; es ist aber mit Recht hervorgehoben worden, daß ihnen im Ganzen seiner Religiosität keineswegs eine „herrschende Stellung“, sondern nur eine sekundäre Bedeutung gebührt, und daß auch sie sich dem Hauptbegriffe Calvins sowohl für seine Dogmatik als auch für seine Ethik unterordnen lassen – nämlich des Dienstes zur Ehre Gottes.

Nicht an eine „Aszese“ dieser Art denkt Weber, wenigstens zunächst, wenn er den kapitalistischen Geist, wie er ihn versteht, aus der „innerweltlichen Aszese“ des Kalvinismus hervorgehen läßt. Für ihn ist „Aszese“, wie wir wissen, eine rationalistische, d. h. methodisch gepflegte und kontrollierte Lebensführung, derzufolge jede Handlung auf Gott bezogen wird; ihr „innerweltlicher“ Charakter wird dadurch begründet, daß sie nicht, wie die katholische Aszese, aus der Welt flieht, sondern sich im Alltagsleben betätigt. Im allgemeinen übernimmt Troeltsch, wo er von den Einwirkungen des Kalvinismus auf das Wirtschaftsleben spricht, die Webersche Auffassung von der kalvinistischen Aszese; doch läßt sich nicht verkennen, daß die Webersche Auffassung von der Ansicht vom Wesen der „altprotestantischen Aszese“, wie Troeltsch sie sonst vertritt, erheblich abweicht. Da für den Altprotestantismus wie für den Katholizismus das Jenseits das Wesentliche ist, kommt den irdischen Gütern und Ordnungen, so führt Troeltsch in seiner Lehre aus, kein Selbstzweck zu; nichts Weltliches hat einen Wert in sich selbst, so daß wir uns nur um seinetwillen daran erfreuen könnten; alles dient nur dem religiösen Zwecke; Kunst und Wissenschaft sind nur [ED 1257]für die Erbauung oder für den Nutzen. „Mitten in der Welt die Welt zu überwinden; sie haben, als hätte man sie nicht; ihre Werke tun und doch das Herz im Himmel haben; keine besonderen Bedingungen und Umstände für die Heiligkeit suchen, sondern sie im strengsten Ernst unter Schickung in die natürlichen Lebensordnungen betätigen; von der Welt empfangen, was ihr Wesen ist, das Leiden und die Strafe für die Sünde, dagegen an ihr tun, was des Geistes ist, die Selbstverleugnung und Liebe: das ist protestantische Askese.“15) [ED 1257] Hinnebergs Kultur der Gegenwart a. a. O. 263.

Keineswegs deckt sich dieser Begriff der altprotestantischen Aszese, wie ihn Troeltsch entwickelt, vollkommen mit dem Webers. Sie stimmen wohl in manchen Punkten überein, aber nicht in allen. Auch Troeltsch gesteht der protestantischen Aszese, weil sie sich im Gegensatze zur katholischen „nicht in einem Leben außer und [539]neben der Welt äußert“, das Prädikat „innerweltlich“ zu. Was das Verhältnis der lutherischen zur kalvinistischen innerhalb der gesamt-altprotestantischen Aszese betrifft, so führt Troeltsch aus: „[Die kalvinische Ethik] ist motiviert wie die lutherische, und ist Berufsethik wie diese; aber ihr ist gelungen, was der lutherischen bei aller Betonung der Freiheit und des Gesinnungscharakters des neuen Lebens wegen ihres beständigen Ausruhens in der Sündenvergebung nicht gelang, die Rationalisierung der Ethik zu einem planmäßigen, zusammenhängenden strengen Ganzen der Lebensführung. … Die innerweltliche Askese ist hier an sich nicht stärker entwickelt als im Luthertum“; der Unterschied ist nur der: Das Luthertum duldet die Welt in [lies: im] Kreuz von Leid und Martyrium, der Kalvinist meistert sie zur Ehre Gottes in rastloser Arbeit um der in der Arbeit liegenden Selbstdisziplin und des mit ihr erreichten Gedeihens der christlichen Gemeinde willen. Die lutherische Aszese trägt somit einen mehr passiv-resigniert-pessimistischen Charakter; die kalvinische ist erfüllt vom Geiste der Aktivität, des Heroismus und der Initiative. Damit gelangen wir zur fundamentalen Differenz zwischen Troeltsch und Weber in der Auffassung von der altprotestantischen Aszese. Was bei Troeltsch nur eine Besonderheit der kalvinischen innerhalb der gesamt-[ED 1258]altprotestantischen Aszese ist, nämlich „die Rationalisierung der Ethik zu einem planmäßig zusammenhängenden strengen Ganzen der Lebensführung“ – das ist für Weber das Kennzeichen jeder, sogar der katholischen Aszese. Die Konsequenz seiner Abweichung von der spezifisch Troeltschschen Auffassung müßte also darin bestehen, daß er dem Luthertum die Aszese abspricht, weil der lutherschen Ethik die Rationalisierung abgeht, d. h., daß er von einer gesamt-„altprotestantischen Askese“ im Sinne von Troeltsch nichts weiß. Und dem ist so in der Tat; beginnt doch sein zweiter Aufsatz mit den Worten: „Die geschichtlichen Träger des asketischen Protestantismus (im hier gebrauchten Sinne des Ausdrucks) sind in der Hauptsache viererlei: 1. der Kalvinismus in der Gestalt, welche er in den Hauptgebieten seiner Herrschaft im Laufe insbesondere des 17. Jahrhunderts annahm, 2. der Pietismus, 3. der Methodismus, 4. die aus der täuferischen Bewegung hervorgegangenen Sekten. Keine dieser Bewegungen stand den anderen absolut gesondert gegenüber, und auch die Absonderung von den nicht asketischen Reformationskirchen ist keine streng durchgeführte.“

Welche Vorstellungsinhalte man aber auch immer auf den Ausdruck „Aszese“ beziehen möge, es muß geprüft werden, ob die Beziehung eine richtige ist, oder zum mindesten ob sie nicht vielleicht imstande wäre, Mißverständnisse hervorzurufen. Was nun die Behauptung Troeltschs von der Existenz einer altprotestantischen Aszese im allgemeinen anbelangt, so bemerkt Loofs in der ausgezeichneten Kritik, der er Troeltschs Einschätzung der Bedeutung Luthers für den Gang der Geschichte unterworfen hat,16)[539][ED 1258] Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit. Hallenser Rektoratsrede von 1907. sehr treffend: „Eine Stimmungsdifferenz zwischen altprotestantischem und modern christlichem Empfinden gegenüber der Welt will ich nicht leugnen. Aber sie ist minimal dem gegenüber, daß der Grundton aller lebendigen Frömmigkeit nie der der Diesseitigkeit sein kann.“ So ist es auch in der Tat: Jede wahrhaft christliche Religiosität wird den Schwerpunkt der Dinge stets im Jenseits suchen und das Diesseits nur als eine Vorbereitung oder ein Durchgangsstadium nach dem Jenseits ansehen. Ob das nun freilich [ED 1259]eine „aszetische“ Tendenz genannt werden darf, steht dahin; gewißlich ist es eine relative Indifferenz gegenüber dem Irdischen, die allerdings keineswegs den Chri[540]sten zu hindern braucht, sich sehr aktiv in der Welt zu betätigen, in die er nun einmal gestellt ist. Man kann sogar nicht einmal sagen, daß diese trübe und pessimistisch gefärbte Jenseitsstimmung nur den Vätern des Altprotestantismus, Luther und, wie wir aus den früheren Ausführungen wissen, auch Calvin, zu eigen gewesen sei, daß sie ein Ergebnis der für sie charakteristischen Grundlehre von der allgemeinen Verderbnis des natürlichen Menschen sei. Um zu beweisen, daß die innerweltliche Aszese des Altprotestantismus „wahrhafte Askese“ sei, weist Troeltsch auf ihren Gegensatz zur „Geisteswelt der Renaissance“ hin. Aber Erasmus, der Fürst der Renaissance, der von der Erbsündenlehre Luthers und Calvins weit entfernt war, teilte diese pessimistische Jenseitsstimmung „der wirklichen Reformatoren“ durchaus; ja es ist sogar neuerdings nachgewiesen worden, daß Calvin gerade in diesem Punkte, zum mindesten was die Form der Äußerung anbelangt, von Erasmus abhängig ist; man sieht: sie ist das gemeinsame Gut jeglicher christlichen Religiosität im Zeitalter der Reformation, auch der des ausschließlich biblizistisch und moralistisch gerichteten Humanismus. Und auch jede christliche Religiosität der Gegenwart, mag sie sich von den historischen Formen des Bekenntnisses innerlich noch so weit freigemacht haben, wird im Jenseits den wahren Zielpunkt ihres Sinnens und Trachtens, die letzte Bestimmung des menschlichen Lebens erblicken müssen.

Das eben ist die Frage: Was ist Aszese? Troeltsch definiert sie als die „Konzentration alles Handelns auf das Leben in Gott und die Fernhaltung alles Störenden“. Auf dasselbe läuft es hinaus, wenn Weber unter dem aszetischen Lebensstile eine an Gottes Willen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Lebens versteht, die beim Kalvinismus an der Bibel normiert ist. Aber darf man das wirklich schon „Aszese“ nennen? Sehr wohl, wenn man den Ausdruck rein wörtlich nimmt; denn dann bedeutet er „Übung“: Aszese wäre dann also eine beständige Übung, gemäß dem Willen Gottes im allgemeinen und im einzelnen gemäß seinen speziellen Geboten, wie sie in der Bibel niedergelegt [ED 1260]sind, zu leben und darnach alle Handlungen einzurichten, das natürliche Triebleben also unter die Herrschaft dieses Gesichtspunktes zu stellen. Aber dann wäre die Aszese in Ansehung ihrer Geltung für das Laienelement, oder besser gesagt, für die Gesamtheit der Gläubigen nichts, wodurch sich der Altprotestantismus vom Katholizismus unterscheiden würde. Denn auch der katholische Laie muß Gott bei allem seinem Tun und Lassen „vor Augen haben“; auch er ist verbunden, alle seine Handlungen nach Gottes Willen einzurichten, wie er in den Satzungen der Schrift, zu deren Auslegung allerdings allein die Kirche befugt ist, und in den Geboten der vom heiligen Geiste geleiteten Kirche zum Ausdrucke gelangt. Es gibt doch wohl niemanden, der da glaubt, die „doppelte Moral“ des Katholizismus gipfle darin, daß der Laie dieser Pflicht enthoben wäre. Wie lax auch immer die Praxis sein möge, die im Leben und auch in der Seelsorge in diesem Punkte wohl geübt worden ist, die kirchliche Lehre hat nie anders gelautet. Nun wird tatsächlich nicht nur in der protestantischen,17)[540][ED 1260] Es wäre dafür neben Troeltsch und Weber noch Seeberg (Prot[estantische] Real-Enz[yklopädie] II3 139 f.) zu nennen, der unter Aszese dasjenige sittliche Handeln versteht, welches sich auf die natürlichen Kräfte und Gaben des Menschen richtet mit dem Zweck, diese zu Organen des neuen sittlichen Lebens zu gestalten, und den Menschen zur Tragung des von Gott geschickten (nicht mutwillig selbst auferlegten) Leidens zu stählen; das ist eine „Übung“, die eine Disziplinierung der natürlichen Kräfte anstrebt behufs Ausübung des Guten, und dieses Ziel erreicht der Christ durch die Stetigkeit und Regelmäßigkeit guten Handelns. sondern auch in der [541]katholischen Theologie eine Aszese gelehrt, die eine bloße „Übung“ involviert; es soll nämlich darunter verstanden werden „der Inbegriff alles dessen, was dazu dient, sittliche Vollkommenheit zu erlangen und uns die ewige Auserwählung zu sichern.“18)[541] Pruner im Katholischen Kirchenlexikon I2 1460. Daß der Begriff dieser Aszese sich nahe mit dem Troeltsch-Weberschen berührt, liegt auf der Hand; auch sie läuft auf die Forderung hinaus, „den alten Menschen auszuziehen und einen neuen anzuziehen nach dem Bilde Gottes“, und sie stellt ein Ideal auf, dem alle, jeder nach Kräften und Gelegenheit, nachstreben sollen. Dabei ist freilich immer noch zu beachten, daß die Aszese selbst in dieser Fassung des Begriffes für den Katholizismus [ED 1261]nicht etwa die Voraussetzung für die Erlangung des Heils, sondern nur ein Mittel zu seiner Beförderung ist; sie ist keineswegs ein Praeceptum, das alle verpflichtet. Aber nicht in diesem weiteren Sinne, der alles Handeln umfaßt, das die Erwerbung sittlicher Vollkommenheit zum Ziele hat, fassen wir das Wort, wenn wir von „katholischer Aszese“ als historischer Erscheinung sprechen, sondern im engeren Sinne eines auf Erlangung der Seligkeit durch freiwillige Enthaltung von weltlichen Gütern und Genüssen, ja sogar vollkommene Ertötung aller sinnlichen Empfindungen gerichteten Handelns, dessen konsequenteste Ausgestaltung sich in der Befolgung der drei evangelischen Räte, in der daraus folgenden Weltflucht und in dem darauf basierenden Mönchstum darstellt. Sie tritt auf mit dem Anspruche, als eine Sittlichkeit höherer Ordnung zu gelten; sie verlangt daher nicht nur Beherrschung des Trieblebens durch beständige Selbstkontrolle nach Gottes Willen, sondern seine vollkommene Unterdrückung nach verschiedenen Richtungen, und zwar in der Voraussetzung, daß dadurch ein besonderes Verdienst erworben werde, dessen man zwar nicht zur Seligkeit bedarf, das sie aber mit besseren Garantien zu umgeben vermag, höheren Lohnes seitens des ewigen Richters versichert.19) [ED 1261] So auch faßt ganz neuerdings Scheel den Begriff der Aszese (Artikel „Aszese“ in „Religion in Geschichte und Gegenwart“ I 730): Nicht jedes zielstrebige (also nicht jedes methodische und auf Selbstkontrolle beruhende) Handeln, so führt er aus, kann als aszetisch charakterisiert werden. Die Abgrenzung gegen die Planlosigkeit (in der Weber gerade den aszetischen Charakter der kalvinistischen gegenüber der lutherischen Ethik begründet findet) ist doch nur ein Moment. Das aszetische Handeln ist ein besonderes neben dem übrigen. Es ist charakterisiert durch den Anspruch, eine besondere Qualität zu besitzen, durch die man das Ziel besser erreicht; es sind auch daran besondere Verheißungen geknüpft, die dem gewöhnlichen Handeln nicht beschieden sind. Es neigt zu weltabgewandter Stimmung in den verschiedensten Nuancen bis zu vollkommener Weltflucht und Weltverneinung: „Stets legt es dem instinktiven und natürlichen Seelenleben eine Beschränkung auf und Zurückhaltung in der Berührung mit dem Weltleben.“ – Nach diesen Kriterien kann der Weber-Troeltschsche Begriff der kalvinistischen resp. altprotestantischen Aszese überhaupt nicht bestehen.

Die Unterschiede zwischen dieser katholischen und der kalvinistischen Aszese Webers liegen auf der Hand, und Weber verkannte [ED 1262]sie keineswegs. Diese betätigt sich in der Welt, ist daher „innerweltlich“ und ist auch allen Christen vorgeschrieben; jene flieht die Welt und ist eine Sondermoral; sie gipfelt endlich, was ihre höchste Form, das Mönchstum, die „Religiosität“ κατ’ έξοχήν des Mittelalters, die Lebensführung der viri religiosi, der eigentlichen „Aszeten“ anbelangt, in der Unterdrückung des Trieblebens infolge der drei evangelischen Räte, deren einer ja auch für den Weltklerus gilt und daher auch ihn zu einem höheren Stande christlicher Vollkommenheit erhebt. Und vor [542]allem: es fehlt der „kalvinistischen Aszese“ nicht nur der Charakter eines besonderen Verdienstes, sondern auch – im Zusammenhange mit der ganzen Rechtfertigungslehre des Protestantismus – überhaupt der Charakter eines Verdienstes, das zur Erlangung der göttlichen Gnade behilflich sein könnte; sie ist die alle Christen ohne Ausnahme und mit ganz derselben Kraft verpflichtende Norm und insofern (abgesehen von den graduellen Unterschieden, die unzweifelhaft vorhanden sind) qualitativ das Gegenstück nicht zur „katholischen Aszese“ im eigentlichen Sinne, sondern zur allgemeinen Moral des Katholizismus, wie sie für alle seine Mitglieder, für „aszetisch“ und „nicht aszetisch“ lebende, verbindlich ist, d. h. im wesentlichen zu seiner spezifischen Laienmoral.

Solche Differenzen, so sollte man meinen, müßten geeignet sein, Bedenken gegen die Heranziehung des Namens „Aszese“ für die protestantische Berufsethik zu erwecken. Aber Weber kennt ein Moment der Gleichartigkeit zwischen katholischer und kalvinistischer Aszese, dem gegenüber alle Unterschiede in den Hintergrund treten müssen: es ist dies der „rationale Zug“, der beiden zu eigen ist. Die protestantische Ethik ist ja nichts weiter als rationalisierter Lebensstil, orientiert an Gottes Willen, und andererseits trägt ja „die christliche Aszese in ihren höchsten Erscheinungsformen bereits im Mittelalter durchaus diesen rationalistischen Charakter: sie ist im Prinzip schon in der Regel des hl. Benedikt, noch mehr bei den Kluniazensern und Zisterziensern, am entschiedensten endlich bei den Jesuiten, emanzipiert von planloser Weltflucht und virtuosenhafter Selbstquälerei. Sie ist zu einer durchgebildeten Methode rationaler Lebensführung geworden. … Die unbedingte Selbstbeherrschung (die sie vom Mönche for[ED 1263]dert) ist, wie das Ziel der exercitia des hl. Ignatius und der höchsten Formen rationaler mönchischer Tugenden überhaupt, so auch das entscheidende praktische Lebensideal des Puritanismus“. Nun ist es einerseits zweifelhaft, ob Rationalisierung der Lebensführung, „Abgrenzung gegen Planlosigkeit“,20)[542][ED 1263] Vgl. oben Sp. 1261 Anm. durch stetige Orientierung an Gottes Willen, bereits Aszese ist, ob daher die kalvinistische Ethik überhaupt als Aszese gelten darf, und andererseits ist die „Rationalisierung“ keineswegs ein konstitutives Merkmal der katholischen Aszese; mit einer solchen haben wir es vielmehr auch schon dann zu tun, wenn durch Weltflucht ein besonderes Verdienst erworben werden soll, auch dann, wenn sie „planlos“ und mit „virtuosenhafter Selbstquälerei“ verbunden ist. Unter Rationalisierung wird eben in beiden Fällen etwas ganz verschiedenes verstanden: bei den Kalvinisten systematische Regulierung der gesamten Lebenshaltung aller, bei den Katholiken Mäßigung in Kasteiung und Selbstpeinigung durch Vermeidung überflüssigen, physisch und psychisch aufreibenden Extrems und also zweckmäßige Regulierung der Aszese, die eine nur für einige gültige Sondermoral ist. Es geht mit dem Ausdrucke „Rationalisierung“ wie mit dem [der] „Aszese“; man muß sich hüten, sie auf wesentlich verschiedenartige Objekte zu beziehen; oder wenn man es tut, so muß man sich des Unterschiedes der Bedeutungen bewußt bleiben: sonst läuft das ganze Verfahren, wenngleich es sich anscheinend nur um Fragen der Nomenklatur handelt, darauf hinaus, eine gewisse Unsicherheit in der Begriffsbestimmung zu begünstigen, durch den Gleichklang des Namens grundlegende Unterschiede zu verwischen.

Man kann nicht einfach sagen: Der Altprotestantismus übernahm vom mittelalterlichen Katholizismus die Aszese, nur daß er an die Stelle von Selbstpeinigung und Weltflucht die Berufsarbeit setzte. Das wäre eine Verdrehung des geschichtlichen Hergan[543]ges. Die Aszese des Mittelalters war eine Sondermoral, die der Protestantismus nicht übernommen, sondern verworfen hat. Er hat vielmehr die allgemeine christliche Ethik, wie sie für jedermann ohne Ausnahme galt, nach bestimmten Richtungen fortgebildet. Dazu gehörte es, daß die Berufslehre auf [ED 1264]einem neuen Fundamente aufgebaut wurde, indem die Arbeit eine neue Wertung erhielt, indem sie zur höchsten sittlichen Betätigung des Menschen erklärt und allen zur Pflicht gemacht wurde. Gewiß weist die kalvinistische Ethik in Lehre und Praxis verschiedene Züge der Abgewandtheit von der Welt und der Feindseligkeit gegen bestimmte Kulturgüter auf. Man kann sie „aszetisch“ nennen, weil sie bereits inhärente Bestandteile der mittelalterlich-katholischen Aszese waren; aber sie begründen noch keine Aszese als ausgeprägten Stil der ganzen Lebensführung, solange nämlich nicht damit prinzipielle Weltflucht und die Absicht eines besonderen Tuns verbunden sind. Wenn sowohl im Luthertum wie auch im Kalvinismus die Arbeit zur Mortifikation des Fleisches verlangt wird, wie z. B. Luther sagt, daß die Arbeit „für den Menschen seine Übung sein solle in diesem Leben, das Fleisch zu zwingen“, – so wird dadurch keine Brücke zur mittelalterlichen Aszese geschlagen; denn in eben diesem Sinne muß auch der katholische Laie sein „Fleisch töten“. Die sog. „aszetischen“ Züge des Kalvinismus – sie entstammen teils den eschatologischen Bestandteilen seiner Lehre, teils sind sie Eigentümlichkeiten, die sich, wie bei den Hugenotten und den Kirchen „unter dem Kreuze“ insgesamt, unter dem stetigen harten Drucke der Leiden und Verfolgungen um Christi Willen entwickelt haben. Teils sind sie, wie im Genf Calvins selbst und im englischen Puritanismus, Äußerungen eines moralischen Rigorismus, der auf allen mit gleichem Zwange lastete. Wenn man aber die kalvinistische Berufsethik „Aszese“ nennen will, so darf man nie vergessen, daß sie mit der katholischen Aszese, deren konsequentester Ausdruck das Mönchstum ist, durchaus inkommensurabel ist, indem sie mit ihr nichts gemeinsam hat, als den Namen, so daß man am besten täte, ihn fallen zu lassen.

IV.

Welches nun ist der Zusammenhang des „kapitalistischen Geistes“ der Gegenwart, wie man ihn auch immer verstehen möge, mit der „innerweltlichen Aszese“ oder, unzweideutig gesagt, mit der Berufsethik des Kalvinismus? Und welches war überhaupt der Einfluß des Kalvinismus auf die Entwicklung des Kapitalismus?

[ED 1265]Es kann kein Zweifel darüber obwalten, daß zwischen Kalvinismus und Kapitalismus innere Beziehungen bestehen; es gilt eben, quellenmäßig den Nachweis ihrer Existenz zu führen, sowie ihre besondere Art und ihren Umfang zu ermitteln. Mit dieser Aufgabe aber haben es sich Weber und Troeltsch ziemlich leicht gemacht. Weber zeigt wohl, wie wir wissen, an der Hand Baxters, daß bei den Puritanern des 17. Jahrhunderts das Streben nach Reichtum zu Gottes Ehre und zum Nutzen der Gesamtheit unter Verbot des Ausruhens zum Zwecke des Genusses als religiös-ethische Maxime gepredigt wurde, und er fügt hinzu: „die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sicherster und fruchtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen und seiner Glaubensechtheit mußte ja der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung sein, die wir hier als ,Geist des Kapitalismus‘ bezeichnet haben.“ Aber wir müssen uns begnügen mit dieser Versicherung, daß es so sein „mußte“. Wir [544]vermissen eine eingehende und zusammenhängende Prüfung des Sachverhalts in den einzelnen Ländern, die unter der Herrschaft des Kalvinismus standen – nämlich ob und inwieweit der hier schließlich vorhandene Kapitalismus und hier wirksame kapitalistische Geist ihre Wurzel in der kalvinistischen Berufsethik, im Streben nach Reichtum zu Gottes Ehre haben. Indem Weber vom Einflusse des Kalvinismus auf die Kapitalbildung spricht, bemerkt er nur: „Wie stark diese Wirkung gewesen ist, entzieht sich ziffernmäßig naturgemäß jeder exakten Bestimmung.“ Immerhin hätte der Versuch einer approximativen Schätzung wohl gemacht werden können.

Aber nicht nur spärlich und unzulänglich sind die Angaben von Weber und Troeltsch über den Einfluß des Kalvinismus auf die kapitalistische Entwicklung, sondern auch oft zweideutig, unbestimmt und widerspruchsvoll. Was den Geltungsbereich dieser Einwirkung anbelangt, so handelt es sich nach Weber vornehmlich um das puritanische England und Neu-England, um das hugenottische Frankreich und bis zu einem gewissen Grade um Holland. Bei Troeltsch lesen wir: „Der Kalvinismus schafft gerade durch seine rationale Anspannung der Arbeitsleistung ohne [ED 1266]genießende Hingabe an den Arbeitsertrag den Boden für die kommende Blüte des Kapitalismus, der von Holland, dem hugenottischen Frankreich und vor allem von England und Amerika ausgeht.“ Hiernach muß doch dem Kalvinismus zum mindesten eine vorbereitende Rolle für die kapitalistische Entwicklung in Holland und im hugenottischen Frankreich zugeschrieben werden. Und ähnlich sagt er an einer anderen Stelle: „Auf diesem Boden (sc. der kalvinistischen Aszese) ist denn auch der hugenottische, holländische, englische und amerikanische Frühkapitalismus entstanden, und mit ihm hängt heute noch in dem kalvinistischen Amerika und Schottland sowie bei den englischen Dissenters der Hochkapitalismus ersichtlich (!) zusammen.“ Damit stimmt es nun freilich keineswegs überein, wenn es an einem dritten Orte heißt: „Immerhin aber ist aus dieser allgemeinen Disposition (nämlich der kalvinistischen Aszese) die eigentlich kapitalistische Gesinnung nur im englischen Puritanertum und in den kleinen, von der Welt sich trennenden asketischen Gemeinschaften entstanden, die bei ihrer Trennung von der Welt neben der Religion nichts als die ökonomische Arbeit überbehielten. Hier bildete sich jener Geschäftsgeist, der die rationale, arbeitsteilige Wirtschaft, die systematische Ausnützung der Zeit, möglichste Steigerung des ehrlichen Gewinnes und Verwertung für allgemeine Zwecke zur Aufgabe des frommen Christen und guten Bürgers machte und eben damit freilich auch Gott von der Höhe des prädestinierenden Weltwillens herabzieht auf das Niveau des die Berufstreue seiner Erwählten mit irdischem und jenseitigem Segen lohnenden Arbeitgebers. Gegenüber dem alten Genfer Kapitalismus ist das mit seiner Werkheiligkeit, seiner Gesetzlichkeit und seiner Messung mit Geschäftsmaßstäben freilich eine starke Veräußerlichung. … In Genf selbst, in dem immer zugleich stark politisch und intellektuell interessierten Hugenottismus, in dem arminianisch gesinnten und der Renaissancebildung erliegenden Reichtum Hollands und vollends in dem agrarisch-aristokratischen Ungarn ist diese Entwicklung nicht eingetreten. Dagegen hat sie allerdings den Charakter der englisch-amerikanischen Welt durchgreifend bestimmt.“ Mit anderen Worten: Nur in der englisch-amerikanischen Welt hat sich die Säkularisation [ED 1267]der reformierten „Berufs-Aszese“ vollzogen, und nur hier ist als Produkt dieses Prozesses die Entstehung und Ausbildung des „kapitalistischen Geistes“ zu konstatieren.

Ist es möglich, sich nach solchen Äußerungen eine klare, widerspruchslose, alle wesentlichen Momente umfassende Vorstellung von der Einwirkung der reformierten Berufsethik auf die ökonomische Entwickelung derjenigen Gebiete zu machen, die [545]unter dem Zeichen der Lehre des Genfer Reformators standen? In Genf selbst müßte man nach den letzten Ausführungen von Troeltsch auf der kalvinistischen Vorbereitungsstufe geblieben sein, ohne daß der Übergang zum kapitalistischen Geiste vollzogen worden wäre; eben dasselbe müßte der Fall sein bei den französischen Hugenotten. Nun hat Frankreich eine beträchtliche Entwickelung von Handel, Industrie und Kapitalismus schon vor dem Auftreten des Hugenottentums, gerade im Jahrhundert von 1450 bis 1550, vornehmlich unter der Ägide Ludwigs XI., zu verzeichnen; ich erinnere nur an Jacques [ED 1268]Coeur aus Bourges, an den großen Aufschwung der Seiden- und Metall-Industrie, an die Börse von Lyon. Alles das nun hat sich vollzogen, ohne daß dabei „kapitalistischer Geist“, oder wenigstens der richtige, im Sinne Webers, irgend welche Rolle gespielt hätte! Und dasselbe gilt vom Kapitalismus Frankreichs im 18. Jahrhundert, an dessen Existenz doch, wenngleich die französische Volkswirtschaft durch das tyrannische Vorgehen Ludwigs XIV. gegen die Hugenotten aufs schwerste geschädigt wurde, nicht gezweifelt werden kann: denn in Frankreich hat sich ja die kalvinistische Aszese nicht zum kapitalistischen Geiste säkularisiert, und wenn ihn die nicht hugenottischen Kapitalisten nicht von ihren hugenottischen Berufsgenossen rezipieren konnten, woher dann? Aber noch gibt es einen Ausweg! War nicht Law von Herkunft schottischer Kalvinist? Also hat er den „asketischen Lebensstil“ des „Unternehmers neuen Stils“ in Frankreich importiert und das Frankreich des 18. Jahrhunderts damit infiziert?

[[ED 1287]]Das allergrößte Rätsel bietet Holland. Wie wir sahen, kommt hier dem Kalvinismus nach Troeltsch eine vorbereitende Bedeutung zu: zum mindesten ist der holländische „Frühkapitalismus“ auf dem „Boden“ der kalvinischen Aszese entstanden. An einem andern Orte aber lehrt er, daß sich diese hier nicht zu „kapitalistischem Geiste“ umgebildet habe, weil Hollands Reichtum arminianisch gesinnt war und der Renaissancebildung erlag (!). Wie reimt sich das zusammen? Wenn man diese Angaben in einen vernünftigen Zusammenhang bringen will, muß man die folgende Entwickelung konstruieren: Zuerst entsteht in Holland auf Grund der kalvinistischen Berufsethik der Frühkapitalismus; sie aber stirbt ab, ohne aus sich heraus den „kapitalistischen Geist“ zu gebären: also ist der „Reichtum“ Hollands beim Auftreten des Arminianismus, zum Anfange des 17. Jahrhunderts, nicht das Produkt des „kapitalistischen Geistes“, d. h. ohne dessen Zutun ist Holland schließlich zum Hochkapitalismus gelangt. Etwas anders [ED 1288]denkt sich Weber den Verlauf. Auch er läßt den Kapitalismus oder wenigstens den „kapitalistischen Geist“ in den Niederlanden mit dem Eindringen des Kalvinismus, also in der Periode des Abfalls von Spanien, einsetzen. Denn ausdrücklich spricht er einmal21)[545][ED 1288] In seinem Archiv 26, 277. „Flandern“ vor der Reformation den „kapitalistischen Geist“ direkt ab, während er eine Äußerung (wenn ich nicht irre) Gotheins heranzieht: „Schon die Spanier wußten, daß die ,Ketzerei‘ (d. h. der Kalvinismus der Niederländer) den Handelsgeist befördere.“ Aber er läßt die Wirkung des kalvinistischen Geistes hier länger dauern als Troeltsch und schreibt ihm einen größeren Einfluß auf die Kapitalsbildung zu: „Auch in dem vom strikten Kalvinismus aus sieben Jahre (sc. von 1618 bis 1625) wirklich beherrschten Holland führte die in den religiös ernsteren Kreisen herrschende größere Einfachheit des Lebens bei enormen Reichtümern zu einer exzessiven Kapitalsaufsammlungs[ED 1289]sucht“; er schränkt aber selber seine Behauptung wieder ein, indem er eine [546]Anmerkung hinzufügt: „daß diese Kreise aber in den Niederlanden rasch abnahmen, zeigt Busken-Huets Darstellung.“

Stimmen die Mitteilungen von Troeltsch und Weber über den Gang der Dinge in Holland nicht völlig untereinander selbst überein, so noch viel weniger mit dem historischen Tatbestande. Die Geschichte des holländischen „Frühkapitalismus“ läßt sich nur begreifen im Zusammenhange mit dem der Niederlande überhaupt; denn der holländische Kapitalismus um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ist nur zum Teil bodenständig, zum Teil stammt er aus südniederländischer Einwanderung. Der niederländische Kapitalismus im allgemeinen aber ist entstanden vor dem Eindringen des Kalvinismus, dann also freilich nach Weber ohne Mitwirkung „kapitalistischen Geistes“. Erst neuerdings hat Pirenne gezeigt,22)[546][ED 1289] Pirenne, Une crise industrielle au 16. siècle. 1905. wie eben damals im ländlichen Textilgewerbe Flanderns, in der nieuwen draperie, die moderne industrielle Großunternehmung, die freie Konzentration von Kapital und Arbeitskräften emporblühte; wie der Kapitalismus um dieselbe Zeit die ökonomischen und sozialen Verhältnisse Amsterdams und Hollands umformte, lernen wir aus Ravesteyn kennen:23) W. van Ravesteyn, Onderzoekingen over de economische en sociale ontwikkeling van Amsterdam gedurende de 16de en het eerste kwart des 17de eeuw. 1906. hier ist – ganz abgesehen von der Antwerpener Börse – der niederländische „Frühkapitalismus“ zu suchen; er ist jedenfalls aufgetreten, ehe Einflüsse kalvinistischen Geistes spielten. Pirenne führt in seiner ausgezeichneten Geschichte Belgiens24) Gesch[ichte] Belgiens. 1906, III, 530 f. die Ausbreitung des Kalvinismus gerade darauf zurück, daß hier bereits der Kapitalismus zur Aufnahme gelangt war; er betrachtet das Aufkommen des Kalvinismus als eine Wirkung der Existenz des Kapitalismus, der hier auf dem Grunde einer weiten Ausdehnung der soeben erst geschaffenen Hausindustrie besonders schnell und kräftig gedieh. Trotzdem – noch fehlte dieser neuen Hausindustrie, diesem jugendfrischen Kapitalismus der echte „kapitalistische Geist“? [ED 1290]Betrachten wir die Zusammensetzung der Kapitalistenklasse beim Ausbruche des Aufstandes, so finden wir, daß sich ihre Mitglieder aus allen Bekenntnissen rekrutierten. Wohl ist es wahr, daß sich viele von ihnen, zumal die flandrischen Großunternehmer und die in Antwerpen sitzenden Marranos (judenchristlicher Herkunft) dem Kalvinismus anschlossen: aber erwachte in ihnen der kapitalistische Geist erst aus diesem Anlasse? Die größten Kaufleute und Bankiers Antwerpens sind katholisch, allerdings von einer stark indifferenten Färbung. Amsterdam, die Hochburg des speziell holländischen Kapitalismus, hat sich von den Städten Hollands am längsten auf der spanischen Seite gehalten, und zwar gerade deshalb, weil die damals herrschende Vroedschap, d. h. derjenige Teil der kaufmännischen Aristokratie, der die Stadt regierte, katholisch war. Politische Momente, die im Zusammenhange mit dem Abfall standen, brachten es zuwege, daß zum Ende des 16. Jahrhunderts die kapitalistische Entwicklung in den Südprovinzen zum Stillstande kam, in den sich befreienden nördlichen Landschaften aber bestehen blieb und enorme Fortschritte machte. Wir können hier nicht näher auf die wechselseitige Beeinflussung des religiösen und wirtschaftlichen Elementes in der niederländischen Geschichte um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts eingehen, sondern nur eines konstatieren: Der holländische Kapitalismus dieser Epoche ist keineswegs als etwas spezifisch kalvinistisches anzusehen. Im wesentlichen lebte in der Kapitalistenklasse, auch nachdem sie sich förmlich dem Kal[547]vinismus angeschlossen hatte, der alte Geist relativer konfessioneller Indifferenz weiter; Abweichungen davon sind zum guten Teile wirtschaftlichen Momenten, dem Gegensatze zwischen den bodenständigen Elementen und den eingewanderten Südniederländern und den Konkurrenzkämpfen zwischen den einzelnen Kapitalistenkliquen zuzuschreiben, in welchen die ostindische Kompagnie eine sehr wichtige Rolle spielte. Mit diesen Konkurrenzkämpfen hängt es zusammen, wenn eine gewisse kleine Amsterdamer Kapitalistengruppe, „teils aus ausgesprochener Profitsucht, teils ihre privaten Interessen hüllend in eine religiöse Maske“, sich mit der kalvinischen Orthodoxie verband und bewirkte, daß die Stadt Amsterdam von der Mehrheit der holländischen Stände [ED 1291]abschwenkte und sich mit dem Prinzen Moritz verbündete: so wurde der sogenannte „Sieg“ der Orthodoxie über die Arminianer bewirkt; sie verdankt ihn ganz und gar nicht eigener Kraft, sondern nur einer Allianz mit Machtfaktoren, nämlich dem Statthalter und einer Kapitalistenklique, die mit ihr nichts gemein hatten, die dabei ihre Sonderziele verfolgten, und sich ihrer nur als Waffe zur Vernichtung zufällig gemeinschaftlicher Gegner bedienten; daher konnte ihr der „Sieg“ auch keine Früchte von Dauer bringen. Man denke auch an das kurzsichtige Eifern der Prediger gegen den Handel der einheimischen Kaufmannschaft mit Spanien und den spanischen Niederlanden: sollte nicht der wahre „kapitalistische Geist“ auf der Seite derer sein, die, wie ihnen die Glaubensstrengen vorwerfen, um ihres Handelsgewinnes willen nicht nur das Vaterland, sondern auch Gott verrieten? Wenn Weber die Äußerung der Spanier, die „Ketzerei begünstige den Handelsgeist“, so interpretiert, daß er „Ketzerei“ gleichsetzt mit Kalvinismus, so wird dadurch nur bewiesen, daß er von der eigentlichen Art der holländischen „Ketzerei“ wenig weiß. Jedenfalls ist für das erste Auftreten eines wahren Großkapitalismus in einem Lande offiziell kalvinistischer Observanz Entstehung und Ausbildung aus dem Geiste spezifisch kalvinistischer Religiosität heraus im wesentlichen nicht nachweisbar. Und jedenfalls kalvinische Aszese, auch im Sinne einer Abwendung von der Welt, ihrer Kultur, ihren Gütern und ihren Genüssen, hatte in Holland keine Stätte gefunden. In vollstem Maße hat sich hier Reichtum mit unbeschränktem Lebensgenusse verbunden: davon legt jedes Blatt der holländischen Kultur- und Sittengeschichte sprechendes Zeugnis ab. Eben darum und wegen der Art seiner Entstehung muß somit Weber dem holländischen Kapitalismus den „kapitalistischen Geist“ absprechen: wir haben somit den merkwürdigen Fall einer großartigen kapitalistischen Kultur, der aber leider der „kapitalistische Geist“ mangelt.

Noch bleiben England und die Vereinigten Staaten von Nordamerika übrig, und Troeltsch gibt ja in der Tat zu, daß sich hier allein „durchgreifend“ die Einwirkungen der kalvinistischen Aszese auf die wirtschaftlichen Verhältnisse geäußert haben. Für das englische Puritanertum hat Weber den Nachweis geführt, [ED 1292]daß in ihm die kalvinistische Berufsethik in einer Richtung fortgebildet oder präzisiert worden ist, die den kapitalistischen Geist, wenngleich nicht zu erzeugen, aber religiös zu legitimieren und dadurch zu befördern geeignet war. Aber das ist ein noch ungelöstes Problem: Welches ist der Anteil des Puritanismus an der Entwicklung von kapitalistischem Geist und Kapitalismus in England? Zweifellos hat sich der englische Wohlstand im 17. Jahrhundert ungemein gehoben, nicht nur der Handel, sondern auch, zumal in den letzten Zeiten der Stuarts, die Industrie; es lag weiterhin die Stärke des Dissentertums im städtischen Gewerbestande und in der seefahrenden Bevölkerung, wie auch dazu zahlreiche Kaufleute und Kapitalisten gehörten. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr groß, daß auch die kalvinistische Berufsethik der Entwicklung kapitalistischen Geistes und der [548]Kapitalbildung Vorschub geleistet hat. Aber wer kann sagen, ob für die Träger der kapitalistischen Entwicklung Englands im 17. Jahrhundert, insofern sie Puritaner oder Quäker waren, das spezifisch religiöse Moment, das Streben nach Bewährung im Beruf zur Ehre Gottes, das eigentlich treibende Motiv war? Zum mindesten konnte es sich sehr wohl mit anderen Beweggründen kombinieren, – oder ihnen auch als sehr willkommene Verbrämung dienen; ich erinnere nur an die Ausführungen Webers selbst, wie schnell sich bei ihnen das „pharisäisch-gute Gewissen“ beim Gelderwerb herausgebildet habe, daß sie „recht oft zur Verleugnung der alten Ideale bereit waren“. Er setzt auseinander, wie ihre „Askese“ zwar Luxus und Lebensgenuß perhorresziert, ihnen aber keineswegs Kasteiung auferlegt habe, sondern Gebrauch ihres Besitzes für notwendige und praktisch nützliche Dinge im Sinne des „comfort“: „Dem Flitter und Schein chevaleresken Prunks … setzten sie die saubere und solide Bequemlichkeit des bürgerlichen home entgegen“. Ich fürchte, daß sich im allgemeinen die Grenze zwischen dem Komfort des „bequemen home“ und dem behaglichen Lebensgenuß, den doch sowohl die reformierte Berufsethik als auch der auf alle „eudämonistische und hedonistische“ Lebensführung verzichtende Unternehmer „neuen Stils“ verschmähen, in der Praxis sehr schwer wird ziehen lassen. Und jedenfalls würde es auf die Kraft des religiösen [ED 1293]Grundmotives ein sehr bedenkliches Licht werfen, wenn der kapitalistische Geist in seiner, nunmehr direkt dem ganzen Geiste des Protestantismus widersprechenden Gestaltung wirklich durch eine so schnelle und vollständige Säkularisation reformierter Berufsethik hervorgegangen wäre.

Nur eine Episode in der politischen Geschichte Englands war die volle Herrschaft des Puritanismus, und keineswegs ist die Frage schon vollkommen spruchreif, welches seine Bedeutung für die englische Wirtschaftsgeschichte ist, ob er auch auf diesem Gebiet jemals eine so absolute Herrschaft ausgeübt hat, wie das nach Weber der Fall sein müßte. Daß der „Kapitalismus“ als solcher in England älter ist, als das Puritanertum, wird auch Weber nicht leugnen wollen. Eine ganz unbewiesene Behauptung ist es jedenfalls, wenn Troeltsch bezüglich des englischen Kapitals nicht-puritanischer Provenienz bemerkt: der „mit der lutherischen und katholischen Ethik vielfach näher verwandte Anglikanismus“ habe sich schließlich dem vom kalvinischen Berufsstil geschaffenen „kapitalistischen Geiste geöffnet“. Das heißt einfach, die Dinge auf den Kopf stellen. Da soll doch erst gezeigt werden, daß der Geist, der einen Thomas Gresham und die merchant adventurers im Zeitalter der Elisabeth beseelte, ein anderer war, wie der der hochkirchlichen Kapitalisten der nachpuritanischen Zeit, daß der Geschäftsgeist des Kaufmannsstandes anglikanischen Bekenntnisses durch puritanische Einflüsse wesentlich modifiziert worden ist. Solche Konstruktionen, die aller quellenmäßigen Begründung entbehren, können nicht mehr als wirkliche Geschichtsforschung gelten. Im Übrigen ist es bekannt, daß die Hauptexpansion des englischen Kapitalismus im Zusammenhang mit der kolonialen Entwicklung und dem enormen Wachstum der Industrie in eine spätere Zeit fällt, d. h. für England in das Zeitalter eines undogmatisch-moralistisch gerichteten Christentums, der Vorherrschaft des Rationalismus in Theologie und Predigt, der Durchdringung der englischen Kirche mit einem weitgehenden Latitudinarismus, der Geltung von Skepsis und Deismus in den führenden, auch in kapitalistischen Schichten der Gesellschaft. Weber würde nun freilich sagen: das eben ist ja die Wirkung der Säkularisation der „innerweltlichen Askese des Puritanismus“; [ED 1294]wir glauben, daß die Existenz des kapitalistischen Geistes und Kapitalismus in England auch ohne dieses Moment zu begreifen ist, wenngleich wir keineswegs sei[549]nen Einfluß leugnen wollen. Und wenn er erklärt, daß „die Macht puritanischer Lebensauffassung wesentlichster und einzig konsequenter Träger der Tendenz bürgerlicher, ökonomisch-rationaler Lebensführung war“ und daher „an der Wiege des modernen Wirtschaftsmenschen stand“, so werden wir das als eine Übertreibung kennzeichnen müssen. Denn das, was Weber als die Eigenart des „modernen Wirtschaftsmenschen“ ansieht, ist keineswegs ein konstitutives Merkmal des kapitalistischen Geistes, und dieser ist keineswegs aus der reformierten Berufsethik hervorgegangen. Wohl war ein Zusammenwirken beider imstande, die kapitalistische Entwicklung vorwärts zu treiben; in welchem Grade das geschehen ist, bedarf freilich noch näherer Untersuchung.25)[549][ED 1294] Die Darstellung, welche G. v. Schulze-Gävernitz (Britischer Imperialismus und englischer Freihandel, 1906) von den Grundlagen der britischen Weltmacht gibt, ist ganz beherrscht von der Weberschen These.

Als ein besonders beweiskräftiges Beispiel für die Richtigkeit ihrer These führen Weber und Troeltsch die englischen Kolonien in Nordamerika an. Weber erklärt geradezu den Zustand der puritanischen Neu-England-Kolonien mit ihren Eisenwerksgesellschaften und ihrer Tuchweberei, mit ihrer hohen Blüte des Handwerks schon in der ersten Generation nach der Gründung, rein ökonomisch betrachtet, als Anachronismen, die im Gegensatze zum katholischen Maryland, dem episkopalischen Süden und dem interkonfessionellen, völlige Gewissensfreiheit genießenden Rhode-Island stünden. Wenn sogar die „hohe Blüte des Handwerks“ für die kraftvolle Existenz „kapitalistischen Geistes“ zeugen soll, so muß man ja wohl, um das nebenbei zu bemerken, auch das deutsche Mittelalter als eine „Glanzzeit kapitalistischen Geistes“ ansehen. Im übrigen scheint mir das Urteil Webers allzu optimistisch gefärbt.26) Vergl. bei Weeden (Economie and social history of New England 1890, I 115) die zusammenfassende Charakteristik der Entwicklung der ersten Generation: We may now recount briefly these beginnings of the economy of our forefathers; they are small in each detail. … The planting of [ED 1295]Indian corn was their first and most pregnant industry. Über [ED 1295]die Eisenindustrie hören wir für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, daß ihre Entwicklung den großen Bemühungen der ersten Ansiedler27) Ebd. 307. nicht entsprach; ähnliches gilt von der Industrie insgesamt.28) Ebd. 303. Von einer auch noch so schwachen Entfaltung des Kapitalismus kann nicht die Rede sein; machte sich doch noch lange der Mangel an barem Gelde fühlbar; der Naturalaustausch der Produkte überwog; es herrschte fast noch das System der Naturalwirtschaft.29) Ebd. 199, 314. Irgendwelche nennenswerten Vermögen waren im 17. Jahrhundert noch nicht vorhanden.30) Vergl. die Mitteilung ebd. 290 ff. Die industrielle und die kapitalistische Bewegung setzten in den amerikanischen Kolonien Englands im wesentlichen erst im 18. Jahrhundert ein, als auch hier bereits der Rationalismus eingedrungen war31) Ein interessantes Beispiel dafür, wie sich der Wandel hinsichtlich der religiösen Auffassung im Geschäftsleben wiederspiegelt, nämlich in der Instruktion der Reeder für ihre Kapitäne, gibt Tweeden [lies: Weeden] II 580. , und man kann auch gar nicht behaupten, daß die puritanische Orthodoxie an ihnen einen besonders [550]hervorspringenden Anteil gehabt hätte: Das wird ein Überblick über die Lage der einzelnen Kolonien beim Ausbruch des Aufstandes erweisen.32)[550] Nach Lecky, Gesch[ichte] Englands[.] Deutsche Ausgabe, III 293 ff.

Am strengsten hatten sich puritanische Orthodoxie und Sittenstrenge erhalten in den Staaten Neu-Englands; aber sie waren vorwiegend agrarisch gerichtet, und man sagte von ihnen, es gäbe keinen anderen Fleck auf Erden, wo so wenig Reichtum und so wenig Armut zu finden sei. Äußerste Armut war unbekannt; „dagegen stellte es Burke, der amerikanisches Leben vorzüglich kannte, in Frage, ob in Massachusetts oder Connecticut zwei Personen zu ermitteln seien, die imstande wären, wenn sie nicht auf ihren Gütern lebten, jährlich 1000 Pfund auszugeben.“ Wo sind denn da die kapitalistischen Wirkungen „innerweltlicher puritanischer Askese“? New Yorks Handel blühte nach dem Pariser Frieden kräftig auf, „und große Kapitalien wurden aufgehäuft; aber in der Stadt herrschte weniger Sitten[ED 1296]strenge und mehr Üppigkeit, als in Neu-England.“ Der Kapitalismus tritt somit hier auf, aber keineswegs im Gefolge und als Wirkung puritanischer Einfachheit und puritanischen Sparzwanges. New York wird also kapitalistisch und zu einem der Hauptträger kapitalistischer Entwicklung in Amerika; aber es entbehrt des „kapitalistischen Geistes“, sei es in der religiös-ethischen Prägung des Kalvinismus, sei es, da wir ja auch hier nichts von den „idealtypischen“ Eigenschaften des modernen Kapitalismus finden, im Sinne einer inzwischen erfolgten Säkularisation! Am wichtigsten von den Mittelstaaten war die industrielle Kolonie Pennsylvanien. „Ein fruchtbarer Boden, ein großer Reichtum an Mineralien, eine für den Handel ausnehmend günstige Lage und eine wunderbar energische und betriebsame Bevölkerung hatten zur Entwicklung dieser Provinz zusammengewirkt, die alle übrigen Kolonien in der Vollkommenheit ihres Ackerbaues und in der Mannigfaltigkeit, dem Umfang und Gedeihen ihrer Fabriken übertraf“; die Sitten und das gesellschaftliche Leben gewähren uns freilich „das Bild eines Staates, der sich von der Einfachheit, Armut und herben Strenge seiner quäkerischen Gründer schon weit entfernt hatte“. Wir könnten es also hier mit einer „Säkularisation protestantischer Askese“ zu tun haben; aber ihr Resultat zeigt nicht die „idealtypischen“ Züge modernen „kapitalistischen Geistes“; das hat freilich die kapitalistische Entwicklung Pennsylvaniens seit damals bis heutzutage wenig beeinträchtigt. Ganz verschieden vom puritanischen Typus Neu-Englands und dem industriellen Pennsylvanien war der episkopalische Süden. Hier gab es wenige Fabriken, und das städtische Leben stand auf ziemlich primitiver Stufe; es fehlte aber hier nicht an kapitalistischer Entwicklung. Denn der Süden war das Gebiet der landwirtschaftlichen Großunternehmung.33)[ED 1296] Wie der Großgrundbesitz Virginias eine Folge des Tabakbaues war, zeigt Bruce, Economie history of Virginia in the 17. century, 2 Bde., 1896. Über die Größe der Vermögen in Virginia bereits im 17. Jahrhundert vergl. die Angaben ebd. II 254 f. Es gab hier reiche, hochkirchliche und (in Maryland) katholische Großgrundbesitzer, in Virginia zum Teil Abkömmlinge der Kavaliere des Stuartschen Zeitalters. Man sieht aus der kurzen Zusammenstellung, daß sich um die Mitte [ED 1297]des 18. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten Nordamerikas kräftig der Erwerbstrieb regte; man kann aber nicht sagen, daß er puritanisch gebunden war, und auch nicht, daß er die Eigentümlichkeiten aufweist, die Weber dem kapitalistischen Stil der Gegenwart zuweist, nämlich Verzicht auf alle eudämonistischen und hedonistischen Rücksichten.

[551]Schon aus unsern bisherigen Ausführungen, zumal aus denen über Holland und England, erhellt, daß das Auftreten des Kapitalismus älter ist als die „asketischen Richtungen“ der Reformation, und schon daher auch von ihnen unabhängig. Das Gleiche gilt natürlich erst recht von Deutschland und den katholischen Ländern des Südens und Westens von Europa. Aber ist vielleicht trotzdem der „kapitalistische Geist“ hier erst von den kalvinistischen Gebieten her eingeführt worden? Troeltsch scheint dieser Meinung zu sein: Denn dieser Geist widerstrebt ja so sehr der menschlichen Natur, daß er nur durch eine so gewaltige Geistesmacht, wie den Kalvinismus mit seiner „Askese“, erzeugt werden konnte; „damit erst war die seelische Verfassung geschaffen, auf deren Boden die gewaltige und im Grunde so naturwidrige Entfaltung des Kapitalismus erst stattfinden konnte, was natürlich nicht hinderte, daß diese Macht sich dann [!] auch über Menschen ausbreitete, die mit dem Kalvinismus nichts zu tun haben; die kalvinistische Askese hat ihn groß werden lassen, und dann [!] war er stark genug, seine eigenen Wege zu gehen, im eigenen Namen die Welt zu erobern.“ Nur schade, daß uns der phantasievolle Autor nicht diesen Siegeszug des kapitalistischen Geistes von den kalvinistischen Ländern her durch die übrige Welt an der Hand der geschichtlichen Tatsachen näher schildert, daß wir uns mit der einfachen Versicherung begnügen müssen! Und was noch merkwürdiger ist: selbst wenn diese Invasion jemals stattgehabt hat, so hat sie doch in den von ihr betroffenen Ländern nicht erst den Kapitalismus geschaffen; sondern dieser war in ihnen schon vorher vorhanden und sogar teilweise in größerem Umfange. Seine Entstehung muß sich also auch hier wieder vollzogen haben ohne den richtigen „kapitalistischen Geist“. Ausdrücklich vindiziert sich Weber das Verdienst,34) [551][ED 1297] Archiv für Soz[ial-]Wiss[enschaft] 26, 277. konstatiert [ED 1298]zu haben, „daß auch in dem Gebiete der Höchstentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft vor der Reformation: in Italien (ebenso ist es in Flandern) der kapitalistische Geist (in meinem Sinne des Wortes) fehlte.“ Damit stimmt es freilich nicht ganz überein, wenn Troeltsch die Ansicht Webers mit den Worten wiedergibt,35)[ED 1298] Vortrag 43. der kapitalistische Geist habe sich „in der spätmittelalterlichen Geldwirtschaft, in dem Kapitalismus der Renaissance und in der spanischen Kolonisation nicht stark entwickelt.“ Oder gebraucht Troeltsch den Ausdruck „kapitalistischen Geistes“ etwa hier einmal nicht in Webers „Sinne“? Damit würde er freilich eingestehen, daß der Weber’sche „Sinn“ nicht ganz paßt. Und so ist es in der Tat. Wenn Weber dem Kapitalismus der Renaissance in Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien und den Niederlanden den „kapitalistischen Geist“ abspricht, so beweist das eben nur, daß seine „idealtypische“ Bestimmung dieses Begriffes falsch ist. Um nur auf Oberdeutschland36) Über die ungeheure Vermögenszunahme z. B. in Augsburg um diese Zeit, vergl. (nach den Forschungen Strieders) R. Häpke, Die Entstehung der großen bürgerlichen Vermögen im Mittelalter. Jahrb[uch] für Gesetzgebung usw. 1905 S. 1072. zu verweisen: Wie enorm war hier damals der Aufschwung des Waren- und noch mehr des Geldhandels? Wie zahlreich waren damals die strebsamen Kaufleute, denen es gelang, ohne großen Kapitalbesitz von Hause aus doch schließlich kolossale Reichtümer zu sammeln? Man denke an die Riesenvermögen, die damals entstanden: Und das alles ging vor sich, ohne daß der „kapitalistische Geist“ dabei mitwirkte?

Aber Weber hat speziell Beweise für seine Behauptungen. Es war eben nicht der richtige kapitalistische Geist; denn er war einmal noch „traditionalistisch“ gebunden, [552]und er hatte weiterhin noch nicht den Charakter einer „ethisch gefärbten Maxime“, wie ihm auch die irrationelle Idee einer besonderen Berufspflicht mangelte. Nun würde auch dies wieder höchstens beweisen, daß Webers Begriffsbestimmung verfehlt ist; aber wir wollen doch zum Überflusse noch die beiden Hilfshypothesen Webers auf ihre Stichhaltigkeit hin prüfen. Wollten denn (das soll doch das Wesen des „Traditionalismus“ sein) die Kapitalisten der Früh[ED 1299]renaissance wirklich nur soviel gewinnen, wie nötig war, um ihren „traditionellen Bedarf“ zu decken? Ebensogut, wie jetzt, gab es unzweifelhaft Menschen, die erwerben wollten, sei es um zu erwerben, sei es um mit dem Schaffen höheren Lebensgenuß zu verbinden; daß in dieser Hinsicht ein Unterschied gegen jetzt bestand, das soll doch erst nachgewiesen werden. Und das kanonische Zinsverbot hat sie dabei wenig geniert; sie wußten sich damit trefflich abzufinden. Hatte doch schon eine so große Kirchenleuchte wie Thomas von Aquino seine Umgehung empfohlen, indem er es dahin erklärte: Man dürfe Geld bei einem Wucherer deponieren, der schon mit anderem Gelde Wucher treibe; denn dann sündige man nicht selbst, sondern man bediene sich nur eines sündigen Menschen. [ED 1300]Es gab nicht viele Sünden, die leichter wogen. Indem sich die Kurie selber darüber hinwegsetzte, sanktionierte sie, daß es faktisch beiseite geschoben wurde. Und wenn sich ein Kapitalist dadurch wirklich so weit geniert fühlte, daß er durch fromme Stiftungen sein Gewissen beschwichtigen zu müssen meinte, – ist das nicht gerade ein Beweis dafür, daß seine Grundanschauung eine antitraditionalistische war? Denn der Erwerbstrieb war ja in ihm so mächtig, daß er nicht einmal ein Vehikel religiöser Ethik, wie später die protestantischen „Asketen“, brauchte, um sich zum Geldverdienen getrieben zu fühlen; er überwand nicht nur das „natürliche“ Streben nach ruhigem Lebensgenuß, sondern er achtete auch die Gefahr gering, seines Seelenheiles verlustig zu gehen!

[[ED 1319]]Aber, so wird Weber noch einwenden, auch das war noch nicht der richtige „kapitalistische Geist“; denn es mangelte noch der Charakter einer ethischen Maxime, die Idee der Berufspflicht. Er zieht dafür eine Äußerung Jakob Fuggers heran. Als diesem ein Berufsgenosse, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, das gleiche anriet, da Fugger doch genug gewonnen habe und auch andere gewinnen lassen müsse, verwies der Bankier dem Freunde das als „Kleinmut“, indem er hinzufügte, „er hatte viel einen anderen Sinn, wollte gewinnen, dieweil er könnte“. Weber bemerkte dazu, das sei nur „Ausfluß kaufmännischen Wagemuts und einer persönlichen, sittlich indifferenten Neigung“, trage aber nicht den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung und sei daher nicht ein Ausfluß „kapitalistischen Geistes“. Jedenfalls zeigen die Worte Fuggers, [ED 1320]daß er nicht „traditionalistisch“ gesonnen war: er wollte mehr verdienen, als er brauchte; er wollte gewinnen des Gewinnes halber; er hatte Abscheu vor bloßem Genusse ohne geschäftliche Arbeit. Und das sollte keine ethische Maxime der Lebensführung sein? Woher weiß denn Weber, daß sich Fugger nicht seinem Berufe gegenüber innerlich verpflichtet fühlte, daß nicht auch ihm die Idee vorschwebte, der Mensch habe die Pflicht, seine Aufgabe treu und gewissenhaft zu erfüllen, vor die ihn das Leben nun einmal gestellt hätte? Und wenn das der Fall war, so wird sich Fugger durch den Gedanken an das kanonische Zinsverbot schwerlich haben stören lassen, – er[,] der Bankier jener Instanz, bei der die Gewalt stand, zu binden und zu lösen. Ich will hier nicht auf Webers Ausführungen über das Aufkommen von Wort und Bedeutung von „Beruf“ näher eingehen. [ED 1321]Beruf und Berufsethik sind jedenfalls nicht erst Produkte der Reformation; es gibt eine Berufssittlichkeit, die überhaupt nicht religiös gefärbt zu sein braucht; jeder Beruf hat seine Ethik, losgelöst von allen religiösen Beziehungen, die [553]sich aus seinem eigenen inneren Wesen ergibt. Schon im Mittelalter treffen wir in den Städten ein kräftiges Selbstbewußtsein der Laienstände mit intensiver Wertschätzung der eigenen beruflichen Tätigkeit. Und keineswegs entbehrte die mittelalterliche Berufsethik so gar der religiösen Färbung; mit Recht betont Troeltsch, daß die christliche Rechtfertigung des Erwerbslebens nicht erst von Luther herstammt, „daß diese Berufslehre als Lehre von dem geordneten Beitrage jedes Arbeitenden zu dem de lege naturae gesetzten Gesellschaftszweck schon lange katholische Lehre war, und daß für Luther nur die mönchisch-asketischen Einschränkungen wegfallen“. Der Einfluß der Reformation besteht eben bekanntlich darin, daß sie die Betätigung im Berufe als das schlechthin höchste Gebot sittlicher Lebensführung statuierte; aber eine ethische Auffassung des Berufes sogar mit religiöser Motivation gab es auch schon früher, und von ihr waren unzweifelhaft, ob mit oder ohne religiöse Beimischung, die Kapitalisten der Renaissance ebensogut getragen, wie die der Gegenwart. Oder sollte die Berufsethik des modernen Handelsstandes nur entstanden sein können als Säkularisation „innerweltlicher Askese des Kalvinismus“? Auch den Männern der Renaissancezeit, wie Fugger, lag ihr Geschäft am Herzen; auch sie strebten nach Bewährung in ihrem Berufe, und der Ausspruch Fuggers dürfte heute gewiß mehr als Devise für den „kapitalistischen Geist“ gelten, als irgendwelche Lehren Calvins und Baxters, und es wird daher schwerlich nötig sein, ihn da, wo er heutzutage in Kraft ist, abzuleiten aus einer Säkularisation puritanischer Morallehre. Der moderne Kapitalismus wird sich mehr als Erbe des Geistes eines Fugger, wie eines Baxter wissen; es wird schwerlich ein qualitativer Unterschied zwischen dem Geiste bestehen, von dem er getragen ist, und dem, den [lies: der] die Fugger und ihre Berufsgenossen im Zeitalter des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit beseelte, – Rationalisierung der Geschäfts- und ganzen Lebensführung: das Geschäft wird berufsmäßig aufgefaßt und rückt in den [ED 1322]Vordergrund des Lebensinteresses, so daß die übrigen Beziehungen zwar keineswegs absorbiert werden, aber sich doch bis zu einem gewissen Grade unterordnen oder anpassen müssen; die Rücksicht auf das Geschäft bildet ein konstantes Motiv, welches kontrollierend und regulierend auf die ganze Lebensführung einwirkt; damit verbindet sich zweckmäßige Geschäftsführung, deren höchste Bewährung in der spezifischen Tugend des „kapitalistischen Geistes“ gipfelte, im spekulativen Kalkül, in der schnellen und richtigen Erfassung der Konjunktur, verbunden mit entsprechender Abschätzung der für die Erreichung des Zweckes, d. h. des geschäftlichen Erfolges, erforderlichen Mittel; das eben ist es ja, was Sombart die „Rechenhaftigkeit“ nennt. Dieser „kapitalistische Stil“ aber ist nicht erst ein Produkt der Säkularisation reformierter Sittlichkeit, und ebensowenig ist das der Fall bei einem bis zur Überspannung gesteigerten Erwerbstriebe, der alle anderen Triebe und Interessen im Menschen unterdrückt und ihn zu einer bloßen „Erwerbsmaschine“ herabdrückt; er ist auch gar nicht konstitutiv für den Begriff des „kapitalistischen Geistes“, auch nicht einmal sein Idealtypus, sondern lediglich sein Extrem.

Wir haben somit gezeigt, daß der kapitalistische Geist, richtig verstanden, älter ist als die „asketischen Richtungen der Reformation“; noch eine weitere Frage müssen wir nunmehr erörtern: liegt der „kapitalistische Geist“, in welchem Sinne man ihn auch immer fassen möge, wirklich derart im Wesen der kalvinistischen Berufsethik, daß er aus ihr heraus geboren werden konnte? War die kalvinische Ethik, als Ganzes betrachtet, überhaupt imstande, ihn hervorzubringen? Weber findet die Übereinstimmung zwischen der protestantisch-asketischen und der modem-kapitalistischen Berufsauffassung eben darin, daß für beide der Genußzweck bei der wirtschaftlichen Arbeit gänz[554]lich in Wegfall kommt, daß der Erwerb sich selber Zweck ist; aus dieser behaupteten Übereinstimmung erschließt er den Kausalzusammenhang, demzufolge das konstitutive Moment für das eine aus der anderen stammt. Ist es nun wirklich der Fall, daß nach der reformierten Ethik der Gewinn ausschließlich um seiner selbst willen gesucht wurde? War auch bei den Puritanern die Arbeit um der Arbeit willen unter Ausschluß des Genußzweckes [ED 1323]religiöses Gebot, so ist doch damit nicht gesagt, daß nicht auch vorhandene Motive sowohl als religiöses Gebot gelten konnten, als auch einen mächtigen Einfluß ausüben durften und tatsächlich ausübten: Selbsterhaltungstrieb, Sorge für die Familie, für die öffentliche Wohlfahrt u. a.m. Daß speziell dieses letzte Moment in der Baxterschen Lehre enthalten war, erwähnt ja Weber selbst; er erkennt darin allerdings bereits einen utilitaristischen Gesichtspunkt, der den späteren Umschlag zur utilitaristisch-liberalen Theorie vorbereitete; aber sollte er (wir kommen bald darauf zurück) nicht vielmehr gerade „genuin-kalvinistisch“ sein? Sehr treffend führt der sonst der Weberschen These unbedenklich beipflichtende Schulze-Gävernitz vom englischen Kaufmann des 17. und 18. Jahrhunderts aus: auf seinem Kontorbocke sitzend, sei er vom Bewußtsein erfüllt gewesen, der britischen Weltherrschaft zu dienen: „wenn er Seehandel treibt und Matrosen beschäftigt, legt er die Grundlage zu Englands Kriegsflotte zur Verteidigung des Protestantismus.“ Man sieht daraus: aus dem Geiste des Kalvinismus folgt selbst für die Tätigkeit des Kapitalisten noch mehr, als der Erwerb nur um des Erwerbes willen. Auch hier wird die Totalität der Zwecke geopfert zugunsten eines einzigen Motivs, welches künstlich und sinnwidrig isoliert wird. Und damit wird uns offenbar, worauf Webers Verfahren im letzten Grunde hinausläuft: es wird ein „Idealtypus“ konstruiert, nicht nur für die Gegenwart, wie wir schon früher zeigten, sondern auch für die Vergangenheit, und zwar dadurch, daß alle anderen wirklich vorhandenen Momente zugunsten eines einzigen eliminiert werden; indem nun dieses zum Range eines „konstitutiven Faktors“ für beide Erscheinungskomplexe erhoben wird, wird die Entstehung des einen aus dem andern geschlossen unter willkürlicher Leugnung der Existenz noch älterer Kausalzusammenhänge. Sieht man sich den „Unternehmer neuen Stils“ an, wie er wirklich ist, nicht durch die Brille des „idealtypischen Begriffs“ Webers, so wird man, was seine Stellung zu den Kulturgütern anbelangt, mehr Ähnlichkeit zwischen ihm und dem „Frühkapitalisten“ im Zeitalter und unter dem Einflusse der Renaissance entdecken, als mit dem Kapitalisten, der unter der Herrschaft „reformierter Askese“ steht.

[ED 1324]Eines ist sicher: Niemals hätte den Intentionen der Väter und Führer des Kalvinismus eine Berufsethik entsprochen, die nicht orientiert war an den Grundsätzen ihrer allgemeinen Ethik. Daher lag auch der Hauptnachdruck ihrer Berufsauffassung auf der Arbeit, nicht auf Gewinn und Reichtum; diese waren in ihr nur Faktoren von akzessorischer Bedeutung, und eben dadurch unterscheidet sie sich von dem „Lebensstil“ sowohl eines Fugger als auch des modernen Großkapitalismus. Mit welchen Restriktionen, nämlich in Rücksicht auf die Armen und das allgemeine Wohl, Calvin das Zinsnehmen umgab, haben wir schon kennen gelernt, desgleichen seine Abneigung gegen die großen Industriestaaten. Im letzten Grunde stand auch er auf dem Standpunkte, daß leichter ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher in das Himmelreich. „Der Reichtum“, so sagt er, „ist an und für sich seiner Art nach nicht zu verdammen, und es heißt, Gott arg lästern, wenn man den Reichtum derart verwirft, daß es scheint, als ob der Reiche von Grund aus verdorben sei; denn woher rührt der Reichtum, wenn nicht von Gott? … Aber die Reichen mögen sich keine Illusionen machen, sondern erken[555]nen, daß sie sich gleichsam auf Glatteis bewegen, wo sie sehr schnell zu Falle kommen können, daß sie gleichsam in einem Dornbusche sitzen, und daß sie sich sorgsam in acht nehmen müssen, um nicht gestochen zu werden.“ Aus seinem eschatologischen Gedankenkreise heraus hat er die abnegatio sui gepredigt und befohlen, man solle sich und alles das, was man sein nenne, ganz und gar außer acht lassen, sein Hab und Gut, da man es hier doch nicht lange genießen kann, den Armen geben, da man also davon größeren Genuß im Himmel haben werde.37)[555][ED 1324] W. [lies: Μ.] Schulze, Meditatio S. 12 und 28. Cromwell schrieb an das lange Parlament: „Stellt die Mißbräuche aller Berufe ab, und gibt es einen, der viele arm machte, um wenige reich zu machen: das frommt dem Gemeinwesen nicht!“ Und wenn, wie einst Calvins Geheiß gelautet hatte: „prendre le gaing [lies: gain] qui nous viendra comme de la main de Dieu“, so später Baxter die „Profitlichkeit“ des Kapitals predigte, so liegt in seiner Zweckangabe „zu Ehre Gottes und zur allgemeinen Wohlfahrt“ doch auch eine Be[ED 1325]schränkung: die sittlichen Gebote Gottes, die Pflichten der Rücksicht auf das Ganze, der christlichen Nächstenliebe, das sind die Schranken, die unserem Erwerbstriebe gesetzt sind. Das ist, wie schon gesagt, nicht ein posthumer utilitaristischer Zug, der die Säkularisation vorbereitet, sondern ein „genuiner“ Zug der kalvinistischen Ethik, die sich vom modernen kapitalistischen Geiste doch noch recht unterscheidet; auf die Aussprüche Calvins, Cromwells und Baxters hin ließe sich wohl eher eine sozialpolitische Gesetzgebung begründen, welche den „kapitalistischen Geist“ einzudämmen bestimmt wäre. Und gewisse Eigenschaften, die Weber bereits im puritanischen Kapitalismus feststellt, wie selbstgerechte und nüchterne Legalität, Bewußtsein der Tadellosigkeit, formalistisch harter Charakter, pharisäisch gutes Gewissen usw., sind, wenn sie wirklich von ihren Trägern aus der kalvinischen Berufsethik abgeleitet oder, wenn diese von ihnen als Rechtfertigung und Basis solcher Handlungsweise herangezogen wurde, als Auswüchse und Verzerrungen zu bezeichnen, als eine Verkennung und Mißachtung des wahren Wesens reformierter Sittlichkeit; die Reformation hätte alle Ursache, die geistige Urheberschaft einer solchen „Berufsethik“ abzulehnen.

So ungeheuerlich ist die Einseitigkeit und Übertreibung des Weberschen Schemas, daß sich selbst Troeltsch diesem Eindrucke nicht ganz entziehen kann. Die Macht der Tatsachen öffnet ihm die Augen dafür, daß für die Entwicklung des kapitalistischen Geistes doch wohl noch andere Faktoren maßgebend waren, als die reformierte Berufsethik; es gibt ihm auch zu denken, daß sich schon sehr früh, ehe noch die Invasion vom kalvinistischen Verbreitungsherde hier möglich ist, ein protestantischer Kapitalismus nichtkalvinistischer Provenienz konstatieren läßt, und daß der Kalvinismus keineswegs überall Kapitalismus in seinem Gefolge hatte. Indem er bemerkt, daß „seines Erachtens“ Weber der Nachweis seiner These „vollständig gelungen“ sei, fügt er eine Einschränkung hinzu, die, richtig betrachtet, eine Zurückziehung dieser Erklärung bedeutet: „Man dürfe vielleicht stärker betonen, daß diese besondere Art der reformierten Arbeitsaskese doch auch durch die besonderen Bedingungen der weltlichen Geschäftslage und besonders durch das Zurückdrängen des Dissent vom Staat und [ED 1326]der staatlichen Kultur mitbestimmt worden ist, wie andererseits das Luthertum seine traditionalistische Haltung in dem wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands noch verschärft hat. In Ungarn, Ostfriesland, auch in den bäuerlichen Provinzialstaaten der Niederlande hat der Kapitalismus m.W. eine bedeutende Entwicklung nicht gefunden, und andererseits hat das gut lutherische Hamburg die günstigen Gelegenheiten der atlanti[556]schen Verhältnisse eifrig mitbenutzt, hat auch der mit der lutherischen und katholischen Ethik vielfach näher verwandte Anglikanismus sich diesem Geiste geöffnet.“

Eine Zerpflückung dieses Satzes in allen seinen Bestandteilen würde hier zu weit führen; über die Behauptung bezüglich des Anglikanismus haben wir ja auch bereits gehandelt. Die Hauptsache ist für uns, daß Troeltsch selber zugesteht: es gibt einerseits große kalvinistische Gebiete, wo kapitalistischer Geist und Kapitalismus entstanden, und zwar keineswegs nur auf der Grundlage reformierter Askese; wir haben andererseits zwar protestantische, aber nicht kalvinische Gebiete, wo sich aus eigener Wurzel kapitalistischer Geist regte und kapitalistische Blüte entfaltete. Da liegt doch die Frage nahe: Sollte es nicht einfacher sein, die Entstehung des Kapitalismus, wo immer er sich findet, und die doch ohne Mitwirkung kapitalistischen Geistes nicht denkbar ist, auf andere Ursachen zurückzuführen, wie günstige Verkehrslage, Reichtum an natürlichen Produktionsmitteln, Anlage vor allem der Bevölkerung oder bestimmter ihr zugehöriger Klassen und anderes mehr, wobei bereitwilligst zugestanden werden soll, daß die reformierte Berufsauffassung als ein mächtiger Hebel der Entwicklung zu dienen vermochte? Daß man damit der Wahrheit erheblich näher kommt, zeigt eine Betrachtung des ja auch von Troeltsch herangezogenen lutherischen Norddeutschlands. Jedermann weiß, daß der Niedergang der deutschen Volkswirtschaft seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nichts mit religiösen Momenten (wenigstens als unmittelbar wirkenden Triebkräften) zu tun hat; das gilt sowohl für die oberdeutschen Städte, als auch für die des Hansabundes. Wie wenig Hamburg in das Troeltsch-Webersche Schema paßt, muß Troeltsch selber anerkennen, und diese Stadt steht keineswegs so ganz vereinzelt als Trägerin kapita[ED 1327]listischer Entwicklung im Bereiche des lutherischen Bekenntnisses da; ich erinnere nur an die ökonomische Blüte Danzigs auf Grund seines polnischen Hinterlandes, an die Landwirtschaft von Nordostdeutschland, die zur selben Zeit mit der Ausbildung der Großunternehmung und der unfreien Arbeitsverfassung des platten Landes ausgesprochen „kapitalistische“ Züge annimmt.38)[556][ED 1327] Den Charakter des Rittergutes als kapitalistischer Unternehmung hat für Ostholstein jüngsthin sehr energisch betont Sering, Erbrecht und Agrarverfassung in Schleswig-Holstein; vergl. meine Besprechung des Werkes unter dem Titel „Schleswig-Holstein in der deutschen Agrargeschichte“, Jahrb[ücher] für Nat[ional]-Ök[onomie] und Statistik 93, S. 433 ff. In diesem zuletzt erwähnten Falle handelte man nicht nur nicht im Sinne Lutherscher Berufsethik, sondern auch gegen die Lehre Luthers von den Pflichten der Obrigkeit gegen ihre Untertanen; trotzdem glaubten die ritterlichen Patrimonialobrigkeiten des deutschen Nordostens gute Lutheraner zu sein. Man sieht daraus, wie wenig sich die Mitglieder eines bestimmten Bekenntnisses, wo ihre realen Interessen ins Spiel kamen, um die Lehren ihrer Theologen kümmerten, insofern diese die Sphäre des rein Religiösen überschritten. Nach Troeltsch ist die Wirtschaftsauffassung des Luthertums „bei der Deutschland beherrschenden naturalwirtschaftlichen Reaktion des 16. und 17. Jahrhunderts“ immer konservativer geworden. Mir ist von einer solchen „naturalwirtschaftlichen Reaktion“ nichts bekannt; ich weiß wohl, daß in einem bestimmten historischen Werke39) Vergl. meine Besprechung von Lamprechts Deutscher Geschichte, Band V in den Mitt[eilungen] des Inst[ituts] für österr[eichische] Geschichtsforschung 17 S. 471 f. davon oft die Rede ist, würde dieses aber für Theologen, die das Grenzgebiet der Geschichtswissenschaft streifen, nicht gerade als Orientierungsmittel empfehlen.

[557]Die Übertreibung des Einflusses religiöser Momente und Lehren auf die reale Entwicklung, – das ist der charakteristische Zug der Troeltsch-Weberschen These. Auch sonst zeigen beide Autoren eine gewisse Neigung zu solchem Verfahren. Man lese nur die Ausführungen von Troeltsch über das Verhältnis des Luthertums zu Merkantilismus und Absolutismus; ebenso kühn wie falsch kennzeichnet er den aufgeklärten Absolutismus und den alles bevormundenden Polizeistaat als Kinder des Luthertums; es ist nur wunder[ED 1328]bar, daß sich diese Erscheinungen auch in den katholischen Ländern finden. Eine weitere Wirkung des Luthertums erblickt er „in der Erziehung einer demütigen und geduldigen Arbeiterschaft, die bei dem Wiedereindringen des Kapitalismus nach Deutschland ihm ein widerstandsloses Arbeitermaterial lieferte“. Ähnliches rühmt Weber der protestantischen Askese nach, die ja seiner Ansicht zufolge das Luthertum nicht mit einschließt; „sie macht die Arbeiter arbeitswillig, indem sie ihnen als mächtigen Antrieb die Auffassung der Arbeit als Beruf suggeriert, als einzigen Mittels, des Gnadenstandes sicher zu werden“. Ich will natürlich nicht bestreiten, daß örtlich und zeitweise religiöse Motive dieser Art einen erheblichen Einfluß auf das Verhältnis der Arbeiter zur Arbeit ausüben konnten; aber man soll sie doch auch nicht überschätzen. Die weltlichen Dinge gehen im großen und ganzen ziemlich selbständig ihren Weg; sie werden durch religiöse Momente wohl beeinflußt, je nach der momentanen Kraft, die das religiöse Prinzip zu einer bestimmten Zeit entfaltet, bald stärker, bald schwächer; ihre Wirkung ist bald eine fördernde, bald eine hemmende, aber in beiden Fällen doch nicht ganz unbegrenzt. Wirken sie hemmend, so können sie doch die Entwicklung selten aufhalten; man findet sich dann eben mit ihnen irgendwie ab, wie das Beispiel des kanonischen Zinsverbotes bezeugt; wirken sie fördernd, so sind in der Regel schon in den Dingen selbst liegende Triebkräfte an der Arbeit, denen sie nur zu sekundieren brauchen, so beim Kapitalisten der ihm innewohnende Erwerbstrieb, beim Arbeiter ökonomischer Zwang, Streben nach besserem Verdienste u. a.m. Wo sich religiöses Prinzip und Wirklichkeit stoßen, da ist es nicht immer jenes, welches siegt, und mag es auch eine noch so gewaltige Kraft im Menschen entfalten, so sieht es sich doch auch oft genug zu Kompromissen mit der Praxis gezwungen. Wieviel mußte nicht Luther selbst, durch die Übermacht der realen Verhältnisse gezwungen, im Laufe der Zeit von den Lehren opfern, die er zuerst vertreten hatte, und die unmittelbar aus dem Kerne seiner Religiosität herausgewachsen waren! Selbst Cromwell konnte, als er erst zur Macht gelangt war und den Staat lenken sollte, nicht in den Bahnen der „Heiligen“ verharren, als deren Führer er emporgekommen war. Noch [ED 1329]manches andere steht auf diesem Blatte. Wir haben ja schon darauf aufmerksam gemacht, wie getreulich die Lehre Luthers von den Pflichten der Obrigkeit durch die Grundobrigkeiten des deutschen Nordostens befolgt wurde. Luther hat bekanntlich den Christen die Anrufung der Obrigkeit untersagt, auch wenn ihnen Unrecht geschähe: haben deshalb in den lutherischen Territorien die Gerichte ihre Tätigkeit eingestellt? Er hat den aktiven Widerstand gegen die gottlose Obrigkeit perhorresziert; aber so, wie er sich selber damit schließlich mehr und mehr befreundete, so haben sich in der Folgezeit seine Anhänger um sein Verbot nicht eben immer gekümmert; man denke nur an die Lutheraner in den habsburgischen Ländern zum Beginne des 17. Jahrhunderts! Aus allem dem erhellt doch eins: wie wenig sich die politische, wirtschaftliche und weltliche Entwicklung überhaupt durch religiöse Lehren binden läßt, wenn diese das rein religiöse Gebiet überschreiten.

[558]Welches nun waren, um das Ergebnis dieser Untersuchungen kurz zusammenzufassen, die Wirkungen des Kalvinismus auf die wirtschaftliche Entwicklung? Er war geeignet, dem Berufsleben durch seine Ethik, durch die religiöse Sanktion, die er ihm gab, indem er es für die höchste Betätigung menschlicher Sittlichkeit erklärte, Vorschub und Förderung zu leisten, und daher auch dem Berufe des reinen Erwerbes, d. h. dem Kapitalismus, und dem Geiste, von dem dieser getragen ward, d. h. dem kapitalistischen Geiste in seinem richtigen Sinne, – das jedoch eben nur im Rahmen seiner allgemeinen Ethik, also unter gewissen Beschränkungen. Und eben dieser Einschränkungen halber und entsprechend dem Geiste kalvinistischer Religiosität überhaupt hatte er nicht minder die Tendenz, dem Nutzen des mittleren und kleineren Kaufmanns, des Gewerbemannes, des Angestelltenpersonals und der Arbeiterschaft zu dienen, deren Interesse doch dem des Kapitalisten relativ entgegengesetzt ist. Lang in seiner trefflichen Biographie Calvins40)[558][ED 1329] A. Lang: Johannes Calvin, 1909. konstatiert als das Resultat der ökonomischen Entwicklung Genfs zur Zeit Calvins: „So blieb zwar Genf bei Lebzeiten Calvins nur eine mäßig begüterte Stadt. Aber in der Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit, der Arbeit[ED 1330]samkeit und Bescheidenheit der Lebenshaltung, die sich in der nach Calvins Grundsätzen geleiteten Bevölkerung nunmehr ausprägten, war der beste Grund auch für den wirtschaftlichen Fortschritt gelegt.“ Und wo immer die Grundsätze Calvins, richtig verstanden, zur Anwendung gelangten, da dürfte die tatsächliche Wirkung des Kalvinismus auf das Wirtschaftsleben die gleiche gewesen sein. Indem er den sittlichen Segen der Arbeit so entschieden betonte, wie das noch nie zuvor der Fall gewesen war, stärkte er Fleiß und Ausdauer, Ehrlichkeit und Sparsamkeit. Das kam natürlich dem ökonomischen Fortschritte zugute, trug aber nicht gerade von vornherein eine ausgeprägte kapitalistische Tendenz; das wirtschaftliche Leben blieb der religiösen Idee untergeordnet, indem Zucht, Sitte, Ordnung, Rücksicht auf das Wohl des Nächsten und der Gesamtheit die leitenden Gesichtspunkte waren. So ist denn vielleicht durch den Kalvinismus der mittlere Wohlstand mehr gefördert worden, als der Kapitalismus im großen Stile: wenigstens spricht dafür das Beispiel der puritanischen Neu-England-Kolonien in Amerika, wenn man es richtig deutet. Immerhin soll die Möglichkeit nicht in Abrede gestellt werden, daß auch der Reichtum auf dem Boden der kalvinistischen Berufsethik Begünstigung fand; gemäß den Zügen, mit denen sie durch Calvin und seine Nachfolger im Puritanismus ausgestattet wurde, kann sehr wohl durch sie eine Intensitätssteigerung schon vorhandenen „kapitalistischen Geistes“ verursacht worden sein, der, nunmehr getragen von dem Bewußtsein religiöser Sanktion, um so stärker sich auszuwirken vermochte: Die englische Wirtschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts dürfte dafür bei näherer Betrachtung und Durchforschung mancherlei Belege zu liefern imstande sein. Es läge also hier der Fall vor, daß religiöse Momente einer schon im Wesen der Dinge liegenden Entwicklung befreiend und helfend zur Seite standen.

Damit kommen wir zu einem Probleme, das anscheinend Weber zu seinen Studien, mit denen wir uns hier beschäftigten, die Anregung gab; es lautet: „Konfession und soziale Schichtung“: wie ist der vorwiegend protestantische Charakter des Kapitalbesitzes und des Unternehmertums zu erklären? Schon der Engländer Petty berechnete in seiner 1687 [ED 1331]erschienenen Schrift Political Arithmetic, daß Großbritannien, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen, die Hansestädte und die protestantischen Teile Deutschlands zusammengenommen drei Viertel des Welthandels innehätten; im Vor[559]dergrunde dieser kommerziellen Geltung des Protestantismus standen natürlich England und Holland. In der Folgezeit, im 18. Jahrhundert, hat sich der Schwerpunkt von Handel, Industrie, Unternehmung und Kapitalismus noch viel mehr zu ungunsten der katholischen Teile Europas verschoben. Die Unterschiede, welche durch die natürliche Lage, durch die besonderen Neigungen und Fähigkeiten der Einwohner, durch die aus der Bodenbeschaffenheit und den Bodenschätzen des Landes fließenden Hilfsmittel begründet werden, können allein diese auffallende Tatsache nicht erklären; die Lösung des Rätsels muß tatsächlich in der Verschiedenheit des Bekenntnisses zu suchen sein. Aber auch da läßt sie sich nicht auf eine einzige bestimmte Formel reduzieren, wie auf die „innerweltliche Askese“ des Protestantismus. Vielerlei Umstände kamen zusammen, um das Endergebnis zu erzielen; wir können sie hier nicht in ihrer Totalität aufzählen und in ihrem inneren Zusammenhange aufdecken und würdigen; mit einigen wenigen Andeutungen müssen wir uns begnügen: Bei den Protestanten fehlte jenes angeblich weltentsagende Mönchstum, das, im allgemeinen unproduktiv lebend, am Marke des Volkes zehrte und die Güter der Welt in der toten Hand aufhäufte. Hier herrschte nicht die Besorgnis, daß die zunehmende Intelligenz der Bevölkerung der Priesterherrschaft gefährlich werden könnte; daher war hier eine Volksbildung möglich, welche die breiten Massen für den wirtschaftlichen Wettbewerb der Nationen besser ausrüstete, und mit der höheren Bildung und Intelligenz verbanden sich größere Rührigkeit und Energie. Die Weltverneinung, welche im letzten Grunde das höchste Ideal katholischen Christentums war, mußte in seinen Angehörigen einen relativ höheren Grad der Indolenz gegenüber den weltlichen Dingen erzeugen, die von der protestantischen Berufsethik ganz anders gewertet wurden. An und für sich ein Prinzip des Fortschrittes in sich schließend, von der Tendenz getragen, das Individuum auf eine selbständige Basis zu stellen, entfesselte und stählte der Prote[ED 1332]stantismus alle im Menschen wirksamen Triebe, Kräfte und Anlagen. Es läßt sich auch nicht leugnen, zumal wenn man die katholischen Nationen des Südens mit den protestantischen des Nordens vergleicht, daß hier der allgemeine moralische Habitus ein überlegener war. Alles das konnte nicht des Einflusses auf die ökonomische Prosperität entbehren; in allen diesen Stücken wirkte der Protestantismus auf das Wirtschaftsleben befreiend und fördernd, der Katholizismus mehr bannend und hemmend.

Wie hoch man aber auch immer die Bedeutung dieser Faktoren anschlagen möge, das Entscheidende war doch das Verhältnis von Politik und Religiosität, sowohl was das innere als auch was das äußere Leben der Staaten anbelangte. In einem viel höheren Grade verschmolzen in den katholischen Ländern Religion und Politik; wiewohl jene dieser äußerlich in der Form des Staatskirchentums untergeordnet war, stellte sie weit höhere Ansprüche an den Staat, beutete sie diesen für ihre besonderen konfessionellen Zwecke ungescheuter aus. Indem der Katholizismus Tendenz und Prätention einer alleinseligmachenden Religion von universaler Bedeutung aufrecht erhielt, zwang er die Machtmittel der ihm ergebenen, von seiner Idee innerlich gebundenen Völker und Staaten in seinen Dienst zur Wiederherstellung seiner Alleinherrschaft, und eben dadurch ruinierte er sie: das beste Beispiel dafür ist ja Spanien. Anders die einmal protestantisch gewordenen Völker: wenn sie aus religiösen Motiven in die Weltpolitik eingriffen, dann doch mehr zu defensivem Zwecke, zur Abwehr der Angriffe der katholischen Staaten und höchstens zum Schutze der im Machtbereiche des Katholizismus lebenden und hier unterdrückten Glaubensgenossen. Aber es ist bekannt, wie lau man dabei verfuhr, wenn man sich wirklich einmal dazu aufschwang, und jedenfalls war [560]auf katholischer Seite die Bereitwilligkeit, in diesem Punkte Gleiches mit Gleichem zu vergelten, viel lebhafter und glühender wirksam. Niemals trat die Neigung zu einer weltumspannenden Offensive zum Behufe der konfessionellen Propaganda im Bereiche des Protestantismus so energisch und rücksichtslos auf, wie etwa bei Philipp II. und den Spaniern; die äußere Politik der protestantischen Mächte vermied es, fanatischen Expansions-Utopien nachzujagen und hielt sich viel [ED 1333]mehr in den Grenzen des Erreichbaren und Realen.

Nicht anders war es auf dem Gebiete des inneren Staatslebens. Ihrer und ihrer Anhänger in höherem Grade sich sicher fühlend, ihres inneren Wertes sich wohl bewußt, stellte die protestantische Religiosität viel geringere Ansprüche an den Staat als das katholische Bekenntnis; sie brauchte ihn annähernd nicht im gleichen Maße. Anfangs konnte sie nicht umhin, damit sie überhaupt erst gegenüber der alten Kirche emporkäme und festen Fuß fasse, in natürlichem Instinkt, um der Zersplitterung und dadurch der Ohnmacht sowie der Unterdrückung durch den Katholizismus vorzubeugen, gewisse Einschränkungen an dem individualistischen Prinzip vorzunehmen, auf dem sie beruhte, mit Zwang und Gewalt gegen so manchen, scheinbar allzu exzessiven Dissent im Schoß der Reformation selbst vorzugehen; sobald ihre äußere Existenz aber erst gerettet und sicher gestellt war, mußte sich ihr Wesen in der Richtung eben des individualistischen Prinzips entfalten, aus dem heraus sie geboren war, nämlich in der Richtung von Glaubens-, Religions- und Denkfreiheit: das war freilich eine Entwicklung, für die humanistisch-rationalistische und politische Motive gegenüber dem spezifisch konfessionellen Momente mit seiner retardierenden Tendenz die Bahn brechen mußten.

Die Hauptträger des modernen Kapitalismus sind vom 16. bis zum 18. Jahrhundert unter den protestantischen Völkern die Holländer und Engländer; sie aber sind zugleich die beiden Nationen, bei denen sich das Prinzip der Toleranz zuerst erfolgreich durchsetzte und dauernd behauptete, wenngleich mit Restriktionen, die freilich zum Teile auch wieder Reaktion gegen Restaurationsversuche der alten Kirche waren; sie dachten nicht daran, eine äußerliche Glaubenseinheit künstlich auf Kosten des materiellen Wohlstandes bei sich zu erzwingen. Was das in Verbindung mit allen den anderen Faktoren protestantischer Religiosität, die das Wirtschaftsleben mehr begünstigten, als der Katholizismus, zu bedeuten hatte, das zeigt ein Blick auf die Geschichte der Niederlande [ED 1334]seit ihrer Trennung von Spanien. Was sind bei gleicher Basis des Ausgangs die Generalstaaten des Nordens durch den Protestantismus, was die Südprovinzen durch den Katholizismus geworden! Und dabei kann man nicht einmal behaupten, daß die spezifisch katholische Wirtschaftslehre in Belgien eine Rolle gespielt und umgekehrt in Holland die spezifisch reformierte Wirtschaftslehre einen sicher erkennbaren und einigermaßen beträchtlichen Anteil am Emporblühen des Wohlstandes hierselbst gehabt hätte. Der Republik der Vereinigten Niederlande kam es sogar direkt zustatten, daß sie, wenngleich ein protestantisches, so doch ihrem innersten Wesen zufolge nie ein eigentlich kalvinistisches Gemeinwesen war; die Geschichte der Religiosität und des gesamten Geisteslebens ist hier, im letzten Grunde, ein Kampf zwischen Calvin und Erasmus, in welchem selbst die Dordrechter Synode dem Kalvinismus keinen wirklichen, geschweige denn einen dauernden Sieg brachte. Zwar gab es eine Staatskirche, aber diese war hier tatsächlich „Staatskirche“, d. h. sie entbehrte der theokratischen Stellung im Sinne der Genfer Ansprüche; alle fanden hier Duldung, die Anhänger der verschiedenen protestantischen Bekenntnisse im engeren Sinne, die Täufer, die Juden, die [561]Katholiken. Man war soweit davon entfernt, durch Unterdrückung oder Vertreibung aller dieser dissentierenden Elemente das wirtschaftliche Gedeihen zu schädigen, daß man sie nicht nur ganz frei gewähren ließ, sondern auch zur ökonomischen Mitarbeit heranzog und auf den Posten stellte, wo sie dem Wohl der Gesamtheit nützen konnten. Ich erinnere nur daran, daß Steven van der Haghen, einer der ersten und erfolgreichsten Pioniere maritimer und kolonialer Expansion des jungen Freistaates, der als Flottenkommandant der Ostindischen Kompagnie für diese Amboina gewann, katholisch war; mag das immerhin eine Ausnahme sein, so ist es doch bezeichnend, daß hier solche Ausnahmen überhaupt möglich waren: man denke sich doch einmal als Gegenstück einen offenbaren Ketzer an der Spitze einer Flotte Philipps II. oder III.!

[[ED 1347]]Gälte es, das Maß des Einflusses festzustellen, den reformierte Berufsethik oder Toleranzprinzip auf die Entwicklung der Volkswirtschaft Englands ausgeübt haben, ich weiß nicht, auf welcher Seite die Wagschale sinken würde. Es ist ja bekannt, welch unvergleichliche Rolle die religiösen Exulanten des Kontinents in der englischen Wirtschaftsgeschichte seit den Zeiten der Tudors bereits spielten. Was hat nicht die englische Textilindustrie zur Zeit Heinrichs VIII., Eduards VI. und Elisabeths den niederländischen Flüchtlingen zu verdanken! Nur einmal ist seit den Tagen Elisabeths, damals, als Lund [lies: Laud] in Canterbury residierte, der Versuch gemacht worden, die eingewanderten Protestanten unter Anwendung von Druck zur Staatskirche zu bekehren. In der Regel hielten sie sich zu den Dissenters, und aus dem torystischen Lager erschallten später bittere Klagen darüber, daß sie stets die Whigs verstärkten. Allerdings war England nicht so das Land der Duldung par excellence, wie Holland: das zeigt vor allem die Lage der Katholiken. Gegen sie bestand formell die strenge und barbarische Strafgesetzgebung aus dem Zeitalter der Reformation; aber zur selben Zeit, als in Frankreich nach hundertjähriger Geltung das Toleranzprinzip wieder beseitigt, das Edikt von Nantes aufgehoben wurde, unter den letzten Stuarts, erfreuten sich die Katholiken entschiedener Begünstigung. Im Gefolge der zweiten Revolution und der sich daranschließenden Stuartschen Restaurationsversuche wurden die Zügel gegen die Katholiken wieder schärfer angezogen, zeitweise sogar wider sie, zumal in Irland, mit unentschuldbarer Härte und Grausamkeit eingeschritten; im allgemeinen jedoch blieb die [ED 1348]Praxis eine sehr milde. Übrigens kamen die Katholiken, was Zahl und wirtschaftliche Bedeutung anbelangte, in Großbritannien selbst kaum in Betracht. Sie betrugen höchstens 1–2 v.H. der Gesamtbevölkerung, und noch zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten in der kaufmännischen Welt nur zwei bis drei Katholiken eine große Position.

Ganz anders war die Stellung der Hugenotten in Frankreich. Das Vorgehen Ludwigs XIV. gegen sie brachte der französischen Volkswirtschaft in der Tat eine empfindliche Schädigung, und ihre Auswanderung mußte das schon bestehende ökonomische Übergewicht der protestantischen über die katholische Welt nur noch mehr verstärken, indem es jener Kräfte zuführte, die dieser entzogen wurden. Was die großen Reiche und Nationen betrifft, so war es eben in der Hauptsache der Unterschied in der Beeinflussung der Politik durch Momente religiös-konfessionellen Charakters, der den Unterschied in ihrer wirtschaftlichen Stellung schaffen und vertiefen half: dafür spricht auch der Umstand, daß in den katholischen Ländern, seitdem sich in ihnen der Geist der „Aufklärung“ der Staatsleitung bemächtigte und jedenfalls das konfessionelle Element seine allesbeherrschende Geltung verlor, Kapitalismus und Unternehmertum mit verstärkter Betätigung einsetzten, daß seitdem die katholischen Völker Europas den protestantischen gegenüber erheblich an Konkurrenzfähigkeit gewonnen haben. Wo [562]die Überspannung des religiös konfessionellen Prinzips einen alles andere Leben erdrückenden Rückhalt an der Staatsgewalt findet, da ist auch dem wirtschaftlichen Leben die Freiheit der Entwicklung verschränkt, die Erreichung [ED 1349]höchster Blüte versagt, deren es sonst fähig wäre.

So werden wir denn dem religiösen Momente für die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse gewiß eine große Bedeutung zugestehen müssen; wir werden sie allerdings nicht gerade in derselben Richtung suchen, zum mindesten nicht so ausschließlich, wie Weber; wir werden ihre Einflüsse in ihrem ganzen Umfange zu ermitteln trachten, wie sie teils hemmend, teils fördernd gewirkt haben, und wir werden zur Ansicht gelangen, daß der ökonomische Vorsprung des Protestantismus im wesentlichen darauf beruht, daß hier die hemmenden Kräfte fehlten, welche im Geltungsbereiche des Katholizismus das ökonomische Wachstum einschnürten und unterbanden. Zu den fördernden Elementen aber gehört unzweifelhaft die Berufsethik der Reformation: können wir uns auch Weber nicht anschließen, wenn er sie als „Askese“ kennzeichnet, schlagen wir ihre Wirkungen auch bei weitem nicht so hoch an, wie er es tut, – es bleibt sein Verdienst, auf diesen Faktor auch als Triebkraft „kapitalistischen Geistes“ (ein Gesichtspunkt, unter dem er noch nie gewürdigt worden ist), zumal in England, aufmerksam gemacht zu haben, und insofern hat ihm die Religions- und Wirtschafts-Geschichte eine wertvolle Anregung zu verdanken.

V.

Einige Wochen sind seit der Feier der vierhundertsten Wiederkehr von Calvins Geburtstage vergangen; sie hat eine geradezu unübersehbare Literatur von Festschriften und Festartikeln angeregt und zutage gefördert. Man hat darin Charakter, Eigenart und Bedeutung des Mannes und seines Werkes zu zeichnen versucht, man hat seinen Einfluß auf die weltgeschichtliche Entwickelung beschrieben und gepriesen. Was ist nicht alles mit ihm und mit seiner Lehre in Zusammenhang gebracht worden: die Existenz und Erhaltung des Protestantismus in Westeuropa und Europa überhaupt, indem der Kalvinismus dem siegreichen Vordringen der katholischen Restaurationspolitik Einhalt gebot, die Entstehung des kapitalistischen Geistes, die Prinzipien der politischen Freiheit und der Demokratie: hat man doch die Erklärung der Menschenrechte und die amerikanische Revolution auf die Genfer Reformation zurückgeführt. Sogar auf das Gebiet der Künste [ED 1350]sollen sich die Ausstrahlungen des Geistes des Patriarchen von Genf erstreckt haben: indem er das historische Gemälde, das Genre- und das Landschaftsbild sowie das Porträt empfahl, habe er, so lesen wir,41)[562][ED 1350] Doumergue, Jean Calvin II, 485. „das Programm im voraus entworfen, das nachher die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts verwirklichte“.

Gewiß bestehen manche dieser Zusammenhänge; nur ist es die Frage, ob sie auch immer von Calvin gewollt waren oder doch wenigstens seinen Intentionen entsprachen. Wie es mit seinem Verhältnisse zur Entwicklung des Kapitalismus steht, haben wir ja eingehend untersucht. Ähnlich ist es bestellt mit seinem Anteil an der Ausbildung individueller und politischer Freiheit; er ist begrenzt und lag nicht ohne weiteres in seiner Absicht und in seinem System. Für sich selber nahm er das Recht unbeschränktester Subjektivität in Anspruch, indem er sich für den Träger unmittelbarer [563]göttlicher Inspiration hielt: „Gott hat mir die Gnade erwiesen, mir zu erklären, was gut und böse ist“. Wohl erwog er alles bei sich genau: „Ich habe nicht die Gewohnheit, etwas als Wort Gottes zu billigen, ohne es vorher reiflich überlegt zu haben“; aber das Ergebnis, zu dem er schließlich gelangte, war ihm Gottes Wort, und er wollte es als solches angesehen und geachtet wissen. Nur bedingt gestand er dem Individualismus sein Recht zu, nämlich nur für den Anfang der Reformation, wie er sie predigte. „Und das soll nur gelten für dieses Mal, für den rechten Anfang der Kirche.“ Nur bei der Gründung oder in den Momenten der Krise steht es dem einzelnen zu, sich dem Glaubensbekenntnisse anzuschließen; aber verschieden von Gründung und Krisen sind das gewöhnliche Leben und die Ergänzung der Kirche: einmal gegründet, ergänzt sich die Kirche durch Geburt, wie Familie und Staat; da ist die Zugehörigkeit zu ihr nicht mehr ins Belieben des Individuums gestellt, und ist man der Gemeinschaft unwürdig, so wird man verflucht und verstoßen; das eben ist die Aufgabe der Kirchenzucht.42)[563] Doumergue II, 239. Zwar sagt Calvin, er fordere nicht Herrschaft für seine Person, sondern für die Bibel, wie Choisy43) Choisy, La théocratie à Genève. 1897, p. 177. das ausdrückt: „Ce n’est donc Calvin comme personnalité autoritaire qui a régné à Genève. [ED 1351]… C’est la bible“; aber er muß hinzufügen: „interprétée par lui“. Eben weil er verlangt, daß seine Schriftauslegung die alleingültige ist, läuft diese Bibliokratie auf eine Theokratie hinaus, deren Träger er selbst ist; er ist der Hierarch. Er beansprucht nicht nur für sich das Recht christlicher Subjektivität, sondern er fordert auch, daß seine subjektive Meinung zugleich objektive Norm für die ganze Christenheit sei; denn ihn regiert der Hl. Geist, und wenn ein anderer zu anderer Deutung gelangt, so ist das ein Beweis dafür, daß nicht Gott aus dem andern spricht, sondern Eigendünkel, Unwissenheit, Verblendung und satanische Bosheit.44)[ED 1351] Kreuzer [lies: Kreutzer], Zwinglis Lehre von der Obrigkeit, Kirchenrechtl[iche] Abh[andlungen] hgb. von Stutz, Heft 57, 1909, S. 2. Nimmt man noch hinzu, daß die straffe Kirchenzucht alle Mitglieder der Gemeinde, ob Erwählte oder Verworfene, aufs engste einschnürte und aller Freiheit der Bewegung beraubte, so wird man zugeben müssen, daß das individualistische Prinzip, mochte auch aus ihm heraus der Kalvinismus geboren sein, dennoch im Rahmen des kalvinistischen Systems praktisch vernichtet wurde: immerhin war die bloße Tatsache seiner Existenz mächtig genug, so daß es sich auf die Dauer zu behaupten vermochte. Was der Kalvinismus gegen die auf der Tradition von Jahrhunderten fußende alte Kirche in Anspruch nahm und durchsetzte, das konnte er den mit ihm selbst gleichaltrigen übrigen Richtungen der Reformation nicht auf die Dauer versagen, und als sich gar diese, nämlich das humanistisch-rationale Christentum der Renaissance und das Täufertum, bei denen das individualistische Prinzip von vornherein durchgeführt ward, mit ihm vermischten, als er dadurch in eine Entwicklungsphase trat, die eine Zersetzung und Auflösung seines ursprünglichen Wesens bedeutete, da erlangten auch in ihm die Grundsätze der Duldung, der Gewissens- und Denkfreiheit die Oberhand.

Wer freilich kann bestreiten, daß diese Prinzipien dem genuinen Kalvinismus fremd waren, daß sie von seinem Stifter nicht nur nicht gewollt waren, sondern daß sie sogar seinen Intentionen direkt zuwider liefen? Der echte Kalvinismus wollte keine Toleranz gewähren, wie das Vorgehen des Reformators selbst gegen Servet zeigt, und wenn er sie heischte, dann nur für sich selbst, wie die kurpfälzische Forderung der „Freistellung“ [564][ED 1352]auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts beweist45)[564][ED 1352] Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation. 1889, I, 129. , nämlich „unbedingter Religionsfreiheit protestantischer Untertanen unter katholischer Obrigkeit, ohne das entsprechende Recht an die Katholiken“. Ja sogar, ehe sie Toleranz mit Antitrinitariern und Baptisten teilen wollten, eher wollten sie selber leiden: so wenigstens war es das Gebot der Genfer Väter, der Hüter des wahren Kalvinismus, an ihre niederländischen Glaubensgenossen bei deren erster Erhebung. Sie kannten kein Paktieren mit anderen Überzeugungen; wenn sie eine allgemeine protestantische Union befürworteten, dann mit dem Anspruch, daß sich die anderen ihnen im wesentlichen fügten. Und doch wird niemand über Calvins Intoleranz den Stab brechen wollen. Die Religiosität, wie er sie lehrte, mußte, wenn sie eine Macht werden sollte, die der alten Kirche gewachsen, die ihr gegenüber dem Protestantismus Halt und Widerstandskraft zu verleihen geeignet war, zunächst vor innerer Auflösung bewahrt werden; rein und unversehrt mußte ihr Kern erhalten werden. Denn sonst hätte sie die gewaltige Triebkraft eingebüßt, die sie ihren Bekennern einflößte; nimmermehr wäre sie das stolze Palladium geblieben, um dessen willen man das Herzblut vergoß. Es war eine tragische Notwendigkeit, daß der Protestantismus, wenngleich ein Kind des Individualismus und der Gewissensfreiheit, sie doch zuerst mit Gewalt niederhalten mußte, um sie für spätere Zeiten möglich zu machen: denn hätte er sie schon in seinen ersten Anfängen ungestört schalten und walten lassen, so wäre er eben nie eine Macht geworden. Durch das System des Zwanges, das er schuf, hat Calvin schließlich die Freiheit gerettet. Das war der Erfolg seines Wirkens; aber er war nicht von ihm gewollt. Ein hervorragender Reformationshistoriker46) Kawerau in Möllers Kirchengeschichte, III2, 432. hat das Urteil gefällt: „Der Scheiterhaufen Servets hat Calvins Werk erhalten.“ Dazu bemerkt ein reformierter Theologe47) Barth, Calvin und Servet, 1909, S. 21 f.: „So hat allerdings Calvin selber die Sache aufgefaßt; aber wenn sein Werk nur durch eine solche Tat zu retten war, so verdiente es vielmehr unterzugehen.“ Gewiß kann man nicht sagen, daß eben diese [ED 1353]Tat notwendig war, um den Bestand des Kalvinismus zu sichern. Warum hätte man nicht, anstatt Servet zu verhaften, ihm unter der Hand einen Wink geben können, daß er sich aus dem Staube mache: dadurch wäre das Werk Calvins schwerlich gefährdet worden. Aber man darf nicht mit den Männern der Geschichte rechten; man muß sie nehmen, wie sie sind; die Schatten gehören zu ihrer Größe so gut wie ihre Tugenden. Die düstere Energie und Leidenschaft, die Calvin die Fackel in die Hand drückte, mit dem [lies: der] er Servets Scheiterhaufen in Flammen steckte, hat ihn auch die Stadt der Heiligen schaffen lassen, in der es die Protestanten Westeuropas lernten, dem Rom Loyolas die Stirn zu bieten. Der Sieg, den er gegen Rom gewann, kam schließlich allen Gegnern Roms zugute, auch denen, die er als die seinigen betrachtete und unbarmherzig verfolgte.

Und eben vor diesen seinen Widersachern, denen sein Kampf gegen Rom Luft und Licht zur Erhaltung ihrer Existenz und zur Entfaltung ihrer Kräfte gewährt hatte, mußte der Kalvinismus schließlich kapitulieren. In Holland begann seine Verschmelzung mit dem Renaissance-Christentum humanistischer Aufklärung erasmianischer Prägung; als ihre theologische Formulierung stellte sich der Arminianismus dar. Dadurch mußte er über sich Veränderungen in seinem Wesen im Sinne des Rationalismus und der Toleranz ergehen lassen; noch viel mehr als in der Theologie kamen sie zum Ausdruck in der praktischen Religiosität des holländischen Volkes, zumal seiner [565]höheren Stände. Was England anbelangt, so hat Weingarten in seinem klassischen Buche über die englischen Revolutionskirchen gezeigt, wie hier durch die Synthese kalvinistischer und täuferischer Religiosität das Prinzip der Toleranz erzeugt und in einem großen, gewaltigen Anlaufe zum Siege geführt und statuiert wurde. Bei dem Abflauen des religiösen Enthusiasmus, dem es seinen Triumph verdankte, konnte es freilich für England nur durch den Einzug und die Verbreitung von Rationalismus und natürlicher Theologie auf die Dauer sichergestellt werden. Sie aber, wie das Täufertum, wurden England mitgeteilt von Holland aus, wo ja auch der Kongregationalismus zuerst eine Heimstätte gefunden hatte, ganz ebenso wie [ED 1354]der Antitrinitarismus; es ist bekannt, welche Rolle dieser letzte, der sogenannte „Arianismus“, später in der englischen Theologie spielte. Das Resultat aller dieser Einflüsse auf den Kalvinismus und den „genuinen“ Protestantismus überhaupt aber ist das, was man jetzt wohl auch den „Neuprotestantismus“ nennt. Er ist vom Kalvinismus ausgegangen, ist aber seine innere Umkehrung, insofern als das individualistische Prinzip, auf dem dieser ursprünglich beruhte, dem aber Calvin sofort Einhalt setzte, in der Richtung der Gewissens- und Denkfreiheit, der Freiheit jeglicher Religionsübung, der Autonomie der Vernunft und des vernunftmäßigen Erkennens konsequent fortgebildet wurde.

Wie also Calvins Einfluß auf die Entwicklung einer freieren christlichen Religiosität auf der Grundlage wirklicher Durchführung des individualistischen Prinzips ein recht bedingter und indirekter, diese vielmehr im wesentlichen die geistige Erbschaft des von ihm verabscheuten Täufertums und Libertinismus ist, so auch muß man sich hüten, seine direkte Einwirkung auf den Werdegang des modernen Staates zu überschätzen. Calvin wollte Staat und Kirche nur begrifflich sauber geschieden wissen, sie keineswegs tatsächlich trennen. Bei aller Betonung des besonderen Charakters des Staates, der Notwendigkeit eines „freien“ Zusammenwirkens von Kirche und Staat zur Durchführung von Gottes Wort sah er im letzten Grunde doch den Staat als den Knecht der Kirche an, deren Oberhaupt er oder seine Mitbrüder und Nachfolger am Worte Gottes in Wahrheit waren. Denn eben darauf lief ja das Prinzip der Bibliokratie hinaus, dem er, wie alle weltlichen Dinge, so auch den Staat unterworfen wissen wollte: so fiel er in die mittelalterliche Theokratie zurück. Erst durch die in den englischen Revolutionskirchen vollzogene Durchsetzung des Kalvinismus mit täuferischen Gedanken (für die ja von Anfang an das Streben nach bloßer Duldung, der Verzicht auf jede Herrschaft über den Staat als Konsequenz der vollkommenen Abwendung vom Staate und daher auch die prinzipielle Trennung des kirchlichen Lebens vom Staate charakteristisch waren) ist die Proklamation wie des Grundsatzes der Toleranz so auch des der faktischen Scheidung staatlichen und religiösen Lebens zustande gekommen.

[ED 1355]Niemand wird freilich verkennen, daß dieses Postulat dem genuinen Kalvinismus widersprach, und daß es für die Frühzeit der Reformation, für das Genf Calvins selber ein Unding war. Denn ganz abgesehen davon, daß auch der Staat damals der engsten Verbindung mit der Kirche noch nicht entraten zu können vermeinte, so war eine faktische Trennung von Staat und Kirche im Interesse des Protestantismus selber unmöglich. Denn dieser braucht zur Behauptung seiner Existenz gegen die alte Kirche die innigste Verquickung mit dem Staate, und mußte er sich sonst, in den deutschen Territorien und in den schweizerischen Stadtrepubliken, dem Staate unterordnen, so war es für ihn von denkbar höchstem Werte, daß er in Genf eine Stätte fand, wo er dem Staate nicht dienend, sondern selbständig und sogar herrschend gegenüberstand. Denn so wurde in ihm die innere Freiheit der Gesinnung gegenüber dem Staate gefestigt, woran [566]es die Epigonen des Luthertums nur allzuoft fehlen ließen; so ward ihm der moralische Mut eingeflößt, sich mit allen Kräften und Mitteln auch da zur Geltung zu bringen, wo er um seine Existenz mit dem Staate ringen mußte, d. h. in den katholischen Ländern, frei von jeglichem inneren Bedenken und lauer Halbheit, kühn und trotzig der Gegenreformation unter staatlich-moderner Ägide, die Stirne zu bieten. Wie sich Calvin als der faktische Leiter des souveränen Freistaates von Genf in gewissem Sinne den Potentaten Europas gegenüber als gleichberechtigt erachten konnte, so lernten sich die Kalvinisten eben durch die Beziehung auf Genf als ihren von aller Welt unabhängigen Mittelpunkt als Glieder einer Gemeinschaft fühlen, die dem staatlichen Organismus gegenüber allüberall ihre absolute Existenzberechtigung zur Geltung zu bringen befugt und berufen sei. Darin lag gleichsam der erzieherische Wert der Genfer Theokratie für den westeuropäischen Protestantismus; es wurde ihm dadurch ein Geist mitgeteilt, der ihn schwerlich, wenn er sich ausnahmslos staatskirchlich gebunden hätte fühlen müssen, in solcher Stärke erfaßt haben würde. Im wesentlichen aber blieb die theokratische Stellung des Kalvinismus beschränkt auf seine engste Heimat, auf die Wirkungsstätte seines Stifters. Die kalvinistische Kirche in Holland erinnert, was ihr Verhältnis zum Staate anbelangt, trotz ihrer Synodalverfassung [ED 1356]mehr an das Staatskirchentum der anderen schweizerischen Stadtrepubliken. In England ist die Herrschaft des Staates über die kirchlichen Organisationen, welcher Art und welchen Bekenntnisses sie auch immer waren, nie dauernd angetastet worden, und in Frankreich hat sich der Kalvinismus lediglich eine Zeitlang die Stellung eines tolerierten Sonderstaates im Staate zu erkämpfen vermocht; wo er in Deutschland eindrang, mußte er sich dem hier herrschenden Systeme des Territorialkirchentums einfügen. Mit dem modernen Staate und seinem Verhältnisse zur Kirche hat der genuine Kalvinismus nichts zu tun; aber er hat diesen Zustand schaffen helfen, indem er zwar nicht den Anspruch auf Herrschaft, wohl aber auf Existenz und sogar auf eine bevorzugte Stellung, auf die Erklärung zur Staatskirche vielerorts durchsetzte; auf dieser Grundlage und unter den Einwirkungen von Täufertum, Toleranz, Rationalismus und moderner Weltanschauung erwuchsen die Zustände, wie sie heute das Verhältnis zwischen Staat und protestantischem Kirchentum in den verschiedenartigsten Modifikationen in der alten und neuen Welt kennzeichnen.

Noch mehr: man hat sogar bestimmte Prinzipien und Formen des modernen Staatslebens aus dem Kalvinismus abgeleitet,– Demokratie und Volkssouveränität, die Lehre von den unveräußerlichen Menschenrechten; „Der Ausgangspunkt hierfür“, so hört man sagen, „ist die kalvinistische Gemeindeverfassung“.48)[566][ED 1356] So Gothein in Hinnebergs Kultur der Gegenwart a. O. 220. Nun kann darüber kein Zweifel bestehen, daß Calvin die Aristokratie als die beste Verfassungsform für Staat und Kirche ansah, wenngleich er anerkannte, daß unter bestimmten Umständen eine andere Staatsform vorgezogen werden könnte49) Vgl. zum folgenden Elster a. O. 177 ff. . Jedenfalls hält er die Herrschaft des Volkes, die Austeilung gleicher Rechte an alle für schädlich; die mechanische Gleichheit, nämlich das Prinzip der Zahl, auf der die Demokratie beruhe, schade der gesunden und edlen Entwicklung des Staates; nicht selbst regieren solle das Volk, sondern regiert werden. Es ist sogar in Genf die Verfassung, die ursprünglich eine demokratische war, unter Calvins Ägide allmählich mehr und mehr aristokratisiert worden.50) Ebenda 207. [567]Und was die Ge[ED 1357]meindeverfassung Calvins anbelangt, so ist die ältere Ansicht von deren demokratischer Grundlage neuerdings durch Rieker bekämpft worden, unter dem Hinweise darauf, daß die Ältesten nach Calvins Meinung nicht Vertreter des Willens der Gemeinde seien, sondern Träger eines selbständigen, von Gott geordneten Amtes, Funktionäre Christi. Die Doktrin von der Volkssouveränität ist erst in der zweiten Generation des Kalvinismus benutzt worden; sie ist ihm auch nicht originär, sondern ist, wie ihre Voraussetzungen, die Lehren vom Naturrechte und vom Staatsvertrage, ein Erbteil der antiken Philosophie, das schon längst Gemeingut der abendländischen Publizistik war; machten sie doch auch die Jesuiten zur selben Zeit für ihre Zwecke nutzbar. Sie wurde von den Kalvinisten also nur rezipiert, und zwar wurde sie von ihnen in einer aristokratisch-ständischen Färbung vorgetragen; unter Heranziehung der kalvinischen Lehre von den Befugnissen und Pflichten der magistrats inférieurs gegenüber dem gottlosen Herrscher erklärte man nämlich das Recht des Volkes als absorbiert durch die Stände.

Weder in Kirche noch auch in [lies: im] Staat begünstigte also der Kalvinismus Calvins selber die Demokratie. Mag diese auch theoretisch in Calvins Gemeindeverfassung gelegen haben, so ging es damit ähnlich, wie mit dem individualistischen Prinzip auf dem Gebiete seiner Religiosität. Das demokratische Gemeindeprinzip mochte eine gewisse Rolle spielen bei der Gründung der Kirche oder bei der Bildung neuer Gemeinden, indem bei dieser Gelegenheit die ersten Gemeindeorgane aus Wahl durch die Gemeinde hervorgingen; eine weitere Entfaltung aber lag nicht im Sinne Calvins und widersprach direkt seinem Systeme. Es hat sich auch tatsächlich erst durchgesetzt, als sich im Kongregationalismus des 17. Jahrhunderts eine wirksame Synthese kalvinistischer mit täuferischen Ideen vollzog: wie die Grundsätze der Toleranz und der Trennung von Staat und Kirche, so auch ist das demokratische Gemeindeprinzip nicht genuin-kalvinistisch, sondern erst durch das Täufertum in den Kalvinismus eingedrungen, und auch dadurch wurde dieser etwas ganz anderes, als die Schöpfung Calvins ursprünglich gewesen war. Und was die politische Demokratie angeht, so ist diese nicht ohne weiteres als eine Art von Säkularisation des demo[ED 1358]kratischen Gemeindeprinzipes im täuferisch beeinflußten Kalvinismus zu betrachten. Gewisse Beziehungen sind vorhanden; aber im wesentlichen ist die moderne Demokratie in Amerika und Europa von selbst emporgewachsen, teils aus den tatsächlichen Verhältnissen, unter denen sich die Festsetzung der ersten Ansiedler jenseits des Ozeans vollzog, teils im Zusammenhange mit der Ausbildung der politischen Theorie, indem nämlich die Lehre von der Volkssouveränität der unlogischen aristokratischen Verbrämung entkleidet wurde, die sie sich noch bei den kalvinistischen Monarchomachen hatte gefallen lassen müssen: kam der Staatsvertrag, aus dem die Volkssouveränität floß, durch Übereinkunft aller zustande, so war eben die Demokratie seine logische Konsequenz. Und dasselbe gilt von den unveräußerlichen Menschenrechten; sie sind hervorgegangen aus den naturrechtlichen politischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts, insbesondere aus Locke, indem daraus in den amerikanischen Kolonien Englands ein Katalog spezialisierter individueller Freiheitsrechte abgeleitet wurde, an denen selbst die Staatsgewalt ihre Grenze zu finden hätte. Auch hier ist somit der Zusammenhang mit dem genuinen Kalvinismus teils sehr locker, teils ein indirekter; denn er stellt sich, insoweit er überhaupt besteht, dar als eine Fortbildung des Kalvinismus, die nicht dem Geiste Calvins entsprach, ihm wohl auch geradezu widersprach und durch das Eindringen von Elementen bewirkt wurde, die Calvin sogar ohne Zweifel perhorresziert hätte. Mit anderen Wor[568]ten: die größten weltgeschichtlichen Wirkungen, die dem Kalvinismus zugeschrieben werden, und unter deren Einfluß noch jetzt das moderne Leben steht, sind ihm, insoweit er tatsächlich daran beteiligt ist, nur durch seine Kapitulation vor seinen ursprünglichen Todfeinden, Täufertum und rationalistischem Libertinismus, möglich geworden.

Daß von allen Richtungen des Protestantismus der Kalvinismus den Kampf gegen die katholische Restauration am mutigsten aufgenommen und ihr den nachhaltigsten und erfolgreichsten Widerstand geleistet hat, das wird vor allem der Staatslehre Calvins zugeschrieben – wie Häusser das negativ ausdrückt: „Mit dem passiven Widerstande Luthers konnte man den Karaffas, den Philipps, den Stuarts nicht [ED 1359]entgegenwirken.“ Das ist wieder einmal die Überschätzung kirchlicher Lehren, wo sie über das rein Religiöse hinausgehen; im übrigen ist die Formulierung des Gegensatzes zwischen Kalvinismus und Luthertum, wonach dieser sich rein auf die passive Resistenz beschränkt, jener den aktiven Widerstand gegen die ungläubige und gottlose Obrigkeit gepredigt habe, weder für die Lehre noch auch für die Praxis richtig, und man darf doch auch die Bedeutung des Luthertums für die Erhaltung des Protestantismus in Europa nicht zu gering anschlagen. Schon Luther ist, worauf wir bereits aufmerksam machten, über die Lehre vom passiven Widerstande weit hinausgegangen, und auch die Lehre von der Befugnis der niederen Obrigkeit zu aktivem Widerstande findet sich beim Luthertum. Die lutherischen Fürsten Norddeutschlands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, damals die Träger der politischen und militärischen Machtmittel, die dem Luthertum zur Verfügung standen, waren freilich ein schwaches, tatenscheues Geschlecht, das die Ruhe liebte und den Frieden nach Möglichkeit erhalten wissen wollte: das gab dem Luthertum jener Zeit einen Zug passiver Resignation, der aber nicht aus seiner speziellen Lehre vom Widerstandsrechte erklärt werden darf, sondern aus der individuellen Eigenart jener Generation der lutherischen Machthaber. In den habsburgischen Staaten haben die lutherischen Elemente, worauf wir gleichfalls schon hinwiesen, nichts weniger als Neigung zu stummem Dulden und zaghaftem Leiden an den Tag gelegt, und Gustav Adolf zeigt zur Genüge, daß lutherische Religiosität mit aktivem Heroismus sehr wohl vereinbar war. Das soll man doch nicht vergessen, daß die Rettung des deutschen Protestantismus und damit die Erhaltung der ganzen Machtstellung des Protestantismus in Europa und der Welt – abgesehen von dem rein politischen Moment der habsburgisch-französischen Rivalität – in erster Reihe ein Werk lutherischer Tatkraft und Heldenhaftigkeit war.

Die Lehre Calvins vom Widerstandsrechte ist bekannt: auch der schlechten Obrigkeit ist man Gehorsam schuldig, selbst wenn sie Gewalt tut, nur daß dann die magistratus inferiores ihr entgegenzutreten verbunden sind. Wenn die Befehle der Obrigkeit mit dem Gebote Gottes zusammenstoßen, dann freilich [ED 1360]hört die Pflicht des Gehorsams auf; aber der Gläubige muß das Unrecht, das eine tyrannische Regierung über ihn verhängt, mit Geduld ertragen; Gott wird ihm, wenn die Zeit erfüllt ist, Hilfe bringen: das ist dem Kerne nach dasselbe, was Luther vorschrieb. Das Prinzip vom duldendem [lies: duldenden] Gehorsam und des nur passiven Widerstandes gegen die Obrigkeit wurde von der Genfer Mutterkirche selbst nach Calvins Tode noch vertreten, und durch Beza wurde sogar seine praktische Durchführung gefordert. Als die niederländischen Geusen sich zu ihrer ersten Erhebung anschickten und dazu einer theoretischen Rechtfertigung bedurften, ließen sie nach einer solchen nicht die Gebrüder Marnix in dem Arsenal der kalvinistischen Literatur suchen, sondern ihr Führer Hames bat den Grafen Ludwig von Nassau, er möchte ihnen eine gewisse Abhandlung aus Deutschland mit[569]bringen, die er ihnen versprochen habe, und in der die Gründe angeführt seien, auf welche hin die niedere Obrigkeit die Waffen ergreifen dürfe, wenn die höhere schlafe oder Gewaltherrschaft ausübe.51)[569][ED 1360] Ritter (Histor[ische] Zeitschr[ift] 58, 425) vermutet unter dieser „Abhandlung“ die „Vermahnung der Pfarrherrn in Magdeburg“ vom April 1549, „eine Schrift, welche den Ausgang für eine theoretisch wie praktisch gewaltig eingreifende Literatur vom Recht des Widerstandes und seinen Schranken gebildet hat.“ Und sie wußten sehr wohl, warum sie sich nicht in Genf Rates erholten. Die erste religiöse Insurrektion gegen das katholische Glaubensjoch Philipps II. in den Niederlanden ist, wie die Briefe Bezas beweisen, nicht nur unabhängig von Einwirkungen seitens der Genfer Zentrale des Kalvinismus entstanden; sondern sie hat hier auch entschiedene Verurteilung gefunden, und zwar sowohl deshalb, weil sie den Charakter einer Toleranzbewegung zu Gunsten aller Richtungen des Protestantismus trug, als auch an und für sich, nämlich als ein Akt der Gewalt und der bewaffneten Auflehnung wider die Majestät des Königs: lieber sollen seine Glaubensbrüder, so rät Beza, ihre Unschuld Gott und der Majestät des Königs empfehlen und alles leiden, was Gott ihnen schickt; denn das ist Gott wohlgefälliger, als eine Gewissensfreiheit zu erstreben, die sie mit allen anderen Ketzereien und Blasphemien teilen. Gewiß darf man von dem „unbeugsamen Mut und Starrsinn der Genfer Kampfes[ED 1361]kirche“ sprechen; aber man muß dabei im Auge halten, daß es sich dabei, insofern aktiver Widerstand in Frage kommt, nicht immer um die Genfer Mutterkirche, sondern um den Kalvinismus im allgemeinen handelt. Ihm gehörte in den Ländern Westeuropas eine Generation von Bekennern an, die nicht saturiert und schlaffen Mutes waren, wie die lutherischen Fürsten von Norddeutschland; sondern es stachelte sie trotz der warnenden Beschwörungen der Genfer Väter das aus ihrer äußersten Bedrängnis entspringende Bedürfnis, der Selbsterhaltungstrieb, die Reaktion gegen die Jahrzehnte lang währende blutige Unterdrückung und, wie in den Niederlanden, der rationale Geist zu aktivem Widerstande gegen ihre Regierungen auf. Diese Motive waren für sie mächtiger, als der „duldende Vorsehungsglaube“, der ihnen von Genf aus gepredigt wurde. Auch lag in den Niederlanden die Sache keineswegs so, daß der Kalvinismus, wenn er im Kampf gegen die Krone allein gestanden hätte, den Sieg zu erringen vermochte; es waren noch andere Kräfte am Werke. Und was Schottland anbelangt, das zweite Land, wo sich im 16. Jahrhundert der Kalvinismus gegen den katholischen Herrscher durchsetzte, so ist es allgemein anerkannt, daß die Lehren von Knox über das Verhältnis von Fürsten und Volk weit über die genuinen kalvinischen Ideen hinausgingen, und dasselbe gilt von der gesamten Staatslehre der kalvinistischen Monarchomachen.

Trotz alledem, wenn sie auch in diesen Stücken über die eigentlichen Lehren Calvins weit hinausgingen, wenn sie sogar direkt den Weisungen zuwiderhandelten, die sie von Genf empfingen, es war doch der Geist kalvinischer Religiosität, von dem sie getragen wurden, der sie erfüllte in allen ihren Leiden und Taten, und dieser Geist wirkte in ihnen um so stärker, als ihm der Reformator in seiner Gemeindeverfassung die denkbar zweckmäßigste und erfolgverheißendste Form der Organisation zur Verfügung gestellt hatte, die alle Kräfte aller in seinen Dienst spannte, die auf dem Prinzip der engsten und durchgreifendsten sozialen Kooperation beruhte. Nicht erfüllt vom Geist der Demokratie war die kalvinistische Gemeindeverfassung; sie hatte nicht zur Voraussetzung eine Gleichheit der Rechte; sie legte vielmehr allen Mitgliedern eine Gleichheit der Pflichten auf, nämlich allen die Ver[ED 1362]pflichtung zur Einsetzung aller ihrer Kräfte [570]zum Wohle der Gesamtheit, zum Dienste und zur Ehre Gottes. Der Kalvinismus war wie eine große Armee; jeder einzelne war seinem besonderen Fähnlein zugewiesen, nämlich der Gemeinde seines Bereiches. Beitritt zur Gemeinde des Ortes und Gemeindebildung war seinen Bekennern vorgeschrieben; jeder war verbunden, Mitstreiter zu werben und mit ihnen sich durch das Band der Gemeinde fest und unverbrüchlich zu verbinden. Niemandem war es erlaubt, sich davon in vornehmer Reserve oder in individualistischer Vereinzelung fernzuhalten; soziales Zusammenwirken in einem Geiste, das war die Losung, der sich jedermann beugen mußte. Und eine treffliche Disziplin wurde unter diesen Kämpfen für Gottes Ruhm und Größe gehandhabt, die Kirchenzucht, geübt durch die Vorsteher der einzelnen Gemeinden, das aus den Geistlichen und den Laienältesten zusammengesetzte Konsistorium. Die Kirchenzucht, gipfelnd im Banne, war für Calvin „der Nerv der Kirche“, und es war die Pflicht des Staates, ihr hierfür seinen Arm zu leihen.

Hierin das Beispiel Genfs nachzuahmen, das war allerdings für diejenigen Länder unmöglich, wo sich der Kalvinismus nicht dauernd zu einer theokratischen Stellung emporzuschwingen vermochte, wo er nur geduldet wurde oder gar verfolgt war, bei den Kirchen „unter dem Kreuze“. Aber gerade bei diesen, die sich über weite Flächen erstreckten, vollzog sich eine Fortbildung der Kirchenverfassung, die eine weitere und noch viel stärkere Konzentration der Kräfte bedeutete: die Gemeinden schlossen sich auf provinzieller Grundlage zu Provinzialsynoden zusammen, über ganze Länder hin zu Generalsynoden. Bei den Hugenotten vollzog sich zuerst diese Krönung der Gemeinde- und Konsistorial-Verfassung durch die Synodalverfassung; von ihnen her wurde sie nach den anderen Verbreitungsgebieten des Kalvinismus übernommen, zuerst, schon um 1561, nach den Niederlanden. Damit waren große, umfassende und mächtige Organisationen geschaffen, welche alle Gemeinden, die zu ihnen gehörten, einer einheitlichen, planvollen und energischen Leitung unterstellten; an ihrer Spitze standen kühne, zähe und verschlagene Männer, in deren Hand alle Fäden zusammenliefen, wie der Advokat Μe. Gilles Le Clerq aus Tournai, der geschickte [ED 1363]Sekretär der niederländischen Synode. Im Bewußtsein dessen, was sie vermochten, wenn sie nur wollten, erfüllten sich diese Verbände mit dem Geiste eines aktiven Widerstandes gegen die Regierungen, den die Genfer Mutterkirche weder lehrte noch auch immer billigte. Nicht Calvins Lehre vom Staate und insonderheit vom Widerstandsrechte hat die Erhaltung und die Fortschritte des Kalvinismus in Westeuropa bewirkt, sondern neben der ihm eigentümlichen Religiosität vor allem seine Kirchenverfassung, die straffe Organisation der Gemeinde, durch die der Einzelne aufs stärkste gefaßt, innerlich gefestigt und äußerlich geschoben wurde, die das denkbar intensivste Zusammenwirken der Mitglieder zum gemeinsamen Ziele begünstigte, die alle in ihnen vorhandenen Kräfte erweckte, konzentrierte und für die Sache des Evangeliums nutzbar machte: so ward ein festes und unzerreißbares eisernes Band um die Massen geschmiedet, und es entstanden Machtorganisationen, die ebenbürtig den Mächten gegenübertraten, welche das Schwert für die alte Kirche schwangen. Auch da ist freilich ein wesentlicher Fortschritt, zwar auf der Grundlage von Calvins Werk, seiner Kirchenverfassung, aber doch darüber und über ihn hinaus wahrnehmbar, nämlich die Synodalverfassung und die Durchdringung dieser Synodalverbände mit aktivem Kampfesmute: damit erst hebt die Epoche der großen Glaubenskriege an.

Aber eines gibt es, das stammt im Kalvinismus allüberall, wo immer er auftritt, von Calvin selbst; das ist das beste, was er der Kirche einflößte, die nach ihm benannt wurde, [571]sein Größtes, und darauf beruht seine universale Wirkung: jene eigentümliche Religiosität, die, aus seiner Prädestinationslehre herausgewachsen, doch nicht mit ihr steht und fällt, deren einziger und unverrückbarer Zielpunkt die Wahrung von Gottes Ruhm und Ehre ist, das Wirken in seinem Dienste, die Entzündung und Unterhaltung jenes brennenden und leidenschaftlichen Glaubenseifers, der vor nichts zurückschreckt, der keine Kompromisse und Nachgiebigkeit kennt. Die Religion wurde bei ihm zur Leidenschaft, die alles andere beherrschte und mit sich fortriß. Ein Ideal evangelischen Glaubens und evangelischer Sittlichkeit hatte er in seinem Genf aufgerichtet, das alle seine Anhänger zur Nacheiferung anspornte, ein Bei[ED 1364]spiel, das mit unwiderstehlicher Anziehungskraft dem Protestantismus immer wieder neue Gottesstreiter warb, mochten auch ihre Reihen in immer wieder neuen Schlachten durch Fall und Abfall gelichtet werden. Manch einer von ihnen hielt in der Marter der letzten Stunde nicht stand, so jener Guy de Brès, Calvins eifrigster und erfolgreichster Apostel in den südlichen Niederlanden, der Schöpfer der ältesten belgischen Konfession von 1561. Aber die Verbindung von tiefster und glühendster Religiosität mit strengster sittlicher Lebensführung und lebhaftestem Gemeinschaftsgefühle, die er seiner Kirche einpflanzte, erzeugte in ihr Helden, die sich um die Restriktionen nicht kümmerten, mit denen der Meister das Recht aktiven Widerstandes verschränkte: so hat er der Reformation die Bahn gebrochen, wie Luther durch den Heroismus seiner Person, durch den heroischen Geist, den er seiner Kirche als ihr höchstes Gut, als ihr sichtbares Merkzeichen mitteilte. Eines solchen aktiven Heroismus waren das moralistisch und rationalistisch gerichtete Reformchristentum eines Erasmus, das nach der Münsterschen Katastrophe friedfertige, weltabgewandte, alles Blutvergießen scheuende und nur im Leiden starke Täufertum nicht fähig.

Wie großartig und erhaben auch immer diese heroische Religiosität des Kalvinismus war, so liegt es doch auf der Hand, daß sie eine Anspannung des religiösen Prinzipes involvierte, wie sie wohl für Zeiten der Gährung, da das Neue sich durchzuringen trachtet, notwendig, aber nicht auf die Dauer möglich ist und nicht die Norm für die Allgemeinheit sein kann: die menschliche Natur ist wohl im Moment der Gefahr, da es sich um Sein und Nichtsein handelt, eines Aufschwunges zu ungeheurer Energie fähig; aber wenn der Sturm vorüber ist, so macht sich das Bedürfnis nach einer Lösung der enormen seelischen Spannung geltend. Schon im genuinen Kalvinismus lagen solche Elemente der Überspannung, seine Grundlehren von der totalen Verderbtheit der menschlichen Natur, vom ewigen Ratschlusse Gottes mit seiner Verwerfung der Vielen und der Erwählung nur Weniger, sein moralischer Rigorismus; sie stellen an die Kräfte des Gemütes und des Willens Anforderungen, die über das Durchschnittsmaß menschlicher Veranlagung und menschlichen Könnens weit [ED 1365]hinausgehen. Die extreme Religiosität des Kalvinismus wurde, als sich im Puritanismus seine Synthese mit dem Täufertum vollzog, durch das Eindringen der enthusiastischen Ideen bis zur Siedehitze des Fanatismus gesteigert; da war der Rückschlag unvermeidlich. Auch der Katholizismus involvierte eine Überspannung des religiös-transzendenten Prinzipes. Die strenge Unterordnung aller irdischen Ordnungen, Verhältnisse und Interessen unter den jenseitigen Zweck der Menschheit, wie sie ihn lehrt, das war das Joch, welches die katholische Kirche des Mittelalters ihren Gläubigen auferlegte. Vor dem transzendenten Ziele der Menschheit und dem ausschließlichen Mittel zu seiner Erreichung, der Alleinherrschaft des Dogmas, mußten alle anderen Zwecke und Werte zurücktreten; sie hatten nur Geltung, insofern sie sich mit der katholischen Idee, d. h. letztlich mit [572]dem Gebote der Kirche in weitestem Umfange, vertrugen. Gewiß vermochte die Kirche diesen Anspruch den realen Mächten des Lebens gegenüber keineswegs immer durchzusetzen, und zeitweise ist sie auch in seiner Verfolgung erlahmt. Das eben ist die Bedeutung des Zeitalters der Renaissance, daß sich in ihm eine selbständige Wertung der irdischen Dinge anbahnte, die zwar den offenen Kampf gegen die katholische Idee vermied, aber eine innere Loslösung, eine wachsende Emanzipation von ihrer Vormundschaft bewirkte: das adogmatische und moralistisch gerichtete Renaissancechristentum eines Erasmus war die Form christlicher Religiosität, die sich dieser Entwicklung, innerhalb des Katholizismus verbleibend, anzupassen trachtete. Unter dem Einflusse der Reformation aber wurde im Katholizismus das dogmatisch-transzendente Prinzip wieder neu belebt; nicht minder ward es tätig im Protestantismus und zumal im Kalvinismus: er war derjenige Zweig der Reformation, der der Darstellung und Auswirkung dieses Prinzipes geradezu gewidmet war, und eben daher wurde er ein ebenbürtiger Gegner der katholischen Restauration. Und im Vergleich mit dem Katholizismus stellte er viel höhere Ansprüche. Denn dieser begnügte sich schließlich, wenn auch nicht im Kerne seiner Lehre, aber in der Praxis mit der förmlichen und ostensiblen Unterwerfung unter Dogma und Kirchengebot und deren unvermeidliche politische und gesellschaftliche Konsequenzen; seine [ED 1366]doppelte Moral gab ihm die Möglichkeit, die Anforderungen an die Laien erträglich zu gestalten. Anders der Kalvinismus; er kannte keine laxe Praxis, kein Paktieren und keine Kompromisse; er verlangte eine stetige Anspannung aller sittlichen Kräfte von allen seinen Mitgliedern in allen Stücken, und zwar im Geist eines extremen moralischen Rigorismus; zumal nach seiner Verschmelzung mit der enthusiastisch-täuferischen Idee war sein Ziel die sichtbare Darstellung der Gemeinschaft der Heiligen auf Erden.

Das war eine Überspannung des religiös-transzendenten Prinzips, die wohl eine einmalige ungeheure Explosivwirkung auslösen, die sich aber nicht auf die Dauer behaupten konnte. Eine Reaktion trat ein, die der Aufnahme und der Verbreitung der rationalistisch-moralistischen Tendenzen des duldsamen Renaissance-Christentums günstig sein mußte, wie sie insbesondere von jeher in Holland gehütet, gepflegt und fortgebildet worden waren: sie drangen mehr und mehr in die Theologie ein, noch viel tiefer und stärker jedoch in die praktische Religiosität in den verschiedensten Lagern des protestantischen Bekenntnisses. Es ist der Geist jener freien christlichen Religiosität, die, dogmatisch relativ uninteressiert oder doch wenigstens nur das Fundamentale betonend, das freilich verschieden bemessen werden kann, die Welt und ihre Ordnungen als etwas Göttliches und doch als unabhängig von der transzendent-religiösen Idee anerkennt, für welche die Grundsätze autonomer Vernunfterkenntnis, individualistisch gerichteter Weltanschauung und daher vollkommener Toleranz feststehen, und die sich vor allem in einer christlichen Lebensführung zu bewähren trachtet. Und mit ihm war sehr wohl vereinbar das, was der Nachwelt als das beste Erbteil des genuinen Kalvinismus überkommen ist, – unermüdliches Schaffen und Wirken in tief innerlichst empfundenem Streben nach Gottes Dienst, Ruhm und Ehre als höchstes Ideal christlicher Sittlichkeit; es hat seine unverrückbare Geltung.