[71]Wissenschaft als Beruf
[A 3]Ich soll nach Ihrem Wunsch über „Wissenschaft als Beruf“ sprechen. Nun ist es eine gewisse Pedanterie von uns Nationalökonomen, an der ich festhalten möchte: daß wir stets von den äußeren Verhältnissen ausgehen, hier also von der Frage: Wie gestaltet sich Wissenschaft als Beruf im materiellen Sinne des Wortes? Das bedeutet aber praktisch heute im wesentlichen: Wie gestaltet sich die Lage eines absolvierten Studenten, der entschlossen ist, der Wissenschaft innerhalb des akademischen Lebens sich berufsmäßig hinzugeben? Um zu verstehen, worin da die Besonderheit unserer deutschen Verhältnisse besteht, ist es zweckmäßig, vergleichend zu verfahren und sich zu vergegenwärtigen, wie es im Auslande dort aussieht, wo in dieser Hinsicht der schärfste Gegensatz gegen uns besteht: in den Vereinigten Staaten.
Bei uns – das weiß jeder – beginnt normalerweise die Laufbahn eines jungen Mannes, der sich der Wissenschaft als Beruf hingibt, als „Privatdozent“. Er habilitiert sich nach Rücksprache und mit Zustimmung des betreffenden Fachvertreters, auf Grund eines Buches und eines meist mehr formellen Examens vor der Fakultät, an einer Universität und hält nun, unbesoldet, entgolten nur durch das Kolleggeld der Studenten,
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Vorlesungen, deren Gegenstand er innerhalb seiner venia legendi selbst bestimmt. In Amerika beginnt die Laufbahn normalerweise ganz anders, nämlich durch Anstellung als „assistant“. In ähnlicher Art etwa, wie das bei uns an den großen Instituten der naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten vor sich zu gehen pflegt, wo die förmliche Habilitation als Privatdozent nur von einem Bruchteil der Assistenten und oft erst spät erstrebt wird. Der Gegensatz bedeutet praktisch: daß bei uns die [72]Laufbahn eines Mannes der Wissenschaft im ganzen auf plutokratischen Voraussetzungen aufgebaut ist.[71] Das Kolleggeld wurde seitens der Universität von jedem Studenten entsprechend der belegten Vorlesungs- und Seminarwochenstunden erhoben und an die Hochschullehrer weitergegeben. Je größer die Zahl der Hörer eines Hochschullehrers, desto höher deshalb sein Kolleggeld. Für die beamteten Hochschullehrer war das Kolleggeld ein wichtiger Bestandteil ihres Einkommens; die Privatdozenten erhielten hingegen keinerlei Gehalt, sondern waren ausschließlich auf das Kolleggeld angewiesen.
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Denn es ist außerordentlich gewagt für einen jungen Gelehrten, der keinerlei Vermögen hat, überhaupt den Bedingungen der akademischen Laufbahn sich auszusetzen. Er muß es mindestens eine Anzahl Jahre aushalten können, ohne irgendwie zu [A 4]wissen, ob er nachher die Chancen hat, einzurücken in eine Stellung, die für den Unterhalt ausreicht. In den Vereinigten Staaten dagegen besteht das bureaukratische System. Da wird der junge Mann von Anfang an besoldet. Bescheiden freilich. Der Gehalt entspricht meist kaum der Höhe der Entlohnung eines nicht völlig ungelernten Arbeiters. Immerhin: er beginnt mit einer scheinbar sicheren Stellung, denn er ist fest besoldet. Allein die Regel ist, daß ihm, wie unseren Assistenten, gekündigt werden kann, und das hat er vielfach rücksichtslos zu gewärtigen, wenn er den Erwartungen nicht entspricht. Diese Erwartungen aber gehen dahin, daß er „volle Häuser“ macht. Das kann einem deutschen Privatdozenten nicht passieren. Hat man ihn einmal, so wird man ihn nicht mehr los. Zwar „Ansprüche“ hat er nicht. Aber er hat doch die begreifliche Vorstellung: daß er, wenn er jahrelang tätig war, eine Art moralisches Recht habe, daß man auf ihn Rücksicht nimmt. Auch – das ist oft wichtig – bei der Frage der eventuellen Habilitierung anderer Privatdozenten. Die Frage: ob man grundsätzlich jeden, als tüchtig legitimierten, Gelehrten habilitieren oder ob man auf den „Lehrbedarf“ Rücksicht nehmen, also den einmal vorhandenen Dozenten ein Monopol des Lehrens geben solle, ist ein peinliches Dilemma, welches mit dem bald zu erwähnenden Doppelgesicht des akademischen Berufes zusammenhängt. Meist entscheidet man sich für das zweite.[72] Nach den Untersuchungen Franz Eulenburgs aus dem Jahre 1908 stammte der weit überwiegende Teil der Privatdozenten an den deutschen Universitäten aus Familien der höheren Einkommensschichten. Eulenburg, Franz, Der „akademische Nachwuchs“. Eine Untersuchung über die Lage und die Aufgaben der Extraordinarien und Privatdozenten. – Leipzig/Berlin: B. G. Teubner 1908, S. 17ff.
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Das bedeutet aber eine Steigerung der Gefahr, daß der betreffende Fachordinarius, bei subjektiv größter Gewissenhaftigkeit, doch seine eigenen Schüler bevorzugt. Persönlich habe ich – um das zu sagen – den Grundsatz befolgt: daß ein bei mir promovierter [73]Gelehrter sich bei einem andern als mir und anderswo legitimieren und habilitieren müsse. Aber das Resultat war: daß einer meiner tüchtigsten Schüler anderwärts abgewiesen wurde,Im Kaiserreich war es an den deutschen Universitäten grundsätzlich üblich, die Zahl der Privatdozenten in einem bestimmten Fachgebiet unter Berücksichtigung des Lehrbedarfs in engen Grenzen zu halten.
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weil niemand ihm glaubte, daß dies der Grund sei. [73] Weber denkt hier möglicherweise an seinen Schüler Robert Liefmann (1874–1941). Liefmann hatte in den 1890er Jahren in Freiburg bei Max Weber studiert und dort 1897 mit einer Arbeit über Unternehmerverbände promoviert. Wie aus einer Reihe von Briefen Liefmanns an Weber, der mittlerweile nach Heidelberg übergewechselt war, aus dem Jahr 1900 hervorgeht, stießen seine Bemühungen, sich anschließend zu habilitieren, sowohl in Freiburg als auch in Bonn und Göttingen bei einigen der jeweiligen Fachvertreter auf Widerstand. Er zeigte sich erleichtert darüber, daß Weber schließlich erklärt habe, „daß er, wie die Sachen jetzt stünden, seine früheren Bedenken gegen die Habilitation eines seiner Schüler in Heidelberg nicht mehr in gleichem Maße hege.“ (Brief Robert Liefmanns an Max Weber vom 24. Febr. 1900, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446.) Offensichtlich scheiterte jedoch auch der Plan, Liefmann in Heidelberg zu habilitieren. Liefmann wandte sich daraufhin an die Philosophische Fakultät der Universität Gießen, die im Sommer 1900 eine gutachterliche Äußerung Webers über Liefmann erbat und auch erhielt. (Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 10. Juli [1900], ebd.) Liefmann wurde schließlich in Gießen bei Magnus Biermer mit einer Arbeit über „Die Allianzen, gemeinsame monopolistische Vereinigungen der Unternehmer und Arbeiter in England“. – Jena: Gustav Fischer 1900, habilitiert.
Ein weiterer Unterschied gegenüber Amerika ist der: Bei uns hat im allgemeinen der Privatdozent weniger mit Vorlesungen zu tun, als er wünscht. Er kann zwar dem Rechte nach jede Vorlesung
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seines Faches lesen. Das gilt aber [A 5]als ungehörige Rücksichtslosigkeit gegenüber den älteren vorhandenen Dozenten, und in der Regel hält die „großen“ Vorlesungen der Fachvertreter, und der Dozent begnügt sich mit Nebenvorlesungen. Der Vorteil ist: er hat, wennschon etwas unfreiwillig, seine jungen Jahre für die wissenschaftliche Arbeit frei. A: Vorlesungen
In Amerika ist das prinzipiell anders geordnet. Gerade in seinen jungen Jahren ist der Dozent absolut überlastet, weil er eben bezahlt ist. In einer germanistischen Abteilung z. B. wird der ordentliche Professor etwa ein dreistündiges Kolleg über Goethe lesen und damit: genug –, während der jüngere assistant froh ist, wenn er, bei zwölf Stunden die Woche, neben dem Einbläuen der deutschen Sprache etwa bis zu Dichtern vom Range Uhlands hinauf etwas zugewiesen bekommt. Denn den Lehrplan schreiben die amtlichen Fachinstanzen vor, und darin ist der assistant ebenso wie bei uns der Institutsassistent abhängig.
[74]Nun können wir bei uns mit Deutlichkeit beobachten: daß die neueste Entwicklung des Universitätswesens auf breiten Gebieten der Wissenschaft in der Richtung des amerikanischen verläuft. Die großen Institute medizinischer oder naturwissenschaftlicher Art sind „staatskapitalistische“ Unternehmungen. Sie können nicht verwaltet werden ohne Betriebsmittel größten Umfangs. Und es tritt da der gleiche Umstand ein wie überall, wo der kapitalistische Betrieb einsetzt: die „Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln“.
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Der Arbeiter, der Assistent also, ist angewiesen auf die Arbeitsmittel, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden; er ist infolgedessen vom Institutsdirektor ebenso abhängig wie ein Angestellter in einer Fabrik: – denn der Institutsdirektor stellt sich ganz gutgläubig vor, daß dies Institut „sein“ Institut sei, und schaltet darin, – und er steht häufig ähnlich prekär wie jede „proletaroide“ Existenz[74] Vermutlich Anspielung auf die Analyse von Karl Marx: „Der Process, der das Kapitalverhältniss schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprocess des Arbeiters vom Eigenthum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Process, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Producenten in Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprocess von Producent und Produktionsmittel.“ Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, 5. Aufl., hg. von Friedrich Engels. – Hamburg: Otto Meissner 1903, S. 680.
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und wie der assistant der amerikanischen Universität. Bei Sombart, Werner, Das Proletariat. Bilder und Studien. – Frankfurt a.Μ.: Rütten & Loening 1906, S. 5ff., wird zwischen „proletarischen“ und „proletaroiden“ Existenzen unterschieden, wobei Sombart der ersten Gruppe, den sog. „Vollblutproletariern“, alle lohnabhängigen Arbeiter und kleinen Angestellten, der zweiten Gruppe, die er „Halbblut“ nennt, unter anderem eine als selbständige „Habenichtse“ bezeichnete Bevölkerungsschicht zurechnet, die das für einen unabhängigen Status erforderliche Kapital nicht besitzt.
Unser deutsches Universitätsleben amerikanisiert sich, wie unser Leben überhaupt, in sehr wichtigen Punkten, und diese Entwicklung, das bin ich überzeugt, wird weiter übergreifen [A 6]auch auf die Fächer, wo, wie es heute noch in meinem Fache in starkem Maße der Fall ist, der Handwerker das Arbeitsmittel (im wesentlichen: die Bibliothek) selbst besitzt, ganz entsprechend, wie es der alte Handwerker in der Vergangenheit innerhalb des Gewerbes auch tat. Die Entwicklung ist in vollem Gange.
Die technischen Vorzüge sind ganz unzweifelhaft, wie bei allen kapitalistischen und zugleich bureaukratisierten Betrieben. Aber der „Geist“, der in ihnen herrscht, ist ein anderer als die althistori[75]sche Atmosphäre der deutschen Universitäten. Es besteht eine außerordentlich starke Kluft, äußerlich und innerlich, zwischen dem Chef eines solchen großen kapitalistischen Universitätsunternehmens und dem gewöhnlichen Ordinarius alten Stils. Auch in der inneren Haltung. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen. Innerlich ebenso wie äußerlich ist die alte Universitätsverfassung fiktiv geworden.
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Geblieben aber und wesentlich gesteigert ist ein der Universitätslaufbahn eigenes Moment: Ob es einem solchen Privatdozenten, vollends einem Assistenten, jemals gelingt, in die Stelle eines vollen Ordinarius und gar eines Institutsvorstandes einzurücken, ist eine Angelegenheit, die einfach Hazard ist. Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine solche Rolle spielt. Ich darf das um so mehr sagen, als ich persönlich es einigen absoluten Zufälligkeiten zu verdanken habe, daß ich seinerzeit in sehr jungen Jahren in eine ordentliche Professur eines Faches berufen wurde,[75] Die deutsche Universitätsverfassung beruhte in erster Linie auf der Idee der Einheit der Wissenschaft, der Einheit von Forschung und Lehre sowie der Einheit von Lehrenden und Lernenden. Die kleinste Organisationseinheit war der Lehrstuhl, dessen Inhaber, der Ordinarius, für eine angemessene Vertretung seines Fachs in Forschung und Lehre zu sorgen hatte. Um die Jahrhundertwende begann, vor allem in Preußen unter der Leitung Friedrich Althoffs, ein systematischer Ausbau der Universitäten zu wissenschaftlichen Großbetrieben. Damit wurde das Prinzip der Vertretung der einzelnen Fachgebiete durch jeweils einen Ordinarius zunehmend ausgehöhlt. Durch Eingriffe der staatlichen Bürokratie in die Hochschulautonomie, durch die finanzielle Beteiligung privater Geldgeber an wissenschaftlichen Großprojekten und durch die Etablierung universitätsunabhängiger Wissenschafts- und Forschungsinstitute, so unter anderem der Kaiser-Wilhelm-Institute, wurde diese Entwicklung verstärkt. Vgl. dazu u. a. Brocke, Bernhard vom, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff“, in: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, hg. von Peter Baumgart. – Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 9–118.
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in welchem damals Altersgenossen unzweifelhaft mehr als ich geleistet hatten. Und ich bilde mir allerdings ein, auf Grund dieser Erfahrung ein geschärftes Auge für das unverdiente Schicksal der vielen zu haben, bei denen der Zufall gerade umge[76]kehrt gespielt hat und noch spielt, und die trotz aller Tüchtigkeit innerhalb dieses Ausleseapparates nicht an die Stelle gelangen, die ihnen gebühren würde. Max Weber war gerade 30 Jahre alt, als er am 25. April 1894 zum ordentlichen Professor für „Nationalökonomie und Finanzwissenschaft“ an der Universität Freiburg ernannt wurde, obwohl er sich nicht für dieses Fach, sondern für „Römisches (Staats- und Privat-) Recht und Handelsrecht“ habilitiert hatte. In nationalökonomischen Fachkreisen war man auf ihn vor allem durch seine 1892 im Rahmen einer Enquete des Vereins für Socialpolitik erschienene Arbeit „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ (Schriften des Vereins für Socialpolitik 55). – Leipzig: Duncker & Humblot 1892 (MWG I/3), aufmerksam geworden.
Daß nun der Hazard und nicht die Tüchtigkeit als solche eine so große Rolle spielt, liegt nicht allein und nicht einmal vorzugsweise an den Menschlichkeiten, die natürlich bei dieser [A 7]Auslese ganz ebenso vorkommen wie bei jeder anderen. Es wäre unrecht, für den Umstand, daß zweifellos so viele Mittelmäßigkeiten an den Universitäten eine hervorragende Rolle spielen, persönliche Minderwertigkeiten von Fakultäten oder Ministerien verantwortlich zu machen. Sondern das liegt an den Gesetzen menschlichen Zusammenwirkens, zumal eines Zusammenwirkens mehrerer Körperschaften, hier: der vorschlagenden Fakultäten mit den Ministerien, an sich. Ein Gegenstück: wir können durch viele Jahrhunderte die Vorgänge bei den Papstwahlen
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verfolgen: das wichtigste kontrollierbare Beispiel gleichartiger Personenauslese. Nur selten hat der Kardinal, von dem man sagt: er ist „Favorit“, die Chance, durchzukommen. Sondern in der Regel der Kandidat Nummer zwei oder drei. Das gleiche beim Präsidenten der Vereinigten Staaten: nur ausnahmsweise der allererste, aber: prononcierteste, Mann, sondern meist Nummer zwei, oft Nummer drei, kommt in die „Nomination“ der Parteikonventionen hinein und nachher in den Wahlgang: die Amerikaner haben für diese Kategorien schon technisch soziologische Ausdrücke gebildet,[76] Seit dem Hochmittelalter wird der Papst unter zunehmendem Ausschluß der Öffentlichkeit, im sog. Konklave, von den Kardinälen gewählt. Die Wahl kann durch Akklamation stattfinden, wird jedoch üblicherweise in geheimer Abstimmung, bei der eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich ist, vollzogen.
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und es wäre ganz interessant, an diesen Beispielen die Gesetze einer Auslese durch Kollektivwillensbildung zu untersuchen. Das [77]tun wir heute hier nicht. Aber sie gelten auch für Universitätskollegien, und zu wundern hat man sich nicht darüber, daß da öfter Fehlgriffe erfolgen, sondern daß eben doch, verhältnismäßig angesehen, immerhin die Zahl der richtigen Besetzungen eine trotz allem sehr bedeutende ist. Nur wo, wie in einzelnen Ländern, die Parlamente oder, wie bei uns bisher, die Monarchen (beides wirkt ganz gleichartig) oder jetzt revolutionäre Gewalthaber aus politischen Gründen eingreifen,Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgt die Nominierung der Präsidentschaftskandidaten einer Partei in den sog. „National Conventions“, die wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl stattfinden und deren Delegierte den Willen der jeweiligen Parteianhänger repräsentieren. Nach Bryce, James, The American Commonwealth, Vol. 2. – London: Macmillan 1888, S. 551ff., unterteilen sich die auf den Konventen vorgestellten Bewerber in drei Kategorien: die „Favourites“, die „Dark Horses“ und die „Favourite Sons“. Die „Favourites“ sind populäre Politiker, die die größten Chancen haben, die Delegiertenstimmen auf sich zu vereinigen, die „Dark Horses“ sind in der Parteiarbeit ausgewiesene Außenseiter, auf die der Konvent zurückgreift, falls der Favorit doch keine Mehrheit findet, und die „Favourite Sons“ besitzen zwar ähnliche Führungseigenschaften wie die „Favourites“, haben aber einen geringeren Bekanntheitsgrad. Sie sind wie die „Dark Horses“ Außenseiter.
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kann man sicher sein, daß bequeme Mittelmäßigkeiten oder Streber allein die Chancen für sich haben. [77] Zu den zahlreichen Eingriffen des preußischen Kultusministeriums bei Lehrstuhlbesetzungen vgl. u. a. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 4, 2. Aufl. – Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer 1982, S. 949–970. Weber selbst hatte sich im Jahre 1908 mit einigen Zeitungsartikeln in den Konflikt um den Berliner Nationalökonomen Ludwig Bernhard eingeschaltet, dem das preußische Kultusministerium, ohne Rücksprache mit der Berliner Philosophischen Fakultät, einen Lehrstuhl zugesichert hatte. Siehe: Frankfurter Zeitung, Nr. 168 vom 18. Juni 1908, 1. Mo.Bl., S. 1; Nr. 172 vom 22. Juni 1908, Ab.BI., S. 1 ; Nr. 174 vom 24. Juni 1908, 2. Mo.Bl., S. 1 ; sowie Nr. 190 vom 10. Juli 1908, 4. Mo.Bl., S. 1 (MWG I/13). Seit November 1918 versuchten die verschiedenen deutschen Revolutionsregierungen, Einfluß auf Berufungsverfahren zu nehmen. So wurden beispielsweise die beiden sozialdemokratischen Journalisten Heinrich Cunow (1862–1936) und Paul Lensch (1873–1926) auf Wunsch der mehrheitssozialdemokratischen Mitglieder im Rat der Volksbeauftragten zu a.o. Professoren für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Berlin ernannt. Siehe dazu: Karl Kautsky, in: Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Band 1, hg. von Felix Meiner. – Leipzig: Felix Meiner 1924, S. 146. Auch die Verhandlungen über die Nachfolge des Nationalökonomen Lujo Brentano an der Universität München, auf dessen Lehrstuhl Max Weber im Frühjahr 1919 berufen wurde, waren nicht frei von politischen Einflüssen. Entgegen der Vorschlagsliste der Fakultät, die den Nationalökonomen Moritz Julius Bonn an die erste Stelle und den Nationalökonomen Gerhart von Schulze-Gaevernitz gemeinsam mit Max Weber an die zweite Stelle gesetzt hatte, beschloß der bayerische Ministerrat in seiner Sitzung am 18. Januar 1919, die Verhandlungen mit Max Weber aufzunehmen. Siehe dazu: Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und Dokumente, bearb. von Franz J. Bauer. – Düsseldorf: Droste 1987, S. 313. Webers Berufung wurde am 26. März 1919 auf einer Sitzung des Aktionsausschusses der Arbeiter- und Soldatenräte heftig kritisiert; es wurde gefordert, den Lehrstuhl für Nationalökonomie mit einer Persönlichkeit zu besetzen, die „die Gesinnung der Jugend mit sozialistischem Geist zu durchtränken versteht.“ Max Weber habe sich dagegen stets in „bürgerlich-kapitalistischen Gedankengängen“ bewegt. (Protokoll der Aktions-Ausschuß-Sitzung vom 26. März 1919. BayHStA, Arbeiter- und Soldatenrat 4, fol. 4f.). In der Resolution (Resolutionsentwurf: BayHStA, Arbeiter- und Soldatenrat 17), die einstimmig verabschiedet wurde und die explizit gegen Max Weber gerichtet war, verlangte der Aktionsausschuß, „daß der freigewordene Lehrstuhl für Nationalökonomie lediglich von einem Manne besetzt wird, der tiefes Verständnis hat für die Nöte des schwerringenden Volkes, vor allem aber dem Sozialismus nicht feindselig gegenübersteht.“ Vgl. dazu Linse, Ulrich, Hochschulrevolution. Zur Ideologie und Praxis sozialistischer Studentengruppen während der deutschen Revolutionszeit 1918/19, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 14, 1974, S. 11f.
[78]Kein Universitätslehrer denkt gern an Besetzungserörterungen zurück, denn sie sind selten angenehm. Und doch darf ich sagen: der gute Wille, rein sachliche Gründe entscheiden zu lassen, war in den mir bekannten zahlreichen Fällen ohne Ausnahme da.
Denn man muß sich weiter verdeutlichen: es liegt nicht nur [A 8]an der Unzulänglichkeit der Auslese durch kollektive Willensbildung, daß die Entscheidung der akademischen Schicksale so weitgehend „Hazard“ ist. Jeder junge Mann, der sich zum Gelehrten berufen fühlt, muß sich vielmehr klarmachen, daß die Aufgabe, die ihn erwartet, ein Doppelgesicht hat. Er soll qualifiziert sein als Gelehrter nicht nur, sondern auch: als Lehrer. Und beides fällt ganz und gar nicht zusammen. Es kann jemand ein ganz hervorragender Gelehrter und ein geradezu entsetzlich schlechter Lehrer sein. Ich erinnere an die Lehrtätigkeit von Männern wie Helmholtz oder wie Ranke. Und das sind nicht etwa seltene Ausnahmen. Nun liegen aber die Dinge so, daß unsere Universitäten, zumal die kleinen Universitäten, untereinander in einer Frequenzkonkurrenz lächerlichster Art sich befinden. Die Hausagrarier
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der Universitätsstädte feiern den tausendsten Studenten durch eine Festlichkeit, den zweitausendsten Studenten aber am liebsten durch einen Fackelzug.[78] Herkunft und Bedeutung dieses Begriffs sind umstritten. Zum einen konnten damit die Eigentümer von kleinen Bauernstellen gemeint sein; zum anderen wurden mit „Hausagrariern“ auch Mitglieder der städtischen Haus- und Grundbesitzervereine bezeichnet, die im Kaiserreich eine rigide Interessenpolitik zur Wahrung ihres Besitzstandes betrieben. Vgl. dazu Becker, C., Hausagrarier, in: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur, 18. Jg., Nr. 46 vom 17. Aug. 1901, S. 725–727.
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Die KolleggeldinteressenSeit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts stellten etwa die Heidelberger Prorektoren die Frequenzentwicklung an ihrer Universität an den Anfang ihrer alljährlichen Rechenschaftsberichte. Dabei entwickelte sich gegen Ende des Jahrhunderts ein regelrechter Wettstreit zwischen den beiden badischen Universitäten Heidelberg und Freiburg um die Studentenzahlen, in dessen Verlauf die Überschreitung einer neuen Tausender-Grenze in Freiburg sogar mit Universitätsfesten begangen wurde. Vgl. dazu Riese, Reinhard, Die Hochschule auf dem Wege zum wissenschaftlichen Großbetrieb. Die Universität Heidelberg und das badische Hochschulwesen 1860–1914. – Stuttgart: Ernst Klett 1977, S. 58ff.
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– man soll das doch offen zugeben – werden durch eine „zugkräftige“ Besetzung der nächstbenachbarten Fächer mitberührt, und auch abgesehen davon ist nun einmal die Hörerzahl ein ziffernmäßig greifbares Bewährungsmerkmal, während die Gelehrtenqualität unwägbar und gerade bei kühnen Neuerern oft (und ganz natürlicherweise) umstritten ist. Unter dieser Suggestion von dem [79]unermeßlichen Segen und Wert der großen Hörerzahl steht daher meist alles. Wenn es von einem Dozenten heißt: er ist ein schlechter Lehrer, so ist das für ihn meist das akademische Todesurteil, mag er der allererste Gelehrte der Welt sein. Die Frage aber: ob einer ein guter oder ein schlechter Lehrer ist, wird beantwortet durch die Frequenz, mit der ihn die Herren Studenten beehren. Nun ist es aber eine Tatsache, daß der Umstand, daß die Studenten einem Lehrer zuströmen, in weitgehendstem Maße von reinen Äußerlichkeiten bestimmt ist: Temperament, sogar Stimmfall, – in einem Grade, wie man es nicht für möglich halten sollte. Ich habe nach immerhin ziemlich ausgiebigen Erfahrungen und nüchterner Überlegung ein tiefes Mißtrauen gegen die Massenkollegien, Vgl. oben, S. 71, Anm. 1.
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so unvermeidbar gewiß auch sie sind. Die Demokratie da, wo sie hingehört. Wissenschaftliche [A 9]Schulung aber, wie wir sie nach der Tradition der deutschen Universitäten an diesen betreiben sollen, ist eine geistesaristokratische Angelegenheit, das sollten wir uns nicht verhehlen. Nun ist es freilich andererseits wahr: die Darlegung wissenschaftlicher Probleme so, daß ein ungeschulter, aber aufnahmefähiger Kopf sie versteht, und daß er – was für uns das allein Entscheidende ist – zum selbständigen Denken darüber gelangt, ist vielleicht die pädagogisch schwierigste Aufgabe von allen. Gewiß: aber darüber, ob sie gelöst wird, entscheiden nicht die Hörerzahlen. Und – um wieder auf unser Thema zu kommen – eben diese Kunst ist eine persönliche Gabe und fällt mit den wissenschaftlichen Qualitäten eines Gelehrten ganz und gar nicht zusammen. Im Gegensatz zu Frankreich aber haben wir keine Körperschaft der „Unsterblichen“[79] Hier dürfte Max Weber unter anderem auf seine Erfahrungen an der Universität Wien anspielen, an der er im Sommersemester 1918 gelehrt hatte. Seine Vorlesungen waren ständig überfüllt, was ihn sehr belastete. Siehe dazu Heuss, Theodor, Erinnerungen 1905–1933, 5. Aufl. – Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins 1964, S. 225.
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der Wissenschaft, sondern es sollen unserer Tradition gemäß die Universitäten beiden Anforderungen: der Forschung und der Lehre, gerecht werden. Ob die Fähigkeiten dazu sich aber in einem Menschen zusammenfinden, ist absoluter Zufall. Gemeint ist die im 17. Jahrhundert gegründete „Académie française“, deren Aufgabe es ist, die französische Sprache rein zu erhalten und zu fördern. Ihre Mitglieder – hauptsächlich französische Schriftsteller – werden aufgrund der Devise der Akademie: „A l’immortalité“, häufig die „Unsterblichen“ genannt.
Das akademische Leben ist also ein wilder Hazard. Wenn junge Gelehrte um Rat fragen kommen wegen Habilitation, so ist die [80]Verantwortung des Zuredens fast nicht zu tragen. Ist er ein Jude, so sagt man ihm natürlich: lasciate ogni speranza.
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Aber auch jeden anderen muß man auf das Gewissen fragen: Glauben Sie, daß Sie es aushalten, daß Jahr um Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben? Dann bekommt man selbstverständlich jedesmal die Antwort: Natürlich, ich lebe nur meinem „Beruf“; – aber ich wenigstens habe es nur von sehr wenigen erlebt, daß sie das ohne inneren Schaden für sich aushielten. [80] „Laßt alle Hoffnung fahren.“ Teil des letzten Verses der Inschrift über der Höllenpforte in Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“, Inferno III/9. Im Kaiserreich wurde Wissenschaftlern jüdischer Abkunft zwar nicht der Zugang zur akademischen Laufbahn verwehrt, doch wurden sie bei der Besetzung von Ordinariaten nur selten berücksichtigt.
Soviel schien nötig über die äußeren Bedingungen des Gelehrtenberufs zu sagen.
Ich glaube nun aber, Sie wollen in Wirklichkeit von etwas anderem: von dem inneren Berufe zur Wissenschaft, hören. In der heutigen Zeit ist die innere Lage gegenüber dem Betrieb der Wissenschaft als Beruf bedingt zunächst dadurch, daß die Wissenschaft in ein Stadium der Spezialisierung einge[A 10]treten ist, wie es früher unbekannt war, und daß dies in alle Zukunft so bleiben wird. Nicht nur äußerlich, nein, gerade innerlich liegt die Sache so: daß der einzelne das sichere Bewußtsein, etwas wirklich ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiet zu leisten, nur im Falle strengster Spezialisierung sich verschaffen kann. Alle Arbeiten, welche auf Nachbargebiete übergreifen, wie wir sie gelegentlich machen, wie gerade z. B. die Soziologen sie notwendig immer wieder machen müssen, sind mit dem resignierten Bewußtsein belastet: daß man allenfalls dem Fachmann nützliche Fragestellungen liefert, auf die dieser von seinen Fachgesichtspunkten aus nicht so leicht verfällt, daß aber die eigene Arbeit unvermeidlich höchst unvollkommen bleiben muß. Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialistische Leistung. Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle [81]dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das „Erlebnis“ der Wissenschaft nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft, dieses: „Jahrtausende mußten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und andere Jahrtausende warten schweigend“:
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– darauf, ob dir diese Konjektur gelingt, hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann. [81] Es handelt sich um einen von Max Weber häufig zitierten Ausspruch, den er an anderer Stelle dem britischen Schriftsteller und Historiker Thomas Carlyle zuschreibt; vgl. Weber, Max, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, Beilage zum 1. Heft des 22. Bandes des AfSS, 1906, S. 349f. (MWG I/10, S. 273). In dieser Form ist das Zitat in den Werken Carlyles jedoch nicht nachgewiesen. Es könnte sich allenfalls auf Äußerungen Carlyles über Dante beziehen, den er als die „Stimme zehn schweigender Jahrhunderte“ bezeichnete. Carlyle, Thomas, Über Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte. – Leipzig: Otto Wigand 1895, S. 98ff. Vermutlich hat Weber das Zitat und die Zuordnung von dem deutschen Philosophen und Carlyle-Forscher Paul Hensel übernommen, der es während seines Vortrags auf dem Kongreß anläßlich der Weltausstellung in St. Louis im Jahre 1904 gebrauchte. Vgl. Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis 1904, hg. von Howard J. Rogers, Vol. 1. – Boston/New York: Houghton, Mifflin and Co. 1905, S. 414. Max Weber hat es dort dann bei seinem eigenen Vortrag erstmals benutzt, ebd., Vol. 7, 1906, S. 746 (MWG I/8).
Nun ist es aber Tatsache: daß mit noch so viel von solcher Leidenschaft, so echt und tief sie sein mag, das Resultat sich noch lange nicht erzwingen läßt. Freilich ist sie eine Vorbedingung des Entscheidenden: der „Eingebung“. Es ist ja wohl heute in den Kreisen der Jugend die Vorstellung sehr verbreitet, die Wissenschaft sei ein Rechenexempel geworden, das [A 11]in Laboratorien oder statistischen Kartotheken
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mit dem kühlen Verstand allein und nicht mit der ganzen „Seele“ fabriziert werde, so wie „in einer Fabrik“. Wobei vor allem zu bemerken ist: daß dabei meist weder über das, was in einer Fabrik noch was in einem Laboratorium vorgeht, irgendwelche Klarheit besteht. Hier wie dort muß dem Menschen etwas – und zwar das richtige – einfallen, damit er irgend etwas Wertvolles leistet. Dieser Einfall aber läßt sich nicht erzwingen. Mit irgendwelchem kalten Rechnen hat er nichts zu tun. Gewiß: auch das ist unumgängliche Vorbedingung. Jeder Soziologe z. B. darf sich nun einmal nicht zu schade dafür sein, auch noch auf seine alten Tage vielleicht monatelang viele zehntausende ganz trivialer Rechenexempel im Kopfe zu [82]machen.[81]A: Karthoteken
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Man versucht nicht ungestraft, das auf mechanische Hilfskräfte ganz und gar abzuwälzen, wenn man etwas herausbekommen will, – und was schließlich herauskommt, ist oft blutwenig. Aber, wenn ihm nicht doch etwas Bestimmtes über die Richtung seines Rechnens und, während des Rechnens, über die Tragweite der entstehenden Einzelresultate „einfällt“, dann kommt selbst dies Blutwenige nicht heraus. Nur auf dem Boden ganz harter Arbeit bereitet sich normalerweise der Einfall vor. Gewiß: nicht immer. Der Einfall eines Dilettanten kann wissenschaftlich genau die gleiche oder größere Tragweite haben wie der des Fachmanns. Viele unserer allerbesten Problemstellungen und Erkenntnisse verdanken wir gerade Dilettanten. Der Dilettant unterscheidet sich vom Fachmann – wie Helmholtz über Robert Mayer gesagt hat – nur dadurch, daß ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt, und daß er daher den Einfall meist nicht in seiner Tragweite nachzukontrollieren und abzuschätzen oder durchzuführen in der Lage ist.[82] Max Weber spielt hier auf eigene Erfahrungen an; so hatte er unter anderem für seine Untersuchung „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“, in: AfSS, Band 27, 1908, S. 730–770, Band 28, 1909, S. 219–277 und 719–761, sowie Band 29, 1909, S. 513–542 (MWG I/11), „50 000 Rechenexempel in 6 Wochen“ eigenhändig durchgeführt. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 8. Jan. 1909, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
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Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig wie die Leidenschaft es tut. Beide – vor allem: beide zusammen – locken ihn. Aber er kommt, wenn es [83]ihm, nicht, wenn es uns beliebt. Es ist in der Tat richtig, daß die besten Dinge einem so, wie Ihering es schildert: bei der Zigarre auf dem Kanapee,Als Zitat nicht nachgewiesen. Robert Mayer hatte während seiner Tätigkeit als Schiffsarzt zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts das Gesetz von der Erhaltung der Energie entdeckt. Insbesondere die mangelnde Fähigkeit Mayers, seine Entdeckung physikalisch korrekt zu formulieren, führte dazu, daß seine Forschungen in Fachkreisen zunächst nicht zur Kenntnis genommen wurden. Hermann von Helmholtz, dessen eigene Abhandlung „Über die Erhaltung der Kraft“ 1847 erschienen war, würdigte später in einem Zusatz anläßlich der Neuveröffentlichung dieser Schrift die Leistungen Mayers und ging dann grundsätzlich auf das Verhältnis von wissenschaftlicher Entdeckung und deren experimenteller Überprüfung ein. Dabei kam er zu dem Ergebnis, daß der Erfinder einer Idee nicht notwendig verpflichtet sei, den zweiten, experimentellen Teil der Arbeit auch selbst durchzuführen. Allerdings warnte Helmholtz davor, Mayer nun „als einen Heros im Felde des reinen Gedankens“ zu feiern, denn die von Mayer „metaphysisch formulirten Scheinbeweise“ mußten „jedem an strenge wissenschaftliche Methodik gewöhnten Naturforscher […] als die schwächste Stelle seiner Auseinandersetzungen erscheinen.“ Helmholtz, Hermann von, Über die Erhaltung der Kraft. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1889, S. 56ff. Ähnlich argumentierte Helmholtz auch in seinen Bemerkungen über „Robert Mayer’s Priorität“, abgedruckt in: Helmholtz, Hermann von, Vorträge und Reden, Band 1, 5. Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S. 401–414.
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oder [A 12]wie Helmholtz mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit für sich angibt: beim Spaziergang auf langsam steigender Straße,[83] Ihering, Rudolf von, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, 10. Aufl. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1909, S. 125ff.
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oder ähnlich, jedenfalls aber dann, wenn man sie nicht erwartet, einfallen, und nicht während des Grübelns und Suchens am Schreibtisch. Sie wären einem nur freilich nicht eingefallen, wenn man jenes Grübeln am Schreibtisch und wenn man das leidenschaftliche Fragen nicht hinter sich gehabt hätte. Wie dem aber sei: – diesen Hazard, der bei jeder wissenschaftlichen Arbeit mit unterläuft: kommt die „Eingebung“ oder nicht? auch den muß der wissenschaftliche Arbeiter in Kauf nehmen. Es kann einer ein vorzüglicher Arbeiter sein und doch nie einen eigenen wertvollen Einfall gehabt haben. Nur ist es ein schwerer Irrtum, zu glauben, das sei nur in der Wissenschaft so und z. B. in einem Kontor gehe es etwa anders zu wie in einem Laboratorium. Ein Kaufmann oder Großindustrieller ohne „kaufmännische Phantasie“, d. h. ohne Einfälle, geniale Einfälle, der ist sein Leben lang nur ein Mann, der am besten Kommis oder technischer Beamter bliebe: nie wird er organisatorische Neuschöpfungen gestalten. Die Eingebung spielt auf dem Gebiete der Wissenschaft ganz und gar nicht – wie sich der Gelehrtendünkel einbildet – eine größere Rolle als auf dem Gebiete der Bewältigung von Problemen des praktischen Lebens durch einen modernen Unternehmer. Und sie spielt andererseits – was auch oft verkannt wird – keine geringere Rolle als auf dem Gebiete der Kunst. Es ist eine kindliche Vorstellung, daß ein Mathematiker an einem Schreibtisch mit einem Lineal oder mit anderen mechanischen Mitteln oder Rechenmaschinen zu irgendwelchem wissenschaftlich wertvollen Resultat käme: die mathematische Phantasie eines Weierstraß ist natürlich dem Sinn und Resultat nach ganz anders ausgerichtet als die eines Künstlers und qualitativ von ihr grundverschieden. Aber nicht dem psychologischen Vorgang nach. Beide sind: Rausch (im Sinne von Platons „Mania“Hermann von Helmholtz in der Tischrede anläßlich seines 70. Geburtstags, abgedruckt in: Helmholtz, Vorträge und Reden, Band 1, S. 15f.
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) und „Eingebung“. Platon, Phaidros, 244a–245a.
[84]Nun: ob jemand wissenschaftliche Eingebungen hat, das hängt ab von uns verborgenen Schicksalen, außerdem aber von „Gabe“. Nicht zuletzt auf Grund jener zweifellosen Wahrheit hat nun eine ganz begreiflicherweise gerade bei der [A 13]Jugend sehr populäre Einstellung sich in den Dienst einiger Götzen gestellt, deren Kult wir heute an allen Straßenecken und in allen Zeitschriften sich breit machen finden. Jene Götzen sind: die „Persönlichkeit“ und das „Erleben“. Beide sind eng verbunden: die Vorstellung herrscht, das letztere mache die erstere aus und gehöre zu ihr. Man quält sich ab, zu „erleben“, – denn das gehört ja zur standesgemäßen Lebensführung einer Persönlichkeit, – und gelingt es nicht, dann muß man wenigstens so tun, als habe man diese Gnadengabe. Früher nannte man dies „Erlebnis“ auf deutsch: „Sensation“. Und von dem, was „Persönlichkeit“ sei und bedeute, hatte man eine – ich glaube – zutreffendere Vorstellung.
Verehrte Anwesende! „Persönlichkeit“ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient. Und nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet ist es so. Wir kennen keinen großen Künstler, der je etwas anderes getan hätte, als seiner Sache und nur ihr zu dienen. Es hat sich, soweit seine Kunst in Betracht kommt, selbst bei einer Persönlichkeit vom Range Goethes gerächt, daß er sich die Freiheit nahm: sein „Leben“ zum Kunstwerk machen zu wollen.
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Aber mag man das bezweifeln, – jedenfalls muß man eben ein Goethe sein, um sich das überhaupt erlauben zu dürfen, und wenigstens das wird jeder zugeben: unbezahlt ist es auch bei jemand wie ihm, der alle Jahrtausende einmal erscheint, nicht geblieben. Es steht in der Politik nicht anders. Davon heute nichts.[84] Diese Einschätzung geht möglicherweise auf eine Bemerkung Wilhelm Diltheys zurück, der es als „poetische Grundrichtung“ Goethes bezeichnet hatte, „das eigene Leben, die eigene Persönlichkeit zum Kunstwerk zu formen“. Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, 3., erw. Aufl. – Leipzig: B. G. Teubner 1910, S. 216f.
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Auf dem Gebiet der Wissenschaft aber ist derjenige ganz gewiß keine „Persönlichkeit“, der als Impresario der Sache, der er sich hingeben sollte, mit auf die Bühne tritt, sich durch „Erleben“ legitimieren möchte und fragt: Wie beweise ich, daß ich etwas anderes bin als nur ein „Fachmann“, wie mache ich es, daß ich, in der Form oder in der [85]Sache, etwas sage, das so noch keiner gesagt hat wie ich: – eine heute massenhaft auftretende Erscheinung, die überall kleinlich wirkt, und die denjenigen herabsetzt, der so fragt, statt daß ihn die innere Hingabe an die Aufgabe und nur an sie auf die Höhe und zu der Würde der Sache emporhöbe, der er zu dienen vorgibt. Auch das ist beim Künstler nicht anders. – Möglicherweise Hinweis auf den Vortrag „Politik als Beruf“, den Max Weber am 28. Januar 1919 hielt.
[A 14]Diesen mit der Kunst gemeinsamen Vorbedingungen unserer Arbeit steht nun gegenüber ein Schicksal, das sie von der künstlerischen Arbeit tief unterscheidet. Die wissenschaftliche Arbeit ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts. Auf dem Gebiete der Kunst dagegen gibt es – in diesem Sinne – keinen Fortschritt. Es ist nicht wahr, daß ein Kunstwerk einer Zeit, welche neue technische Mittel oder etwa die Gesetze der Perspektive sich erarbeitet hatte, um deswillen rein künstlerisch höher stehe als ein aller Kenntnis jener Mittel und Gesetze entblößtes Kunstwerk, – wenn es nur material- und formgerecht war, das heißt: wenn es seinen Gegenstand so wählte und formte, wie dies ohne Anwendung jener Bedingungen und Mittel kunstgerecht zu leisten war. Ein Kunstwerk, das wirklich „Erfüllung“ ist, wird nie überboten, es wird nie veralten; der einzelne kann seine Bedeutsamkeit für sich persönlich verschieden einschätzen; aber niemand wird von einem Werk, das wirklich im künstlerischen Sinne „Erfüllung“ ist, jemals sagen können, daß es durch ein anderes, das ebenfalls „Erfüllung“ ist, „überholt“ sei. Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche „Erfüllung“ bedeutet neue „Fragen“ und will „überboten“ werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiß dauernd, als „Genußmittel“ ihrer künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir. Prinzipiell geht dieser Fortschritt in das Unendliche. Und damit kommen wir zu dem Sinnproblem der Wissenschaft. Denn das versteht sich ja doch nicht so von selbst, daß etwas, das einem solchen Gesetz [86]unterstellt ist, Sinn und Verstand [A 15]in sich selbst hat. Warum betreibt man etwas, das in der Wirklichkeit nie zu Ende kommt und kommen kann? Nun zunächst: zu rein praktischen, im weiteren Wortsinn: technischen Zwecken: um unser praktisches Handeln an den Erwartungen orientieren zu können, welche die wissenschaftliche Erfahrung uns an die Hand gibt. Gut. Aber das bedeutet nur etwas für den Praktiker. Welches aber ist die innere Stellung des Mannes der Wissenschaft selbst zu seinem Beruf? – wenn er nämlich nach einer solchen überhaupt sucht. Er behauptet: die Wissenschaft „um ihrer selbst willen“ und nicht nur dazu zu betreiben, weil andere damit geschäftliche oder technische Erfolge herbeiführen, sich besser nähren, kleiden, beleuchten, regieren können. Was glaubt er denn aber Sinnvolles damit, mit diesen stets zum Veralten bestimmten Schöpfungen, zu leisten, damit also, daß er sich in diesen fachgeteilten, ins Unendliche laufenden Betrieb einspannen läßt? Das erfordert einige allgemeine Erwägungen.
Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen, und zu dem heute üblicherweise in so außerordentlich negativer Art Stellung genommen wird.
Machen wir uns zunächst klar, was denn eigentlich diese intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik praktisch bedeutet. Etwa, daß wir heute, jeder z. B., der hier im Saale sitzt, eine größere Kenntnis der Lebensbedingungen hat, unter denen er existiert, als ein Indianer oder ein Hottentotte? Schwerlich. Wer von uns auf der Straßenbahn fährt, hat – wenn er nicht Fachphysiker ist – keine Ahnung, wie sie das macht, sich in Bewegung zu setzen. Er braucht auch nichts davon zu wissen. Es genügt ihm, daß er auf das Verhalten des Straßenbahnwagens „rechnen“ kann, er orientiert sein Verhalten daran; aber wie man eine Trambahn so herstellt, daß sie sich bewegt, davon weiß er nichts. Der Wilde weiß das von seinen Werkzeugen ungleich besser. Wenn wir heute Geld ausgeben, so wette ich, daß, sogar wenn nationalökonomische Fachkollegen im Saale [A 16]sind, fast jeder eine andere Antwort bereit halten wird auf die Frage: Wie macht das Geld es, daß man dafür etwas – bald viel, bald wenig – kaufen kann? Wie der Wilde es macht, um zu seiner täglichen Nahrung zu kommen, und welche Institutionen ihm dabei dienen, das weiß er. Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also [87]nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren
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Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche. A: unberechenbare
Hat denn aber nun dieser in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß und überhaupt: dieser „Fortschritt“, dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mit angehört, irgendeinen über dies rein Praktische und Technische hinausgehenden Sinn? Aufgeworfen finden Sie diese Frage am prinzipiellsten in den Werken Leo Tolstojs. Auf einem eigentümlichen Wege kam er dazu. Das ganze Problem seines Grübelns drehte sich zunehmend um die Frage: ob der Tod eine sinnvolle Erscheinung sei oder nicht. Und die Antwort lautet bei ihm: für den Kulturmenschen – nein.
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Und zwar deshalb nicht, weil ja das zivilisierte, in den „Fortschritt“, in das Unendliche hineingestellte einzelne Leben seinem eigenen immanenten Sinn nach kein Ende haben dürfte. Denn es liegt ja immer noch ein weiterer Fortschritt vor dem, der darin [88]steht; niemand, der stirbt, steht auf der Höhe, welche in der Unendlichkeit liegt. Abraham oder irgendein Bauer der alten Zeiten starb „alt und lebensgesättigt“,[87] Tolstoj hat sich wiederholt, so etwa in „Drei Tode“ (Leo N. Tolstoj. Sämtliche Werke, hg. von Raphael Löwenfeld, III. Serie, Band 4. – Leipzig: Eugen Diederichs 1901, S. 304–328) oder in „Der Tod des Iwan lljitsch“ (Gesammelte Werke, I. Serie, Band 7. – Jena: Eugen Diederichs 1911, S. 6–114), mit der Problematik des Todes auseinandergesetzt und die These vertreten, daß vor allem der Mensch höherer Bildung der Angst vor dem Tod unterliege. In einem Brief an die Gräfin Aleksandra Andreevna Tolstoja verdeutlicht Tolstoj seine Einschätzung unter Hinweis auf das Sterben einer Adeligen und eines einfachen Mannes in „Drei Tode“: „Die Barynja ist beklagenswert und widerwärtig […] Das Christentum, wie sie es versteht, löst für sie die Frage des Lebens und des Todes nicht. Wozu sterben, wenn man leben will? […] Der Muschik stirbt ruhig […] Seine Religion ist die Natur, mit der er gelebt hat. Er fällte Bäume, säte Roggen, mähte ihn, er schlachtete Hämmel, Hämmel wurden bei ihm geboren und Kinder kamen bei ihm zur Welt, Greise starben, und er kennt dieses Gesetz, von dem er sich nie abgewendet hat, […] genau und hat ihm direkt und einfach ins Auge geschaut.“ Leo Tolstoi’s Briefwechsel mit der Gräfin A. A. Tolstoi 1857–1903. – München: Georg Müller 1913, S. 115.
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weil er im organischen Kreislauf des Lebens stand, weil sein Leben auch [A 17]seinem Sinn nach ihm am Abend seiner Tage gebracht hatte, was es bieten konnte, weil für ihn keine Rätsel, die er zu lösen wünschte, übrig blieben und er deshalb „genug“ daran haben konnte. Ein Kulturmensch aber, hineingestellt in die fortwährende Anreicherung der Zivilisation mit Gedanken, Wissen, Problemen, der kann „lebensmüde“ werden, aber nicht: lebensgesättigt. Denn er erhascht von dem, was das Leben des Geistes stets neu gebiert, ja nur den winzigsten Teil, und immer nur etwas Vorläufiges, nichts Endgültiges, und deshalb ist der Tod für ihn eine sinnlose Begebenheit. Und weil der Tod sinnlos ist, ist es auch das Kulturleben als solches, welches ja eben durch seine sinnlose „Fortschrittlichkeit“ den Tod zur Sinnlosigkeit stempelt. Überall in seinen späten Romanen findet sich dieser Gedanke als Grundton der Tolstojschen Kunst. [88] 1. Mose 25,8.
Wie stellt man sich dazu? Hat der „Fortschritt“ als solcher einen erkennbaren, über das Technische hinausreichenden Sinn, so daß dadurch der Dienst an ihm ein sinnvoller Beruf würde? Die Frage muß aufgeworfen werden. Das ist nun aber nicht mehr nur die Frage des Berufs für die Wissenschaft, das Problem also: Was bedeutet die Wissenschaft als Beruf für den, der sich ihr hingibt, sondern schon die andere: Welches ist der Beruf der Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit? und welches ihr Wert?
Ungeheuer ist da nun der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wenn Sie sich erinnern an das wundervolle Bild zu Anfang des siebenten Buches von Platons Politeia:
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jene gefesselten Höhlenmenschen, deren Gesicht gerichtet ist auf die Felswand vor ihnen, hinter ihnen liegt die Lichtquelle, die sie nicht sehen können, sie befassen sich daher nur mit den Schattenbildern, die sie auf die Wand wirft, und suchen ihren Zusammenhang zu ergründen. Bis es einem von ihnen gelingt, die Fesseln zu sprengen, und er dreht sich um und erblickt: die Sonne. Geblendet tappt er umher und stammelt von dem, was er sah. Die anderen sagen, er sei irre. Aber allmählich [89]lernt er in das Licht zu schauen, und dann ist seine Aufgabe, hinabzusteigen zu den Höhlenmenschen und sie empor[A 18]zuführen an das Licht. Er ist der Philosoph, die Sonne aber ist die Wahrheit der Wissenschaft, die allein nicht nach Scheingebilden und Schatten hascht, sondern nach dem wahren Sein. Platon, Politeia, 514a–517a.
Ja, wer steht heute so zur Wissenschaft? Heute ist die Empfindung gerade der Jugend wohl eher die umgekehrte: Die Gedankengebilde der Wissenschaft sind ein hinterweltliches Reich von künstlichen Abstraktionen, die mit ihren dürren Händen Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten, ohne es doch je zu erhaschen. Hier im Leben aber, in dem, was für Platon das Schattenspiel an den Wänden der Höhle war, pulsiert die wirkliche Realität: das andere sind von ihr abgeleitete und leblose Gespenster und sonst nichts. Wie vollzog sich diese Wandlung? Die leidenschaftliche Begeisterung Platons in der Politeia erklärt sich letztlich daraus, daß damals zuerst der Sinn eines der großen Mittel allen
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wissenschaftlichen Erkennens bewußt gefunden war: des Begriffs. Von Sokrates ist er in seiner Tragweite entdeckt. Nicht von ihm allein in der Welt. Sie können in Indien ganz ähnliche Ansätze einer Logik finden,A: aller
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wie die des Aristoteles ist. Aber nirgends mit diesem Bewußtsein der Bedeutung. Hier zum erstenmal schien ein Mittel zur Hand, womit man jemanden in den logischen Schraubstock setzen konnte, so daß er nicht herauskam, ohne zuzugeben: entweder daß er nichts wisse: oder daß dies und nichts anderes die Wahrheit sei, die ewige Wahrheit, die nie vergehen würde, wie das Tun und Treiben der blinden Menschen. Das war das ungeheure Erlebnis, das den Schülern des Sokrates aufging. Und daraus schien zu folgen, daß, wenn man nur den rechten Begriff des Schönen, des Guten, oder auch etwa der Tapferkeit, der Seele – und was es sei – gefunden habe, daß man dann auch ihr wahres Sein erfassen könne, und das wieder schien den Weg an die Hand zu geben, zu wissen und zu lehren: wie man im [90]Leben, vor allem: als Staatsbürger, richtig handle. Denn auf diese Frage kam den durch und durch politisch denkenden Hellenen alles an. Deshalb betrieb man Wissenschaft. [89] Gemeint ist vermutlich das philosophische System des Nyāya-Vaiśeṣika , in dem die
Ordnung des Weltbildes sachlich-realistisch durchgeführt wird, ohne Rückgang auf ein transzendentes Prinzip. Im Zentrum stehen eine Kategorienlehre sowie eine auf logischen Analogieschlüssen basierende Erkenntnistheorie, die die gesamte indische Philosophie beeinflußte.
Neben diese Entdeckung des hellenischen Geistes trat nun als Kind der Renaissancezeit das zweite große Werkzeug [A 19]wissenschaftlicher Arbeit: das rationale Experiment, als Mittel zuverlässig kontrollierter Erfahrung, ohne welches die heutige empirische Wissenschaft unmöglich wäre. Experimentiert hatte man auch früher: physiologisch z. B. in Indien im Dienst der asketischen Technik des Yogi,
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in der hellenischen Antike mathematisch zu kriegstechnischen Zwecken, im Mittelalter z. B. zum Zwecke des Bergbaus. Aber das Experiment zum Prinzip der Forschung als solcher erhoben zu haben, ist die Leistung der Renaissance. Und zwar bildeten die Bahnbrecher die großen Neuerer auf dem Gebiete der Kunst: Lionardo und seinesgleichen, vor allem charakteristisch die Experimentatoren in der Musik des 16. Jahrhunderts mit ihren Versuchsklavieren.[90] Anhänger des Yoga, eines indischen philosophischen Systems, das von der Möglichkeit der Selbsterlösung durch Meditation und Askese ausging und dabei eine komplizierte Lehre hinsichtlich der äußeren Hilfsmittel zur Konzentration des Denkvermögens entwickelte.
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Von ihnen wanderte das Experiment in die Wissenschaft vor allem durch Galilei, in die Theorie durch Bacon; und dann übernahmen es die exakten Einzeldisziplinen an Universitäten des Kontinents, zunächst vor allem in Italien und den Niederlanden. Den Musikexperimentatoren des 16. Jahrhunderts ging es dabei in erster Linie um die „Herstellung von reingestimmten Instrumenten für vielstimmige Kompositionen“. Siehe dazu Webers eigene Arbeit: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. – München: Drei Masken Verlag 1921, S. 91 (MWG I/14).
Was bedeutete nun die Wissenschaft diesen Menschen an der Schwelle der Neuzeit? Den künstlerischen Experimentatoren von der Art Lionardos und den musikalischen Neuerern bedeutete sie den Weg zur wahren Kunst, und das hieß für sie zugleich: zur wahren Natur. Die Kunst sollte zum Rang einer Wissenschaft, und das hieß zugleich und vor allem: der Künstler zum Rang eines Doktors, sozial und dem Sinne seines Lebens nach, erhoben werden. Das ist der Ehrgeiz, der z. B. auch Lionardos Malerbuch
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zugrunde liegt. Und [91]heute? „Die Wissenschaft als der Weg zur Natur“ – das würde der Jugend klingen wie eine Blasphemie. Nein, umgekehrt: Erlösung vom Intellektualismus der Wissenschaft, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt zurückzukommen! Als Weg zur Kunst vollends? Da bedarf es keiner Kritik. – Aber man erwartete von der Wissenschaft im Zeitalter der Entstehung der exakten Naturwissenschaften noch mehr. Wenn Sie sich an den Ausspruch Swammerdams erinnern: „ich bringe Ihnen hier den Nachweis der Vorsehung Gottes in der Anatomie einer Laus“,Gemeint ist der von Francesco Melzi um 1530 aus Manuskripten Leonardo da Vincis zusammengestellte „Trattato della Pittura“, in dem sich Leonardo ausführlich mit der Frage beschäftigt, inwieweit die Malerei zu den Wissenschaften zählt. Siehe Ludwig, Heinrich (Hg.), Lionardo da Vinci. Das Buch von der Malerei. Deutsche Ausgabe. Nach dem Codex Vaticanus 1270, 2 Bände. – Wien: Wilhelm Braumüller 1882.
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so sehen Sie, was die (indirekt) protestantisch und puritanisch beeinflußte wissenschaftliche Arbeit damals sich als ihre eigene Aufgabe dachte: den [A 20]Weg zu Gott. Den fand man damals nicht mehr bei den Philosophen und ihren Begriffen und Deduktionen: – daß Gott auf diesem Weg nicht zu finden sei, auf dem ihn das Mittelalter gesucht hatte, das wußte die ganze pietistische Theologie der damaligen Zeit, Spener vor allem.[91] Sowohl die Schreibweisen Swammerdam wie Swammerdamm sind überliefert. Das Zitat findet sich bei Swammerdamm, Johann, Bibel der Natur, worinnen die Insekten in gewisse Classen vertheilt, sorgfältig beschrieben, zergliedert, in säubern Kupferstichen vorgestellt, mit vielen Anmerkungen über die Seltenheiten der Natur erleutert, und zum Beweis der Allmacht und Weisheit des Schöpfers angewendet werden. – Leipzig: Johann Friedrich Gleditschens Buchhandlung 1752. Dort heißt es auf S. 30: „Sendschreiben von der Menschen Laus an den hoch angesehnen Herrn Thevenot, ehedem Abgesandten des Königs von Frankreich an den freyen Staat von Genua. Hochedler Herr. Ich stelle hiermit Ew. Hochedl. in der Zergliederung einer Laus den allmächtigen Finger GOttes vor Augen.“
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[92]Gott ist verborgen, seine Wege sind nicht unsere Wege, seine Gedanken nicht unsere Gedanken.Spener, Philipp Jacob, Theologische Bedencken Und andere Brieffliche Antworten auf geistliche / sonderlich zur erbauung gerichtete materien / zu unterschiedenen Zeiten aufgesetzet / endlich auf langwieriges Anhalten Christlicher Freunde in einige Ordnung gebracht/und nun zum dritten mal heraus gegeben. Erster Theil. – Halle: In Verlegung des Waysen-Hauses 1712. In der Sectio XLVI: „Von einrichtung der Philosophischen wissenschafften / sonderlich der Physic, zur Christlichen erbauung“, S. 232, heißt es: „Und halte ich es vor eine in dem 2. geboth ernstlich verbotene entheiligung göttlichen namens / wo man dessen wercke in der natur also ansihet / daß man auf denselben bloß stehen bleibet / und nicht ihrem eigenen zweck gemäß / als welche ja zu der ehr und preiß ihres GOttes erschaffen sind / in ihnen auch den Schöpffer erkennen zu lernen trachtet / und also solche erkantnus ferner zu seinem dienst und liebe richtet. Aller fleiß und arbeit / so hieran gethan wird / wird wohl und tausendmal besser angeleget seyn / als alle in Physicis unnützliche Aristotelische Metaphysische grillen / damit (ob wol sonsten die Metaphysic dero abstractiones und die contemplationes transcendentales nicht weniger an ihrem ort ihren nutzen haben) unsre physic lang gantz verdorben geblieben / und ob sie von einiger zeit durch mehrere beobachtung der experimenten an statt voriger speculation in einen bessern stand ist gesetzet worden“. In dem von Max Weber benutzten Exemplar dieses Werkes in der Universitätsbibliothek Heidelberg finden sich an dieser Stelle Unterstreichungen und Marginalien von Webers Hand. Die Marginalien lauten: „also: die Früchte des Schöpfers ausforschend“, „deshalb gegen die Metaphysic als Grundlage der Wissenschaftslehre des Pietismus“.
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In den exakten Naturwissenschaften aber, wo man seine Werke physisch greifen konnte, da hoffte man, seinen Absichten mit der Welt auf die Spur zu kommen. Und heute? Wer – außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden – glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen „Sinn“ – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einen „Sinn“ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg „zu Gott“? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? Daß sie das ist, darüber wird – mag er es sich zugestehen oder nicht – in seinem letzten Innern heute niemand im Zweifel sein. Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen: dies oder etwas dem Sinn nach Gleiches ist eine der Grundparolen, die man aus allem Empfinden unserer religiös gestimmten oder nach religiösem Erlebnis strebenden Jugend heraushört. Und nicht nur für das religiöse, nein für das Erlebnis überhaupt. Befremdlich ist nur der Weg, der nun eingeschlagen wird: daß nämlich das einzige, was bis dahin der Intellektualismus noch nicht berührt hatte: eben jene Sphären des Irrationalen, jetzt ins Bewußtsein erhoben und unter seine Lupe genommen werden. Denn darauf kommt die moderne intellektualistische Romantik des Irrationalen praktisch hinaus. Dieser Weg zur Befreiung vom Intellektualismus bringt wohl das gerade Gegenteil von dem, was diejenigen, die ihn beschreiten, als Ziel darunter sich vorstellen. – Daß man schließ[A 21]lich in naivem Optimismus die Wissenschaft, das heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens, als Weg zum Glück gefeiert hat – dies darf ich wohl, nach Nietzsches vernichtender Kritik an jenen „letzten Menschen“, die „das Glück erfunden haben“,[92] Bei Jesaja 55,8 heißt es: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HErr.“
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ganz beiseite lassen. Wer glaubt daran? – außer einigen großen Kindern auf dem Katheder oder in Redaktionsstuben? Siehe „Zarathustras Vorredein „Also sprach Zarathustra“, in: Nietzsche’s Werke. I. Abt., Band 6. – Leipzig: C. G. Naumann 1896, S. 18-21.
[93]Kehren wir zurück. Was ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: „Weg zum wahren Sein“, „Weg zur wahren Kunst“, „Weg zur wahren Natur“, „Weg zum wahren Gott“, „Weg zum wahren Glück“, versunken sind. Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: „Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ,Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.“
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Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar. Die Frage ist nur, in welchem Sinne sie „keine“ Antwort gibt, und ob sie statt dessen nicht doch vielleicht dem, der die Frage richtig stellt, etwas leisten könnte. – Man pflegt heute häufig von „voraussetzungsloser“ Wissenschaft zu sprechen.[93] Im ersten Teil seiner sozialkritischen Schrift: „Was sollen wir denn thun?“ wirft Tolstoj der Wissenschaft, insbesondere der politischen Ökonomie, vor, sie vermeide „sorgfältig jede Antwort auf die einfachsten und wichtigsten Fragen.“ Sämtliche Werke, I. Serie, Band 3. – Leipzig: Eugen Diederichs 1902, S. 235f.
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Gibt es das? Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Vorausgesetzt ist bei jeder wissenschaftlichen Arbeit immer die Geltung der Regeln der Logik und Methodik: dieser allgemeinen Grundlagen unserer Orientierung in der Welt. Nun, diese Voraussetzungen sind, wenigstens für unsere besondere Frage, am wenigsten problematisch. Vorausgesetzt ist aber ferner: daß das, was bei wissenschaftlicher Arbeit herauskommt, wichtig im Sinn von „wissenswert“ sei. Und da stecken nun offenbar alle unsere Probleme darin. Denn diese Voraussetzung ist nicht wieder ihrerseits mit den Mitteln der Wissenschaft beweisbar. Sie läßt sich nur auf ihren letzten Sinn deuten, den man dann ablehnen oder annehmen muß, je nach der eigenen letzten Stellungnahme zum Leben. Die Formulierung geht auf das berühmte Protestschreiben zurück, das Theodor Mommsen anläßlich der im Jahre 1901 aus politischen Gründen erfolgten Oktroyierung des Historikers Martin Spahn auf eine ausschließlich Katholiken vorbehaltene Professur an der Universität Straßburg verfaßte. Darin bezeichnete er die „Voraussetzungslosigkeit aller wissenschaftlichen Forschung“ als das „ideale Ziel“ und den Konfessionalismus als einen „Todfeind des Universitätswesens“. Mommsen, Theodor, Universitätsunterricht und Konfession, in: ders., Reden und Aufsätze, 2. Aufl. – Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1905, S. 432–436. Heinrich Rickert bezog sich auf diese Formulierung im Zusammenhang mit der methodologischen Frage, in welchem Sinne Kulturwerte die historische Begriffsbildung leiten. Rickert, Heinrich, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. – Tübingen/Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902, S. VIIf. und 633f., Anm. 1. „Voraussetzungslose Wissenschaft“ wurde so zu einem stehenden Begriff in der damals aktuellen Werturteilsdebatte.
[94]Sehr verschieden ist ferner die Art der Beziehung der wissenschaftlichen Arbeit zu diesen ihren Voraussetzungen, je nach der Struktur dieser. Naturwissenschaften wie etwa die [A 22]Physik, Chemie, Astronomie setzen als selbstverständlich voraus, daß die – soweit die Wissenschaft reicht, konstruierbaren – letzten Gesetze des kosmischen Geschehens wert sind, gekannt zu werden. Nicht nur, weil man mit diesen Kenntnissen technische Erfolge erzielen kann, sondern wenn sie „ Beruf“ sein sollen, „um ihrer selbst willen“. Diese Voraussetzung ist selbst schlechthin nicht beweisbar. Und ob diese Welt, die sie beschreiben, wert ist, zu existieren: ob sie
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einen „Sinn“ hat, und ob es einen Sinn hat: in ihr zu existieren, erst recht nicht. Danach fragen sie nicht. Oder nehmen Sie eine wissenschaftlich so hoch entwickelte praktische Kunstlehre wie die moderne Medizin. Die allgemeine „Voraussetzung“ des medizinischen Betriebs ist, trivial ausgedrückt: daß die Aufgabe der Erhaltung des Lebens rein als solchen und die möglichste Verminderung des Leidens rein als solchen bejaht werde. Und das ist problematisch. Der Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlösung vom Leben fleht, auch wenn die Angehörigen, denen dies Leben wertlos ist, die ihm die Erlösung vom Leiden gönnen, denen die Kosten der Erhaltung des wertlosen Lebens unerträglich werden – es handelt sich vielleicht um einen armseligen Irren – seinen Tod, eingestandener- oder uneingestandenermaßen, wünschen und wünschen müssen. Allein die Voraussetzungen der Medizin und das Strafgesetzbuch hindern den Arzt, davon abzugehen. Ob das Leben lebenswert ist und wann? – danach fragt sie nicht. Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: – das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus. Oder nehmen sie eine Disziplin wie die Kunstwissenschaft. Die Tatsache, daß es Kunstwerke gibt, ist der Ästhetik gegeben. Sie sucht zu ergründen, unter welchen Bedingungen dieser Sachverhalt vorliegt. Aber sie wirft die Frage nicht auf, ob das Reich der Kunst nicht vielleicht ein Reich diabolischer Herrlichkeit sei, ein Reich von dieser Welt, deshalb widergöttlich im tiefsten Innern und in seinem tiefinnerlichst [95]aristokratischen [A 23]Geist widerbrüderlich. Danach also fragt sie nicht: ob es Kunstwerke geben solle. – Oder die Jurisprudenz: – sie stellt fest, wasA: die
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nach den Regeln des teils zwingend logisch, teils durch konventionell gegebene Schemata gebundenen juristischen Denkens gilt, also: wenn bestimmte Rechtsregeln und bestimmte Methoden ihrer Deutung als verbindlich anerkannt sind. Ob es Recht geben solle, und ob man gerade diese Regeln aufstellen solle, darauf antwortet sie nicht; sondern sie kann nur angeben: wenn man den Erfolg will, so ist diese Rechtsregel nach den Normen unseres Rechtsdenkens das geeignete Mittel, ihn zu erreichen. Oder nehmen Sie die historischen Kulturwissenschaften. Sie lehren politische, künstlerische, literarische und soziale Kulturerscheinungen in den Bedingungen ihres Entstehens verstehen. Weder aber geben sie von sich aus Antwort auf die Frage: ob diese Kulturerscheinungen es wert waren und sind, zu bestehen. Noch antworten sie auf die andere Frage: ob es der Mühe wert ist, sie zu kennen. Sie setzen voraus, daß es ein Interesse habe, durch dies Verfahren teilzuhaben an der Gemeinschaft der „Kulturmenschen“. Aber daß dies der Fall sei, vermögen sie „wissenschaftlich“ niemandem zu beweisen, und daß sie es voraussetzen, beweist durchaus nicht, daß es selbstverständlich sei. Das ist es in der Tat ganz und gar nicht. A: was,
Bleiben wir nun einmal bei den mir nächstliegenden Disziplinen, also bei der Soziologie, Geschichte, Nationalökonomie und Staatslehre und jenen Arten von Kulturphilosophie, welche sich ihre Deutung zur Aufgabe machen. Man sagt, und ich unterschreibe das: Politik gehört nicht in den Hörsaal. Sie gehört nicht dahin von Seiten der Studenten. Ich würde es z. B. ganz ebenso beklagen, wenn etwa im Hörsaal meines früheren Kollegen Dietrich Schäfer
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in Berlin pazifistische Studenten sich um das Katheder stellten und Lärm von der Art machten, wie es antipazifistische Studenten gegenüber dem Professor Foerster, dem ich in meinen Anschauungen in vielem so [96]fern wie möglich stehe, getan haben sollen.[95] Dietrich Schäfer war während des Ersten Weltkriegs einer der führenden Exponenten der alldeutschen Propaganda für weitreichende Kriegsziele und den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Er zögerte nicht, sein wissenschaftliches Ansehen als Professor für Geschichte an der Universität Berlin für die Förderung seiner politischen Ziele einzusetzen. Zwischen 1896 und 1903 hatte Schäfer in Heidelberg gelehrt, wo Max Weber 1897 den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft übernommen hatte.
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Aber Politik gehört allerdings auch nicht dahin von Seiten des Dozenten. Gerade dann nicht, wenn er sich wissenschaftlich mit Politik [A 24]befaßt, und dann am allerwenigsten. Denn praktisch-politische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse politischer Gebilde und Parteistellungen[96] Der Philosoph und Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster vertrat christlich motivierte radikal pazifistische Ansichten und gehörte während des Ersten Weltkrieges zu den entschiedenen Gegnern einer expansiven Kriegszielpolitik. Im Sommer 1917 war er vom österreichischen Kaiser empfangen worden, was die Gerüchte über einen möglicherweise bevorstehenden Separatfrieden Österreich-Ungarns nährte. Die Wiener Vorgänge wurden im Deutschen Reich – insbesondere in Bayern – mit Besorgnis beobachtet und führten vor allem in der Studentenschaft zu Protestaktionen. Foerster berichtet, daß bei der Wiederaufnahme seiner Vorlesungen Ende Oktober 1917 im Auditorium Maximum der Münchener Universität „etwa 500 Studenten versammelt“ gewesen seien, „die mich mit betäubendem Lärm, unter Anwendung verschiedenster Musikinstrumente empfingen.“ Foerster, Friedrich Wilhelm, Erlebte Weltgeschichte 1869–1953. Memoiren. – Nürnberg: Glock und Lutz 1953, S. 209f. Näheres zum „Fall Foerster“ im Editorischen Bericht zu „Politik als Beruf“, unten, S. 115.
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ist zweierlei. Wenn man in einer Volksversammlung über Demokratie spricht, so macht man aus seiner persönlichen Stellungnahme kein Hehl: gerade das: deutlich erkennbar Partei zu nehmen, ist da die verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Die Worte, die man braucht, sind dann nicht Mittel wissenschaftlicher Analyse, sondern politischen Werbens um die Stellungnahme der anderen. Sie sind nicht Pflugscharen zur Lockerung des Erdreiches des kontemplativen Denkens, sondern Schwerter gegen die Gegner:A: Parteistellung
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Kampfmittel. In einer Vorlesung oder im Hörsaal dagegen wäre es Frevel, das Wort in dieser Art zu gebrauchen. Da wird man, wenn etwa von „Demokratie“ die Rede ist, deren verschiedene Formen vornehmen, sie analysieren in der Art, wie sie funktionieren, feststellen, welche einzelne Folgen für die Lebensverhältnisse die eine oder andere hat, dann die anderen nicht demokratischen Formen der politischen Ordnung ihnen gegenüberstellen und versuchen, so weit zu gelangen, daß der Hörer in der Lage ist, den Punkt zu finden, von dem aus er von seinen letzten Idealen aus Stellung dazu nehmen kann. Aber der echte Lehrer wird sich sehr hüten, vom Katheder herunter ihm [97]irgendeine Stellungnahme, sei es ausdrücklich, sei es durch Suggestion – denn das ist natürlich die illoyalste Art, wenn man „die Tatsachen sprechen läßt“ – aufzudrängen. Bei Jesaja 2,4 heißt es: „Und er wird richten unter den Heiden, und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen, und ihre Spieße zu Sicheln machen.“
Warum sollen wir das nun eigentlich nicht tun? Ich schicke voraus, daß manche sehr geschätzte Kollegen der Meinung sind, diese Selbstbescheidung durchzuführen ginge überhaupt nicht, und wenn es ginge, wäre es eine Marotte, das zu vermeiden.
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Nun kann man niemandem wissenschaftlich vordemonstrieren, was seine Pflicht als akademischer Lehrer sei. Verlangen kann man von ihm nur die intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, daß Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kultur[A 25]gemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er dann weiter, warum er nicht beide im Hörsaale behandeln solle, so ist darauf zu antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf den Katheder eines Hörsaals gehören. Dem Propheten wie dem Demagogen ist gesagt: „Gehe hinaus auf die Gassen und rede öffentlich.“[97] Derartige Äußerungen dürften in der sog. Werturteilsdebatte, wie sie unter anderem seit 1905 im Verein für Sozialpolitik geführt wurde, gefallen sein. Webers Forderung nach Trennung von wissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischer Stellungnahme war dort auf teilweise harte Kritik gestoßen. Vgl. dazu Lindenlaub, Dieter, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914). – Wiesbaden: Franz Steiner 1967, S. 433–443. Die Debatte fand ihren Höhepunkt auf der internen Tagung des Vereins für Sozialpolitik im Januar 1914.
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Da, heißt das, wo Kritik möglich ist. Im Hörsaal, wo man seinen Zuhörern gegenübersitzt, haben sie zu schweigen und der Lehrer zu reden, und ich halte es für unverantwortlich, diesen Umstand, daß die Studenten um ihres Fortkommens willen das Kolleg eines Lehrers besuchen müssen, und daß dort niemand zugegen ist, der diesem mit Kritik entgegentritt, auszunützen, um den Hörern nicht, wie es seine Aufgabe ist, mit seinen Kenntnissen und wissenschaftlichen Erfahrungen nützlich zu sein, sondern sie zu stempeln nach seiner persönlichen politischen Anschauung. Es ist gewiß möglich, daß es [98]dem einzelnen nur ungenügend gelingt, seine subjektive Sympathie auszuschalten. Dann setzt er sich der schärfsten Kritik vor dem Forum seines eigenen Gewissens aus. Und es beweist nichts, denn auch andere, rein tatsächliche Irrtümer sind möglich und beweisen doch nichts gegen die Pflicht: die Wahrheit zu suchen. Auch und gerade im rein wissenschaftlichen Interesse lehne ich es ab. Ich erbiete mich, an den Werken unserer Historiker den Nachweis zu führen, daß, wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört. Doch geht das über das Thema des heutigen Abends hinaus und würde lange Auseinandersetzungen erfordern. Bei Jeremia 2,2 heißt es: „Gehe hin, und predige öffentlich zu Jerusalem.“
Ich frage nur: Wie soll auf der einen Seite ein gläubiger Katholik, auf der anderen Seite ein Freimaurer in einem Kolleg über die Kirchen- und Staatsformen oder über Religionsgeschichte, – wie sollen sie jemals über diese Dinge zur gleichen Wertung gebracht werden! Das ist ausgeschlossen. Und doch muß der akademische Lehrer den Wunsch haben und die Forderung an sich selbst stellen, dem einen wie dem andern durch seine Kenntnisse und Methoden nützlich zu sein. Nun werden Sie mit Recht sagen: der gläubige Katholik wird auch [A 26]über die Tatsachen des Herganges bei der Entstehung des Christentums niemals die Ansicht annehmen, die ein von seinen dogmatischen Voraussetzungen freier Lehrer ihm vorträgt. Gewiß! Der Unterschied aber liegt im folgenden: Die im Sinne der Ablehnung religiöser Gebundenheit „voraussetzungslose“ Wissenschaft kennt in der Tat ihrerseits das „Wunder“ und die „Offenbarung“ nicht. Sie würde ihren eigenen „Voraussetzungen“ damit untreu. Der Gläubige kennt beides. Und jene „voraussetzungslose“ Wissenschaft mutet ihm nicht weniger – aber: auch nicht mehr – zu als das Anerkenntnis: daß, wenn der Hergang ohne jene übernatürlichen, für eine empirische Erklärung als ursächliche Momente ausscheidenden Eingriffe erklärt werden solle, er so, wie sie es versucht, erklärt werden müsse. Das aber kann er, ohne seinem Glauben untreu zu werden.
Aber hat denn nun die Leistung der Wissenschaft gar keinen Sinn für jemanden, dem die Tatsache als solche gleichgültig und nur die praktische Stellungnahme wichtig ist? Vielleicht doch. Zunächst schon eins. Wenn jemand ein brauchbarer Lehrer ist, dann ist es seine erste Aufgabe, seine Schüler unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren, solche, meine ich, die für seine Parteimeinung unbe[99]quem sind; und es gibt für jede Parteimeinung – z. B. auch für die meinige – solche äußerst unbequeme Tatsachen. Ich glaube, wenn der akademische Lehrer seine Zuhörer nötigt, sich daran zu gewöhnen, daß er dann mehr als eine nur intellektuelle Leistung vollbringt, ich würde so unbescheiden sein, sogar den Ausdruck „sittliche Leistung“ darauf anzuwenden, wenn das auch vielleicht etwas zu pathetisch für eine so schlichte Selbstverständlichkeit klingen mag.
Bisher sprach ich nur von praktischen Gründen der Vermeidung eines Aufdrängens persönlicher Stellungnahme. Aber dabei bleibt es nicht. Die Unmöglichkeit „wissenschaftlicher“ Vertretung von praktischen Stellungnahmen – außer im Falle der Erörterung der Mittel für einen als fest gegeben vorausgesetzten Zweck – folgt aus weit tiefer liegenden Gründen. Sie ist prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen. [A 27]Der alte Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will, aber in diesem Punkt hat er recht, sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus.
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Das ist flach formuliert und klingt paradox, und doch steckt Wahrheit darin. Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, – in dem 53. Kapitel des Jesaiasbuches[99] Wie aus Webers Artikel „Zwischen zwei Gesetzen“, in: Die Frau, 23. Jg., Heft 5, 1916, S. 277–279 (MWG I/15, S. 95–98), und der Notiz im Stichwortmanuskript zu „Politik als Beruf“, unten, S. 151, hervorgeht, bezieht sich Max Weber hier auf John Stuart Mill, der in einem Essay „Theismus“ geschrieben hatte, „daß der Glaube an Götter dem menschlichen Geiste unendlich viel natürlicher ist, als der Glaube an einen Urheber und Lenker der Natur“; die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen verleite dazu, sie als „das Ergebniß von durchaus heterogenen Kräften, von denen eine jede ganz unabhängig von der anderen“ sei, zu verstehen. Da der „Polytheismus an und für sich […] keine Tendenz“ habe, „sich freiwillig in Monotheismus umzuwandeln“, habe ein solcher Wandel „erst nach einer ziemlich langen Pflege wissenschaftlichen Denkens Gemeingut werden“ können. Mill, John Stuart, Über Religion. Natur. Die Nützlichkeit der Religion. Theismus. Drei nachgelassene Essays. – Berlin: Franz Duncker 1875, S. 111f.
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und im 21. PsalmDer Prophet Jesaja spricht hier davon, daß der Erlöser unter den Menschen als der „allerverachtetste und unwertheste, voller Schmerzen und Krankheit“ erscheinen werde.
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können Sie die Belege dafür finden, – und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder,Gemeint ist vermutlich der 22. Psalm, der sog. Christi Leidenspsalm, in dem der erwartete Erlöser beklagt, er sei „ein Spott der Leute und Verachtung des Volks“.
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[100]und vorher finden Sie es gestaltet in den „fleurs du mal“, wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte,Diese Thematik durchzieht das gesamte Werk Nietzsches. Für ihn war es „die größte [100]aller Schwindeleien und Selbstverlogenheiten, zwischen gut, wahr und schön eine Identität zu setzen und diese Einheit darzustellen.“ Siehe: Werke, II. Abt., Band 14, 1904, Nr. 244, S. 115.
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– und eine Alltagsweisheit ist es, daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist. Aber das sind nur die elementarsten Fälle dieses Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte. Wie man es machen will, „wissenschaftlich“ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine „Wissenschaft“. Es läßt sich nur verstehen, was das Göttliche für die eine und für die andere oder: in der einen und der anderen Ordnung ist. Damit ist aber die Sache für jede Erörterung in einem Hörsaal und durch einen Professor schlechterdings zu Ende, so wenig natürlich das darin steckende gewaltige Lebensproblem selbst damit zu Ende ist. Aber andere Mächte als die Katheder der Universitäten haben da das Wort. Welcher Mensch wird sich vermessen, die Ethik der Bergpredigt, etwa den Satz: „Widerstehe nicht dem Übel“Baudelaire, Charles, Les fleurs du mal. – Paris: Poulet-Malassis 1857. Die Irritation, die von diesen Gedichten ausging, beruhte, wie Baudelaire selbst bemerkte, unter anderem darauf, daß für den Leser „das dichterische Bewußtsein, einst unendliche Quelle von Freuden, […] jetzt zum unerschöpflichen Arsenal von Marterwerkzeugen geworden“ ist. Siehe Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik, 5. Aufl. der erw. Neuausgabe. – Hamburg: Rowohlt 1973, S. 45.
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oder das Bild von der einen oder der anderen Backe,Bei Matthäus 5,39 heißt es: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel“.
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„wissenschaft[A 28]lich widerlegen“ zu wollen? Und doch ist klar: es ist, innerweltlich angesehen, eine Ethik der Würdelosigkeit, die hier gepredigt wird: man hat zu wählen zwischen der religiösen Würde, die diese Ethik bringt, und der Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt: „Widerstehe dem [101]Übel, – sonst bist du für seine Übergewalt mitverantwortlich“. Je nach der letzten Stellungnahme ist für den einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist. Und so geht es durch alle Ordnungen des Lebens hindurch. Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus jeder religiösen Prophetie quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des „Einen, das not tut“Ebd.: „[…] so dir Jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.“
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– und hatte dann, angesichts der Realitäten des äußeren und inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen und Relativierungen genötigt gesehen, die wir alle aus der Geschichte des Christentums kennen. Heute aber ist es religiöser „Alltag“. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein. Alles Jagen nach dem „Erlebnis“ stammt aus dieser Schwäche. Denn Schwäche ist es: dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes Antlitz blicken zu können. [101] Lukas 10,42: „Eines aber ist Noth.“
Schicksal unserer Kultur aber ist, daß wir uns dessen wieder deutlicher bewußt werden, nachdem durch ein Jahrtausend die angeblich oder vermeintlich ausschließliche Orientierung an dem großartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafür geblendet hatte.
Doch genug von diesen sehr ins Weite führenden Fragen. Denn der Irrtum, den ein Teil unserer Jugend begeht, wenn er auf all das antworten würde: „Ja, aber wir kommen nun einmal in die Vorlesung, um etwas anderes zu erleben als nur Analysen und Tatsachenfeststellungen“, – der Irrtum ist der, daß sie in dem Professor etwas anderes suchen, als ihnen [A 29]dort gegenübersteht, – einen Führer und nicht: einen Lehrer. Aber nur als Lehrer sind wir auf das Katheder gestellt. Das ist zweierlei, und daß es das ist, davon kann man sich leicht überzeugen. Erlauben Sie, daß ich Sie noch einmal nach Amerika führe, weil man dort solche Dinge oft in ihrer massivsten Ursprünglichkeit sehen kann. Der amerikanische Knabe lernt unsagbar viel weniger als der unsrige. Er ist trotz unglaublich vielen Examinierens doch dem Sinn seines Schullebens nach noch nicht jener absolute Examensmensch geworden, wie es der deutsche ist. Denn die [102]Bureaukratie, die das Examensdiplom als Eintrittsbillet ins Reich der Amtspfründen voraussetzt, ist dort erst in den Anfängen. Der junge Amerikaner hat vor nichts und niemand, vor keiner Tradition und keinem Amt Respekt, es sei denn vor der persönlich eigenen Leistung des Betreffenden: das nennt der Amerikaner „Demokratie“. Wie verzerrt auch immer die Realität diesem Sinngehalt gegenüber sich verhalten möge, der Sinngehalt ist dieser, und darauf kommt es hier an. Der Lehrer, der ihm gegenübersteht, von dem hat er die Vorstellung: er verkauft mir seine Kenntnisse und Methoden für meines Vaters Geld, ganz ebenso wie die Gemüsefrau meiner Mutter den Kohl. Damit fertig. Allerdings: wenn der Lehrer etwa ein football-Meister ist, dann ist er auf diesem Gebiet sein Führer. Ist er das (oder etwas Ähnliches auf anderem Sportgebiet) aber nicht, so ist er eben nur Lehrer und weiter nichts, und keinem amerikanischen jungen Manne wird es einfallen, sich von ihm „Weltanschauungen“ oder maßgebliche Regeln für seine Lebensführung verkaufen zu lassen. Nun, in dieser Formulierung werden wir das ablehnen. Aber es fragt sich, ob hier in dieser von mir absichtlich noch etwas ins Extreme gesteigerten Empfindungsweise nicht doch ein Korn Wahrheit steckt.
Kommilitonen oder Kommilitoninnen! Sie kommen mit diesen Ansprüchen an unsere Führerqualitäten in die Vorlesungen zu uns und sagen sich vorher nicht: daß von hundert Professoren mindestens neunundneunzig nicht nur keine football-Meister des Lebens, sondern überhaupt nicht „Führer“ in Angelegenheiten der Lebensführung zu sein in Anspruch nehmen [A 30] und nehmen dürfen. Bedenken Sie: es hängt der Wert des Menschen ja nicht davon ab, ob er Führerqualitäten besitzt. Und jedenfalls sind es nicht die Qualitäten, die jemanden zu einem ausgezeichneten Gelehrten und akademischen Lehrer machen, die ihn zum Führer auf dem Gebiet der praktischen Lebensorientierung oder, spezieller, der Politik machen. Es ist der reine Zufall, wenn jemand auch diese Qualität besitzt, und sehr bedenklich ist es, wenn jeder, der auf dem Katheder steht, sich vor die Zumutung gestellt fühlt, sie in Anspruch zu nehmen. Noch bedenklicher, wenn es jedem akademischen Lehrer überlassen bleibt, sich im Hörsaal als Führer aufzuspielen. Denn die, welche sich am meisten dafür halten, sind es oft am wenigsten, und vor allem: ob sie es sind oder nicht, dafür bietet die Situation auf dem Katheder schlechterdings keine Möglichkeit der Bewährung. Der [103]Professor, der sich zum Berater der Jugend berufen fühlt und ihr Vertrauen genießt, möge im persönlichen Verkehr von Mensch zu Mensch mit ihr seinen Mann stehen. Und fühlt er sich zum Eingreifen in die Kämpfe der Weltanschauungen und Parteimeinungen berufen, so möge er das draußen auf dem Markt des Lebens tun: in der Presse, in Versammlungen, in Vereinen, wo immer er will. Aber es ist doch etwas allzu bequem, seinen Bekennermut da zu zeigen, wo die Anwesenden und vielleicht Andersdenkenden zum Schweigen verurteilt sind.
Sie werden schließlich die Frage stellen: wenn dem so ist, was leistet denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche „Leben“?
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Und damit sind wir wieder bei dem Problem ihres „Berufs“. Zunächst natürlich: Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben, die äußeren Dinge sowohl wie das Handeln der Menschen, durch Berechnung beherrscht: – nun, das ist aberA: „Leben?“
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doch nur die Gemüsefrau des amerikanischen Knaben, werden Sie sagen. Ganz meine Meinung. Zweitens, was diese Gemüsefrau schon immerhin nicht tut: Methoden des Denkens, das Handwerkszeug und die Schulung dazu. Sie werden vielleicht sagen: nun, das ist nicht Gemüse, aber es ist auch nicht mehr als das Mittel, sich Gemüse zu verschaffen. Gut, lassen wir das [A 31]heute dahingestellt. Aber damit ist die Leistung der Wissenschaft glücklicherweise auch noch nicht zu Ende, sondern wir sind in der Lage, Ihnen zu einem Dritten zu verhelfen: zur Klarheit. Vorausgesetzt natürlich, daß wir sie selbst besitzen. Soweit dies der Fall ist, können wir Ihnen deutlich machen: man kann zu dem Wertproblem, um das es sich jeweils handelt – ich bitte Sie der Einfachheit halber an soziale Erscheinungen als Beispiel zu denken –[,] praktisch die und die verschiedene Stellung einnehmen. Wenn man die und die Stellung einnimmt, so muß man nach den Erfahrungen der Wissenschaft die und die Mittel anwenden, um sie praktisch zur Durchführung zu bringen. Diese Mittel sind nun vielleicht schon an sich solche, die Sie ablehnen zu müssen glauben. Dann muß man zwischen dem Zweck und den unvermeidlichen Mitteln eben wählen. „Heiligt“ der Zweck diese Mittel oder nicht? Der Lehrer kann die Notwendigkeit dieser Wahl vor Sie hinstellen, mehr kann er, solange er Lehrer bleiben und nicht Demagoge werden will, nicht. Er kann Ihnen ferner natürlich sagen: wenn Sie den [104]und den Zweck wollen, dann müssen Sie die und die Nebenerfolge, die dann erfahrungsgemäß eintreten, mit in Kauf nehmen: wieder die gleiche Lage. Indessen das sind alles noch Probleme, wie sie für jeden Techniker auch entstehen können, der ja auch in zahlreichen Fällen nach dem Prinzip des kleineren Übels oder des relativ Besten sich entscheiden muß. Nur daß für ihn eins, die Hauptsache, gegeben zu sein pflegt: der Zweck. Aber eben dies ist nun für uns, sobald es sich um wirklich „letzte“ Probleme handelt, nicht der Fall. Und damit erst gelangen wir zu der letzten Leistung, welche die Wissenschaft als solche im Dienste der Klarheit vollbringen kann, und zugleich zu ihren Grenzen: wir können – und sollen – Ihnen auch sagen: die und die praktische Stellungnahme läßt sich mit innerer Konsequenz und also: Ehrlichkeit ihrem Sinn nach ableiten aus der und der letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition – es kann sein, aus nur einer, oder es können vielleicht verschiedene sein –, aber aus den und den anderen nicht. Ihr dient, bildlich geredet, diesem Gott und kränkt jenen anderen, wenn Ihr Euch für diese Stellungnahme entschließt. [A 32]Denn Ihr kommt notwendig zu diesen und diesen letzten inneren sinnhaften Konsequenzen, wenn Ihr Euch treu bleibt. Das läßt sich, im Prinzip wenigstens[,] leisten. Die Fachdisziplin der Philosophie und die dem Wesen nach philosophischen prinzipiellen Erörterungen der Einzeldisziplinen versuchen das zu leisten. Wir können so, wenn wir unsere Sache verstehen (was hier einmal vorausgesetzt werden muß), den einzelnen nötigen, oder wenigstens ihm dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns. Es scheint mir das nicht so sehr wenig zu sein, auch für das rein persönliche Leben. Ich bin auch hier versucht, wenn einem Lehrer das gelingt, zu sagen: er stehe im Dienst „sittlicher“ Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen, und ich glaube, er wird dieser Leistung um so eher fähig sein, je gewissenhafter er es vermeidet, seinerseits dem Zuhörer eine Stellungnahme aufoktroyieren oder ansuggerieren zu wollen. A: eber
Überall freilich geht diese Annahme, die ich Ihnen hier vortrage, aus von dem einen Grundsachverhalt: daß das Leben, so lange es in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander kennt, – unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwen[105]digkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden. Ob unter solchen Verhältnissen die Wissenschaft wert ist, für jemand ein „Beruf“ zu werden[,] und ob sie selbst einen objektiv wertvollen „Beruf“ hat – das ist wieder ein Werturteil, über welches im Hörsaal nichts auszusagen ist. Denn für die Lehre dort ist die Bejahung Voraussetzung. Ich persönlich bejahe schon durch meine eigene Arbeit die Frage. Und zwar auch und gerade für den Standpunkt, der den Intellektualismus, wie es heute die Jugend tut oder – und meist – zu tun nur sich einbildet, als den schlimmsten Teufel haßt. Denn dann gilt für sie das Wort: „Bedenkt, der Teufel, der ist alt, so werdet alt[,] ihn zu verstehen.“
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Das ist nicht im Sinne der Geburtsurkunde gemeint, sondern in dem Sinn: daß man auch vor diesem Teufel, wenn man [A 33]mit ihm fertig werden will, nicht – die Flucht ergreifen darf, wie es heute so gern geschieht, sondern daß man seine Wege erst einmal zu Ende überschauen muß, um seine Macht und seine Schranken zu sehen. [105] Goethe, Faust, Teil 2, Vers 6817/18.
Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener „Beruf“ ist im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt –, das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, aus der wir, wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können. Und wenn nun wieder Tolstoj in Ihnen aufsteht und fragt: „Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? und: wie sollen wir unser Leben einrichten?“
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oder in der heute abend hier gebrauchten Sprache: „welchem der kämpfenden Götter sollen wir dienen? oder vielleicht einem ganz anderen, und wer ist das?“ – dann ist zu sagen: nur ein Prophet oder ein Heiland. Wenn der nicht da ist oder wenn seiner Verkündigung nicht mehr geglaubt wird, dann werden Sie ihn ganz gewiß nicht dadurch auf die Erde zwingen, daß Tausende von Professoren als staatlich besoldete oder privilegierte kleine Propheten in ihren Hörsälen ihm seine Rolle abzunehmen versuchen. Sie werden damit nur das eine fertig bringen, daß das Wissen um den entscheidenden Sachverhalt: der Prophet, nach dem sich so viele unserer jüngsten Generation sehnen, ist eben nicht da, ihnen niemals in der [106]ganzen Wucht seiner Bedeutung lebendig wird. Es kann, glaube ich, gerade dem inneren Interesse eines wirklich religiös „musikalischen“ MenschenVgl. oben, S. 93, Anm. 37.
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nun und nimmermehr gedient sein, wenn ihm und anderen diese Grundtatsache, daß er in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal hat, durch ein Surrogat, wie es alle diese Kathederprophetien sind, verhüllt wird. Die Ehrlichkeit seines religiösen Organs müßte, scheint mir, dagegen sich auflehnen. Nun werden Sie geneigt sein, zu sagen: Aber wie stellt man sich denn zu der Tatsache der Existenz der „Theologie“ und [A 34]ihrer Ansprüche darauf: „Wissenschaft“ zu sein?[106] Max Weber verwendet den Begriff „religiös ,musikalisch‘“ im Sinne von Fähigkeit zu religiöser Gläubigkeit. Dies wird deutlich in seinem Brief an Ferdinand Tönnies vom 19. Febr. 1909, Abschrift Marianne Weber (masch.), ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/7, indem er sich selbst als „religiös absolut ,unmusikalisch‘“ bezeichnete.
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Drücken wir uns um die Antwort nicht herum. „Theologie“ und „Dogmen“ gibt es zwar nicht universell, aber doch nicht gerade nur im Christentum. Sondern (rückwärtsschreitend in der Zeit) in stark entwickelter Form auch im Islam, im ManichäismusA: sein.
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, in der Gnosis, in der Orphik, im Parsismus, im Buddhismus, in den hinduistischen Sekten, im Taoismus und in den Upanischaden und natürlich auch im Judentum. Nur freilich in höchst verschiedenem Maße systematisch entwickelt. Und es ist kein Zufall, daß das okzidentale Christentum nicht nur – im Gegensatz zu dem, was z. B. das Judentum an Theologie besitzt – sie systematischer ausgebaut hat oder danach strebt, sondern daß hier ihre Entwickelung die weitaus stärkste historische Bedeutung gehabt hat. Der hellenische Geist hat das hervorgebracht, und alle Theologie des Westens geht auf ihn zurück, wie (offenbar) alle Theologie des Ostens auf das indische Denken. Alle Theologie ist intellektuelle Rationalisierung religiösen Heilsbesitzes. Keine Wissenschaft ist absolut voraussetzungslos, und keine kann für den, der diese Voraussetzungen ablehnt, ihren eigenen Wert begründen. Aber allerdings: jede Theologie fügt für ihre Arbeit und damit für die Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz einige spezifische Voraussetzungen hinzu. In verschiedenem Sinn und Umfang. Für jede Theologie, z. B. auch für die hinduistische, gilt die Voraussetzung: die Welt müsse einen Sinn haben – und ihre Frage ist: wie muß man ihn deuten, damit dies denkmöglich sei? Ganz ebenso wie Kants Erkenntnistheorie von der [107]Voraussetzung ausging: „Wissenschaftliche Wahrheit gibt es, und sie gilt“ – und dann fragte: Unter welchen Denkvoraussetzungen ist das (sinnvoll) möglich?A: Manachäismus
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Oder wie die modernen Ästhetiker (ausdrücklich – wie z. B. G. v. Lukacs – oder tatsächlich) von der Voraussetzung ausgehen: „es gibt Kunstwerke“ – und nun fragen: Wie ist das (sinnvoll) möglich?[107] Vgl. dazu Kants „Vorrede“ zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1787, in: Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Karl Vorländer. – Halle/S.: Otto Hendel [1899], S. 15–39.
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Allerdings begnügen sich die Theologien mit jener (wesentlich religions-philosophischen) Voraussetzung in aller Regel nicht. Sondern sie gehen regelmäßig von der ferneren Voraussetzung aus: daß bestimmte „Offenbarungen“ als [A 35]heilswichtige Tatsachen – als solche also, welche eine sinnvolle Lebensführung erst ermöglichen – schlechthin zu glauben sind und daß bestimmte Zuständlichkeiten und Handlungen die Qualität der Heiligkeit besitzen – das heißt: eine religiös-sinnvolle Lebensführung oder doch deren Bestandteile bilden. Und ihre Frage ist dann wiederum: Wie lassen sich diese schlechthin anzunehmenden Voraussetzungen innerhalb eines Gesamtweltbildes sinnvoll deuten? Jene Voraussetzungen selbst liegen dabei für die Theologie jenseits dessen, was „Wissenschaft“ ist. Sie sind kein „Wissen“ im gewöhnlich verstandenen Sinn, [108]sondern ein „Haben“. Wer sie – den Glauben oder die sonstigen heiligen Zuständlichkeiten – nicht „hat“, dem kann sie keine Theologie ersetzen. Erst recht nicht eine andere Wissenschaft. Im Gegenteil: in jeder „positiven“ TheologieGeorg Lukács war 1912 nach Heidelberg gekommen und hatte sehr bald Kontakt zu Max Weber gewonnen. Lukács dachte daran, sich in Heidelberg zu habilitieren, und begann dort mit Arbeiten an einer systematischen Ästhetik, die Weber, wie Lukács berichtet, stets mit „wohlwollend-kritischem Interesse“ begleitete (Lukács, Georg, Vorwort zu „Die Eigenart des Ästhetischen“, in: Georg Lukács. Werke, Band 11. – Neuwied: Luchterhand 1963, S. 31). Es entstand eine Reihe von Manuskripten, die Max Weber zumindest teilweise von Lukács zugänglich gemacht worden sind. Diese Manuskripte sind 1974 als „Heidelberger Philosophie der Kunst (1912–1914)“ (ebd., Band 16) und als „Heidelberger Ästhetik (1916–1918)“ (ebd., Band 17) von György Márkus und Frank Benseler aus dem Nachlaß herausgegeben worden. Lukács geht darin einleitend jeweils von derselben Fragestellung aus, daß die Ästhetik, welche ohne illegitime Voraussetzungen begründet werden soll, mit dieser Frage anzufangen habe: „,es gibt Kunstwerke – wie sind sie möglich?‘“ (ebd., Band 16 und Band 17, jeweils S. 9). Weber begrüßte diesen Ansatz und schrieb Lukács, es sei „eine Wohlthat“ daß, „nachdem man Ästhetik vom ,Standpunkt‘ des Rezipierenden, dann jetzt von dem des Schaffenden zu treiben versucht hat, nun endlich das ,Werk‘ als solches zu Wort kommt“ (Brief an Georg Lukács vom 10. März [1913], ZStA Merseburg, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 22). Lukács erinnerte sich, daß er dieses Thema auch mündlich mit Weber diskutiert hatte, „daß ich zu Weber einmal gesagt habe, nach Kant sei das ästhetische Urteil das Wesen des Ästhetischen. Ich meinte, daß das ästhetische Urteil keine Priorität besitze, sondern die Priorität komme dem Sein zu. ,Es existieren Kunstwerke. Wie sind sie möglich?‘ Diese Frage stellte ich Max Weber, und sie machte ihm tiefen Eindruck.“ Lukács, Georg, Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. – Frankfurt a.Μ.: Suhrkamp 1981, S. 58f.
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gelangt der Gläubige an den Punkt, wo der Augustinische Satz gilt: credo non quod, sed quia absurdum est.[108] Gemeint ist eine Theologie, die sich explizit auf eine historische Offenbarung bezieht und diese als unverrückbare Größe ansieht. Vgl. dazu die Artikel „Theologie“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Friedrich Michael Schiele und Leopold Zscharnack, Band 5. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1913, Sp. 1197ff., sowie „Modern-positiv“, ebd., Band 4, Sp. 418ff.
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Die Fähigkeit zu dieser Virtuosenleistung des „Opfers des Intellekts“Die in der zeitgenössischen Literatur häufig Augustinus zugeschriebene Formel „credo quia absurdum“ geht vermutlich auf Tertullian, de carne Christi, V, 3, zurück, wo es heißt: „Et mortuus est Dei Filius; prorsus credibile, quia ineptum est.“ Vgl. zur Interpretation dieser Passage auch Windelband, Wilhelm, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 4. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 187: „Das Evangelium ist nicht nur unbegreiflich, sondern es ist auch im notwendigen Widerspruch mit der weltlichen Einsicht: credibile est, quia ineptum est; certum est, quia impossibile est – credo quia absurdum.“ Der letzte Teil des lateinischen Satzes ist in dem Exemplar aus Webers Bibliothek, das sich heute im Max Weber-Archiv, München, befindet, unterstrichen.
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ist das entscheidende Merkmal des positiv religiösen Menschen. Und daß dem so ist: – dieser Sachverhalt zeigt, daß trotz (vielmehr infolge) der Theologie (die ihn ja enthüllt) die Spannung zwischen der Wertsphäre der „Wissenschaft“ und der des religiösen Heils unüberbrückbar ist. Die Begriffe ‚sacrificium intellectus‘ oder ‚sacrifizio dell‛ intelletto‘ als Ausdruck für die Preisgabe der eigenen Überzeugung infolge des Machtanspruchs einer anderen Meinung wurden insbesondere nach dem Vatikanischen Konzil 1869/70, auf dem das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet worden war, häufig gebraucht. Möglicherweise gehen sie auf 2. Korinther 10,5 zurück, wo es heißt: „Damit wir verstören die Anschläge und alle Höhe, die sich erhebet wider die Erkenntniß GOttes, und nehmen gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi.“
Das „Opfer des Intellekts“ bringt rechtmäßigerweise nur der Jünger dem Propheten, der Gläubige der Kirche. Noch nie ist aber eine neue Prophetie dadurch entstanden (ich wiederhole dieses Bild, das manchen anstößig gewesen ist, hier absichtlich:) daß manche moderne Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren[,]
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und sich dabei dann noch daran erinnern, daß dazu auch die Religion gehört [109]hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie nun aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie – auf dem Büchermarkt hausieren gehen.Bereits in seiner 1915 erschienenen „Einleitung“ zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, in: AfSS, Band 41, S. 14 (MWG I/19, S. 101), hatte Max Weber geschrieben, daß die „modernen Intellektuellen das Bedürfnis empfinden, neben allerlei andern Sensationen auch die eines ‚religiösen‘ Zustandes als ‚Erlebnis‘ zu genießen, gewissermaßen um ihr inneres Ameublement stilvoll mit garantiert echten alten Gerätschaften auszustatten.“
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Das ist einfach: Schwindel oder Selbstbetrug. Durchaus kein Schwindel, son[A 36]dern etwas sehr Ernstes und Wahrhaftes, aber vielleicht zuweilen sich selbst in seinem Sinn Mißdeutendes ist es dagegen, wenn manche jener Jugendgemeinschaften, die in der Stille in den letzten Jahren gewachsen sind, ihrer eigenen menschlichen Gemeinschaftsbeziehung die Deutung einer religiösen, kosmischen oder mystischen Beziehung geben.[109] Anspielung auf den „neumystischen“ Verlag Eugen Diederichs, der vor allem den Kritikern des modernen Rationalismus als Forum diente. Siehe dazu Hübinger, Gangolf, Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne? In: Troeltsch-Studien, Band 4: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, hg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf. – Gütersloh: Gerd Mohn 1987, S. 92–114. Webers Wort von der „Hauskapelle“ bezieht sich möglicherweise darauf, daß Diederichs bei der Internationalen Buch- und Graphikausstellung 1914 in Leipzig den letzten Raum der kulturhistorischen Abteilung in Form einer Kapelle ausstatten ließ, um so den „vorwärtsdrängenden Kräften der Zeit“ einen angemessenen Rahmen zu schaffen. Vgl. Viehöfer, Erich, Der Verleger als Organisator. Eugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende. – Frankfurt a.M.: Buchhändler-Vereinigung 1988, S. 17f. Weber hat den Aktivitäten Diederichs kritisch gegenübergestanden; so soll er die im Jahre 1917 von Diederichs veranstalteten Lauensteiner Kulturtagungen, an denen er selbst mit Vorträgen teilnahm (siehe dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 57f.), als „Warenhaus für Weltanschauungen“ bezeichnet haben. Siehe Heuss, Erinnerungen, S. 214.
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So wahr es ist, daß jeder Akt echter Brüderlichkeit sich mit dem Wissen darum zu verknüpfen vermag, daß dadurch einem überpersönlichen Reich etwas hinzugefügt wird, was unverlierbar bleibt, so zweifelhaft scheint mir, ob die Würde rein menschlicher Gemeinschaftsbeziehungen durch jene religiösen Deutungen gesteigert wird. – Indessen, das gehört nicht mehr hierher. – Weber spielt hier auf die Ideale der Jugendbewegung um Gustav Wyneken an, die in ihrer Gemeinschaft keine profane Verbindung, sondern gleichsam eine sakramentale Vereinigung sah. Vgl. dazu Kupffer, Heinrich, Gustav Wyneken. – Stuttgart: Ernst Klett 1970, insb. Kap. 8: „Der Religionsstifter“, S. 168–182.
Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen [110]Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander. Es ist weder zufällig, daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma
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in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte. Versuchen wir, monumentale Kunstgesinnung zu erzwingen und zu „erfinden“, dann entsteht ein so jämmerliches Mißgebilde wie in den vielen Denkmälern der letzten 20 Jahre.[110] Gemeint ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der frühchristlichen, noch durch keine Amtskirche organisierten Gemeinden, das durch die mit göttlichem Geist Begabten geweckt worden sei. Vgl. dazu insb. 1. Korinther 14.
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Versucht man religiöse Neubildungen zu ergrübeln ohne neue, echte Prophetie, so entsteht im innerlichen Sinn etwas Ähnliches, was noch übler wirken muß. Und die Kathederprophetie wird vollends nur fanatische Sekten, aber nie eine echte Gemeinschaft schaffen. Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück. Sie machen es ihm ja nicht schwer. Irgendwie hat er dabei – das ist unvermeid[A 37]lich – das „Opfer des Intellektes“ zu bringen, so oder so. Wir werden ihn darum nicht schelten, wenn er es wirklich vermag. Denn ein solches Opfer des Intellekts zugunsten einer bedingungslosen religiösen Hingabe ist sittlich immerhin doch etwas anderes als jene Umgehung der schlichten intellektuellen Rechtschaffenheitspflicht, die eintritt, wenn man sich selbst nicht klar zu werden den Mut hat über die eigene letzte Stellungnahme, sondern diese Pflicht durch schwächliche Relativierung sich erleichtert. Und mir steht sie auch höher als jene Kathederprophetie, die sich darüber nicht klar ist, daß innerhalb der Räume des Hörsaals nun einmal keine andere Tugend gilt als eben: schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit. Sie aber gebietet uns, festzustellen, daß heute für alle jene vielen, die auf neue Propheten und Heilande harren, die Lage die gleiche ist, wie sie aus jenem schönen, unter die [111]Jesaja-Orakel aufgenommenen edomitischen Wächterlied in der Exilszeit klingt: „Es kommt ein Ruf aus Seir in Edom: Wächter, wie lang noch die Nacht? Der Wächter spricht: Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder.“Als Beispiel dafür nannte Weber an anderer Stelle einmal das von Reinhold Begas entworfene „Scheusal von Bismarck-Denkmal“, das 1901 vor dem Reichstag in Berlin aufgestellt worden war. Weber, Max, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland. – Berlin-Schöneberg: Fortschritt (Buchverlag der „Hilfe“) 1917, S. 27 (MWG I/15, S. 375).
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Das Volk, dem das gesagt wurde, hat gefragt und geharrt durch weit mehr als zwei Jahrtausende, und wir kennen sein erschütterndes Schicksal. Daraus wollen wir die Lehre ziehen: daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der „Forderung des Tages“[111] Jesaja 21, 11/12: „[…] Man ruft zu mir aus Seir: Hüter, ist die Nacht schier hin? Hüter, ist die Nacht schier hin? Der Hüter aber sprach: Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fragt, so werdet ihr doch wieder kommen, und wieder fragen.“
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gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält. In Goethes „Betrachtungen im Sinne der Wanderer“ aus „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ heißt es: „Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.“ Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Band 42, Abt. II. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1907, S. 167.